JEAN PAUL
SAMTLICHE WERKE
Abteilung I
Band 1
JEAN PAUL
Die unsichtbare Loge
Hesperus
ZWEITAUSENDEINS
Herausgegeben von Norbert Miller
Nachwort von Walter Hollerer
l.Auflage, Marz 1996.
2. A ullage, Marz 1996.
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung
des Carl Hanser Verlages.
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INHALTSOBERSICHT
Die unsichtbare Loge 7
Hesperus 471
Anhang 1237
Anmerkungen zur Unsichtbaren Loge . . 1241
Anmerkungen zum Hesperus ........ 1268
Nachwort . - . 1313
Zur Textgestaltung 1339
Inhaltsverzeichnis 134;
DIE UNSICHTBARE LOGE
EINE LEBENSBESCHREIBUNG
Motto
Der Mensch ist der groBe Gedankenstrich im Buche der Natur
Auswahl aus des Teufels Papieren
MUMIEN
Erster Teil
Entschuldi gung
bei den Lesern der samtlichen Werke in Beziehung
auf die unsichtbare Loge
Ungeachtet meiner Aussichten und Versprechungen bleibt sie
doch eine geborne Ruine. Vor dreiBig Jahren hatte ich das Ende
mit allem Feuer des Anfangs geben konnen, aber das Alter kann
nicht ausbauen, nur ausflicken, was die kiihnejugend aufgefiihrt. Ja
man setze sogar alle Krafte des Schaffens ungeschwacht, so erschei-
nen ihnen doch nicht mehr die vorigen Begebenheiten, Verwick-
10 lungen undEmpfindungen des Fortsetzens wert. Sogar in Schillers
Don Carlos hort man daher zwei Zeiten und zwei Stimmen. -
Noch ein Werk, die biographischen Belustigungen unter der
Hirnschale einer Riesin; steht in der Reihe dieser Sammlung ohne
Dach und Baurede da - aber es ist auch das letzte; - und sind denn
zwei unausgebaute Hauserchen so gar schwer zu verzeihen in
einem Korso von Gebauden aller Art - von Gartenhausern -
groBen Sakristeien, wenn auch ohne Kirchen - Irren- und Rat-
hausern - kleinen Horsalen - vier Pfahlen - Dachstuben - Erkern
- und italienischen Kellern? - Wenn man nun fragt, warum ein
20 Werk nicht vollendet worden, so ist es noch gut, wenn man nur
nicht fragt, warum es angefangen. Welches Leben in der Welt
sehen wir denn nicht unterbrochen? Und wenn wir uns beklagen,
daB ein unvollendet gebliebener Roman uns gar nicht berichtet,
was aus Kunzens zweiter LiebschaftundEHensVerzweiflung dar-
uber geworden, und wie sich Hans aus den Klauen des Land-
richters und Faust aus den Klauen des Mephistopheles gerettet
hat - so troste man sich damit, daB der Mensch rund herum in
seiner Gegenwart nichts sieht als Knoten, - und erst hinter seinem
Grabe liegen die Auflosungen; - und die ganze Weltgeschichte .
$o ist ihm ein unvollendeter Roman. -
Baireuth, im Oktober 1825.
Jean Paul Friedrich Richter.
VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE
Wer einigen wohlwollenden Anteil an den kleinen Haus-, ja
StudierstUbenfesten der Schriftsteller nimmt : der lauft gewiB ihre
Vorreden zu zweiten Auflagen mit Vergniigen durch; denn in
diesen feiern sie ihr Buch-Jubilaum und haben darin fast nichts
zu sagen als das Angenehmste,namlich von sich. Wenn der Schrift-
steller in der Vorrede zur Probier- Auf lage sich so gar matt und
scheu handhaben muB und aus weit getriebner und doch unent-
behrlicher Bescheidenheit so viele Besorgnisse und Zweifel (sie
betreffen seine Gaben) an denTagzulegenhat: wievielungebund- 10
ner und heiterer geht es dagegen her nach dem Obergange des
Jubel-Autors aus der streitenden Kirche der ersten Vorrede in die
triumphierende der zweiten, und derjubilariusbringtsichselber
ohne Angst sein Standchen und sein vivat und vivam!
Gegenwartiger Schreiber ist auf dieeem Bogen selber im Be-
grifTe, zu jubilieren und ein Familienfest mit einem seiner Hebsten
Kinder - eben dem gegenwarrigen Buche, seinem romantischen
Erstling - zu begehen, und redet hier zur zweiten Auf lage vor.
— Aber mitten im Feste erwagt er wohl, daB ein Autor wie er
auf diese Weise am Ende mehr Vorreden als Bucher macht- z.B. 20
zu einem dreimal aufgegangnen Hesperus drei Vorreden als Mor-
genroten - und daB folglich beinahe des Redens mehr ist als des
Machens. Das Alter spricht ohnehin gern von sich; aber nachteilig
genug vermehren sich eben mit den Jahren die neuen Auflagen
und mithin die Vorreden dazu, worin man allerlei uber sich vor-
bringt.
Das wenige, was ich hier von mir selber zu sagen habe, be-
schf ankt sich auf das gewohnliche vorrednerische Eigenlob und
auf den als Lobfolie untergelegten Eigentadel.
Stehende Verbesserungen aller meiner Auflagen blieben auch 3°
hier die Land- oder Buch-Verweisungen von faulen Tag- oder
VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE I 5
Sprachdieben oder Wortfremdlingen und die Ausrottung falscher
Genitiv-S und Ungs. - Ferner auf alien Blattern, wo es nottat,
wurden Lighter und Schatten und Farben gehoben oder vertieft,
aber nur schwach; und da bloB meistens in komischen Stellen.
Denn wenn ich hatte - um mit dem Lobe fortzufahren - an den
ernsten starken oder andern wollen, welche die Natur und die
Liebe und das Grofle in uns und uber uns malen : so hatt' ich es in
meinem spatern Alter nicht zu machen vermocht, indem ich bei
jenen Stellen schon Gott danken muB, daB ich sie nur das erste
10 Mai gemacht. Diese Not wird sich erst recht zeigen - so daB ich
lieber und leichter nach den vier gedruckten Flegeljahren noch so
viele neue, als ich Jahre habe, gabe -, wenn ich einmal den dritten
oder SchluBband dieser Loge bauen mu.fi ; und ich wiinschte herz-
lich, irgendein anderer Nachahmer von mir als ich selber iiber-
nahme die Last.
Denn die Griinde liegen offen da. Dcr Verfasser dieses blieb
und arbeitete nach den im ic> tcn Jahre geschriebnen Skizzen noch
neun Jahre lang in seiner satirischen Essigfabrik (Rosen- und
Honigessiglieferte aus ihr die Auswahl aus des Teufels Papieren),
20 bis er endlich im Dezember 1790 durch das noch etwas honig-
sauere Leben des Schulmeisterlein Wutz 1 den seligen Obertritt
in die unsichtbare Loge nahm: so lange also, ein ganzes horazi-
sches Jahrneun hindurch, wurde des Junglings Herz von der Sa-
tire zugesperrt und muBte alles verschlossen sehen, was in ihm
selig war und schlug, was wogte und liebte und weinte. Als es sich
nun endlich im achtundzwanzigsten Jahre offnenund luften durfte :
da ergoB es sich leicht und mild wie eine warme uberschwellende
Wolke unter der Sonne - ich brauchte nur zuzulassen und dem
FlieBen zuzusehen - und kein Gedanke kam nackt, sondern jeder
30 brachte sein Wort mit und stand in seinem richtigen Wuchse da
ohne die Schere der Kunst. Gerade ein lange zugedrucktes iiber-
volles Herz bewahrt in seiner Flut mehr das Richtige und Ge-
1 Es steht am Ende des zweiten Bandes der Loge; wurde aber fruher als
diese gemacht; und das Schulmeisterlein zog denn als Logemeister und Alt-
meister und Leithammel meinen romantischen Helden Gustav, Viktor, Al-
bano etc. voran.
1 6 DIE UNSICHTBARE LOGE
maBigte als ein immer offen gelaBnes, sich leer rinnendes in seiner
Ebbe, das Wellenspriinge machen mu6 fur die nachste Buchhand-
lermesse. Ach! man sollte alles Beste, zumal des Gefiihls, nur em-
ma/ aussprechen! - Die Blilten der Kraftbaume sind schmal und
haben nur zwei einfache Farben, die weifie und rote, Unschuld
und Scham; hingegen die Blumen auf ihren diinnen Stengeln sind
breiter als diese und schminken sich mit brennenden Farben. -
Aber jedes erste Gefuhl ist ein Morgenstern, der, ohne unterzu-
gehen, bald seinen Zauberschimmer verliert und durch das Blau
des Tags verhiillt weiterzieht 10
Ich gerate hier beinahe in dasselbe blumige Unwesen durch
Sprechen dariiber ; aber eben wieder aus der angefuhrten Ursache,
weil ich iiber die jungfrauliche Kraft und Schonheit, womit frische
Gefuhle zum ersten Male reden, schon so oft und besonders-in
Vorreden gesprochen (ich verweise in dieser zur zweiten Auf lage
der Mumien auf die neueste zur zweiten Auf lage der gronlandischen
Prozesse) ; und so beweiset sich der Satz schondadurch, wie er sich
ausspricht.
Man wird vielleicht dem Verfasser es nachsehen, daB er seinen
ersten Roman zwei Jahre zu friih geschrieben, namlich schon in «o
seinem 28 tcn ; aber im ganzen, gesteht er selber, sollte man Ro-
mane nicht vor dem Jahre schreiben, wo der alte Deutsche seinen
spielte und ihn sogleich in Geschichte durch Ehe verwandelte,
namlich im 3o tcn Jahre. An Richardson, Rousseau, Goethe (nicht
im lyrischen Werther, sondern im romantischen Meister), an Fiel-
ding und vielen bewahrt sich der Satz. - Der Verfasser der un-
sichtbaren Loge hatte von Lichtenberg so starke BuBpredigten
gegen die Menschenunkunde der deutschen Romanschreiber und
Dichter gelesen und gegen ihre so gro fie Unwissenheit in Realien
ebensowohl als in Personalien, daB er.zum Gluck den Mut nicht $o
hatte, wenigstens friiher als im 28 ten Jahre das romantische Wag-
stuck zu ubernehmen. Er furchtete immer, ein Dichter miisse so
gut wie ein Maler und Baumeister etwas wissen, wenn auch wenig ;
ja er miisse (die Sache noch hoher getrieben) sogar von Grenz-
wissenschaften (und freilich umgrenzen alle Wissenschaften die
Poesie) manches verstehen, so wie der Maler von Anatomie, von
VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE 17
Chemie, Gotterlehre und sonst. - Und in der Tat hat sich niemand
so stark als Goethe - der unter alien bekannten Dichtern die
meisten Grundkenntnisse in sich verknupft, von der Reichspraxis
und Rechtslehre an durch alle Kunststudien hindurch bis zur
Berg- und Pflanzen- und jeder Naturwissenschaft hinauf- als den
festen und zierlichen Pfeiler des Grundsatzes hingestellt, daB erst
ein Dichter, welcher Licht in der einen und andern Sache hat, sich
kann horen lassen, so daB sichs hier verhielte mit den Dichtungen
wie mit den Pflanzen, welche bei aller Nahrung durch Warme,
io Feuchte und Luft doch nur Fruchte ohne Geschmack und Brenn-
Stoff bringen, wenn ihnen das Sonnen/z'cAf gebrach.
Gliicklicherweise hat sich freilich seitdem- seit dem eingegang-
nen Predigtamte Lichtenbergs und anderer Prosaisten - sehr vieles
und zwar zum wahren Vorteile der Dichter geandert. Menschen-
studien vorzuglich werden ihnen von Kunstverstandigen und
Leihlesern willig erlassen, weil man dafur desto mehr im Roman-
tischen von ihnen erwartet und fodert. Daher sind sogenannte
Charaktere - wie etwa die vorkommlichen bei Goethe, oder gar
bei Shakespeare, ja wie nur bei Lessing - gerade das, wodurch
20 sich die neueren Roman- und Drama-Dichter am wenigsten cha-
rakterisieren, sondern es ist ihnen genug - sobald nur sonst ge-
horige Romantik da ist -, wenn die Charaktere bloB so halb und
halb etwa etwas vorstellen, im ganzen aber nichts bedeuten. Ihre
Charaktere oder Menschen-Abbilder sind gute Konditor- oder
Zuckergebilde und fallen, wie alle Kandis- und Marzipanmanner,
sehr unahnlich, ja unformlich, aber desto suBer aus und zerlaufen
mild auf der Zunge. Ihre gezeichneten Kopfe sind gleichsam die
Papierzeichen dieser hohern Papiermuller und bedurfen keiner
groBern Ahnlichkeit mit den Urbildern als die Kopfe der Konige
30 von PreuBen und Sachsen auf dem preuBischen und sachsischen
Konzept-Papiere, die und deren Unahnlichkeit man erst sieht,
wenn man einen Bogen gegen das Licht halt. Da nun gerade neue
Charaktere so schwer und ihrer nur so wenige zu erschafFen sind,
wennman sich nicht zu einem Shakespeare steigern kann,hingegen
neue Geschichten so leicht zu geben, zu deren Zusammensetzun-
gen schon vorgeschriebene Endreime der Willkiir die organischen
1 8 DIE UNSICHTBARE LOGE
Kiigelchen oder den Froschlaich darbieten : so wird durch stehe'nde
Wolkengestalten von Charakteren, welche unter dem Anschauen
fliissig aus- und einwachsen und sich selber eine Elle zusetzen und
abschneiden, dem Dichter unglaubliche Miihe und Zeit, die er
fruchtbarer an Begebenheken verwendet, im Schaffen erspart, und
er kann jede Messe mit seinem frischen Reich turn neuef Geschich-
ten und alter Charaktere auftreten; er ist der Koch Andhrimmer
(in der nordischen Mythologie) und hat den Kessel Eldhrimmer
und kocht das Schwein Sahrimmer, das jeden Abend wieder leben-
dig wird, und bewirtet damit die Helden in Walhalla jeden Tag. 10
Dieser romantische Geist hat nun in Romanen und Trauer-
spielen eine Hohe und Vollkommenheit erreicht, iiber welche
hinaus er ohne Selbstverfluchtigung schwerlich zu gehen vermag,
und welche man in der ganz gemeinen Sprache unbedenkljch
schon Tollheit oder Wahnwitz nennen kann, wenn auch nicht in
der Kunstsprache. Von den Trauerspielen an des ohnehin nicht
verstandreichen Werners bis hinauf zu dem Yngurd und der Al-
baneserin des verstandiiberreichen Miillners regiert ein seltner,
luftiger, keines Bodens bediirftiger Wahnwitz die Charaktere und
dadurch sogar einen Teil der Geschichte, deren Schauplatz eigent- ao
lich im Unendlichen ist, weil verruckte und verriickbare Charak-
tere jede Handlung, die man will, motivieren und rucken konnen.
Sogar bei den groBten Genien anderer Volker und friiherer Zeiten
sucht man Kunst-Verruckungen und Anamorphosen und Ana-
grammen des Verstandes, wie z.B. in des gedachten Proselyten
Luther oder Attila, umsonst. Sogar ein Sophokles glaubte, von
seinen erbsuchtigen Kindern des Alterwahnwitzes angeklagt, sie
durch ein so verstandreiches Trauerspiel wie der Odipus zu Boden
zu schlagen ; aber in unserer Zeit wurde wohl ein deutscher Sopho-
kles vor Gericht den Beweis seines Verstandes durch kein anderes 50
Gedicht fuhren als durch eines, worin er seinen Haupt-Charak-
teren den ihrigen genommen hatte.
Dieser romantische Kunst- Wahnwitz schranktsichgliicklicher-
weise nicht auf das Weinen ein, sondern erstreckt sich auch auf
das Lachen, was man Humor oder auch Laune nennt. Ich will hier
der Vorreden-Kurze wegen mich bloB auf den kraftvollen Fried-
VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE 1 9
rich Hoffmann berufen, dessen Callotische Phantasien ich fruher
in einer besondern Vorrede schon empfohlen und gepriesen, als
er bei weitem weniger hoch, und mir viel naher stand. Neuerer
Zeit nun weiB er allerdings die humoristischen Charaktere - zu-
mal in der zerriittenden Nachbarschaft seiner Morgen-, Mittag-,
Abend- und Nachtgespenster, welche kein reines Taglicht und
keinen festen Erdboden mehr gestatten - zu einer romantischen
Hohe hinaufzutreiben, da 6 der Humor wirklich den echten Wahn-
witz erreicht; was einem Aristophanes und Rabelais und Shake-
10 speare nie gelingen wollen. Auch der heitere Tieck tat in fruhern
Werken nach diesen humoristischen Tollbeeren einige gluckliche
Spriinge, lieB aber als Fuchs sie spater hangen und hielt sich an
die Weinlese der Bacchusbeeren der Lust.
Dieses wenige reiche hin, um zu zeigen, wie wilHg und freudig
der Verfasser den hohen Stand- und Schwebepunkt der jetzigen
Literatur anerkenne. Unstreitig ist jetzo die Belladonna (wie man
die Tollkirsche nennt) unsere Muse, Primadonna und Madonna,
und wir leben im poetischen Tollkirschenfest. Desto erfreulicher
ist es, daB auch die Lesewelt diese poetische Hinaufstimmung auf
20 eine freundliche Weise begiinstigt durch ihre Teilnahme, und daB
sie, wie das Morgenland, Verriickte als Heilige ehrt, und was sie
sagen, fiir eingegeben halt. Oberhaupt eine schone Lorbeer- und
Kirschlorbeerzeit! —
Bei alien neuen zweiten Ausgaben wird es dem Verfasser, der
sie so gern zu recht verbesserten machen mochte, von neuem
schmerzhaft, daB keine seiner Dichtungen ein um- und eingrei-
fendes Kunsturteil uber Charaktere und Geschichte und Sprache
jemal hat erobern konnen. Mit einem allgemeinen Lobe bis zur
Obertreibung und mit einem ahnlichen Tadel bis zu einer noch
jo groBern ist einem rechtschaffenen Kiinstler nicht gedient und ge-
holfen. Naturlicherweise wurden zweite Auflagen noch weniger
beurteilt und gepriift als erste, und der Verfasser sah. jeden Abend
vergeblich auf ein Lob seiner Str'enge gegen sich selber auf. Wie
gern er aber bessert und streicht - noch mehr als ein Wiener
Schauspieldirektor, der bloB fremde Stiicke zerstuckt - und wie
emsig er aus jedem bedornten oder gestachelten Tadel, sei er ent-
20 DIE UNSICHTBARE LOGE
weder Rose oder Wespe, den Honig der Besserung saugt, dies
konnte ein Kunstrichter erfahren, ohne mehr Biicher zu lesen als
zwei, namlich die zweite Ausgabe neben der ersten; ja sogar aus
einem einzigen konnte er alles wegbekommen, wenn er einen
Herrn Verleger bloB urn gefallige Vorzeigung des Ietzten, mit
weisen Runzeln und mit Druck- und Dintenschwarze zugleich
durchfurchten ^/f-Exemplars ersucbte: der Mann wiirde im
Buchladen sich wundern iiber das Bessern, ihm so gerade gegen-
iiber.
Aber, wie leider gesagt, gegenwartigwird inDeutschland wenig 10
Belletristisches rezensiert, unddieTaschenkalendersindhierwohl
die einzigen Ausnahmen von Belang, namlich ihre verschiedenen
kleinen Aufsatze und die verschiedenen kleinen Urteile dazu.
Es ist eigentlich ziemlich spat, daB ich erst nach 28 Jahren sage,
was die beiden Titel des Buchs sagen wollen. Der eine wnsicht-
hare Logea soil etwas aussprechen, was sich auf eine verborgne
Gesellschaft bezieht, die aber freilich so lange im Verborgnen
bleibt, bis ich den dritten oder SchluBband an den Tag oder in die
Welt bringe. Noch deutlicher laBt sich der zweite Titel »Mumien«
erklaren, der mehr auf meine Stimmung, so wie jener mehr auf 20
die Geschichte, hindeutet. Oberall werden namlich im Werke die
Bilder des irdischen Voruberfliegens und Verstaubens, wie agyp-
tische Mumien und griechische Kunst-Skelette, unter den Lust-
barkeiten und Gastmahlen aufgestellt. Nun soil aber die Poesie
mehr das Entstehen als das Vergehen zeigen und schafFen und
mehr das Leben auf den Tod malen als das Gerippe auf das Leben.
Der Musenberg soil als der hochste, alle Wolken uberniigelnde
Berg, der uns sowohl den Himmel als die Erde heller schauen laBt
und zugleich die Sternbilder und den blumigen Talgrund uns
naher bringt, dieser soil der Ararat der im Wasser arbeitenden und 30
schifFbriichigen Menschheit sein; wie sich in der Mythe 1 Deuka-
lion und Pyrrha aus der Sundflut auf dem Parnassus erretteten.
So verlangt es besonders unser Goethe und dichtet darnach; die
Dichtkunst soil nur erheitern und erhellen, nicht verdustern und
bewolken. - Und dies glaub* ich auch; ja ohne eine angeborne
1 Ovid. Metamorph. VI.
VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE 21
unwillkiirliche - was man eben Hoffnung und Erinnerung nennt -
ware keine Wirklichkeit zu ertragen, wenigstens zu genie Ben. -
Aber ebenso gewiB ist es, daB gerade die Jugend, diese leben-
dige Poesie, mitten unter ihren Bliitenasten (fur sie aber schon
Fruchtaste) und auf ihren sonnigen warmen Anhohen nichts lieber
dichtet und gedichtet liest als Nachtgedanken; und nicht nur vor
der liebekranken Jungfrau, sondern auch vor dem liebestarken
J tingling - der darum einem Schlachttode weit begeisterter ent-
gegenzieht als ein Alter - schweben die Gottesacker als hangende
io Garten in Liiften, und sie sehnen sich hinauf. Die Jugend kennt
nur griine blumige Grabhugel, aber das Alter offne Graber ohne
grunende Wande.
Diese jugendliche Ansicht komme nun dem Verfasser, der in
einem fiir inn noch jugendlichen Alter schrieb, bei seinen zu hau-
figen Grablegungen und seinen Nachtstiicken der Verganglich-
keit in diesem Werke zugute. - Indes ist hier eben eine nicht zu
furchtsame Rechtfertigung notwendig; denn da wir doch einmal
alle in der immer vernichtenden und vermchtet-werdenden Zeit
fortschwimmen und wir auf den kleinen Grabchen jeder Minute
29 in das groBe der letzten Stunde steigen mtissen : so kann hier kein
scheues Seitwartsschielen der Poesie - was etwa bei Obeln gelten
konnte, die nur einzelne und nur zeitweise ergreifen -, sondern
bloB ein tapferes Aufwartsschauen dichterisch und erquickend
werden. Die Poesie mache nur keck die Erdgruft auf, aber sie zeige
auch, wie sie zwischen zwei Halbh'immeln liegt und wie wir aus
dem zugedeckten uns dem aufgedeckten zudrehen. - Und wenn
wir nur als spielende Eintagmucken, eigentlich Einabendmucken
in den Strahlen der untergehenden Sonne uns sonnen und dann
senken: so geht nicht bloB die Miicke, auch die Sonne unter; aber
30 im weiten Freien der Schopfung, wo kein Erdboden sich da-
zwischenstellt, haben Sonnen und Geister keinen Untergang und
kein Grab.
Und so mdgen denn diese zwei Mumien, weniger mit neuen
Gewiirzen zur Fortdauer einbalsamiert als hie und da mit den
Zeichen-Binden anders eingewickelt, sich wieder der friihern Zu-
ziehung und Einladung zu den Gastmahlen der Leser zu erfreuen
27. DIE UNSICHTBARE LOGE
habenl Und die dritte oder SchluBmumie soil nachgeschickt wer-
den — als die dritte Parze im schonen griechischen Sinne — , wenn
nicht den Mumien-Vater selber vorher das Schicksal zur groBen
Mumie macht. Also dm einen und im andern Falle kann es an einer
dritten SchluBmumie nicht fehlen.
Baireuth den 24 ten Jun. 1821.
Jean Paul Fr. Rich ten.
VORREDNER
in Form einer Reisebeschreibung
Ich wollte den Vorredner anfangs in Sichersreuth oder Alexan-
dersbad bei Wonsiedel verfertigen, wo ich mir das Podagra wieder
in die Fiifien hinunterbaden wollte, das ich mir bloB durch gegen-
wartiges Buch zu weit in den Leib hinaufgeschrieben. Aber ich
habe mir meinen Vorredner, auf den ich mich schon seit einem
Jahre freue, aus einem recht vernunftigen Grunde bis heute auf-
gespart. Der recht verniinftige Grund ist der Fichtelberg, auf
10 welchen ich eben fahre. - Ich muB nun diese Vorrede schreiben,
damit ich unter dem Fahren nicht aus der Schreibtafel und Kutsche
hinaussehe, ich meine, damit ich die grenzenlose Aussicht oben
nicht wie einen Fruhling nach Kubikruten, die Strome nach Ellen,
die Walder nach Klaftern, die Berge nach SchifFpfunden, von
meinen Pferden zugebrockelt bekomme, sondern damit ich den
groBen Zirkus und Paradeplatz der Natur mit alien seinen Stro-
men und Bergen auf einmal in die aufgeschlossene Seele nehme. -
Daher kann dieser Vorredner nirgends aufhoren als unweit des
Ochsenkopfs, auf dem Schneeberg.
20 Das notigt mich aber, unterweges mich in ihm an eine Menge
Leute gesprachsweise zu wenden, um nur mit ihm bis auf den
Ochsenkopf hinauf zu langen; ich muB wenigstens reden mit Re-
zensenten - Weltleuten - Hollandern - Fursten - Buchbindern -
mit dem Einbein und der Stadt Hof - mit Kunstrichtern und mit
schonen Seelen, also mit neun Parteien. Es wird mein Schade nicht
sein, daB ich hier, wie es scheint, in den Klimax meiner Pferde
den Klimax der Poeten verflechte
Der Wagen stdfiet den Verfasser dermaBen, daB er mit Nro. 1,
den Rezensenten, nichts Vernunftiges sprechen, sondern ihnen
30 bloB erzahlen will, was sein guter grauer Schwiegervater begeht -
24 DIE UNSICHTBARE LOGE
namlich alle Tage seinen ordentlichen Mord und Totschlag. Ich
geb' es zu, viele Schwiegervater konnen hektisch sein, aber wenige
sind dabei in dem Grade offizinell und arsenikalisch als meiner,
den ich in meinem Hause - ich hab's erst aus Hallers Physiologie
T. II. erfahren, daB Schwindsiichtige mit ihrem Atem Fliegen
toten konnen - statt eines giftigen Fliegenschwamms mit Nutzen
verbrauche. Der Hektiker wird nicht klein geschnitten, sondern
er gibt sich bloB die kleine Miihe, den ganzen Morgen statt einer
Seuche in meinen Stuben zu grassieren und mit dem Schirokko-
wind seines phlogistischen Atems aus seiner Lunge der Fliegen 10
ihxe anzuwehen; aber die Rezensenten konnen sich leicht denken,
ob so kleine Wesen und Nasen, die sich keinen antimephitischen
Respirator vom Herrn Pilatre de Rozier applizieren konnen, einen
solchen abscheulichen Schwaden auszuhalten fahig sind. Die
Fliegen sterben hin wie - Fliegen, und statt der bisherigen Miik-
ken-Einquartierung nab* ich bloB den guten giftigen Schwieger-
vater zu bekostigen, der mit ihnen auf den FuB eines Miicken-
Freund-Hein umgeht. Nun glaub* ich, den ordentlichen guten
Rezensenten einem Schwiegervater von solchem Gift und Wert
gleichsetzen zu durfen; ja ich mochte jenen bei der Hand anfassen *o
und, auf den grassierenden Phthisiker hindeutend, ihn anfeuern
und fragen: »ob er nicht merke, daB er selber gar nicht zu ver-
achten sei, sondern daB er - wenn der Hektikus, mit seinen Lun-
genfliigeln das feinste und notigste Miasma unter die Fliegen
.wehend, ein edles seltenes Glied in der naturhistorischen Welt
vorstelle - ein ebenso niitzliches in der Hterarischen ausmache,
wenn er, in der Gelehrtenrepublik auf- und abschleichend, das
summende Insektengeflugel mit seinem atzenden Atem so treffend
anhauche, daB es krepiere wie eine Heuschreckenwolke -; ob er
dieses und noch besseres, mocht' ich den Rezensenten fragen, 30
nicht merke und nicht daraus schlieBe, daB der Vorredner
zu der unsichtbaren Loge dies zehnmal weitlauftiger haben
werde?« -
Er hat es aber naturlicherweise viel kiirzer, weil ich sonst auf
den Ochsenkopf hinaufkame mitten in der Vorrede, ohne nur der
Weltleute gedacht zu haben, geschweige der andern.
VORREDNER 25
Diese wollen nun die zweite Nummer und Sprosse meines Auf-
klimmers abgeben - Campe wirft nicht ungeschickt durch dieses
Wort den Klimax aus seinen und meinen Biichern -; allein ich
werde wenig mehr bei ihnen anzubringen haben als eine Recht-
fertigung, daB ich mich in meinem Werke zu oft anstellte, als
macht' ich mir aus der Tugend etwas und aus jener Schwarmerei,
die so oft den Namen Enthusiasmus tragt. Ich besorge wahrhaftig
nicht, daB verntinftige Leute meine Anstellung gar fiir Ernst an-
sehen ; ich hofFe, wir trauen beide einander zu, daB wir das Lacher-
io liche davon empfinden, statt der Namen der Tugenden diese selber
haben zu wollen - und heutzutage sind die wenigsten von uns zu
den tollen Philosophen in Lagado (in Gullivers Reisen) zu rech-
nen, die aus Achtung fiir ihre Lunge die Dinge selber statt ihrer
Benennungen gebrauchten und allemal in Taschen und Sacken die
Gegenstande mitbrachten, woriiber sie sich unterhalten wollten.
Aber ob man mir nicht eben dies verdenken wird, daB ich Namen
so oft gebrauche, die nicht viel modischer als die Sache selber sind
und deren man sich in Zirkeln von Ton, so wie der Namen »Gott,
Ewigkeit«, gern enthalt, dariiber lasset sichdisputieren. Inzwischen
20 sen' ich doch auf der andern Seite auch, daB es mit der Sprache
der Tugend wie mit der lateinischen ist, die man jetzozwar nicht
mehr gesprochen, aber doch geschrieben duldet und die deswegen
langst aus dem Mund in die Feder zog. Ich berufe mich uberhaupt
auf einsichtige Rezensenten, ob wir dichtenden Schriftsteller ohne
tugendhafte Gesinnungen, die wir als poetische Maschinen ge-
brauchen so wie die ebenso fabelhafte Mythologie, nur eine Stun-
de auszukommen vermogen und ob wir nicht zum Schreiben hin-
Iangliche Tugend haben mtissen als Wagenwinde, Steigeisen,
Montgolfiere und Springstab unsrer (gedruckten) Charaktere -
$o widrigenfalls gefallen wir keiner Katze; und es ergeht den armen
Schauspielern auch nicht anders. Freilich Autoren, die iiber Poli-
tik, Finanzen, Hofe schreiben, interessieren gerade durch die ent-
gegengesetzten Mittel - Eben damit kann sich ein Schreiber dek-
ken, der in seine Charaktere das, was die Poeten und Weiber ihr
Herz nennen, eingeheftet; es muB drin hangen (nicht nur in ge-
schilderten, auch in lebenden Menschen), es mag Warme haben
26 DIE UNSICHTBARE LOGE
oder nicht; ebenso versieht der Biichsenmacher die Windbuchsen
so gut mit einer Ziindpfanne wie Feuergeschofi, ob gleich nur mit
JiFirWgetrieben wird — Es kann wahrlich um den ganzen Fichtel-
berg kein so kalter pfeifen als gerade im Holzweg, wo eben mein
Wagen mitten im Auguste geht —
Mit Nro. 3, den Hollandern, wollt' ich mich in meinem Kasten
zanken wegen ihres Mangels an poetischem Geschmack: das war
alles. Ich wollte ihnen vorwerfen, daB ihrem Herzen ein Ballen-
binder naher liege als ein Psalmist, ein Seelenverkaufer naher als
ein Seelenmaler, und daB das ostindische Haus keinem einzigen 10
Poeten eine Pension auswerfen wiirde als bloB dem alten Orpheus,
weil seine Verse Fliisse ins Stocken sangen und man also sein Ha-
berrohr und seine Muse anstatt der belgischen Damme gebrauchen
konnte. Ich wollte den Niederlandern den kaufmannischen Unter-
schied zwischen Schonheit und Nutzen nehmen und ihnen es hin-
unterschreiben, daB Armeen, Fabriken, Haus, Hof, Acker, Vieh
nur das Schreib- und Arbeitszeug der Seele waren, womit sie einige
Gefuhle, worauf alle Menschentatigkeit auslauft, errege, erhebe
und auBere, daB den indischen Kompagnien Schiffe und Inseln
dazu dienten, wozu den poetischen Reime und Federn taugten, 20
und daB Philosophic und Dichtkunst die eigentlichen Frtichte und
Bliiten am Baume des Erkenntnisses ausmachten, aber alle Ge-
werb- und Finanz- und Staat-Wissenschaften und Kameralkorre-
spondenten und Reichsanzeiger bloB die einsaugenden Blatter
waren und der Splint, der Wurzeln-Efeu und das unter dem
Baume treibende Aas. - Ich wollt* es sagen; lieB es aber bleiben,
weil ich besorgte, die Deutschen merkten es, daB ich unter Hol-
landern bloB - sie selber meine; denn wie kam' iqh auch sonst
unter die mit Tee ausgelaugten belgischen Schlafrocke? - Ich
habe ohnehin wenig mehr zu fahren und viel noch abzu- 50
fertigen;
Ich untersag' es den europaischen Landstanden, mein Werk
Nro. 4 einem Fursten zu geben, weil er sonst dabei ein-
sMaft; welches ich - da ein furstlicher Schlaf nicht halb so
spaBet wie ein homeriscker - recht gern geschehen lasse, so-
bald die europaischen Landstande das Gesetz wie ein Arcuc-
VORREDNER 27
cio 1 so iiber die Landeskinder wolben, daB sie der Landesvater
im Schlafe nicht erdrucken kann, er mag sich darin werfen, wie
er will, auf die Seiten, auf den Rucken oder auf den Bauch.
Da hundert Buchbinder Nro. 5 mich unter den Arm und in die
Hande nehmen werden, um mich ganze Wochen friiher zu lesen
als zu besckneiden und zu pressen — gute Rezensenten taten gewiB
das Widerspiel-: so miissen die guten Rezensenten auf die Buch-
binder warten j die Leser auf die Rezensenten und ich auf die Leser,
und so darf ein einziger Ungliickvogel uns alle verhetzen und in
10 den Sumpf ziehen; aber wer kanns den Buchbindern verbieten als
ich, der ich in dieser Nachricht an Buchbinder mein Buch fur der-
gleichen Binder eigenhandig konfisziere?
Mit dem Einbein, der sechsten Nummer, viel zu reden, wie ich
verhieB, verlohnt der Miihe gar nicht, da ich das Ding selber bin
und noch uberdies der einbeinige Autor heiBe. Die Hofer (die
Einwohner der Stadt Hof, der 7 tcn Nr.), worunter ich hause, muB-
ten mich mitdiesemanti-epischen Namen belegen, weil mein linkes
Bein bekanntlich ansehnlich kiirzer ist als das andre und weil noch
dazu unten mehr ein Quadrat- als KubikfuB dransitzt. Es ist mir
20 bekannt, Menschen, die gleich den ostindischen Hummern eine
kurze Schere neben der langen haben, konnen allerdings sich mit
der chaussure behelfen, die ihre Kinder ablegen; aber es ist ebenso
unleugbar, daB das Zipperlein einem solchen Mann dennoch an
beiden FuBen kneift und diesen den verdammtesten spanischen
Stiefel anschraubt, den je ein Inquisit getragen.
Ich hatte gar nicht sagen sollen, daB ich mit meinem lieben Hof
in Voigtland schriftlich am Fichtelberge sprechen wollte, da ichs
mundlich kann und mein eigener Kerl daraus her ist. Mein Wunsch
und Zweck in einem solchen Werke wie diesem ist und bleibt
30 bloB der, daB diese betagte und bejahrte Stadt den Schlaf, den ich
ihr darin mit den harten Federn einer Gans einfloBen will, auf den
weichen dieses Tiers genieBen moge
- Endlich hab' ich nun den Ochsenkopf. -
1 Das ist ein Gehause in Florenz - in Kriinitz* okon. Enzykl. 2. B. ists ab-
gebildet— , worin die Mutter beiStrafe das Kind unter dem Saugen legen mu6,
um es nicht im Schlummer zu erquetschen.
28 DIE UNSICHTBARE LOGE
Diese Zeile ist kein Vers, sondern nur ein Zeichen, daB ich dro-
ben war und da viel tat : meine Sanfte wurde abgeschnallet und ich
mit geschlossenen Augen hineingeschafft, weil ich erst auf dem
Schneeberg, derKuppel des Fichtelgebirgs, mich umsehen will —
Unter dem Aussteigen stromte vor meinem Gesicht eine atherische
Morgenluft voriiber; sie driickte mich nicht mit dem schwiilen
West eines Trauerfachers, sondern hob mich mit dem Wehen
einer Freiheitfahne.... Wahrhaftig ich wollte unter einem Luft-
schirTe ganz andre Epopoen und unter einer Taucherglocke ganz
andre Feudalrechte schreiben, als die Welt gegenwartig hat ... . 10
Ich wunschte, Nro. 8, die Kunstrichter wiirden in meinerSanfte
mitgetragen und ich hatte ihre Hande; ich wiirde sie driicken und
sagen: Kunstrichter unterschieden sich von Rezensenten wie
Richter von Nachrichtern - Ich wiirde ihnen gratulieren zu ihrem
Geschmack, daB er, wie der eines Genies, dem eines Kosmopoliten
gleiche und nicht bloB einer Schonheit rauchere - etwa der Fein-
heit, der Starke, dem Witze-, sondern daB erinseinemSimultan-
tempel und Pantheon fur die wunderlichsten Heiligen Altare und
Kerzen dahabe, fur Klopstock und Crebillon und Plato und
Swift.... Gewisse Schonheiten, wie gewisse Wahrheiten - wir 20
Sterbliche halten beide noch fur zweierlei - zu erblicken, muB
man das Herz ebenso ausgeweitet und ausgereinigt haben wie den
Kopf Es hangt zwischen Himmel und Erde ein groBer Spiegel
von Kristall, in welchen eine verborgne neue Welt ihre groBen
Bilder wirft; aber nur ein unbeflecktes Kindes-Auge nimmt sie
wahr darin, ein besudeltes Tier-Auge sieht nicht einmal den Spie-
gel Nur einen orTentlichen Richter, den mein Herz verehrt,
schenke mir dieses Jahr, und war* er audi wider mich parteiisch;
denn ein parteilicher dieser Art fallet ein lehrreicheres Urteil als
ein unparteiischer aus der Wochentag-Kaste. 30
t)ber den Plan eines Romans (aber nicht iiber die Charaktere)
muB man schon aus dem ersten Bande zu urteilen Befugnis haben ;
alle Schonheit und Riinde, mit der die folgenden Bande den Plan
aufwickehr, nimmt ja die Fehler und Sprimge nicht weg, die er
im ersten hatte. Ich wiiBte uberhaupt keinen Band und kein Heft,
worin der Autor recht hatte, den Leser zu argern. Die Nahe des
VORREDNER 29
Schneeberges hindert mich, es zu beweisen, daB die franzosische
Art zu erzahlen (z. B. im Candide) die abscheulichste von der Welt
und daB bloB die umstandliche, dem Homer oder VoB oder ge-
meinen Marine abgesehene Art die interessanteste ist. Ferner kam'
ich auf dem Schneeberg an, eh* ichs nur halb hinaus bewiesen
hatte, daB wir Belletristen (ein abscheulicher Name!) insgesamt
zwar den Aristoteles fur unsern magister sententiarum und seine
Gebote fur unsre 39 Artikel und 50 Dezisionen halten sollten -
daB wir aber doch fur nichts von ihm so viele Achtung zu tragen
10 hatten als fur seine drei Einheiten (die asthetische Regeldetri),
gegen die nicht einmal Romane siindigen sollten. Der Mensch
interessiert sich bloB fiir Nachbarsckaft und Gegenwart; der wich-
tigste Vorfall, der in Zeit oder Raum sich von ihm entfernt, ist
ihm gleichgultiger als der kleinste neben ihm; so ist er, wenn er
die Vorfalle erlebt, und mithin auch so, wenn er sie lieseu Darauf
beruht die Einheit der Zeit und des Orts. Also der Anfang in der
Mitte einer Geschichte, um daraus zum anfangenden Anfang zu-
riickzuspringen - das zeitwirre Ineinanderschiitteln der Szenen -
Episoden - so wie das Kniipfen mehrer Hauptknoten, ja sogar
20 das.Reisen in Romanen, das den Maschinengottern ein freies,aber
uninteressantes Spiel erlaubt kurz alle Abweichungen von
dem Tom Jones und der Klarissa sind Sekunden und Septimen im
Aristotelischen Dreiklang. Das Genie kann zwar alles gutmachen;
aber Gutmachen ist nicht aufs beste machen, und glanzende ver-
klarte Wundenmale sind am Ende doch Locher am verklarten
Leibe. Wenn manche Genies die Kraft, die sie aufs Gutmachen
iibertretner Regeln wenden miissen, in der Befolgung derselben
arbeiten lieBen: sie taten mehr Wunder als der heilige Martin, der
ihrer nicht mehr bewerkstelligte als zweihundertundsechs-Goethe
30 in seiner Iphigenie und Klinger in seiner Medea tuns vielleicht
dem heiligen Martin zuvor....
— Gegenwartig tragt man das Einbein (mich) iiber den Fichtel-
see und iiber zwei Stangen, die statt einer Brucke iiber diese be-
mooste Wiiste bringen. Zwei Fehltritte der Gondelierer, die mich
aufgeladen, versenken, wenn sie geschehen, einen Mann in den
Fichtelsumpf, der darin an seinem Vorredner arbeitet und der mit
30 DIE UNSICHTBARE LOGE
acht Nummern Menschen gesprochen und dessen Werk zum
Gliick schon in Berlin ist Berge iiber Berge werden jetzo wie
Gotter aus der Erde steigen, die Gebirge werden ihre Arme langer
ausstrecken und die Erde wird wie eine Sonne aufgehen und dann
wird ihre weiten Strahlen ein Menschen-BIick verknupfen und
meine Seele wird unter ihrem Brennpunkt gliihen Nach
wenigen Schritten und Worten ist die Vorrede aus, auf die ich
mich so lang gefreuet, und der Schneeberg da, auf dem ich mich
erst freuen soil. - Es ist gut, wenn ein Mensch seine Lebensereig-
nisse so wunderbar verflochten hat, daB er ganz widersprechende 10
Wiinsche haben kann, daB namlich der Vorredner dauere und der
Schneeberg doch komme.
— In diesen Gegenden ist alles still, wie in erhabnen Menschen.
Aber tiefer, in den Talern, nahe an den Grabern der Menschen
steht der schwere Dunstkreis der Erde auf der einsinkenden Brust,
zu ihnen nieder schleichen Wolken mit groBen Tropfen und
Blitzen, und drunten wohnt der Seufzer und der SchweiB. Ich
komme auch wieder hinunter, und ich sehne mich zugleich hinab
und kinauf. Denn der irre Mensch - die agyptische Gottheit, ein
' Stuckwerk aus Tierkopfen und Menschen-Torsos - streckt seine 20
Hande nach entgegengesetzten Richtungen aus und nach dem
ersten Leben und nach dem zweiten : seinen Geist ziehen Geister
und Korper. So wird der Mond von der Sonne und Erde zugleich
gezogen, aber die Erde legt ihm ihre Ketten an, und die Sonne
zwingt ihn bloB zu Ausweichungen. Diesen Widerstreit, den kein
Sterblicher beilegt, wirst du, geliebter Leser, auch in diesen Blat-
tern finden; aber vergib ihn mir wie ich dir. Und ebenso habe fur
unverhaltnismaBige Ausbildung die Nachsicht des Menschen-
kenners. Eine unsichtbare Hand legt den Stimmhammer an den
Menschen und seine Krafte - sie uberschraubt, sie erschlaflft Saiten 3*
— oft zersprengt sie die feinsten am ersten — nicht oft nimmt sie
einen eilenden Dreiklang aus ihnen - endlich wenn sie alle Krafte
auf die Tonleiter der Melodie gehoben : so tragt sie die melodische
Seele in ein hoheres Konzert, und diese hat dann hienieden nur
wenig getonet.
.... Ich schrieb jetzt eine Stunde nicht; ich bin nun auf dem
VORREDNER 3 I
Schneeberg, aber nbch in der Sanfte. Erhabne Paradiese liegen
um mich ungesehen, wie um den eingemauerten Menschengeist,
zwischen dem und dessen hoherem Mutterland der dunkle Men-
schenkorper innen stent; aber ich habe mich so traurig gemacht,
daB ich in das schmetternde Trommeten- und Laubhuttenfest,
das die Natur von einem Gebirge zum andern begeht, nicht hin-
eintreten will: sondern erst wenn die Sonne tiefer in den Himmel
gesunken und wenn in ihren Lichtstrom der Schattenstrom der
Erde fallt, dann wird unter die stummen Schatten noch ein neuer
io begluckter stiller Schatten gehen. — Aufrichtiger zu sprechen,
ich kann bloB von euch - ihr schonern Leser, deren getraumte,
zuweilen erblickte Gestalten ich wie Genien auf den Hohen des
Schonen und GroBen wandeln und winken sah - nicht Abschied
nehmen; ich bleibe noch ein wenig bei euch, wer weiB, wann und
ob die Augenblicke, wo unsre Seelen iiber einem zerstiebenden
Blatte sich die Hande geben, je wiederkommen - vielleicht bin
ich hin, vielleicht du, bekannte oder unbekannte teuere Seele, von
welcher der Tod, wenn er vorbeigeht und die unter Kornern und
Regentropfen gebiickte Ahre erblickt, bemerkt: sie ist schon
20 zeitig. - Und gleichwohl was kann ich jenen Seelen in den Augen-
blicken des Abschieds, die man so gern mit tausend Worten iiber-
laden mochte und eben deswegen bloB mit Blicken ausfullt, noch
zu sagen haben oder zu sagen wissen, als meine ewigen Wiinsche
fur sie : findet auf diesem (von uns Erdball genannten) organischen
Kugelchen, das mehr begraset als beblilmet ist, die wenigen Blumen
im Nebel, der um sie hangt - seid mit euren elysischen Traumen
zufrieden und begehret ihre Erfullung und Verkorperung (d.h.
Verknocherung) nicht; denn auf der Erie ist ein erfiillter Traum
ohnehin blofi ein wiederholter — von aufien seid, gleich eurem Kor-
30 per, von Erde, und bloB innen beseelt und vom Himmel; und
haltet es fur schwerer und notiger, die zu lieben, die euch ver-
achten, als die, die euch hassen - und wenn unser Abend da ist,
so werfe die Sonne unsers Lebens (wie heute die drauBen) die
Strahlen, die sie vom irdischen Boden weghebt, an hohe goldne
Wolken und (als wegweisende Arme) an hohere Sonnen; nach
dem muden Tage des Lebens sei unsre Nacht gestirnt, die.heiBen
32 DIE UNSICHTBARE LOGE
Dimste desselben schlagen sich meder, am erkalteten hellen Hori-
zont ziehe sich die Abendrote langsam um Norden herum, und bei
Nord-Osten lodere fur unser Herz die neue Mor gemote auf......
.... Nun tritt auch die Erdensonne auf die Erdengebirge und
von diesen Felsenstufen in ihr heiliges Grab; die unendliche Erde
ruckt ihre groBen Glieder zum Schlafe zurecht und schlieBet ein
Tausend ihrer Augen um das andre zu. Ach welche Lichter und
Schatten,HohenundTiefen,Farbenund Wolken werden drauBen
kampfen und spielen und den Himmel mit der Erde verkniipfen -
sobald ich hinaustrete (noch ein Augenblick steht zwischen mir 10
und dem Elysium), so stehen alle Berge von der zerschmolzenen
Goldstufe, der Sonne, uberflossen da — Goldadern schwimmen
auf den schwarzen Nacht-Schlacken, unter denen Stadte undTaler
iibergossen liegen - Gebirge schauen mit ihren Gipfeln gen Him-
mel, legen ihre festen Meilen-Arme um die bliihende Erde, und
Strome tropfen von ihnen, seitdem sie sich aufgenchtet aus dem
uferlosen Meer — Lander schlafen an Landern, und unbewegliche
Walder an Waldetn,undiiberderSchlafstatte der ruhenden Riesen
spielet ein gaukelnder Nachtschmetterling und ein hupfendes
Licht, und rund um die groBe Szene zieht sich wie um unser Leben ap
ein hoher Nebel. Ich gehe jetzo hinaus und sink' an die ster-
bende Sonne und an die entschlafende Erde.
Ich trat hinaus
Auf dem Fichtelgebirg, im Erntemond 1792.
Jean Paul
Erster Sektor
Verio bung-Schach - graduierter Rekrut - Kopulier-Katze
Meines Erachtens war cler Obristforstmeister von Knor bloB
darum so unerhort aufs Schach erpicht, weil er das ganze Jahr
nichts zu tun hatte als einmaX darin der Gast, die Santa Hermandad
und der teure Dispensationbullen-Macher der Wildmeister zu
sein. Der Leser wird freilich noch von keiner so unbandigen Lieb-
haberei gehort haben, als seine war. Das wenigste ist, daB er alle
seine Bediente aus dem Dorfe Strehpenik verschrieb, wo man
io durch das Schach so gut Steuerfreiheit gewinnt als ein Edelmann
durch einen sachsischen Landtag, damit er (obwohl in anderem
als katonischen Sinne) ebenso viele Gegner als Diener hatte -
oder daI3 er und ein oberysselscher Edelmann in Zwoll mehr Post-
geld verschrieben als verreiseten, weil sie Schach auf 250 Meilen
nicht mit Fingern, sondern Federn zogen - Auch das kann man
sich gefallen lassen, daB er und die Kempelsche Schachmaschine
Briefe miteinander wechselten und daB des holzernen Moslems
Konviktorist und Adjutant, Herr v. Kempele, ihm in meinem Bei-
sein aus der Leipziger HeustraBe im Namen des Muselmanns zu-
20 ruckschrieb, dieser rochiere - Man wird seine Gedanken dariiber
haben, daB er noch vor zwei Jahren nach Paris abfuhr, um ins
Palais royal und in die Societe du Salon des Echecs zu gehen und
sich darin als Schachgegner niederzusetzen und als Schachsieger
wieder aufzuspringen, wiewohl er nachher in einer demokratischen
Gasse vie*l zu sehr gepriigelt wurde, da er im Schlafe schrie: gar-
dez la Reine - BloB frappieren kanns einen und den andern, daB
seine Tochter ihm nie einen neuen Hut oder eine neue Soubrette,
die ihn ihr ansteckte, anders abgewann als zugleich mit einem
Schach — Aber dariiber wundert und argert sich alles, was mich
30 Reset, Leute von jedem Geschlecht und jedem Alter. daB der
34 DIE UNSICHTBARE LOGE
Obristforstmeister geschworen hatte, seine Tochter keiner andern
Bestie in der ganzen Ritterschaft zu geben, als einer, die ihr auBer
dem Herzen noch em Schach abgewanne - und zwar in sieben
Wochen.
Sein Grund und KettenschluB war der: »Ein guter Mathema-
tiker ist ein guter Schachspieler, also dieser jener - ein guter Ma-
thematiker weiB die Differentialrechnung zehnmal besser als ein
elender — und ein guter Differentialrechenmeister versteht sich so
gut als einer aufs Deployieren und Schwenken und kann mithin
seine Kompagnie (und seine Frau vollends) zu jeder Stunde kom- 10
mandieren - und warum so lite man einem so geschickten, so er-
fahrnen Offizier seine einzige Tochter nicht geben?« - Der Leser
hatte sich gewiB sogleich ans Schachbrett hingesetzt und gedacht,
der Zug einer solchen Quaterne aus dem Brette, wie die Tochter
eines Obristforstmeisters ist, sei ja auBerordentlich leicht; aber er
ist verdammt schwer, wenn der Vater selbst hinter dem Stuhle
passet und der Tochter jeden Zug angibt, womit sie ihren Konig
und ihre Tugend gegen den Leser decken soil.
Wers horte, begriff gar nicht, warum die Frau Obristforst-
meisterin, welche lange Gesellschaftdame einer Grafin von Ebers- 20
dorf gewesen, bei ihrem feinen Gefuhl und ihrer Frommigkeit
eine solche Jagerlaune dulde; sie hatte aber eine herrnhutische
durchzusetzen, welche begehrte, daB das erste Kind ihrer Tochter
Ernestine fur den Himmel sollte groB gezogen werden, namlich:
acht Jahre unter der Erde - »Meinetwegen achtzig Jahre«, sagte der
Alte.
Ob man gleich in jedem Falle Teufelsnot mit einer Tochter hat,
man mag Abonnenten an sie anzulocken oder abzutreiben haben :
so hatte doch Knor bei der Sache seinen wahren Himmel auf
Erden - unter so vielen Schachrittern, die samtlich seine Ernestine 30
1 Das wiiBt* er nicht, wenn ers nicht aus den neuen Taktikern, Herrn Hahn
und Herrn Miller, hatte, die den jungen Offizier die Differentialrechnung
lehren, damit es ihm nicht schwer werde, mitten im Treffen beim Deployie-
ren und Schwenken die Grundwinkel herauszurechnen. - Ebenso hab' ich
hundertmal ein Buch schreiben und darin die armen visierenden Billard-
spieler in den Stand setzen wollen, bio 13 nach einigen Auflosungen aus der
Mechanik und hoheren Mathesis mit zugemachten Augen zu stoCen.
ERSTER SEKTOR 35
bekriegten und verspielten. Denn mit einem Kopfe, in den der
Vater Licht, und mit einem Herzen, in das die Mutter Tugend ein-
gefuhrt hatte, eroberte sie leichter, als sie zu erobern war; daher
argerte und spielte sich an ihr eine ganze Brigade ehelustiger Jun-
ker halb tot. Und doch waren unter ihnen Leute, die auf alien
nahen Schlossern den Namen sufier Herren behaupteten, weil sie
keine - Matrosensitten hatten, wie man in Vergleichung mit dem
Seewasser unser schales sufies nennt.
Aber ich und der Leser wollen iiber die ganze spielende Kom-
io pagnie wegspringen und uns neben den Rittmeister von Falken-
berg stellen, der bei dem Vater steht und auch heiraten will. Dieser
Offizier-ein Mann voll Mut und Gutherzigkeit, ohne alle Grund-
satze als die der Ehre, der, um sich nichts hinter seine Ohren zu
schreiben, die sonst bei einiger Lange das schwar^e Brett und der
Kerbstock empfangner Beleidigungen sind, lieber andre Christen
hinter die ihrigen schlug, der feiner handelte, als er sprach, und
dessen Kniestiick ichnicht zwischen diesenzwei Gedankenstrichen
ausbreiten kann - warb in dieser Gegend so lange Rekruten, bis
er selber wollte angeworben sein von Ernestinen. Er haBte nichts
20 so sehr als Schach und Herrnhutismus; indessen sagte Knor zu
ihm: »abends um 12 Uhr fingen, weil er so wollte, die sieben
Spiel-Turnierwochen an, und wenn er nach sieben Wochen um
1 2 Uhr die Spielerin nicht aus dem Schlachtfelde ins Brautbette
hineingeschlagen hatte : so tat' es ihm von Herzen leid, und aus
der achtjahrigen Erziehung brauchte dann ohnehin nichts zu wer-
den.«
Die ersten 14 Tage wurd* in der Tat zu nachlassig gespielt und
- geliebt. Allein damals hatten weder andre gescheite Leute noch
ich selber jene hitzigen Romane geschrieben, wodurch wir (wir
30 habens zu verantworten) die jungenLeuteinknisternde,wehende
Zirkulierofen der Liebe umsetzen, welche dariiber zerspringen
und verkalken und nach der Trauung nicht mehr zu heizen sind.
Ernestine gehorte unter die Tochter, die bei der Hand sind, wenn
man ihnen befiehlt: »Kunftigen Sonntag, so Gott will, werde um
4 Uhrm den Herrn A-Z, wenn er kommt, - verliebt.« Der Ritt-
meister biB im Artikel der Liebe iiberhaupt weder in den garenden
3<S DIE UNSICHTBARE LOGE
Pumpernickel der physischen - noch in das weiBe kraftlose Wei-
zenbrot der parisischen - noch in das Quitten- und Himmelbrot
der platonischen, sondern in einen hiibschen Schnitt Gesindebrot
der ehelichen Liebe : er war 37 Jahre alt.
Sechzehn Jahre friiher hatt' er sich einenBissen vom gedachten
Pumpernickel abgeschnitten : seine Geliebte und sein und ihr Sohn
warden nachher vom ehr lichen Kommerzien-Agenten Roper ge-
heiratet.
Wir Belletristen hingegen konnens recht sehr bei unsern Ro-
manen gebrauchen, daB es unserem Magen und unserer Magen- 10
haut guttut, wenn wir in einem Nachmitt^ge jene vier Brotsorten
auf einmal anschneiden; denn wir miissen aller Henker sein, um
alien Henker zu schildern; wie wollten wirs sonst machen, wenn
wir im namlichen Monat aus dem namlichen Herzen, wie aus dem
namlichen Buchladen (ich argere hier Herrn Adelung durchs
Wort »namlichen«) Spottgedichte - Lobgedichte - Nachtgedan-
ken - Nachtszenen -■ Schlachtgesange - Idyllen - Zotenlieder und
Sterbelieder liefern sollen, so daB man hinter und vor uns erstaunt
iibers Pantheon und Pandamonium unter einem Dache - mehr als
uberdesGaleerensklavenBazilenachgelassenenMagen,inwelchern 20
ein Mobiliarvermogen von 3 5 Effekten hausete, z. B. Pfeifenkopfe,
Leder, Glasstiicke und so fort.
Wenn die beiden jungen Leute am Schachbrett saBen, das ent-
weder ihre Scheidewand oder ihre Brucke werden sollte : so stand
der Vater allemal als Markor dabei; es war aber wirklich nicht
notig - nicht bloB weil der Rittmeister so erbarmlich spielte und
seine GegenfiiBlerin so philidorisch; auch darum nicht, weil ihr
die weibliche Kleiderordnung ohnehin verbot, matt oder verliebt
zu werden (denn am Ende kehren Weiber und Ruderknechte all-
zeit eben den Riicken dem Ufer zu, an das sie anzurudern streben) 30
- sondern aus e inem noch sonderbarern Grunde war der Auxiliar-
forstmeister zu entraten : die Ernestine wollte namlich um alles
gern schachmatt werden, und eben deswegen spielte sie so gut.
Denn aus Rache gegen das zogernde Schicksal arbeitet man ge-
rade Dingen, die von ihm abhangen, absichtlich entgegen und
wiinschet sie doch. Die beiden kriegenden Machte wurden zwar
ERSTER SEKTOR 37
sich einander immer lieber, eben weil sie einander einzubiiBen
furchteten ; gleichwohl stands in den Kraften der weiblichen nicht,
nur einen Zug zu unterlassen, der gegen ihre doppelseitigen
Wiinsche stntt: in fiinf Wochen konnte der Werbeoffizier nicht
einmal sagen : Schach der Konigin. Die Weiber spielen ohnehin
dieses Konigspiel (wie andre Konigspiele) recht gut... Da aber
das eine Digression der Natur zu sein scheint und doch keine ist:
so kann eine schriftstellerische daraus gemacht werden, aber erst
im 20 tcn Sektor; weil ich erst ein paar Monate geschrieben haben
10 muB, bis ich den Leser so eingesponnen habe, daB ich ihn werfen
und zerren kann, wie ich nur will.
Ware die Liebe des Rittmeisters von der Art der neuern gigan-
tischen Liebe gewesen, die nicht wie ein aufblatternder Zephyr,
sondern wie ein schiittelnder Sturmwind die armen diinnen Bliim-
chen umfasset, welche sich in den belletristischen Orkan gar nicht
schicken konnen: so ware das wenigste, was er hatte tun konnen,
das gewesen, daB er auf der Stelle des Teufels geworden ware;
so aber wurd' er bloB - bose, nicht iiber den Vater, sondern iiber
die Tochter, und nicht dariiber, daB sie das Schachbrett nicht zum
20 Prasentierteller ihrer Hand und ihres Herzens machte, oder daB
sie gut gegen ihn spielte, sondern dariiber, daB sie so sehr gut
spielte. So ist der Mensch! - und ich ersuche den Menschen, mei-
nen Rittmeister nicht auszulachen. Freilich - hatt' ich die weib-
lichen Reize und die Rolle Ernestinens gehabt und hatt' ich ihm,
indes er seine Kontraapproche aussann, ins betretne Gesicht ge-
schauet, auf dessen geriindetem Munde der Schmerz iiber unver-
diente Krankung stand, der so riihrend an Mannern von Mut aus-
sieht, sobald ihn nicht die Gichtknoten und Hautausschlage der
Rache verzerren : so war* ich rot geworden und ware wahrhaftig
30 geradezu mit der Konigin (und mir dazu) ins Schach hineinge-
fahren: denn was hatt' ich da geliebt als strenge SelberbuBung?
Beinahe hatte am 1 6. Junius Ernestine diese BiiBung geliebt,
wie man aus ihrem Briefe sogleich ersehen soil. Denn allerdings
ist eine Frau imstande, zweimal 24 Stunden Iang eine und dieselbe
Gesinnung gegen einen Mann (aber auch gegen weiter nichts) zu
behaupten, sobald sie von diesem Manne nichts vor sich hat als
38 DIE UNSICHTBARE LOGE
sein Bild in ihrem schonen Kopfchen; allein stent der Mann selber
unkopiert fiinf FuB hoch vor ihr: so leistet sie es nicht mehr -
ihrewieeinebesonneteMuckenkolonne spielenden Empfindungen
treibt auseinander, widereinander und ineinander ein Fingerhut
voll Puder am besagten Mann zu viel oder zu wenig - eine Beu-
gung seines Oberleibs - ein zu tief abgeschnittener Fingernagel
- eine sich abschalende schurfichte Unterlippe - der Puder-An-
schrot und Spielraum des Zopfshinten auf dem Rock - ein langer
Backenbart - alles. Aus hundert Grunden schlag* ich hier vor den
Augen des indiskreten LesersErnestinens Brief an eine ausgediente 10
Hofdame in der Residenzstadt Sckeerau auseinander: sie muBte
jede Woche an sie schreiben, weil man sie zu beerben gedachte
und weil Ernestine selber einmal so lange bei ihr und in der Stadt
gewesen war, daB sie recht gut eilftausend PfifFe mit wegbringen
konnte - drei Wochen namlich.
»Die vorige Woche hatt* ich Ihnen wirklichnichtszu schreiben
als das alte Lied. Unser Gespiele ennuyiert mich unendlich, und
es dauert mich nur der Rittmeister ; es hilft aber bei meinem Vater
kein Reden, sobald er nur jemand haben kann, den er spielen sieht.
War's nicht besser, der gute Rittmeister HeBe seinen Kutscher, 20
der den ganzen Tag in unserer Domestikenstube schnarcht, auf-
wecken und anspannen und fuhr' ab? Seit dem Sonntage martern
wir uns nun an einer Partie herum, und ich habe mir schon den
Ellenbogen wund gestutzt - abends soil sie zu Ende.
Abends um 12 Ukr. Er verlierts allemal mit seinen Springern
und durch meine Konigin. Wenn er einmal geheiratet hat : so will
ich ihm seine Fehlgriffe und meine Kunstgriffe zeigen. Ich bin
recht verdriiBlich, gnadige Tante.
Den 1 6". Jun. In vier Tagen bin ich von meinem Spieler und
Schachbrett los, und ich will dieses nicht zusiegeln, bis ich Ihnen 30
schreiben kann, wie er sich gegen seine mude und unschuldige
Korbflechterin benommen. Heute spielten wir oben im sinesischen
Hauschen. Da die Abendrote, die gerade in sein Gesicht hinein-
fiel, verwirrte Schatten unter die Figuren warf.und da mich sein
rechter Zeigeflnger dauerte, der von einem Sabelhiebe eine rote
Linie hat und der auf der Schachbande auf lag: so kam ich aus Zer-
ERSTER SEKTOR 39
stremmg wahrhaftig urn meine Konigin, und das abscheuliche
Kindtaufgelaute des sinesischen Glockenspiels lieB mir fast kein
Dessein - zum Gliick kam mein Vater wieder und half mir ein
wenig ein. Ich fuhrte ihn nachher in unsern neuen Anlagen im
Waldchen herum, und er erzahlte mir, glaub' ich, die Historie
seines Hnierten Fingers; er ist gegen seinesgleichen sehr wild,
aber dabei ungemein verbindlich gegen Frauenzimmer.
Den 1 8. Jun. Seit gestern sind wir alle etwas lustiger. Abends
brachten zwei Unteroffiziere funf Rekruten, und da man sagte,
io es war* ein Mensch darunter, der eine ganze geschlagene Armee
zum Lachen brachte, gingen wir alle mit hinunter. Unten erzahlte
der Mensch gerade halblaut einem andern Rekruten ins Ohr, er
habe ein eingesetztes GebiB von lauter falschen Schneidezahnen,
und sie fielen alle bis auf einen Eckzahn heraus, wenn er eine Pa-
trone anbisse; er habe aber bloB das Handgeld wegkapern wollen.
Er schraubte unsertwegen den Hut vom Kopf ab, aber eine weiBe
Miitze, die sich bis iiber die Augenbraunen hereinsenkte, zerrete
er noch tiefer nieder : >zog' er sie ab,< sagt* er, >so kam' er in seinem
Leben nicht zum Regiment/ Der eine Unteroffizier fing an zu
20 lachen und sagte: >Er tuts bloB, weil er drei abscheuliche Mutter-
maler darunter hat, weiter nichts< - und ein Kamerad streifte ihm
heimlich die Miitze von hinten herunter. Kaum war zu unserem
Erstaunen ein Kopf daraus vorgesprungen, der an beiden Schlafen
zwei brennende Muttermaler wies, eine Silhouette mit einem na-
tiirlichen Haarzopf und gegeniiber zwei Iltis-Schwanzchen : so
faBte zu unserm noch grofieren Erstaunen der Rittmeister den be-
malten Kopf an und kiiBte ihn so heftig wie seinen leiblichen
B ruder und wollte sich totlachen und totfreuen. >Du bist und
bleibst doch der Doktor FenkU sagt* er. Er mufi sehr vertraut mit
30 dem Rittmeister sein und kommt unmittelbar von Obersckeerau.
Kennen Sie ihn nicht? Der Fiirst lasset ihn als Botaniker und Ge-
sellschafter mit seinem naturlichen Sohn, dem Kapitan von Otto-
mar, nach der Schweiz und Italien reisen, wie Sie schon wissen
werden. Er setzt tolle. Streiche durcli, wenns wahr ist, was er
schwort, dafi dieses seine 2i te Verkleidung sei und daB er ebenso
viele Jahre habe. Er sieht ubel aus; er sagt selber, sein breites Kinn
40 DIE UNSICHTBARE LOGE
stiilpe sich wie ein Biberschwanz empor und der Bader rasier' ihm
im Grunde die halbe Wiiste gratis, so viel wie zwei Barte - seine
Lippen sind bis zu den Stockzahnen aufgeschnitten, und seine
kleinen Augen funkeln den ganzen Tag. Er spaBet auch fiir Leute,
die nicht seinesgleichen sind, viel zu frei.«
- Ernestine silhouettiert hier den auBern Menschen des Dok-
tors, der wie viele indische Baume unter auBern Stacheln und
dornigem Laub die weiche kostbare Frucht des menschenfreund-
lichsten Herzens versteckte. Ich werd' ihn aber ebenso gut zeichnen
konnen wie die Briefstellerin. Da Humoristen wie er selten schon 10
sind - weibliche Humoristinnen noch weniger - und da der Geist
sich und das Gesicht zugleich travestiert: so wiirde ja, sagt' er,
seine schonste Kleidung keinem Menschen etwas niitzen - ihm
selber und den Schonen am wenigsten - als bloB den Schnitt-
handlern. Daher waren seine Montierstiicke in zwei Facher ge-
sondert, in kostbare (damit die Leute sahen, daB er die elenden
nicht aus Armut triige) und in eben diese elenden, die er meistens
mit jenen zugleich anhatte. Stachen nicht die Klappen-Segel der
schonsten gestickten Weste allemal aus einem fuchsbraunen Ober-
rock heraus, der fast in seiner Haar-Mause verschied? Hatt' er 20
nicht unter einem Hut fiir i Vi Ld'or einen schimpf lichen Zopf
aufgehangen; den er fiir nicht mehr erstanden als fiir drei hiesige
Sechser? Freilich wars halb aus Erbitterung gegen diesen so ge-
schmacklosen Krebsschwanz des Kopfes, gegen dieses wie ein
Tubus sich verkiirzendes und verlangerndes Nacken-Gehenk an
der vierten gedankenvollen Gehirnkammer. Sein Schreib-Geschirr
muBte schoner als sein EB-Geschirr und sein Papier feiner als seine
Wasche sein; er konnte nirgends schlechte kleine Federn leiden
als bloB auf seinem Hute, den sein Bette - und seine den Ehelosen
natiirliche Unordnung - sozusagen in einen adeligen Federhut 3°
umbesserte; indessen setzte er seinen Bettfedern in den Haaren
gute Seekiele hinter den Ohren an die Seite - der Prinzipalkom-
missarius hatte sie auf dem Reichstag mit Ehren hinter seine
stecken konnen! -
Um aber keinen Anzugs-Sonderling und Kleider-Separatisten
zu machen, lieB er sich von Jahr zu Jahr nach den besten Moden
ERSTER SEKTOR 4 1
des Narrheit-Journals abkonterfeien und schiitzte vor, er miisse
den Leuten doch zeigen, daB er oder sein Kniestiick vieljeicht
gleichen Schritt mit den neuesten Elegants zu halten wiifiten. - Der
untere Saum seines Oberrocks war gleich dem Menschen oft aus
Erde gemacht; allein er drang darauf, man sollt* es ihm sagen, was
es verschluge, wenn ers leibhaftig wie der Strumpfwurker triebe,
dessen Historie ich sogleich erzahlen will, um nur nicht ohne alle
Moral zu schreiben. Der Mann hatte namlich das Gute und Tolle
an sich, daB er den kotigen Anschrot, womit sich sein Oberrodk
10 besetzte, wenn er seine Striimpfe in die Stadt auf seinem Riicken
ablieferte, niemals herausbiirstete oder ausrieb: sondern er griff
in eine breite Schere und zwickte damit den jedesmaligen Schmutz-
kragen und kotigen Horizont mit Einsicht herunter - je Ianger
es nun regnete, desto kiirzer schurzte sich sein Frack hinauf, und
am kurzesten Tage ging der Epitomator wegen des unerhorten
Wetters im kurzesten Oberrock herum, in einerniedlichenSedez-
Ausgabe der vorigen Langfolio-Ausgabe. Die Moral, die ich dar-
aus holen kann, mochte die Frage sein: sollte ein gescheiter
Staat, der doch gewiB siebzigmal kliiger ist als alle Strumpfwurker
20 zusammengenommen, die ja selber nur Glieder desselben sind,
den eingesaumten Strumpfwurker nicht dadurch am besten ein-
holen, daB er auch seine schmutzigen Glieder (Diebe, Ehebrecher
etc.), statt lange an ihnen zu reiben und zu saubern, mit dem
Schwerte oder sonst frisch herunterschnitte?...
Der Doktor Fenk zerstreuete durch launigen Trost die ein-
samen Fluche, die sein Freund Rittmeister statt der Seufzer tat.
Er sagte, er habe an Ernestinen mehr als einmal uber einen be-
sonders guten Zug, den er getan, kein andres Erschrecken bemerkt
als ein freudiges. Er wolle sein Reisegeld daransetzen, daB sie, da
jo sie ihn Hebe, einen Pfiffin ihrem Kopfe groBbrute, der die Treppe
zum Brautbette zimmern werde - er riet ihm, sich zerstreuet und
achtlos anzustellen, damit er sie nicht im Ausbruten des Pfiffes er-
tappe und wegstore - er fragte ihn : »Kennst du den kleinen Dienst
der Liebe volIkommen?« - Kein Deutscher verstand Metaphern
weniger als der Rittmeister. »Ich meine,« fuhr er fort, »kannst du
denn nicht der listigste Vokativus von Haus aus sein? - Kannst
42 DIE UNSICHTBARE LOGE
du nicht die Schachfigur, die du ziehen willst, lange fassen, urn
deine Hand lange iiber deiner Schachmiliz zu behalten und die
Generalissima mit der Hand irre und verliebt zu machen? - Kannst
du nicht deine Positionen jede Minute gegen diese Feindin wech-
seln und besonders Anhohen suchen, weil ein stehender Mann
einer sitzenden Frau schoner vorkommt als einer stehenden? Ich
und sie sollten dich bald auf den Stuhl zuriickgebogen, bald vor-
warts, bald links* bald rechts gerankt, bald im Schatten, bald ihre
Hand, bald ihren Mund hxierend erblicken im Spiele. Ja du solltest
drei oder vier Bauern ins Zimmer herunterstoBen, bloB um dich 10
zum Aufheben nachzubiicken, damit etwa dein schwellendes Ge-
siqht auf ihr Herz Eindriicke machte und damit du das Blut in
deinen und ihren Kopf zugleich emportriebest. LaB deinen Zopf
eine Achtels-Elle dem Hinterkopfe naher oder ferner schniiren,
falls etwa diese Schniirung und diese Elle sich bisher eurer Ehe
entgegengesetzet hatte.« Der arme Rittmeister begrifTund tat vom
ganzen Dienstreglement kein Jota, und dem Doktor wars ebenso
lieb; denn er redete aus Humor in nichts lieber als in den Wind.
Ernestine schreibt in ihrem Briefs fort:
»Morgen gehen gottlob meine Karwochen zu Ende, und es ist 20
ein Gliick fur den Rittmeister, der alle Tage empfindlicher wird,
daB nur der Doktor da ist, der iiber jede gezogne Figur einen Ein-
fall weiB. Sein Witz, sagt er, beweise, daB er selber jammerlich
spiele, weil gute Spieler iiber und unter ihrem Spielen niemals
ein Bonmot hatten.
Den 2o.Jun. um 3 Uhr. Heute abends um 12 Uhr werd' ich
endlich vom Schach-FuBblocke losgeschlossen. Er will an der
Definitiv-Partie - nennt sie Fenk - den ganzen Tag spielen; er
lasset aber, weil er aus seinen Tags-Kampagnen den Ablauf der
nachtlichen errat, nachts den Kutscher mit dem Wagen halten, um 30
sogleich wie ein Leichnam traurig abzufahren. Er sollte mir nur
nicht zumuten, so schlecht zu spielen wie er. Er ist aber in allem
so hastig und halt vor alien Vorstellungen die Ohren zu.
Um z 2 Uhr nachts. Ich bin aufier mir. Wer hatt' es von meinem
Vater geglaubt? Mein Spiel konnte kaum besser stehen - es war
auf meines Vaters Sekundenuhr, die neben dem Schachbrett lag,
ERSTER SEKTOR 43
schon viel iiber halb Zwolf- er hatte nur drei Offiziere und ich
noch alle meine - ohn' ein Wunderwerk war er in 18 Minuten
matt - eine fliegende Rote spannte einmal urns andre sein ganzes
Gesicht - wir wurden zuletzt ordentlich beklemmt, und selbst der
Doktor sagte kein lustiges Wort mehr - bloB mein weiBes Miez-
chen marschierte schnurrend auf dem Spieltisch herum - kein
Mensch denkt natiirlicherweise auf die Katze, und er bietet mir im
Spiele das erste Schach - nun mocht* er (oder war ichs? denn ich
schlage zuweilen auch solche Pralltriller auf dem Tische) mit den
io Fingern einen auf der Bande machen - wie der Blitz fahrt die
Bestie, die es fur eine Maus halten muB, darauf hin und schmeiBet
uns das ganze Spiel um und da sitzen wir! Stellen Sie sich vor!
Ich halb froh, daB ihm diese Mittelsperson die Beschamung des
formlichen Korbes abnimmt — er mit einem Gesicht voll Trost-
Iosigkeit und Zorn — mein Vater mit einem voll Verlegenheit
und Zorn - und der Doktor, der in der Stube mit den zehn Fin-
gern herumschnalzet und schwort: >der Rittmeister hatt* es ge-
wonnen, so gewiB wie Amen !< Kein Mensch wich mit seiner FuB-
soh'le von der S telle, der Doktor blieb keine Minute auf der seini-
20 gen und warf sich endlich in einem Enthusiasmus, den unsre ver-
legne Stille immer mehr erhob, vor einer weiBen Amorbiiste, vor
einem Miniaturportrat meines Vaters und vor seinem eignen
Bilde im Spiegel auf die Knie hin und betete: >Heiliger Herr von
Knor! heiliger Amor! heijiger Fenk! bittet fur den Rittmeister
und schlagt die Katze tot! Ach wurdet ihr dreiBilderlebendig:
so wiirde Amor gewiB die Gestalt des Doktor Fenks annehmen,
und der lebendig gewordene Amor wiirde die Hand des lebendig
gewordenen Knors ergreifen und ihr die der Spielerin geben -
seine gabe ihre dann vielleicht weiter. Ihr Heiligen! bittet doch
3 o fur den Rittmeister, der gewonnen hatte !< - Das ist aber nicht
wahr, und zum Ungluck war nur der Termin zu einem neuen
Spiele zu kurz.«...
Da ruin der Iltis-Doktor (ich selber erzahle als Autor wieder)
aufstand und wirklich die Hand von Knor inErnestinens ihrelegte
und sagte, er sei der Amor - da iiberhaupt durch die Versiche-
rungen des Doktors und durch die Unentschiedenheit des Spiels
44 DIE UNSICHTBARE LOGE
die Ehre des empfindlichen, von Menschen und Katzen geneckten
Spielers ebensoviel zu verlieren hatte als die Liebe desselben - da
ich in einem ganzen Sektor zeige, da6 Falkenberg vom altesten
Adel im ganzen Lande war - und da zum Gluck im Obristforst-
meister die Sitten seiner rohen Erziehung (wie bei mehren Land-
edelleuten) halb unter dem Firnis der Sitten seines feinern Urn-
gangs verborgen lagen wie seine alten Mobel unter modischen : so
ging der elektrische Enthusiasmus des Doktors in groBen Funken
in des Vaters Busen iiber, und Knor legte hingerissen die Hand Er-
nestinens, die zum Scheine erstaunte, in des Rittmeisters seine, ders 10
im Ernste tat- und der Brautigam drangte und warf sich in einem
Sturm von Dankbarkeit an den Hals des neugebornen Schwieger-
vaters, eh' er, weil seine Ehre mehr als seine Liebe triumphierte,
etwas kalter die geschickte Hand nachkiiBte, welche ihm bisher
diesen doppelten Triumph entzogen. — . —
Dies verdachte ihm die Inhaberin der Hand; aber ich verdenk*
es wieder ihr; mit welchem Grund will sie dem Manne, der gar
keine Seele, seine eigne kaum und eine weibliche nie erriet, an-
sinnen, daB er seine Weisheitzahne und seinen Philosophen-Bart
soil so auBerordentlich lang gewachsen tragen, wie der geneigte 20
Leser beide tragt, dem es freilich nicht erst hier vorgedruckt zu
werden braucht - er merk-te alles schon vor drei guten Stunden -,
daB hinter der Kopulierkatze etwas stak und steckte, Ernestine
namlich selber.
Es war so . . . Ich braudh* es aber dem Leser kaum zu berichten,
da ers schon langst gewuBt, daB Ernestine die Kitt- und Heftkatze
vier Abende voher taglich privatissime auf den Tisch stellte und
sie abrichtete, auf die Finger loszufahren, wenn sie trillerten - und
ich freue mich, daB der Scharfsinn des Lesers kein gewohnlicher
ist, weil er weiter mutmaBet; denn sie lieB also auch am letzten 30
Abend das Kleisteralchen von Katze als Leimrute nachschleichen,
versenkte es bis um 1 17* Uhr in ihren SchoB und hob endlich mit
dem Knie diesen Katzen-terminus medius aus dem SchoBe auf
den Spieltisch, und der terminus tat nachher das Seinige. - Armer
Rittmeister!
Nachdenklich ist es aber. Denn wenn auf diese Art Weiber An-
ERSTER SEKTOR 45
ordnung fiir Zufall und Zufall fur Anordnung auszumiinzen wis-
sen - wenn sie schon vor den Verlobnissen (folglich nachher noch
mehr) in die erste Linie gegen die Manner, wie Kambyses gegen
die Agypter 1 , Bundeskatzen stellen, die wie Untergotter ex ma-
china das mannliche Spiel umwerfen und das weibliche aufstellen
- wenn unter hundert Menschen nur funf Manner sind, welchen
tierische Katzen oder gar menschliche ausstehlich sind, und nur
zehn Weiber, denen sie es nicht sind - wenn also ganz offenbar
die besten Weiber entsetzliche Btindel Mannergarn unter den
io Armen halten, Hasengarne, Steckgarne, Spiegelgarne, Nacht- und
Hanggarne: was soil da das Einbein* machen, das am namlichen
Tag, wo es einen Roman zu schreiben anfing, zugleich einen zu
spielen anhob und so beide wie auf einem Doppelklavier neben-
einander zu Ende fiihren wollte? Am verniinftigsten, sen* ich,
rnach' ich, wenn meine Frau den ganzen Tag am Barenfange steht
und Zweige darauf wirft, damit ich hineinstolpere, nur durchaus
keinen - Baren, obwohl auch keinen AfFen. Nein! ihr gefugigen
gedrangten Geschopfe! ich setze mirs noch einmal vor und gelob'
es einer von euch hier ofFentlich im Druck. Geschah' es dennoch,
20 dafi ich die eine nach den Flitterwochen qualen wollte: so les* ich
bloB diesen Sektor hinaus und riihre mich mit dem kommenden
Gemalde eurer ehlichen Pilatus, das ich deswegen hieher trage -
wie namlich der diimmste Mann sich fiir kliiger halt als die klugste
Ehefrau; wie diese vor ihm, der vielleicht auBer dem Haus vor
einer Gottin oder Gotzin auf den Knien Hegt, um begliickt zu
werden, gleich dem Kamele auf die ihrigen sinken muB, um be-
frachtet zu werden ; wie er seine Reichskammergericht-Erkennt-
nisse und seine Plebiszita nach den sanftesten, nur mit zweifel-
hafter Stimme wie verloren gewagten Gegengriinden mit nichts
30 1 Kambyses eroberte Pelusium mit Sturm, weil er unter seine Soldaten
heilige Tiere, Katzen u.s.w., mengte, auf welche die agyptische Garnison
nicht zu schieBen wagte und an die sie statt der Pfeile Gebete abschickte.
2 Das Einbein bin ich selber. Ich habe die Vorrede, die man wird iiber-
schlagen haben, und diese Note, die nicht zu iiberschlagen ist, gemacht, da-
mit es einmal bekanrit werde, daB ich nicht mehr habe als ein Bein, wenn
man das zu kurze wegrechnet, und dafi sie mich in meiner Gegend nicht
anders nennen als das Einbein oder den einbeinigen Autor, da ich doch Jean
Paul heiBe. Siehe das Taufzeugnis und die Vorrede.
4<y DIE UNSICHTBARE LOGE
versiiBet als mit einem »wenn ichs nun aber so haben will«; wie
eben die Trane, die ihn bezauberte im freien Auge der Braut, ihn
entzaubert und ganz toll macht, wenn sie aus dem ankopulierten
fallt, so wie in den arabischen Marchen alle Bezauberungen und
Entzauberungen durch Besprengen mit Wasser geschehen -
wahrhaftig das einzige Gute ist doch dies, daB ihr ihn recht be-
triigt. Achl und wenn ich mir erst denke, wie weit ein soldier
Ehe-Petz gegangen sein muB, bis ihr so weit ginget, daB ihr, um
nicht von ihm gefressen zu werden, euch (wie man auch bei den
Waldbaren tut) gar ohnmachtig anstellet; und der Petz schritt
mit seinen muBigen Tatzen um die Scheintote herum!....
»In meinem Alter soil das Einbein schon anders pfeifen!« sagt
der verheiratete Leser; allein ich bin selber schon neun Jahre alter
als er, und noch dazu unverheiratet.
ZWEITER SEKTOR ODER AuSSCHNITT
Ahnen-Preiskurant des Ahnen-Grossierers - der Beschaler und Adelbrief
Es gibt in der ganzen entdeckten Welt keine verdammtere Ar-
beit als einen erstert Sektor zu schreiben; und diirfV ich in meinem
Leben keine andern Sektores schreiben, keinen zweiten, zehnten,
tausendsten, so wollt' ich lieber Logarithmen oder publizistische 20
Kreisrelationen machen als ein Buch mit asthetischen. Hingegen
im zweiten Kapitel und Sektor kommt ein Autor wieder zu sich
und weiB recht gut im vornehmsten Cercle, den es vielleicht gibt
(Knasen sitzen in meinem), was er mit seinen schreibenden Han-
den anfangen soil und mit seinem Hute, Kopfe, Witz, Tiefsinn
und mit allem.
Da ich durch das Ehepaar, von dessen Verlobung durch Schach
und Katze wir samtlich zuriickkommen, mir in neun Monaten
den Helden dieses Buches abliefern lasse : so muB ich vorher zeigen,
daB ich nicht unbesonnen in den Tag hineinkaufe, sondern meine 3°
Ware (d. i. meinen Helden) aus einem recht guten Hause, um kauf-
mannisch zu reden, oder aus einem recht alten, um heraldisch zu
ZWEITER SEKTOR 47
sprechen, ausnehme. Denn der reichsfreien Ritterschaft, denLand-
sassen und den Patriziern muB es hier oder nirgends gesagt und
bewiesen werden, da8 mein Heldlieferant, Herr von Falkenberg,
von alterem Adel ist wie sie alle; und zwar von unechtem.
Namlich Anno 1625 war Maria Empfangnis, wo sein UrgroB-
vater sich ungemein besoff und dennoch aus dem Gliicktopfe die
voile Hand mit etwas AuBerordentlichem herausbrachte, mit
einem zweiten Adeldiplom. Denn es trank mit ihm, aber siebenmal
starker, ein gescheiter RoBtauscher aus Westfalen, auch ein Herr
10 von Falkenberg^ aber nur ein Namenvetter; ihre beiden Stamm-
baume bestreiften und anastomosierten sich weder in Wurzel-
faserchen noch in Blattern. Ob nun gleich der Sippschaftbaum
des Westfalingers so alt und lang im Winde und Wetter des
Lebens dagestanden war, daB er mit manchem Veteranen auf den
Bergen Libanon und Atna zugleich aus der Erde vorgeschossen
zu sein schien, kurz, obgleich der RoBhandler 64schildig war, in-
des der UrgroBvater zu seiner groBten Schande und zu dessen
seiner, der ihn in seinen Roman mit hineinnimmt, wirklich sowohl
Zahne als Ahnen mehr nicht zahlte als 32: so wars doch noch zu
20 machen. Der alte Westfale war namlich der Stammhalter und die
SchiuBvignette und das hogarthische Schwanzstiick seines gan-
zen historischen Bildersaals; nicht einmal in beiden Indien, wo
wir alle unsre Vettern haben und erben, hatt' er noch einen. Dar-
auf fuBte der UrgroBvater, der ihm sein Adeldiploni abzufluchen
und abzubetteln suchte, um es fur sein eignes auszugeben : »Denn
wer Teufel weiB es,« sagte er, »dir hilft es nichts, und ich heft* es
an meines.« Ja der Ahnen-Kompilator, der UrgroBvater, wollte
christlich handeln und bot dem RoB- und Ahnen tauscher fur den
Brief einen unnaturlichschonen Beschaler an, einen solchen GroB-
30 sultan und Ehevogt eines benachbarten RoB-Harems, wie man
noch wenige gesehen. Aber der Stammhalter drehte langsam den
Kopf hin und her und sagte kalt »ich mag nicht« und trank Zerbster
Flaschenbier. Da er ein paar Glaser von Quedhnburger Gose bloB
versucht hatte, ring er schon an, iiber das Ansinnen zu fluchen und
zu wettern; was schon etwas versprach. Da er etwas Konigslutte-
rischen Duckstein, denk' ich, daraufgesetzt hatte (denn Falken-
48 DIE UNSICHTBARE LOGE
berg hatte einen ganzen Meibomium de cerevisiis, namlich seine
Biere, auf dem Lager) : so ging er gar mit einigen Griinden seines
Abschlagens hervor, und die Hoffnung wuchs sehr.
Als er endlich den Breslauer Scheps im Glase oder in seinem
Kopfe so schon milchen fand : so befahl er, das Luder von einem
elenden Beschaler in den Hof zu fuhren — und da er ihn etwa
zwei- oder dreimal mochte haben springen sehen: so gab er dem
UrgroBvater die Hand und zugleich die 128 Ahnen darin. Da nun
der Falkenbergische UrgroBvater das erkaufte Adelpatent, das
einige Ahnenfolgen tausendschildiger -Motten fast aufgekauet 10
hatten, mit einem Pflasterspatel, weil es poros wie ein Schmetter-
lingfittich war, auf neues Pergament aufstrich und aufpappte,
Buchbinderkleister aber vorher: so tat, kann man leicht denken,
das Pergament seiner ganzen adeligen Vorwelt den namlichen
Dienst der Veredlung, den der Beschaler in Westfalen der RoB-
nachwelt leistete, und iiber hundert begrabene Mann, an denen
kein Tropfen Blut mehr adeligzu machen war, kamen wenigstens
zu adeligen Knochen. Also brauchen weder ich noch irgendeine
Stiftdame uns zu schamen, daB wir mit dem kiinftigen jungen
Falkenberg so viel Verkehr haben, als man kunftig finden wird. - 20
Obrigens indent* ich nicht gern , daB die Anekdote weiter auskame,
und einem Lesepublikum von Verstand braucht man dies gar
nicht zu sagen. —
Die Hochzeit-Luperkalien hab' ich samt ihrem langsten Tage
und ihrer kiirzesten Nacht niemals hersetzen wollen; - doch den
Einzug darauf wollt* ich gut beschreiben. Allein da ich mich ge-
stern zum Ungliack mit dem Vorsatze ins Bett legte, heute morgen
das Schach- und Ehepaar mit drei Federzugen aus dem Brautbette
ins Ehebette zu schaffen, das 19 Stunden davon steht, namlich im
Falkenbergischen Rittersitz Auenthal- und da ich ganz natiirlich 30
nur mit drei kleinen Winken das wenige schildern wollte, das
wenige Pfeifen, Reiten und Pulver, womit die guten Auenthaler
ihre gnadige Neuvermahlten empfingen : so ging die ganze Nacht
in meinem Kopfe der Traum auf und ab, ich sei selber ein heim-
reisender Reichsgraf und der Reichs-Erb-Kasperl und wiirde von
meinen Untertanen, weil sie mich in 15 Jahren mit keinem Auge
ZWEITER SEKTOR 49
gesehen, vor Freuden fast erschossen. In meiner Grafschaft wurde
natiirlicherweise tausendmal mehr Bewillkommunglarm und Hon-
neurs gemacht als im Falkenbergischen Feudum; ich will des-
wegen die Honneurs fur den Rittmeister weglassen und bloB
meine bringen.
Eistes Extrablatt
Ehrenbezeugungen, die mir meine Grafschaft nach meiner Heimkehr
von der grand tour antat
Wenn grafliche Untertanen einem Grafen seine sechs nickt natiir-
10 lichen Dinge nehmen: so weiB ich nicht, wie sie ihn besser emp-
fangen konnen. Nun lieBen mir die meinigen kein einziges nicht
natiirliches Ding.
Sie nahmen mir das erste unnatiirliche Ding ohnehin weg, den
Schlaf, Da ich von Chalons nach StraBburg, so watend langsam,
als war' ich schwanger, gefahren war, um von da aus so donnernd,
daB ich mehr hiipfte als saB, meinen Laufer umzufahren: so war*
ich um Florzhiibel (den ersten Marktflecken in meiner Grafschaft)
fiir mein Leben gern schlafend (und war das nicht im Traume so
leicht zu machen?) voriibergeflogen; allein gerade an der Grenze
20 und einer Briicke, da ich die Augen bergunter auf- und bergauf
zumachte, wurd* ich uberfallen, nicht morderisch, sondern musi-
kalisch, von 16 Mann besoffnem AusschuB, der schon seit friih
7 Uhr mit dem musikalischen Gerumpel und Ohrenbrechzeug
hier aufgepasset hatte, um mich und meine Pferde zu rechter Zeit
mitTrommeln und Pfeifen in die Ohren zu blessieren. Glucklicher-
weise hatten die Sturm- Artisten den ganzen Tag zum Spa Be oder
aus Langweile vorher mehr getrommelt als aus Ernst und Liebe
nachher. Unter dem ganzen Weg, wahrend Orchester und Ka-
serne neben meinen Pferden ging, zankt' ich mich aus, daB ich
50 Florzhiibel vor 17 Jahren zu einer Stadt habilitiert und graduiert
hatte, - »Ich meine nicht deswegen,« sagt* ich zu mir, »weil nach-
her das landesherrliche Reskript dem Florzhiibel das Stadtrecht
und seiner Gendarmerie die Monturen wieder auszog, oder des-
1 Darunter meinen die Arzte 1) Wachen und Schlafen, 2) Essen und
Trinken, 3) Bewegung, 4) Atmen, 5) Ausleerungen, 6) Leidenschaften.
50 DIE UNSICHTBARE LOGE
wegen, well wir die iiberzahligen Monturen in Kassel versteigern
wollten - sondern weil sie mich jetzt nicht schlafen Iassen, welches
doch das erste nicht naturliche Ding bleibt.«
Essen lieBen sie mich gar nicht, wejls das zweite unnaturliche
Ding eines regierenden Herrn ist. Sann mir nicht der f lorzhubel-
sche Restaurateur, der fiir mich das ganze gekochte und gesottene
Mufiteil meiner Grafschaft ans Feuer gesetzet hatte, geradezu am
KutschenfuBtritt an, ich sollte anbeiBen, und da ich ihn - wir
GroBen setzen nicht ungern den Pobel durch Verschmahen be-
neideter Kost in ein hungriges Erstaunen - mit eignem Munde 10
nur um eine Biersuppe ansprach : machte da nicht der Restaurateur
eine eitle Miene und sagte: »im ganzen Hotel hatt' er keine; und
hatt' er sie : so sollten ihm doch die kiin ftigen Traiteurs nicht nach-
sagen, er habe unter so vielen jus und bouillons seinem gnadigsten
Herrn nichts prasentiert als einen Napf Biersuppe«?
Um das dritte Ding, um die Bewegung und Ruhe zugleich, hatte
mich bei einem Haare die Ehrenpforte meines Begrabnisdorfes
gebracht, maBen sie mich beinahe erschlug, weil sie und die mu-
sizierende Galerie auf ihr hart hinter meinem Ietzten Bedienten
einpurzelten, aber zur Freude der Grafschaft keinem Menschen 20
etwas zerbrachen als dem Bader die Glas-Schropfkopfe, die er der
Ehrenpforte angesetzt und vorgestreckt hatte, damit doch etwas
daranhinge, worein die nicht schlechte Illumination zu stecken
ware. Ich wollte schon an und fur sich etwas toll werden iiber die
satirischen Schropfvasen, die ich fur satirische Typen und Nach-
bilder meines graflichen Ausschropfens der vollen Allodial- und
Feudaladern nehmen wollte, und ich fragte den SchultheiB, ob er
dachte, es fehle mir echter Witz; allein sie taten samtlich Eide, an
Witz ware bei der ganzen Ehrenpforte gar nicht gedacht worden.
Luft, das vierte nicht natiirliehe Ding eines Reichs-Erb-Kas- 30
perls, hatt' ich schon haben konnen; denn bloB etwa des kurzen
MiBbrauchs wegen, den die Instrumente und Lungen meiner Va-
sallen von einem so herrlichen Elemente machten, hatt' ich wahr-
lich nicht mich und den Luftsektor um mich so fest in meinen
Wagen eingesperrt, als ich wirklich tat - ich muB das ausdriick-
lich sagen, damit nicht der gute Kelzheimer Kantor sich einbilde,
ZWEITER SEKTOR 5 I
es habe mir nicht gefallen, daft mir sein musikalisches Feuerrohr,
seine Trompete, doppelt aus dem Schalloch, sowohl seines Kirch-
turms als seines Korpers, dermaBen entgegenstach, daB die melo-
dischen Luftwellen aus beiden mir vier Acker weit entgegen gin-
gen, indes noch dazu unten im Turm seine Frau die Glocken
melkte, als wurd' ich begraben und nicht sowohl empfangen als
verabschiedet — wie gesagt, des musikalischen Ehepaars wegen
hatt' ich den Wagen gar nicht zugeschlossen; aber der Todesge-
fahr wegen; denn ein freudiges Pikett Fronbauern schoB mir aus
io 17 Vogelflinten und einem paar TaschenpufFern sowohl Ehren-
salven als einige Ladstocke entgegen.
Sitzt ein Graf einmal ohne vier nicht naturliche Dinge da: so
darf er an das funfte gar nicht denken, an Ausleerung; der Sphink-
ter aller, selbst der grofiten Poren bleibt samt der Wagenture zu.
Es war also kein Wunder, da ich gar kein Hephata zu irgend-
einem Porus sagen konnte, daB ich auffuhr: »Den Henker hab*
ich davon von meinem Sitzen auf der Grafenbank in Regensburg,
wenn ich hier auf dem Kutschkissen hocken muB und nichts -
verrichten kann, nicht einmal . . . .«
20 Echte Leidenschaft, die das sechste nicht naturliche Ding des
Menschen ist, wird von nichts so leicht erstickt als von einem at-
lassenen Hundekissen, auf dem die Pfarrer, Schuldiener und Amt-
leute, die ein Reichs-Erb-Kasperl hat, ihm die Carmina uber-
reichen, die sie auf ihn haben fertigen lassen: denn daruber ist
weder zu lachen, noch zu greinen ; noch zu zanken, noch zu loben,
noch zu reden.
Meine Lehnleute und Hintersassen, die mir so viel von meinen
sechs unnatiirlichen Dingen abfischten, gaben mir eben dadurch
die Halfte des ersten wieder, das Wachen - sie hatten sich aber
30 meinetwegen so in SchweiB gesetzt, daB ich ihrentwegen auch
darin lag. Da ich aufwachte : dacht* ich anfangs, es war* ein Traum ;
aber bei mehrem Aufwachen merkt* ich, daB es, die Namen aus-
genommen, die gestohlne Geschichte meiner Nachbarschaft war.
Freilich argert michs so gut, als wurde die Illumination und der
musikalische Ldrm meinetwegen veranstaltet, daB die Untertanen
beide bloB in der boshaften Absicht machen, ihren groBen oder
$2 DIE UNSICHTBARE LOGE
kleinen Regenten durch EkeL und Plage wieder auf seine Reise
zuriickzujagen; was sie offenbar den orientalischen Karawanen
abgelernt, die gleichfalls durch Trommelnund Feuerschlagen wilde
Tiere sich vom Leibe halten.
DRITTER SEKTOR ODER AuSSCHNITT
Unterirdisches Padagogium - der beste Herrnhuter und Pudel
Jetzo geht erst meine Geschichte an; die Szene ist in Auenthal
oder vielmehr auf dem Falkenbergischen Bergschlosse, das einige
Ackerlangen davon lag. Das erste Kind der Schachamazone und
des sterbenden Fechters und Rittmeisters im Schach war Gustav, 10
welches nicht der erhabene schwedische Held ist, sondern meiner.
Sei gegruBet,kleinerSchoner, aufdemSchauplatze dieses Lumpen-
papiers und dieses Lumpenlebens! Ich weiB dein ganzes Leben
voraus, darum beweget mich die klagende Stimme deiner ersten
Minute so sehr; ich sehe an so manchen Jahren deines Lebens
Tranentropfen stehen, darum erbarmet mich dein Auge so sehr,
das noch trocken ist, weil dich bloB dein Korper schmerzet - ohne
Lacheln kommt der Mensch, ohne Lacheln geht er, drei fliegende
Minuten lang war er froh. Ich habe daher mit gutem Vorbedacht,
lieber Gustav, den frischen Mai deiner Jugend, von dem ich ein 20
Landschaftstuck ins elende FlieBpapier hineindrucken soil, bis in
den Mai des Wetters aufgehoben, um jetzo, da alle Tage Schop-
fungtage der Natur sind, auch meine Tage dazu zu machen, um
jetzo, da jeder Atemzug eine Stahlkur ist, jeder Schritt vier Zolle
weiter und das Auge weniger vom Augenlid verhangen wird, mit
fliegender Hand zu schreiben und mit einer elastischen Brust voll
Atem und Blut! -
Zum Gliick bleibt es vollends vom 2 tcn bis zum iy tcn Mai (lan-
ger beschreib' ich nicht daran) recht hubsches Wetter; denn ich
bin ein wenig ein meteorologischer Clair voyant, und mein kurzes 30
Bein und mein langes Gesicht sind die besten Wetterdarmsaiten
in hiesiger Gegend.
DRITTER SEKTOR 53
Da Erziehung weit weniger am innern Menschen (und weit
mehr am auBern) andern kann, als Hofmeister sich einbilden: so
wird man sich wundern, dafi bei Gustav gerade das Gegenteil
eintrat; denn sein ganzes Leben klang nach dem Chorton seiner
uberirdischen, d.h. unterirdischen Erziehung. Der Leser muB
namlich aus seinem ersten Sektor noch im Kopfe haben, daB die
herrnhutisch gesinnte Obristforstmeisterin von Knor ihre Tochter
Ernestine nur unter der Bedingung sich selber durch das Schach
ausspielen lieB, daB der gewinnende Brautigam in den Ehepakten
io versprache, das erste Kind acht Jahre unter der Erde zu erziehen
und zu verbergen, urn dasselbe nicht gegen die Schonheiten der
Natur und die Verzerrungen der Menschen zugleich abzuharten.
Vergeblich stellte der Rittmeister Ernestinen vor : »so verzog' ihm
ja die Schwiegermutter den Soldaten zu einer Schlafhaube, und
man sollte nur warten, bis ein Madchen kame.« Er lieB auch wie
mehre Manner den Unmut iiber die Schwiegermutter ganz am
Weibe aus. Aber die Alte hatte schon vor der Taufe einen himm-
lischschonen Jiingling aus Barby verschrieben. Der Rittmeister
konnte wie alle kraftvolle Leute das herrnhutische Diminuendo
20 nicht ausstehen; am meisten redete er daruber, daB sie so wenig
redeten; sogar das war nicht nach seinem Sinne, daB die herrn-
hutischen Wine ihn nicht sowohl uberschnellten als zu sehr tiber-
schnellten.
Allein der Genius - diesen schonen Namen soil er vorjetzt auf
alien Blattern haben - lag nicht an jenen das Herz einschrauben-
den Krampfen des Herrnhutismus krank, und er nahm bloB das
Sanfte und Einfache von ihm. Ober seinem schwarmerischen
trunknen Auge glattete sich eine ruhvolle schuldlose Stirne, die
das vierzigste Jahr ebenso unrastriert und ungerunzelt lieB wie das
3° vierzehnte. Er trug ein Herz, welches Laster, wie Gifte Edelsteine,
zerbrochen hatten; schon ein fremdes von Siinden durchackertes
oder angesaetes Gesicht beklemmte schwiil seine Brust, und sein
Inneres erblaBte vor dastehenden Schmutzseelen* wie der Saphir
an dem Finger eines Unkeuschen seinen Blauglanz verlieren soil.
Gleichwohl muBte eine solche vieljahrige Aufopferung fur ein
Kind sogar auf eine so schone Seele wie des Herrnhuters schwer
54 DIE UNSICHT3ARE LOGE
und hart aufdrucken ; aber er sagte : »o welche himmlische Anlasse
nab' er dazu, die er aber nur seinem Gustav, der gewiB mit Gottes
Hiilfe so aufbliihe, wie er hoffe, kiinftig vertraue; und niemand
solle sich doch uber sein scheinbares Selbst-Hinopfern zu einem
wahren tiefen Erden-Leben wundern.« - Und in der Tat werden
feinere Leser, die weit denken, hofF ich, nicht sich wundern, son-
dern vielmehr sich anstellen, als fanden sie ein solches Erzieh-
Heldentum eben recht natiirlich. Obrigens ist wohl die Tugend
der meisten Menschen mehr nur ein Extrablatt und Gelegenheit-
gedicht in ihrem Zeitung- und Alltagleben; aUein zwei, drei und 10
mehre Genien sind doch vorhanden, in deren epischem Leben die
Tugend die Heldin ist und alles iibrige nur Nebenpartie und Epi-
sode und deren Steigen vom Volke mehr angestaunet als bewun-
dert werden kann.
Die ersten dunkeln Jahre lebte Gustav mit seinem Schutzengel
noch in einem iiberirdischen Zimmer; er trennte ihn bloB von den
heillosen Kipperinnen und Wipperinnen der Kindheit, denen wir
ebenso viele lahme Beine als lahme Herzen zu danken haben —
Magden und Ammen. Ich wollte lieber, diese Unhuldinnen er-
zogen uns im zweiten Jahrzehend als im zweiten Jahr. 20
Der Genius zog darauf mit seinem Gustav unter eine alte aus-
gemauerte Hohlung im SchloBgarten, von der es der Rittmeister
bedauerte, daB er sie nicht langst verschutten lassen. Eine Keller-
treppe fiihrte links in den Felsenkeller und rechts in diese Wol-
bung, wo eine Kartause mit drei Kammern stand, die man wegen
einer alten Sage die Dreibriider-Kartause nennte; auf ihrem FuB-
boden lagen drei steinerne Monche, welche die ausgehauenen
Handeewig iibereinander legten; und vielleicht schliefen unter
den Abbildern die stummen Urbilder selber mit ihren unterge-
gangnen Seufzern uber die vergehende Welt. Hier waltete bloB 30
der schone Genius uber den Kleinen und bog jeden knospenden
Zweig desselben zur hohen Menschengestalt empor.
Elende Umstandlichkeit, z. B. uber die Lieferanten der Wasche,
der Betten und Speisen, werden mir Frauenzimmer am liebsten
erlassen; aber sie werden begieriger sein, wie der Genius erzog.
Recht gut, sag* ich, er befahl nicht, sondern gewohnte und eriahlte
PRITTER SEKTOR 55
blofi. Er wider sprach weder sich noch dem Kinde, ja er hatte das
groBte Arkanum, ihn gut zu machen - er wars selbst. Ohne dieses
Arkanum konnte man ebensogut den Teufel zum Informator din-
gen als sich selber, wie die Tochter schlimmer Mutter zeigen. Der
Genius glaubte iibrigens, beim ersten Sakramente (der Taufe)
gehe die Bildung des Herzens an, beim zweiten (Abendmahl) die
des Kopfes.
Von guten Menschen horen ist so viel als unter ihnen leben,
und Plutarchs Biographien wirken tiefer als die besten Lehrbiicher
10 der Moralphilosophie zum Gebrauche -. akademischer Lehrer.
Fur Kinder vollends gibts keine andere Sittenlehre als Beispiel,
efzahltes oder sichtbares; und es ist erzieherische Narrheit, dafi
man durch Griinde Kindern nicht diese Griande, sondern
den Willen und die Kraft zu geben meinet, diesen Griinden
zu folgen. O tausendmal gliicklicher als ich neben meinem Tertius
und Konrektor lagst du, Gustav, auf dem SchoBe, in den Armen
und unter den Lippen deines teuern Genius, wie eine trinkende
Alpenblume an der rinnenden Wolke, und sogest dein Herz an
den Erzahlungen von guten Menschen groB, die der Genius samt-
20 Hch Gustave und Selige nennte, von denen wir bald sehen sollen,
warum sie mit Schwabacher gedruckt sind! Da er gut zeichnete,
so gab er ihm, wie Chodowiecki dem Romanenmacher, die Zeich-
nung jeder Geschichte und umbauete den Kleinen mit diesem
orbis pictus guter Menschen wie der allmachtige Genius uns mit
der groBen Natur. Aber er gab ihm die Zeichnung nie vor, son-
dern nach der Beschreibung, weil Kinder das Horen zum Sehen
starker zieht als das Sehen zum Hdren. Ein anderer hatte zu diesem
padagogischen Hebebaum statt der ReiBfeder den Fiedelbogen
oder die Klaviertaste genommen; aber der Genius tat es nicht;
3° das Gefiihl fur Malerei entwickelt sich wie der Geschmack sehr
spat und bedarf also der Nachhtilfe der Erziehung. Es ist der
fruhestenEntwicklung wert, weiles das Gitter wegnimmt, das uns
von der schonen Natur absondert, weil es die phantasierende Seele
wieder unter die auBern Dinge hinaustreibt und weil es das
deutsche Auge zur schweren Kunst abrichtet, schone Formen zu
fassen. Die Musik hingegen trifft schon im jiingsten Herzen (wie
56 DIE UNSICHTBARE LOGE
bei den wildesten Volkern) nachtonende Saiten an; ja ihre All-
macht biiBet vielmehr durch Obung und Jahre ein. Gustav lernte
daher als Taubstummer in seiner taubstummen Hohle so gut
zeichnen, daB ihm schon in seinem dreizehnten Jahre sein Hof-
meister safi, ein schoner Mann, der weiter unten im Buche auf-
treten muB.
Und so floB beiden ihr Leben sanft in der Katakombe wie eine
Quelle davon. Der Kleine war gliicklich; denn seine Wiinsche
langten nicht iiber seine Kenntnisse hinaus, und weder Zank noch
Furcht rissen seine stille Seele auseinander. Der Genius war 10
glucklich; denn die Ausfuhrung dieses zehnjahrigen Baues wurd*
ihm leichter als der EntschluB desselben; der EntschluB drangt
alle Schwierigkeiten und Entbehrungen auf einmal vor die Seele.
Die Ausfuhrung aber stellet sie weit auseinander und gibt uns
erst das Interesse daran durch die sonderbare Freude, ohne die
man bei tausend Dingen nicht ausdauerte - etwas unter seinen
Handen taglich wachsen sehen.
Fur beide Menschen war es gut, daB unten in diesem mora-
lischen Treibhaus ein Schulkamerad des Gustavs mit wohnte, der
zugleich ein halber Kollaborator und Adjunktus des Genius war, 20
indes von der ganzen Erziehung we gen gewisser Mangel seines
Herzens nur schlechten Vorteil zog, ob er gleich so gut wie Gustav
zu den Tieren mit zwei Herzkammern und mit warmen Blute ge-
horte. — Wenn ich sage, daB der groBte Fehler des Mitarbeiters
war, daB er keinen Branntwein trinken wollte, so sieht man wohl,
daB er klein^ wie Gustav grofi ge^ogen werden sollte, weil er der
netteste schwarzeste - Pudel war, der jemals iiber der Erde mit
einer weiBen Brust herumgesprungen war. Dieser-verstandige
Hund und Unterlehrer losete den Oberlehrer oft im Spielen ab;
zweitens konnten die meisten Tugenden nicht sowohl von als an 50
ihm durch Gustav ausgeiibt werden, und er hielt dazu die n6tigen
ungleichnamigen Laster bereit: - im Schlaf biB der Schulkollege
leicht um sich nach lebendigen Beinen, im Wachen nach abge-
zauseten.
In diesem unterirdischen Amerika hatten die drei Antipoden
ihren Tag, d.h. es war ein Licht angeziindet, wenn es oben bei
DRITTER SEKTOR 57
uns Nacht war - Nacht, d.h. Schlaf hatten sie, wenn bei uns die
Sonne schien. Der schone Genius hatte des auBern Larms und
seiner Tagausfluge wegen es so eingerichtet. Der Kleine lag dann
unten in seiner Kartause, wahrend sein Lehrer Luft und Menschen
genoB, mit lugeschniirten Augen, weil dem Zufall und der Keller-
tiir nicht zu trauen war. Zuweilen trug er den schlafenden ver-
hiillten Engel in die frische Luft und in die beseelenden Sonnen-
strahlen hinauf, wie Ameisen ihre Puppen den Brutflugeln der
Sonne unterlegen. Wahrlich war* ich der zweite oder dritte Cho-
10 dowiecki: so stand* ich jetzo auf und stache zu meinem eignen
Buche den Auftritt in schwedisches Kupfer, nicht bloB wie unser
herausgetragner blaBroter Liebling unter seiner Binde in einem
gegitterten Rosenschatten schlummert und, ahnlich einem ge-
storbenen Engel, im unendlichen Tempel der Natur still mit
kleinen Traumen seiner kleinen Hbhle vor uns liegt — Es gibt noch
etwas Schoners, du hast deine Eltern noch, Gustav, und siehst sie
nicht ; deinen Vater, der mitdem von der Liebe verdunkelten Auge
neben dir steht und sich freuet iiber den reinern Atem, der die
kleine Brust beweget, und dariiber vergisset, wie du erzogen wirst
20 - und deine Mutter, die an dein Angesicht, auf welchem die zwei-
fache Unschuld der Einsamkeit und der Kindheit wohnt, die liebe-
hungrigen Lippen presset, die ungesattigt bleiben, weil sie nicht
reden und nicht schmeicheln diirfen... Aber sie driickt dich aus
deinem Schlummer heraus, und du muBt nach einer kurzen Zeit
wieder in deine Platos-Hohle hinunter.
Der Genius bereitete ihnlangeaufdieAuferstehung aus seinem
heiligen Grabe vor. Er sagte zu ihm: »Wenn du recht gut bist und
nicht ungeduldig und mich und den Pudel recht lieb hast : so darfst
du sterben. Wenn du gestorben bist: so sterb' ich auch mit, und
30 wir kommen in den Himmel« (womit er die Oberflache der Erde
meinte) - »da ists recht hubsch und prachtig. Da brennt man am
Tage kein Licht an, sondern eines so groB wie mein Kopf steht in
der Luft iiber dir und geht alle Tage schon um dich herum - die
Stubendecke ist blau und so hoch, daB sie kein Mensch erlangen
kann auf tausend Leitern - und der FuBboden ist weich und griin
und noch schoner, die Pudel sind da so groB wie unsere Stube -
58 DIE UNSICHTBARE LOGE
im Himniel ist alles voll Seliger, und da sind allc die guten Leutc,
von denen ich dir so oft erzahlet habe, und deineEltern,« (deren
Abbilder er ihm lange gegeben hatte) »die dich so lieb haben wie
ich und dir alles geben wollen. Aber recht gut muBt du sein.« -
»Ach wenn sterben wir denn einmal?« fragte der Kleine, und seine
gliihende Phantasie arbeitete in ihm, und er lief unter jeder solchen
Schilderung zu einem Landschaftgemalde, worin er jede Gras-
spitze betastete und befragte.
Auf Kinder wirkt nichts so schwach als eine Drohung und Hoff-
nung, die nicht noch vor abends in Erfullung geht - blofi solange 10
man ihnen vom kiinftigen Examen oder von ihrem erwachsenen
Alter vorredet, so lange hilfts; daher manche dieses Vorreden so
oft wiederholen, daB es nicht einmal einen augenblicklichen Ein-
druck mehr erzeugt. Der Genius setzte daher den langen Weg zur
groBten Belohnung aus kleinern zusammen, die alle den Eindruck
und die GewiBheit der groBen verstarkten und die im folgenden
Sektor stehen.
Apropos! Ich muB es nachholen, daB es unter alien Obeln fur
Erziehung und fur Kinder, wogegen das verschriene Buchs tabieren
und Wichsen golden ist ? kein giftigeres,keinen ungesundernMiB- 20
pickel und keinen mehr zehrenden padagogischen Bandwurm
gibt als eine - Hausfranzosin.
Vierter Sektor oder Ausschnitt
Lilien - Waldhorner - und eine Aussicht sind die Todes-Anzeigen
Auf alien meinen Gedachtnisfibern (diesen Denkfaden und
Blattergerippen von so manchem schlechten Zeug) schlaft keine
schSnere Sage als die aus dem Kloster Corbeyi - wenn der Todes-
engel daraus einen GeistHchen abzuholen hatte: so legte er ihm
als Zeichen seiner Ankunft eine weiBe Lilie in seinem Chorstuhl
hin. Ich wollt', ich hatte diesen Aberglauben. Unser sanfter Ge- 30
nius ahmte dem Todesengel nach und sagte dem Kleinen : »Wenn
wir eine Lilie finden : so sterben wir bald.« Wie alsdann der Him-
VIERTER SEKTOR 59
mellustige, der noch keine gesehen, iiberall darnach suchte! Ein-
mal, da sein Genius ihm den Genius des Universums nicht als ein
metaphysisches Robinets-Vexierbild, sondern als den groBten
und besten Menschen der Erde geschildert hatte: zog sich ein nie
dagewesener Wohlgeruch um sie herum. Der Kleine funk, aber
sieht nicht ; er tritt zur Klause hinaus und - drei Lilien liegen da. Er
kennt sie nicht, diese weiBen Juniuskinder ; aber der Genius nimmt
sie entziickt von ihm und sagt : »Das sind Lilien, die kommen vom
Himmel, nun sterben wir bald.« Ewig zitterte die Riihrung nach
io spatern Jahren noch vor jeder Lilie in Gustavs Herzen fort, und ge-
wiB gaukelt einmal in seiner wahren Todesstunde eine Lilie als das
letzte glanzende Viertel der verloschenden Monderde vor ihm.
Der Genius hatte vor, ihn am ersten Junius, seinem Geburt-
tage, aus der Erde zu lassen. Aber um seine Seele noch hoher zu
spannen (vielleicht zu hoch), HeB er ihn in der letzten Woche noch
zwei heilige Vorfeste des Sterbens erleben. - Als er ihm namlich
die Seligkeiten des Himmels, d.h. der Erde mit seiner Zunge und
mit seinem Gesichte vorgemalet hatte, besonders die Herrlich-
keiten der Himmel- und Spharenmusik: so endigte er mit der
20 Nachricht, daB oft schon zu Sterbenden, die noch nicht oben
waren, dieses Echo des menschlichen Herzens hinuntertonte und
daB sie denn eher stiirben, weil davon das weiche Herz zerrlosse.
In das Ohr des Kleinen war Musik, diese Poesie der Luft, noch nie
gekommen. Sein Lehrer hatte langst ein sogenanntes Sterbelied
gemacht- in diesem bezog natiirlicherweise Gustav alles, was es
vom zweiten Leben sagte, auf das erste, und sie lasen es oft, ohne
es zu singen. Aber in der letzten Woche erst ring der Genius auf
einmal an, seine milde Lehrstimme zu der noch weichern Sing-
stimme des herrnhutischen Kirchengesanges zu verklaren und das
30 sehnsiichtige Sterbelied vorzutragen, indes er durch Veranstal-
tungen sich oben von einem Waldhorne - dieser Flote der Sehn-
sucht - begleiten HeB; und die ziehenden Adagio-Klagen sanken
durch die dampfende Erde in ihre Ohren und Herzen wie ein war-
mer Regen nieder. ...
Gustavs Auge stand in der ersten Freudentrane - sein Herz
drehte sich um - er glaubte, nun stiirb* es an den Tonen schon.
60 DIE UNSICHTBARE LOGE
O Musik! Nachklang aus einer entlegnen harmonischen
Welt! Seufzer des Engels in uns! Wenn das Wort sprachlos ist,
und die Umarmung, und das Auge, und das weinende, und
wenn unsre stummen Herzen hinter dem Brust-Gitter einsam lie-
gen : o so bist nur du es, durch welche sie sich einander zurufen in
ihren Kerkern und ihre entfernten Seufzer vereinigen in ihrer
Wiistel -
Wie bei einem wahren Sterben naherte der Genius seinen Zog-
ling in diesem nachgeahmten auf der Stufenleiter der fiinf Sinne
dem Himmel. Er schmiickte den scheinbaren Tod zum Vorteile 10
des wahren mit alien Reizen aus, und Gustav stirbt einmal ent-
ziickter als einer von uns. Anstatt daB andere uns die Holle offen
sehen lassen: verhieB er ihm, er werde wie Stephanus an seinem
Sterbetage den Himmel schon often sehen, eh* er in ihn aufsteige.-
Dies geschah auch. Ihr unterirdisches Josaphats -Tal hatte auBer
der erwahntenKellertreppe noch einen langen waagrechten Kreuz-
gang, der am FuBe des Bergs ins Tal und ins Dorfchen darin
offen stand, und den zwei Tiiren in verschiedenen Zwischenrau-
men versperrten. Diese Tiiren lieB er in der Nacht vor dem ersten
Junius, als bloB die weiBe Mondsichel am Horizonte stand und 20
wie ein altergraues Angesicht sich in der blauen Nacht nach der -
versteckten Sonne wandte, mitten in einem Gebete unvermerkt
aufziehen und nun siehst du, Gustav, zum ersten Male in
deinem Leben und auf den Knien in das weite, 9 Millionen Qua-
dratmeilen gro Be Theater des menschlichen Leidens und Tuns
hinein; aber nur so wie wir in den nachtlichen Kindheitjahren und
unter dem Flor, womit uns die Mutter gegen Miicken uberhullte,
blickest du in das Nachtmeer, das vor dir unermeBlich hinaus-
steht mit schwankenden Bliiten und schieBenden Feuerkafern, die
sich neben den Sternen zu bewegen scheinen, und mit dem ganzen 30
Gedrange der Schopfung! O! du gliicklicher Gustav; dieses
Nachtstiick bleibt noch nach langen Jahren in deiner Seele wie
eine im Meere untergesunkne grune Insel hinter tiefen Schatten
gelagert und sieht dich sehnend an wie eine langstvergangnefrohe
Ewigkeit Allein nach wenigen Minuten schloB der Genius ihn
an sich und verhullte die suchenden Augen mit seinem Busen;
VIERTER SEKTOR 6 1
unvermerkt liefen die Himmeltiiren wieder zu und nahmen ihm
den Fruhling.
In zwolf Stunden steht er darin ; aber ich werde ordentlich be-
klemmt, je naher ich mich zu dieser sanften Auferstehung bringe.
Es riihrt nicht bloB daher, daB ich nur ein einziges Mai in meinem
Leben einen solchen des Himmels werten Geburttag wie Gustavs
seinen in meinem Kopfe auf- und untergehen lassen kann, einen
Tag, dessen Feuer ich an meinem Pulse fiihle und wovon nur
Widerschein aufs Papier herfallt - auch nicht bloB daher kommt
io es, daB nachher der schone Genius ungekannt von Autor und
Leser wegziehet - sondern daher am meisten, daB ich meinen
Gustav aus der stillen Demantgrube, wo sich der Demant seines
Herzens so durchsichtig und so strahlend und so ohne Flecken
und Federn zusammensetzte, hinauswerfe in die heifie Welt, wel-
che bald ihre Brennspiegel auf ihn halten wird zum Zerbrockeln,
aus seiner Meerstille der Leidenschaftenheraus in den sogenannten
Himmel hinein, wo neben den Seligen ebenso viele Verdammte
gehen. - Aber da er alsdann auch der groBen Natur ins Angesicht
schauen darf: so ists doch nicht sein Schicksal allein, was mich be-
»o klommen macht, sondern meines und fremdes, weil ich bedenke,
durch wieviel Kot unsere Lehrer unsern innern Menschen wie
einen Missetater schleifen, eh' er sich aufrichten darf! - Ach hatte
ein Pythagoras, statt des Lateinischen und statt der syrischen
Geschichte, unser Herz zu einer sanft erbebenden Aolsharfe, auf
welcher die Natur spielet und ihre Empfindung ausdruckt, und
nicht zu einer larmenden Feuer trommel aller Leidenschaften wer-
den lassen - wie weit - da das Genie, aber nie die Tugend Grenzen
hat und jeder Reine und Gute noch reiner werden kann - konnten
wir nicht sein! -
30 So wie Gustav eine Nacht wartet, will ich auch meine Schilde-
rung um eine verschieben, um sie morgen mit aller Wollust mei-
ner Seele zu geben.
62 DIE UNSICHTBARE LOGE
FUNFTER SEKTOR ODER AuSSCHNITT
Auferstehung
Vier Priester stehen im weiten Dom der Natur und beten an
Gottes Altaren, den Bergen, - der eisgraue Winter mit dem
schneeweiBen Chorhemd - der sammelnde Herbst mit Ernten
unter dem Arm, die er Gott auf den Altar legt und die der Mensch
nehmen darf- der feurige J tingling, der Sommer, der bis nachts
arbeitet, um zu opfern - und endlich der kindliche Friihling mit
seinem weiBen Kirchenschmuck von Blijten, der wie ein Kind
Blumen und Bliitenkelche um den erhabenen'Geist herumlegtund 10
an dessen Gebete alles mitbetet, was ihn beten hort. - Und fur
Menschen£zW<er ist ja der Friihling der schonste Priester.
Diesen Blumenpriester sah der kleine Gustav zuerst am Altar.
Vor Sonnenaufgang am ersten Junius (unten wars Abend) kniete
der Genius schweigend hin und betete mit den Augen und stumm-
zitternden Lippen ein Gebet fur Gustav, das'iiber sein ganzes ge-
wagtes Leben die Fliigel ausbreitete. Eine Flote hob oben ein
inniges liebendes Rufen an, und der Genius sagte, selber iiber-
waltigt: »Es ruft uns heraus aus der Erde, hinauf gen Himmel;
geh mit mir, mein Gustav.« Der Kleine bebte vor Freude und 20
Angst. Die Flote tonet fort - sie gehen den Nachtgang der Him-
melleiter hinauf - zwei angstliche Herzen zerbrechen mit ihren
Schlagen beinahe die Brust - der Genius stoBet die Pforte auf,
hinter der die Welt steht - und hebt sein Kind in die Erde und un-
ter den Himmel hinaus — . . Nun schlagen die hohen Wogen des
lebendigen Meers iiber Gustav zusammen - mit stockendem Atem ,
mit erdriicktem Auge, mit uberschutteter Seele steht er vor dem
uniibersehlichen Angesicht der Natur und halt sich zitternd fester
anseinen Genius.... Als eraber nach dem ersten Erstarren seinen
Geist aufgeschlossen, aufgerissen hatte fur diese Strome - als er 30
die tausend Arme fiihlte, womit ihn die hohe Seele des Weltall an
sich druckte - als er zu sehen vermochte das griine taumelnde
Blumenleben um sich und die nickenden Lilien, die lebendiger
ihm erschienen als seine, und als er die zitternde Blume tot zu
FUNFTER SBKTOR 63
treten furchtete - als sein wieder aufwarts geworfnes Auge in dem
tiefen Himmel, der Offmmg der Unendlichkeit, versank - und als
er sich scheuete vor dem Herunterbrechen der herumziehenden
schwarzroten Wolkengebirgeundderiiberseinem Haupt schwim-
menden Lander- als erdieBerge wie neueErden auf unserer liegen
sah - und als ihn umrang das unendliche Leben, das gefiederte
neben der Wolke fliegende Leben, das summende Leben zu seinen
FuBen, das goldne knechende Leben auf alien Blattern, die leben-
digen, auf ihn winkenden Arme und Haupter der Riesenbaume -
10 und als der Morgenwind ihm der groBe Atem eines kommenden
Genius schien und als die flatternde Laube sprach und der Apfel-
baum seine Wange mit einem kalten Blatt bewarf - als endlich
sein belastet-gehendes Auge sich auf den weiBen Fliigeln eines
Sommervogels tragen lieB, der ungehort und einsam uber bunte
Blumen wogte und ans breite griine Blatt sich wie eine Ohrrose
versilbernd hing : so fing der Himmel an zu brennen, der ent-
flohenen Nacht loderte der nachschleifende Saum ihres Mantels
weg, und auf dem Rand der Erde lag, wie eine vom gottlichen
Throne niedergesunkene Krone Gottes, die Sonne. Gustav rief:
20 »Gott steht dort« und stiirzte mit geblendetem Auge und Geiste
und mit dem groBten Gebet, das noch ein kindlicher zehnjahriger
Busen faBte, auf die Blumen hin
Schlage die Augen nur wieder auf, du Lieber! Du siehest nicht
mehr in die gliihende Lavakugel hinein; du liegst an-der beschat-
tenden Brust deiner Mutter, und ihr liebendes Herz darin ist deine
Sonne und dein Gott - zum ersten Mai sieh das unnennbar holde,
weibliche und mutterliche Lacheln, zum ersten Male hore die
elterliche Stimme; denn die ersten zwei Seligen, die im Himmel
dir entgegengehen, sind deine Eltern. O himmlische Stunde! Die
30 Sonne strahlt, alle Tautropfen funkeln unter ihr, acht Freuden-
tranen fallen mit dem milderen Sonnenbilde nieder, und vier
Menschen stehen selig und geriihrt auf einer Erde, die so weit vom
Himmel liegt! Verhulltes Schicksal! wird unser Tod sein wie
Gustavs seiner? Verhulltes Schicksal! das hinter unsrer Erde wie
hinter einer Larve sitzet und das uns Zeit lasset, \u sein - ach!
wenn der Tod uns zerleget und ein groBer Genius uns aus der
64 DIE UNSICHTBARE LOGE
Gruft in den Himmel gehoben hat, wenn dann seine Sonnen und
Freuden unsere Seele uberwaltigen, wirst du uns da auch eine
bekannte Menschenbrust geben, an der wir das schwache Auge
aufschlagen? O Schicksal! gibst du uns wieder, was wir niemals
hier vergessen konnen? Kein Auge wird sich auf dieses Blatt
richten, das hier nichts zu beweinen und nichts dort wiederzufln-
den hat: ach wird es nach diesem Leben voll Toter keiner be-
kannten Gestalt begegnen, zu der wir sagen konnen: willkom-
men?
Das Schicksal steht stumm hinter der Larve; die menschliche 10
Trane steht dunkel auf dem Grabe; die Sonne leuchtet nicht in die
Trane. - Aber unser liebendes Herz stirbt in der Unsterblichkeit
nicht und vor dem Angesichte Gottes nicht.
SECHSTER SEKTOR ODER AuSSCHNITT
Gewaltsame Entfiihrung des schonen Gesichts - wichtiges Portrat
Das Erstaunen Gustavs, zu dem ihn den ganzen Tag ein Gegen-
stand nach dem andern anstrengte, und die Entbehrung des Schlafs
endigten seinen ersten Himmeltag mit einem Fieberabend, den er
wurde verweint haben, auch ohne einen Grund. Aber er hatte
einen: sein Genius war wahrend des Tumultes im Garten mit 20
einem sprachlosen Kusse von dem Liebling fortgezogen und hatte
nichts zuriickgelassen als der Mutter ein Blattchen. Er hatte nam-
lich ein Notenblatt in zwei Halften zerschnitten; die eine enthielt
die Dissonanzen der Melodie und die Fragen des Textes dazu, auf
der andern standen die Aufiosungen und die Antworten. Die dis-
sonierende Halfte sollte sein Gustav bekommen; die andere be-
hielt er: »Ich und mein Freund«, sagt* er, »erkennen einmal in der
wiisten Welt einander daran, daB er Fragen hat, zu denen ich Ant-
worten habe.« Auch den Pudel, der immer groBer wurde, nahm er
mit Wo werden wir dich wiedersehen, unbekannter schoner 30
Schwarmer? Du erfahrst es nicht, wie dein verwaiseter Zogling
abends rufet und schluchzet nach dir, und wie ihm der neue ge-
SECHSTER SEKTOR 65
stirnte Himmel nicht so gefallet als seine Stubendecke mit dir, und
wie ihm dieLichtkerzen jedes Zimmer zur stillen Hohle ummalen,
in der er dich geliebt hatte und du ihn. Ebenso biicken wir uns am
Lebens-Abend an alten Grabern unsrer friihen Frewnde, die nie-
mand bedauert als wir; bis endlich den letzten Greis aus dem lie-
benden Zirkel ein fremder Jiingling beerdigt; aber keine einzige
Seele erinnert sich der schonen Jugend des letzten Greisesl -
Am Morgen war er wieder gesund und froh ; die Sonne trocknete
sein Auge aus-, und das Nebelbild seines Genius zog in der Hulle
■ der letzten Nacht sich weit zuriick. Es tut mir leid, daB ichs seinen
Jahren und seinem Charakter beizumessen habe, daB er, die Abend-
stunden der schmerzlichsten Sehnsucht ausgenommen, ein wenig
zu leicht das Bild eines Freundes durch nahere Bilder in den Hinter-
grund verschieben lieB. Alle Blumen waren jetzo Spielzeug fur
ihn, jedes Tier ein Spielkamerad und jeder Mensch ein Vogel
Phonix; jede Himmelsveranderung, jeder Sonnenuntergang, jede
Minute iiberschuttete ihn mit Neuigkeiten.
Es war ihm wie vornehmen Kinderri, die aufs Land hinaus-
kommen; alles begucken, betasten, bespringen sie in der neuen
> Erde und dem neuen Himmel. Denn es ist ein unbeschreibliches
Gliick fiir stiftfahige Kinder, daB ihre Eltern, die sonst aus der
Natur sich wenig machen, sie dennoch zwischen hohen Zimmern
und hohen Hausern, die nicht 38 Quadratschuhe vom Himmel
sichtbar lassen, wie in Treibgarten mit hohen Mauern erziehen,
damit die Natur ihnen so wenfg als ihre Eltern unter die Augen
komme; dadurch erhalt sich ihr Gefiihl fiir beide ebenso unver-
hartet uber der Erde, als wiirden sie wirklich unter ihr erzogen;
fa sie sehen den Sonnenaufgang zum ersten Male fast noch spater
als Gustav, - auf der Postkalesche oder in Karlsbad. -
, Seine Eltern lieBen ihn als einen Neugebornen ungern von der
Seite, kaum in den SchloBgarten und nicht zum Berg hinunter, wo
ihm die PoststraBe gefahrlich war. Auch hatt' er aus seiner unter-
irdischen Schulpforte eine gewisse Verlegenheit mit heraufge-
bracht, die mittelmaBige Menschen und fast sein Vater fur Ein-
falt nehmen, welche aber hohere Menschen, sobald sie in Gesell-
schaft eines nicht stieren, sondern uberfiillten schwarmerischen
66 DIE UNSICHTBARE LOGE
Auges wie bei ihm erscheint, fiir das Ordenkreuz ihres Orden-
bruders halten. Gleichwohl bereueten es seine Eltern acht Tage
darauf, nicht, ihn eingesperrt, sondern, ihn hinausgelassen zu
haben.
Die Obristforstmeisterin von Knor und ein Faszikel Herrn-
huter und Herrnhuterinnen waren mit ihr gekommen, den Zog-
ling des Grabes zu horen; ein Grummetschober alter Fraulein
hatte schon vier Wochen vorher eingesprochen, und jetzo wieder,
um nur ein solches Wunderkind ansichtig zu werden. Die herrn-
hutkchen Briider waren lebhaft und frei mit Anstand; die Schwe- 10
stern mauerten sich samtlich um eine Standuhr, deren Gehause
mit Engeln als Hornisten gerandert war - sie waren von den Hor-
nisten nicht wegzubringen. Beizubringen war ihnen auch nichts;
Maul und Augen machten sie auch nicht auf, und der Rittmeister
wurde schwarz vor verhaltenem Arger. Endlich tippte die Lippe
einer Schwester an ein Weinglas, die andern tippten nach - so viel
die eine vom Gebacknen abknickte, so viel brockelten die andern
sich zu - ein Zuck regte die ganze obligate Kompagnie dieser auf
zwei FiiBe gestellten Schafe. Der Frauleinschober hingegen hieb
in alles ein; im Fliissigen und Festen war er wie ein Amphibium 20
zu Hause, sie hatten in ihrem kauenden und klappernden Leben
nie etwas gereget als die Zunge. - Als nun fiir so viele Zuschauer
das Wundertier her sollte-: wars - weg. Alles wurde ausgestobert,
langverlorne Dinge wurden gefunden, in alles hineingeschrien, in
jeden Winkel und Busch - kein Gustav! Der Rittmeister, dessen
anfangende Betrubnis immer eine Art Zorn war, HeB die ganze
sehlustige Schwesterschaft sitzen; die Rittmeisterin aber, deren
Betriibnis noch weichere Teile angriff, setzte sich kosend zu ihr.
Als aber alle angstliche, fragende, laufende Gesichter immer trost-
loser zuriickkamen und als man gar hinter dem ofFnen SchloBtor, 3 o
wo der Kleine abgeriBne Blumen in kleine beschattete Beete
steckte, diese noch naB von seinem BegieBen fand : so zerknirschte
die Verzweiflung die Gesichter der Eltern; »ach der Engel ist ge-
wiB in den Rhein gestiirzt«, sagte sie, er aber sagte nichts dagegen.
Zu einer andern Zeit hatt* er einen solchen FehlschluB mit den
FuBen zerstampft; denn der Rhein floB eine halbe Stunde vom
SECHSTER SEKTOR 67
Schlosse; aber hier schloB in beiden die Angst, die weit tollere
Spriinge tut als die Hoffnung. Ich rede hier deswegen von einer
andern Zeit, weil mir bekannt ist, wie sonst der Rittmeister war:
namlich aus Mitleiden aufgebracht gegen den Leidenden selber.
Niemals z.B. fluchten seine Mienen mehr gegen seine Frau, als
wenn sie krank war (und ein einziges schnelles Blutkugelchen stieB
sie um) - klagen sollte sie dabei gar nicht - war das, auch nicht
seufzen - war auch das, nur keine leidende Miene machen - ge-
horchte sie, iiberhaupt gar nicht krank sein. Er hatte die Torheit
jo der miiBigen und vornehmen Leute, er wollte stets frohlich sein*
Hier aber, da einmal sein Glticktopf in Scherben lag, versuBete
ein fremder Seufzer seinen eignen und seinen Zorn iiber die un-
achtsame Hausdienerschaft und iiber den diirren Schwester- und
Grummetschober.
Als das Kind die Nacht ausblieb und den ganzen Vormittag
und als man gar ira Walde auf der KunststraBe sein Hiitchen an-
traf : so verwandelten sich die Stiche der Angst in das forteiternde
Schmerzen dieserStichwunden. Gegen keine Gemiiterschutterung
ist ein guter Gegenbeweis so schwer zu fiihren als gegen die Angst;
20 ich fuhre daher gar keinen seit Jahr und Tag, sondern ich gebe ihr
das Argste, was sie behauptet, sofort willig zu und falle dann bloB
die andere Gemutbewegung, die aus dem besorgten Argsten
kommen kann, mit der Frage an: »Und wenns nun ware?«
Jeder Fliegenschwamm im Walde wurde breitgetreten und
jeder Baumspecht aufgejagt, um den Kopf zum Hut zu finden -
aber vergeblich; - und am dritten Tage ging der Rittmeister,
dessen Gesicht eine Atzplatte des Schmerzes war, ohne Absicht zu
suchen so vertieft im Walde herum, daB er einen mit Koffern und
Bedienten ausgelegten Reisewagen durch das Gebusch schwerlich
30 hatte fliegen sehen, wenn nicht daraus wie ein Freuden-Donner-
schlag die Stimme seines verlorenen Sohnes ihn erschiittert hatte.
Er rennt nach^der Wagen schieBet voraus, und im Freien sieht
er ihn schon hinter seinem Schlosse stauben. AuBer sich kommt
er in SchloBhof angesturmt, um nachzusprengen und um es -
bleiben zu lassen. Denn oben an der Haustiire stand die in einen
Knaul zusammengelaufne SchloB -Genossenschaft schon um den
68 DIE UNSICHTBARE LOGE
Gustav, die SchloBhunde bellten, ohne einen gescheiten Grund
zu haben, und alles sprach und fragte so, daB nian gar keine Ant-
wort des Kleinen vernahm. Der vorbeifliegende Wagen hatte ihn
ausgesetzt. Am Halse hing in einem schwarzen Bande sein Por-
trat. Seine Augen waren rot und feucht von den Qualen der Heim-
sucht. Er erzahlte von langen Ian gen Hausern, wofiir er Gassen
hielt, und von seinem Schwesterchen, das mit ihm gespielet, und
vom neuen Hute; es war' aber keine Seele daraus klug geworden,
hatte nicht der Koch erne entfallne Karte zu seinen Fiifien erblickt.
Diese las der Rittmeister und sah, daB er sie nicht lesen sollte, 10
sondern seine Frau. Er verdolmetschte es aus dem mit weiblicher
Hand geschriebenen Italienischen so :
»Kann sich denn eine Mutter bei einer Mutter entschuldigen,
daB sie ihr Kind ihr so lang entzogeh? Wenn Sie mir auch meinen
Fehler nicht vergeben : ich kann ihn doch nicht bereuen. Ich traf
Ihren lieben Kleinen vor drei Tagen im Walde irrend an, wo ich
ihn in meinen Wagen stahl, um ihn vor schlimmern Dieben zu
bewahren und um seine Eltern auszuflnden. - Ach, ich will es
Ihnen nur sagen: ich hatt' ihn auch mitgenommen, wenn auch
beides nicht gewesen ware. O nicht, weil er so himmlisch schon, 20
sondern weil er so ganz, sogar bis auf die Haare, wie mein teuerer
verlorner Guido aussieht, kann ich ihn kaum lassen. Ach es sind
schon viele Jahre, daB mir das Schicksal auf eine sonderbare Art
mein liebstes Kind lebendig aus dem SchoB genommcn. Ihres
kommt heute wieder, meines vielleicht nie! - Das Hals-Gehenk
verzeihen Sie. Das Portrat werden Sie fiir seines halten, so ahnlich
ist er meinem Sohn; aber es ist das meines Guido. Sein eignes HeB
ich mir auch malen und behalt* es, um das Ebenbild meines Guten
doppelt zu haben. Sollt' ich einmal Ihren Gustav aufgebliiht zu
Gesicht bekommen: so wiird* ich ihn lange anschauen, ich wtirde 30
denken : so muB mein Guido jetzt auch aussehen, so viel Unschuld
wird er auch im Auge haben, so sehr wird er auch gefallen. - Ach
meine Kleine weint, daB ihr Spielgenosse wieder wegfahren soil -
und ich tu' es auch; sie gibt nur einen Bruder, aber ich einen Sohn
zuriick. Mogen Sie und er glucklicher sein! - Meinen Namen
schenken Sie mir.«
SECHSTER SEKTOR 69
Sie rieten alle iiber die Verfasserinhin und her. Der Rittmeister
allein sagte traurig nichts; ich weiB nicht, ob aus Kummer iiber
die Erinnerungen an seinen ersten verlornen Sohn, oder weil er
gar wie ich iiber die ganze Sache dachte. Ich vermute namlich, der
verlorne Guido ist eben sein eignes Kind; und die Briefstellerin
ist die Geliebte, die ihm der Kommerzien-Agent Roper aus
den Handen gewunden hatte. Ich werde erst nachher sagen
wanim.
Gustavs Schonheit kann man erstlich aus der Vernunft oder
10 von vornen dartun, zweitens von hinten. Sein Treibhaus, das ihn
auferzog und zudeckte, bleichte ganz natiirlich seine Lilienhaut zu
einem weiBen Grund, auf welchen zwei bfasse Wangenrosen oder
nur ihr Widerschein unddie dunklere feste Rosenknospe der Ober-
lippe geblasen waren. Sein Auge war der offne Himmel, den ihr
in tausend fiinf jahrigen und nur in zehn funfzigjahrigen Augen
antrefft; und dieses Auge wurde noch dazu von langen Augen-
wimpern und von etwas Schwarmerischen verschleiert oder ver-
schonert. Endlichhatten weder AnstrengungnochLeidenschaften
ihren Waldhammer und die scharfen Lettern desselben in dieses
20 schone Gewachs geschlagen,und ihm war noch kein Todesurteil,
das seinen Fall bezeichnet, in seine Rinde eingeschnitten. Alles
Schone aber ist sanft; daher sind die schonsten Volker die ruhig-
sten; daher verzerret heftige Arbeit arme Kinder und arme
Volker.
Es ist aber noch kein Jahr, dafi ich Gustavs Schonheit von
hinten beweisen kann. Denn da der Auktionproklamator damals
mein intimster Freund war: so beging er mir zu Gefallen den
kleinen Schelmenstreich,«daB er die Gemalde und Kupferstiche
gerade an einem Tage versteigerte, wo der Maskerade wegen kein
30 Mensch gerade von der groBen Welt aus Unterscheerau in die
Versteigerung kam, mich ausgenommen; ich erstand fur Sunden-
geld tausend Dinge. Die ganze Stadt und Vorstadt hatte zu diesem
Schutthaufen von Moblen zugetragen und war Verkauferin und
Kauferin zugleich. In dieser Auktion erschienen alle europaische
Potentaten, aber elend gezeichnet und koloriert; und ein Edel-
mann von bon sens hielt seine beiden Eltern feil und wollte sie als
70 DIE UNSICHTBARE LOGE
gute Kniestucke verstechen - in Rom verhandelten umgekehrt
die Eltern die Kinder, aber in natura. Der Edelmann hoffte, ich
wiirde auf seinen Papa und seine Mama bieten; aber ich war bei
nichts der Mehrbieter als bei Gustavs Portrat, das er auch los-
schlug. Der Edelmann hieB - Roper, von dem ich oben gesagt,
daB er an einem Tage Ehemann und Stiefvater geworden.
Und hier hangst du ja, Gustav, mir und meinem Schreibtisch
gegeniiher, und wenn ich iiber etwas sinne, so stoBet mein Auge
immer auf dich. Viele tadeln mich, mein kleiner Held, daB ich dich
hier zwischen Shakespeare und Winckelmann(von Bause)aufge- ,
nagelt ; aber hast du nicht- das bedenken zu wenige - einen Nasen-
Schwibbogen, auf dem schwere und hohe Gedaaken ruhen, einen
solchen, der oft unter der Hand des Todes sich noch schoner
wolbt, und hast du nicht unter dem Knochen-Architrav ein weites
Auge, durch das die Natur wie durch eine Ehrenpforte in die Seele
zieht, und ein gewolbtes Haus des Geistes und alles, womit du deine
in Kupfer gestochne Nachbarschaft verdienest und aushaltst?
Der Leser sollte wissen (es geschieht aber weiter hinten), was
mich jetzo notigt, meinen Sektor plotzlich auszumachen und ein-
zusperren ....
Zweites Extrablatt
Strohkranzrede eines Konsistorialsekretars, worin er und sie beweisen,
daB Ehebruch und Ehescheidung zuzulassen sind
Ich gesteh' es hier, unser aufgeklartes Jahrhundert sollte man das
ehebrechende nennen. Ich sagte allerdings einmal auf dem Markt-
platz zu Marseille, ich hielt* den Bettel fur recht, den Ehebruch -
schon weit vor Miinchen sagt' ich, man sollte an die Mutterkirche
des Ehebettes noch ein Ehefilial stoBen - im Obersachsischen
sagt* ich, wenn jene Grafin ein ganzes Jahr fortgebar, jeden Tag
etwas: so ware noch jetzo bei Grafinnen wenigstens das vorher- j
gegangene Jahr zu haben - in den zehn deutschen Kreisen driickt'
ich mich gewiB auf zehn verschiedene Arten aus; — aber es war
damals nirgends der Ort, die Sache klar aus der Physiologie dar-
zutun, als bloB hier.
SECHSTER SEKTOR 7 1
Sanktorius wars 1 , der sich auf einen delphischen Nachtstuhl
setzte und da die Wahrheit aussaB, daB der Mensch alle 1 1 Jahre
einen neuen Korper umbekomrhe — der alte wird wie der deutsche
Reichs-Korper stiickweise fluchtig, und es bleibet von der ganzen
Mumie nicht so viel sitzen, als ein Apotheker klein geschabt in
einem Teeloffel eingeben will. Bernoulli widersprach gar diesem
ganz und rechnete uns vor, Sanktorius stolpere, denn nicht in 1 1 ,
sondern in 3 Jahren dampfe der eine Zwilling-Bruder weg und
schieBe der andere an. Kurz Russen und Franzosen wechseln den
10 Korper ofter als das Hemd des Korpers, und eine Provinz be-
kommt allzeit neue Leiber und einen neuen Provinzial mitein-
ander, in 3 Jahren, wie gesagt.
Die Sache ist gar nicht gleichgiiltig. Denn es ist sonach unmog-
lich, daB ein Kahlkopf, der sein Ehejubilaum begeht, an seinem
ganzen Leibe auf ein Stiickchen Haut hellersgroB hinweise und
anmerke: »Mit diesem Lappchen Haut stand ich vor 25 Jahren
auch am Altar und wurde samt dem iibrigen an meine jubilierende
Frau hinankopuliert.« Das kann der Jubelkonig unmoglich. Der
Ehering ist zwar nicht herunter, aber der Ringfinger langst, um
ao welchen er saB. Im Grunde ists ein Streich iiber alle Streiche, und
ich berufe mich auf andre Konsistorialsekretare. Denn die arme
Braut steigt freudig mit der Statua curulis von einem Brautigam-
korper unter den Betthimmel und deiikt - was weiB sie von guter
Physiologie -, am Korper habe sie etwas Solides, ein eisernes
Stuck, ein Immobiliargut, kurz einen Kopf mit Haaren, von denen
sie einmal sagen konne: an mdnen und an meiner Haube sind sie
grau geworden! Das hofft sie; indes schafft unter ihrem HofTen
der Schelm von einem Korper seine samtliche Glieder, wie ein
Student sein verschuldetes Studentengut, nach 3 Jahren infinitesi-
30 malteilchenweise bei Nacht und Nebel fort. — Wendet sie sich am
Neujahrabend um: so liegt imEhebette bloB ein GipsabguB oder
eine zweite Auf lage neben ihr, die der vorige Korper von sich da-
rin gelassen und in welcher kein altes Blatt der alten mehr ist. Was
1 In Hallers grofler Physiologie steht es, daB der Mensch nach Sanktorius
alle 1 1 Jahre den alten Korper fahren lasse - nach Bernoulli und Blumenbach
alle 3 Jahre — nach dem Anatomiker Keil jedes Jahr.
JZ DIE UNSICHTBARE LOGE
soil nun eine Fran, wenn der Kubik-Inhalt des Brautbettes und
der des Ehebettes so verschieden sind, von der Sache denken? -
ich meine, wenn z. B. ein ganzes weibliches Konsistorium (z. B.
die Frau Konsistorialprasidentin, die Vizeprasidentin, die Konsi-
storialsekretarin) nach 3 Jahren auf dem Kopf kissen ein ganz an-
ders mannliches Konsistorium antrifft, als das aufgeloste war, das
die Ehe versprach: was soil eine Frau da anstellen, die, wenns eine
Konsistorial-Halfte ist, recht gut weiB quid juris? Sie, sag* ich,
die es hundertmal iiber dem Essen gehort haben muB, daB eine
solche Entweichung des mannlichen Korpers eine verfluchte bos- 10
liche Verlassung oder desertio malitiosa ist, die sie von ihren Ehe-
pflichten ganz loskntipfet - und es kann vollends eine solche
Strohwitwe gar Lutherum de causis matrimonii gelesen haben
und sich daraus entsinnen, daB er einer boslich Verlassenen nach
einem oder einem halben Jahre eine neue Ehe nicht verbeut
Sich in besagte neue Ehe zu begeben, wird ofTenbar die erste Pflicht
und Absicht einer solchen Verlassenen sein; da aber der neue re-
stierende Ehemanns-Korper nichts fur den fortgedunsteten kann:
so wird sie es, um ihn nicht zu kranken, ohne sein Wissen und
ohne Rachsucht tun, wenn er etwan auf der Borse ist - oder auf 20
dem Katheder - oder auf der Messe - oder zu Schiffe - oder hinter
dem Sessiontisch oder sonst aus.
Inzwischen ist der Mann kein Narr, sondern so viel hat er von
der Physiologie allemal innen, daB auch die Frau ihren Korper
ebensooft als ihre Magde tausche; mithin braucht er auf nichts
zu passen. Nov. 22. c. 25. reicht ihm das Recht der Ehescheidung
schon, wenn sie auf eine Nacht von ihm gelaufen; hier aber ist die
Konsistorialratin gar auf immer weggedunstet und repetiert noch
dazu in jedem Dreijahr diese Wegdiinstung, - sie, die doch nach
»Langens geistlichem Recht« dem Konsistorialrat, ders selber in 30
seiner Buchersammlung hat, nachziehen muBte, wenn er Landes
verwiesen wurde, gesetzt sogar, in den Ehepakten hatte sie sich
ausbedungen, zu Hause zu bleiben. So redet Lange mit den Man-
nern aus der Sache. In der groBen Welt, wo echte Keuschheit und
Vielwissen und also auch Physiologie zu Hause ist, traktierte man
den Punkt langst mit Anstand und Verstand und trieb Gewissen-
SECHSTER SEKTOR 73
haftigkeit weit. Denn da ein Mann allda an seiner Gemahlin
3 Jahre nach dem Vermahlungfest nicht ein Apothekerlot Blut,
nicht eine diinne Vene, worins lauft, mehr von der alten auszu-
spiiren hofft; da er mithin die weggewanderten Teile seiner guten
Gemahlin an jeder andern viel eher und skherer wiederzufinden
glaubt als an ihr selbst; da er also vielmehr Liebe zur ankopulier-
ten fur eigentlichen Ehebruch an ihr und mit ihr halten muB -
und, genau genommen, ists auch so -: so ists ihm jetzo haupt-
sachlich um reine Sitten zu tun; er lasset also zwar derjenigen
io Sammlung von Pulsadern, Nervenknoten, Fingernageln und ed-
lern Teilen, die man insgemein seine Frau benennt, seinen Namen,
seinen halben Kredit und seine halben Kinder, weil man tiber-
haupt in der groBen Welt ungernoffentliche Verbindungenoffent-
lich aufhebt und lieber am Ende an tausend aus Luft gefloch-
tenen Ketten geht; aber das gestattet ihm seine Achtung fur
Moral und Publikum nicht, eine und dieselbe Wohnung -
Tafel - Gesellschaft mit einer Frau zu haben, die einen andern
Korper hat; er erscheint sogar (welches vielleicht zu skrupulos
ist) ungern mit ihr offentlich und enthalt sich wenigstens in
20 seinem Hause alles dessen, wozu er oder Origenes sich unfahig
machten.
Es sind schlechte abgefarbte Katheder, die mir den Einwurf
machen konnen, die verehelichten Seelen blieben ja doch zuriick,
wenn die Leiber verrauchten. Denn mit der Seele (also mit dem
Gedachtnis, mit dem Denkvermogen,sittlichen Vermogen u. s. w.)
lasset man sich heutzutage wenig oder nicht kopulieren, sondern
mit dem, was um sie herumhangt. Zweitens ist es ja bei jedem
Materialisten auf der philosophischen Borse zu erfahren, daB die
Seele nichts ist als ein Wassersprofiling des Korpers, der also bei
30 Mann und Frau mit dem Leib zugleich weggeht. Man braucht es
aber gar nicht, sondern man darf nur Hitmen beifallen, welcher
schreibt, die Seele ware gar nichts, sondern bloBe Gedanken leim-
ten sich wie Krotenlaich aneinander und krochen so durch den
Kopf und dachten sich selbst. Bei solchen Umstanden kann das
Brautpaar Gott danken, wenn sein Paar kopulierter Seelen nur
so Iange halten will, wie die zwei Paar Tanz-Handschuhe des
74 DIE UNSICHTBARE LOGE
Hochzeitballs. Auch sieht man es am Vormittag nach den Flitter-
wochen.
Also, wie gesagt, alle Kanonisten konnen die Woche, wo Mann
und Frau zum Ehebrechen schreiten darf, nicht weiter hinaus-
schieben als ins vierte Jahr nach der Verlobung; allein fur Leute -
von Welt und von Stand 1st das hart und zu rigoros, zumal wenn sie
aus ihrem »Keik (demAnatomiker) wissen, daB schon in einemjahre
der ganze alte Korper wegtauet, - bloB elende 16 Pfund Fleischge-
wicht ausgenommen. Daher warens oftmeineGedanken,daBich,
wenn ich meinen Ehebruch schon ins erste Jahr verlegte (wie's 10
viele tun), wirklich nur sehr wenigen Pfunden meiner Gattin, die
1 07 hat, un treu wurde, den 1 6 Pfund namlich, die noch restierten.
Auf den namlichen Korpertausch, worauf man seinen Ehe-
bruch griindet, muB das Konsistorium seine Scheidung griinden.
Denn wenn Leute oft 9, 1 8 Jahre nach der Trauung offenbar noch
in der Ehe beisammen bleiben, indes alle Physiologen wissen, daB
zwei neueEhekorper und zwar ohne priesterlicheEinsegnung bei-
sammen sind : so ist nun das Konsistorium verbunden, dreinzu-
sehen und dreinzuschlagen und die zwei fremden Leiber zu schei-
den durch ein paar Dekrete. Daher wird man auch niemals horen, 20
daB ein gewissenhaftes Konsistorium Schwierigkeiten macht,
Christen, die schon in der Ehe sind, zu trennen; man wird aber
auch von der andern Seite ebensowenig horen, daB es solche, die
sich die Ehe bloB versprochen, ohne die groBten Schwierigkeiten
scheide -: eben ganz naturlich; denn dort bei der langen Ehe ist
wahrer Ehebruch durch die Scheidungbulle abzuwenden, weil un-
kopulierte Leiber da sind; hier aber bei der Verlobung sind die
Korper, die den Vertrag gemacht, noch vollig da, und sie miissen
erst lange in der Ehe leben, bevor sie zur Scheidung taugen. Das
ist die wahre Auflosung eines Scheinwiderspruchs, der so viele 50
Schwache schon verleitet hat, uns samtlich im Konsistorio fur
sportelsiichtig, mich fur den Markor und unsre griinen Session-
tische fur griine Billarde zu halten, um welche sich President
und Rate mit langen Queues herumtreiben, um die Partien auszu-
spielen ; ach, ein Konsistorialsekretar schneidet ohnehin mehr Fe-
dern als Geld.
SECHSTER SEKTOR 75
Warum wird uns uberhaupt nicht von den Pastoren jedes ein-
gepfarrte Ehepaar, das iiber 3 Jahre beisaramen geschlafen, ein-
berichtet, damit mans scheide zu reenter Zeit? Eine solche Schei-
dung, wozu man keine weitern Griinde braucht als den, daB die
zwei Leute lange beisammen waren, hat in alien Landern ja keine
andere Absicht als die, daB sie nachher sich wieder ordentlich
kopulieren lassen mit den erneuerten Leibern. Das Konsistorium
und ich fahren am fatalsten dabei, falls die Sache sich nicht etwa
bessert, wenn der neue Minister den Thron besteigt. Wahrlich,
10 ein solches geistliches Landeskollegium legt oft die lange Sage an
und zersagt Eheblocher oder Betten, in denen Ehepaare 21 Jahre
lang gehauset hatten, die in so langer Zeit wenigstens siebenmal
(alle drei Jahre sind Ehebruch und Ehescheidung fallig) waren zu
scheiden und zu trauen gewesen : was fur SportelneinbuBe, da wir
die Scheidungkosten, die wir hatten versiebenfachen konnen, ver-
vierfachen muBten! Es ist ohnehin an einer solchen Scheidliqui-
dation wenig, weil sie bekanntlich moderiert wird, und zwar vom
Konsistorium selber. Man gebraucht noch dazu im Konsistorial-
zimmer die Vor- und Nachsicht, daB ich allemal den Sportelzettel,
20 wenn ihn das geschiedne Paar abgezahlt hat, nach 15, 20 Jahren
wieder extrahiere und dem Konsistorialboten und Pfennigmeister
von neuem mitgebe, nicht sowohl um die Sporteln zweimal ein-
zukriegen (welches Nebensache ist), als um zweimal daruber zu
quittieren, falls das getrennte Paar die erste Quittung etwa ver-
loren hatte, und auch, um es vor einer dritten Zahlung sicherzu-
stellen. Man will dem Paare alles leicht machen, wenn man es in
mehren und groBen Terminen zahlen lasset.
— Und heute vor drei Jahren kopulierte man mich fur meine
Person auch — aber die damalige Strohkranzrede war zu
50 schlecht
7<$ DIE UNSICHTBARE LOGE
SlEBENTER SeKTOR ODER AUSSCHNITT
Robisch — der Star - Lamm statt der obigen Katze
Nach einer solchen Entfuhrung schrankte man Gustavs Spiel-
theater undLustlager ganz auf den Wall des Schlosses ein ; in die wo-
gende Flur und ins Dorfchen Auenthal, das wohl eine 1 / ll deutsche
Meile davon ablag, durft' er nur hinein — sehen. Dieses blumige
Empor-Eiland umkreisete er den ganzen Tag, um jeden roten
Kafer niederzuschlagen, jedes marmorierte Schneckenhauschen
von seinem Blatte abzudrehen und iiberhaupt alles, was auf
sechs FiiBen zappelte, einzufangen in seinem eignen Kerker. Auf 10
Kosten seiner unerfahrnen Finger unternahm er anfangs auch die
Biene an ihrem Hinterleibe aus ihrem Freudenkelche zu ziehen.
Die bunten Arrestanten drangte er nun - wie Fiirsten alle
Menschenklassen in eine Hauptstadt - samtlich in einen schonen
Salomons-Tempel oder in eine Silberschtag-Noachitische Arche
von Pappendeckel mit mehr Fenstern als Mauer zusammen. Der
Baumeister dieses vierten salomonischen Tempels war nicht, wie
bei dem ersten, der Teufel oder der Wurm Lis 1 , sondern ein
Mensch, der leicht beiden glich, der sogenannte Kammcrjager
Robisch. Dieser Hintersasse des Rittmeisters besuchte jahrlich die 20
besten Zimmer und Garten des ganzen Landes, um beide nicht
sowohl von ihren schlimmsten als von ihren kleinsten Bewohnern
zu saubern - von Mausen und Maulwurfen. Ich will die Gelehrten^
Republik eben nicht bereden, daB dieser Mausschachter so viele
unterirdische Maulwiirfe aus der Welt fortschickte, als jahrlich
schriftstellerische hineintreten, um sich auf die HinterfiiBe zu
setzen und dann mit den VorderfuBen, die an beiden Maulwurf-
arten Menschenhanden gleichen, in den Buchladen und auf dem
Leipziger Buchhandlermarkte ihre Erdhaufchen als kleine Musen-
berge aufzuwerfen; - inzwischen bezahlt wurde Robisch gerade 50
so, als habe der Kammerjager alles Ungeziefer verjagt. Denn die
Leute glaubten, wenn man diesen Kelchvergifter der Nagetiere
1 Nach den Rabbinen half der Teufel den Tempel mit bauen, und der
Wurm nagte die Steine zurecht.
SIEBENTER SEKTOR 77
crbose und nicht bezahle: so mach' er Moses* Wunder nach und
verdoppele durch dagelassene Kolonien das Ungeziefer, das man
seinem Konigs- und Blutbann entziehe. Ich will von dieser mora-
stigen Seele, die sich nie meinem Gustav naher walze, mich weg-
begeben, wenn ich geschrieben habe, daB er oft im Falkenber-
gischen Hause war, daB er, wenn Fremde da waren, den Extra-
undKasualbedienten,und wenn Rekrutenwildpret zu fangen war,
fur den Rittmeister den Leithund machte, und daB er sich an den
kleinen Gustav mit seinen Fabrikaten drangte. Ein solches An-
10 hakeln an Kinder ist ohne elterliche Kindlichkeit zweideutig. Kin-
der aber lieben Bediente besonders; und Gustav vollends, der
schlechterdings auch spater nicht vermochte, jemand zu hassen,
den er in seiner Kindheit lieb gehabt; von alien Untaten, die Ro-
bisch an ihm verubt hatte, ware gleichwohl das Band der Dank-
barkeit fiir das elende Insektenstockhaus, das den Wall entvolkerte,
nicht entzwei gegangen.
Was in der salomonischen Schlofikirche war und sumsete, sollte
Zucker fressen, weil Kinder ihn fiir das Vortisch- und Nachtisch-
Essen ansehen ; und es waren die schonsten Inhaftaten verhungert,
20 wenn nicht ihr Fronvogt, Gustav, vorri Kammerjager noch emen
Starmatz zum Geschenk bekommen hatte; denn den Matz lieB er
auch in das Pantheon hineinspringen, und der fraB alles, was nichts
zu fressen hatte .... Wenn ich hier unter dieFlugeldeckenderln-
sekten und in den Schnabel des Matzes die nachsten Refiexionen
und die kuhnsten Winke versteckt habe: so hofF ich, man finde
sich in dergleichen schon.
AuBer mir hatte wohl niemand Gustavs Namen so oft im Schna-
bel als der Star, der gleich Hof leuten nichts weiter im Kopfe hatte
als ein nomen proprium. Der Kleine dachte, der Star denke und
30 sei so gut ein Mensch wie Robisch und liebe ihn fiir alles; daher
konnt* er sich nicht satt an ihm horen und lieben. Er konnte sich
eben an nichts satt umarmen. BloB lebendige Geschopfe waren
sein Spielzeug. Der Pachter hatte dazu noch ein schwarzes Lamm
gesellt, das er mit einem roten Band und mit Brotrinden um den
Wall herumlockte. Das Lamm muBte wie ein Dorf komodiant alle
Rollen machen, bald muBt* es der Genius, bald der Pudel sein,
78 DIE UNSICHTBARE LOGE
bald Gustav, bald Robisch. So spielte also unser Freund seine
ersten Erdenrollen Solo und war zugleich Regisseur, Einblaser und
Theaterdichter. Solche Komodien, die sich Kinder macken y sind
tausendmal nutzlicher als die^ die sie spie/en, und waren sie aus
Weiftes Schreibtisch: in unsern Tagen, wo ohnehin der ganze
Mensch Figurant, seine Tugend Gastrolle und seine Empfindung
lyrisches Gedicht wird, ist diese Verrenkung der armen Kinder-
seelen vollends gefahrlich. Indes ist es zuweilen auch nicht wahr:
denn ich machte den vollstandigen Filou bloB ein-, zwei- oder
dreimal in meinem Leben, aber wirklich noch, eh' ich zum ersten- 10
mal gebeicht hatte.
Die Verordnung, die ihn nicht vom SchloBberg hinunterlieB,
unterschied sich von den Verordnungen unserer transzendenten
Eltern, der Obrigkeit, dadurch riihmlich, daB sie erstlich der Partei
bekannt gemacht, und zweitens daB sie wenigstens 14 Tage lang
gehalten wurde. Gustav hatte fur sein Leben gern sich und das
Lamm vom Walle hinab an den FuB des Berges getrieben. - Da
nun der Rittmeister aus Quistorps peinlichen Beitragen wuBte,
daB man an die Stelle der Ferstrickung oder Konfination (Ein -
sperrung auf den Wall) die Distrikt- oder Gebietraumung setzen 20
kann: so diktierte er die letzte Strafe statt der ersten und sagte:
»Kann man denn nicht das Lamm des Pachters Regel (Regina)
mitgeben, solang sie da am Berge weidet? Meinetwegen kann der
Junge mittreiben, wenn ich ihn nur immer im Gesicht behalte.«
Ich muB es noch abwarten, was die Reichsritterschaft dazu sagen
oder schreiben wird, daB ein Ehrenmitglied derselben, mein Held,
nachmittags um 4 Uhr sich allemal eine lange Haselgerte abdrehte
und' damit ein Ochsenjunge wurde und neben der eilfjahrigen
StroBners Regina die Schaf- und Rindherde und das Lamm am
Band mit solchem Stolze und mit solchen Jupiters-Augenbraunen 30
austrieb, daB er leicht andeutete, er lenke den ganzen Stall und die
Reichsritterschaft solle ihm nur jetzo kommen.
Nur im tausendjahrigen Reiche gibt es solche Nachmittage, wie
Gustav an der Anhohe, gleichsam auf dem SchoBe der Erde hatte.
Mein Vater hatte mich in die Zeichenschule senden sollen: kdnnt*
ich nicht jetzt die ganze Landschaft in meinem Farbenstrom statt
SIEBENTER SEKTOR 79
im Dintenstrom auffangen und hinausspiegeln? Wahrhaftig ich
konnte jedes Gebusch mit dem hineinschlupfenden Vogel dem
Leser in die Augen zuriickspiegeln, jede Hppenfarbige Rotbeere
der Felsen-Abdachung, jedes von Anflug iiberwachsene Schaf und
jeden Baum, den das Eichhornchen mit zerbrockelten Tannzapfen
umsaete. Inzwischen gibt es Dinge, an denen wieder die Iltishaare
des Pinsels vergeblich biirsten, die aber schon aus meinem Kiele
rinnen — das auf Geniissen schwimmende Auge Gustavs schifft
leicht hiniiber und heriiber zwischen dem Lamme, dem hellen
10 Blumengrund mit der Schatten-Landspitze und zwischen dem
Zauber-Gesichte Reginens und braucht nirgend wegzublicken.
Warum sagt* ich ein Zauber-Gesicht, da es ein alltagliches war?
- weil mein kleiner Apollo und Schafhirt mit trinkenden Augen
auf dieses Gesicht wie auf eine Blume flog. Unter einer Hirnschale
wie seine, zu welcher den ganzen Tag die weiBe Flamme der
Phantasie, und kein blaues Branntewein-Flammchen des Phlegma
auffackelte, muBte jedes weibliche Gesicht mit vergiildeten Reizen
in Gotterfarbe und nicht in Totenfarbe dastehen. Alle Schonen
hatten bei ihm den Vorteil noch, daB er sie nicht seit zehn Jahren,
20 sondern seit zehn Tagen sah. Indessen ist das nicht seine erste
Liebe, sondern nur ein Friihgottesdienst, ein Vorfest, ein Prot-
evangelium irgendeiner ersten Liebe, mehr nicht.
Zwei ganze Wochen trieb er sein Lamm auf die Weide, eh' sein
Mut so weit stieg, daB er - nicht sich neben ihr Strickzeug hin-
setzte, dies uberstiegMenschenkrafte, sondern nur daB er - das
Schaf an seinem postilion d'amour festhielt, nicht um es zu Regi-
nen hinzuziehen, sondern um selber von ihm hingezogen zu wer-
den; denn die beste Liebe ist am blodesten, wie die schlimmste am
kuhnsten. Wie ein stillender Mond legte sich alsdann, wenn sie
50 mehr in seinen Gedanken als in seinen Augen war, ihr Bild an
seine traumende Seele, und so viel war ihm genug. - Sein zweites
Mittel, ihr Akzessist zu werden, war der runde Schatteneines tiefer
unten schwankenden Lindenbaums, hinter dem die Abendsonne
wie hinter einem Jalousieladen sich zersplitterte. Mit diesem Schat-
ten rutscht' er nun der Reginaimmer naher; unter dem Vorwand,
als mied* er die eine Sonne, riickte er einer andern rotern zu. Von
80 DIE UNSICHTBARE LOGE
solchen kleinen Spitzbubereien lauft die Liebe iiber; sie werden
aber alle erraten und alle verziehen; und sie werden oft mehr vom
Instinkt als vom BewuBtsein eingegeben. Wenn freilichder Abend
langsam aus dem Tal sich in die Hohe richtete - wenn die ein-
sGhlummernde Natur in abgebrochenen Lauten des zu Bette ge-
gangnen Vogels gleichsam noch ein paar Worte im halben Schlafe
sagte - wenn das Glockenspiel am Halse der Herde, die unschul-
dige Blumen der Freude aus Wiesen pfluckte, und der eintonige
Guckguck und das verwirrte Abendgerauschdie Tasten der lei-
sesten Saiten gedruckt hatten: so nahm sein Mut und seine Liebe 10
um ein Namhaftes und nicht selten in dem Grade zu, daB er den
Kuchen, den er fur sie eingesteckt, offentlich aus der Tasche holte
und ohne Bedenken - ins Gras legte, um ihr wirklich den' Antrag
dieses Backwerks zumachen, sobald sie in der Dammerung beim-
SchloBtor auseinander muBten: hier stieB er ihr die Schenkung
mit hastiger Verwirrung zu und sprang mit freudiger Beschamung
davon. Gelang es ihm, ihr dieses Abendopfer zu insinuieren: so
war jede Pulsader seines Arteriensystems ein entzuckt klopfendes
Herz (denn die Sprache und Freude seiner Liebe war Geben), und
unter seiner Bettdecke pflanzte er die ganze Nacht kiihne Plane auf 20
morgen, die der Nachmittag-Glockenhammer mit vier Schlagen
samtlich - bis auf ihre Herz- Wurzel - in die Erde schlug. Sie tat
immer das breite Halstuchihrer Mutter um ; daraus muB es ein Phi-
losoph von Verstand ableiten, daB ihm spater die groBen Halstu-
cher der Damen gefielen, die ich selber den vorigen Tandelschurzen
des Halses vorziehe; aus dem namlichen Grunde gefielen ihm wie
mir auch breite Kopfbinden und breite Schurzen. Ich habeschon
mit PhilosophenL'hpmbre gespielt,die es umwandten und behaup-
teten, alles das gefalle ihm, nicht, weil das Zeug an der Schonheit
(Reginens) war, sondern weil die Schonheit am Zeuge war. 30
Im Grunde scham* ich mich, daB ich hier, wahrend die zer-
rissendsten Bakkalaureen eintunken und den ubrigenBakkalaureen
die feinsten Sponsalien von Koniginnen und Marquisinnen aus-
malen, meine Schreibmaterialien auf das Weiden und Verlieben
zweier Kinder verwende. Beides lief bis in denHerbst hinein fort,
und ich mochte es abschildern; aber, wie gesagt, die Scham vor
ACHTER SEKTOR 8 I
den Bakkalaureen! - Und doch gonn' ich dir, winziger Trimmer,
so sehr diese weiBe Sonnenseite deines Lebens an deinem Berge
und dein Lamm und dein Auge ! Und ich mochte so gern die Tage,
die vor dir voriiberlaufen und deinen kleinen SchoB mit Blumen
iiberlegen, zum Stehen bringen, damit der Leichenzug der be-
wafFneten Tage hinten halten muBte, die deinen SchoB entlauben
konnen - dein Lustholzchen Hchten - dein Lamm stechen - deiner
Regina Dienstgeld zur Magd geben!
Aber im Oktober fahrt alles nach Unterscheerau; und die Kin-
io der wissen noch nicht einmal, daB es Lippen und Kiisse gibt!
Wochender vorerstenLiebe ! warum verachten wireuch melir
als unsre spatern Narrheiten? Ach an alien eueren sieben Tagen,
die an euch wie sieben Minuten aussehen, waren wir unschuldig
uneigenniitzig und voll Liebe. Ihr schonen Wochenl ihr seid
Schmetterlinge, die aus einem unbekannten Jahre^eruberlebten,
umunseremLebens-Friihlinge vorzuflattern ! Ich wollte,ichdachte
von euch noch so enthusiastisch wie sonst, vcn euch, wo weder
GenuB noch Hoffnung an Grenzen stockten ! -Du armer Mensch !
wenn der zarte weiBe, die ganze Natur iiberzaubernde Nebel
20 deiner Kincterjahre herunter ist: so bleibst du doch nicht lange in
deinem Sonnenlichte, sondern der gefallene iVie^/kriecht wieder
als dichtere Gewitterwolke unten rings am Blauen herauf, und am
Jiinglings-Mittage stehest du unter den Blitzen und Schlagen
deiner Leidenschaften! - Und abends regnet dein zerschlitzter
Himmel noch fort! -
ACHTER SEKTOR
Abreise - weibliche Launen - zerschnittene Augen
Da die Edelleute und Waldratten im Sommer das Land, im
Winter die Stadt bewohnen: so tats der Rittmeister auch; denn
30 die schone Natur (meint' er und sein Gerichthalter) lauft am Ende
auf nichts als auf ein Inventarium von Bauern hinaus, deren Ell-
1 Die Schmetterlinge im Friihling haben sich (durch das Zolibat) aus dem
vorigen Jahre hergefristet; die im Herbst sind Kinder des gegenwartigen
J ah res.
82 DIE UNSICHTBARE LOGE
bogen und Schenkel in einer Scheide halb von Zwillich, halb von
aufgeflicktem Leder stecken, auf Sumpfwiesen, auf Brachfelder
und auf Schweinvieh, und es gibt da nichts zu empfinden als Ge-
stank - in der Stadt hingegen ist doch ein Stuck Fleisch zu haben,
ein Spiel franzosischerKarten,einigerwahrerSpaB und em Mensch.
Es ist jugendliche Unduldsamkeit, einem Manne, der kein Gefiihl
fur Musik und Gegenden hat, auch das fur fremde Not und Ehre
abzusprechen, besonders dem Rittmeister.
Noch viel wichtigere Grtinde trieben ihn nach Scheerau; er
suchte da 13000 Rtlr., eine Menge Rekruten und einen Hof- 10
meister. - Den letzten zuerst! Seine Frau sagte: »Gustav muB je-
mand haben, es fehlt ihm noch an Lebensart!« Aber Hofmeistern
fehlts nicht daran - diese Infanten aus dem Alumneum, die nichts
hebt als eine Kanzeltreppe, die so lange die Seelenhirten des jungen
Edelmanns sind, bis sie die Seelenhirten der Gemeinde werden,
welche ihr Zogling regiert, diese Erzieh-Poussierer sind imstande,
nicht bloB den Kopf des Junkers - wie der Vater hofft — , sondern
auch den Rumpf desselben - wie die Mutter hofft - recht gut zu
formen und zu glatten, erstlich ohne eigne Glatte, zweitens in
Lehrstunden, drittens mit Worten,viertens ohneWeiber, funftens 20
auf eine sechste Art, dadurch, daB der Hofmeister das weiteste
Lowenherz zu einem schlafrigen Dachsherzen einkrempt.
Der zweite metallische Sporn, der den Rittmeister nach der
Stadt forttrieb, war das Geld. Niemand kam so leicht in den Fall,
ein Glaubiger sowohl als ein Schuldner zu werden, als er ; die halbe
Nachbarschaft hatt' er, weil er weder sich noch andern etwas ab-
schlug, zuletzt in seine Gdste und seine Schuldner verwandelt;
aber jetzt verwandelte er daruber sich beinahe selber in beides,
wenn nicht der Landesherr seinen zerrollendenGeldhaufen wieder
aufbauete. Er muBte also nach der Residenz Oberscheerau die 30
miBliche Bitte mitbringen, daB ihm jener 1 3 000 Rtlr. nicht sowohl
schenken oder leihen - das ware zu machen gewesen - als beiahlen
mochte, als ein Kapitel von sieben Jahren. Der scheerauische Sophi
hatte namlich die Gewohnheit, keine Geliebte abzudanken, ohne
ihr ein Landgut, oder ein Regiment, oder einen gestirnten Mann
mitzugeben ; — er HeB von einer Geliebten allzeit noch so viel ubrig,
ACHTER SEKTOR 83
daB noch eine Ehefrau f ur einen Ehetropfen daraus zu machen war,
wie der Adler und Lowe (auch Ftirs ten der Tiere) allemalein Stuck
vom Raube unverzehrt fiir anderes Vieh liegen lassen. Mithin
trennte er sich auch von der Mutter seines natiirlichen Sohnes -
des Kapitan von Ottomar - auf dem Rittergute Ruhestatt, das er
an einem Tage (mit Falkenbergs Gelde) kaufte und verschenkte.
Drittens wollte der Rittmeister in Scheerau seinen Unter-
offizieren, die meistens da lagen, ein paar Schritte ersparen; denn
er schlug zwar mit dem Stock so leicht wie eine Dame mit dem
10 Facher zu, aber er brach nicht gern einer Heuschrecke das sechste
Bein aus, und daher schonte er die seiner Leute, die viere weniger
hatten, urn so mehr.
Endlich packen sie ein, die Falkenbergischen: wir wollen dabei
sein. Da Falkenbergs Seele, wie Uhren undPferde, nur unter dem
Reisen nicht stockte : so wareram Abzugmorgen am frohesten und
raschesten; liebte keine Fortschreitung durch Sekunden^ son-
dern durch Nonen; fluchte xiber samtliche Hande und FtiBe im
SchloB, weil sie nicht flogen; driickte und stauchte das weibliche
Schiff und Geschirr mit ehernen Handen in die nachste Schachtel
20 hinein; und hatte keine andern abfuhrenden Haarseile seiner un-
geduldigen Langweile als seine FtiBe, die stampften, und seine
Hande, mit denen er teils den Kutscher aus solchen Griinden, wie
dieser die Pferde, auswichste, teils die Zuruckbleibenden im
Schlosse samtlich recht gut beschenkte.
Die Rittmeisterin aber weiB alles so komplett und vernunftig
zu tun, daB sie mit nichts fertig wird. Hatte sie drei Spriinge zu
tun, um dem herunterplumpenden Monde auszuweichen : so
streifte sie doch, eh' sie sprange, noch eine Fake aus der Fenster-
gardine heraus - beim Platten war's noch arger. Gleich Gelehrten
30 liegt sie neben dem Brotstudium noch einem Nebenstudium und
Beiwerk ob und tut mit jeder Sache die benachbarten mit. »Ich
kann nun einmal nicht so luderlich sein wie andre Weiber«, sagte
sie eben zum knirschenden Ehemann, der acht stumme Minuten
ihr zusah. »Ich wollt* ins Teufels Namen lieber, du wares t die
liiderlichste in der ganzen schriftsassigen Ritterschaft« - sagt' er.
Da sie nun, sooft sie Sturm und unrecht hatte, bloB auf den
84 DIE UNSICHTBARE LOGE
zornigen Hyperbeln des andern ankerte, wie ich als appellatischer
Sachwalter haufig muB : so bewies sie audi dasmal geschickt, da 6
an luderlichen Frauen wenig ware - und da einen hitzigen Ritt-
meister nichts noch mehr aufbringt als ein stolzer Beweis dessen,
was er gar nicht leugnet: so gings wie allemal los - die Zungen-
Streitflegel bewegten sich -seine Speicheldruse, ihre Tranendruse
und beider Lebern mit Gallenblasen sonderten so viel ab, als in
christlichen Ehestunden gesondert werden muB - aber 1 5 Minuten
und 1 5 Packereien sogen wie Blutadern alle diese ehelichen Ab-
sonderungen wieder ein. Beim Abreisen hat kein Mensch Zeit, 10
sich zu erbosen.
- Sie war auf meine Ehre eine recht gute Frau, aber nur nicht
allemalj z.B. beim Abreisen am wenigsten: sie wollte erstlich da-
bleiben und keifte in alle horende Wesen hinein, zweitens wollte
sie fort. Niemals, wenn ihr Mann am Morgen sich und seinem
Hunde den Halsschmuck umlegte, um Besuche zu machen, be-
gehrte sie mit (sie rmiBte denn die vollige Unmoglichkeit mitzu-
kommen vorausgesehen haben): sondern wenn er am zweiten
Tage nur ein Wort von einer Dame, die mit dagewesen, schieBen
lieB : so klagte sie ihm ihre Not : »Unsereine riecht nun den ganzen 20
Sommer nicht aus dem Hause hinaus.« Wollt' er sie das nachste
Mai mitzwingen : so war entsetzlich zu tun, es war zu bleichen,
zu jaten, Fleischfasser und Serviettenpressen zuzuschrauben,
Waschzettel und alles zu machen, oder das vorzuschiitzen : »Ich
bin am liebsten bei meinem Kleinen.« Allein ihre Absicht, die
wenige errieten, war bloB, an zwei Orten auf einmal zu sein, in
und auBer dem Hause - und es ist fur unsre Weiber schlimm, wenn
unsre Philosophen und Manner nicht so viel einsehen, wie die
katholischen Philosophen und Manner, die kombrischen, Ariaga,
Bekanus, langst einsahen 1 , daB der namliche Korper leicht zur nam- 30
1 Affirmant idem corpus existens in duobus locis habere posse utrobique
formas absolutas non dependentes - ita ut hie moveatur localiter, illic non,
hie calidum sit, illic frigidum, etc. hie moriatur, illic vivat, hie eliceret actus
vitales turn sensitivos turn intellectivos, illic non. Foetiidisp. theol. T.I.
p. 43 2. Bekanusbeschranktes mitphilosophischemScharfsinn so we it, daB ein
solcher Korper - also eine Frau - nicht an einem Orte fromm und zugleich
am andern gottlos sein konne; dieses leuchtet mir auch ein.
ACHTER SEKTOR 85
lichen Sekundc an zwei Orten oder mehren nicht nur auf einmal
sitzen, reden, wachsen, sondern auch in der einen Stadt empfinden
konne, indem er in der andern denkt, - zu gleicher Zeit in der
Kirche lachen und in dem Theater weinen konne. —
Extrablattchen
Sind die Weiber Papstinnen?
Alle Fragen dieses Blattchen tat ich an eine Abtissin, die lieber
Miinzen als Fromme machen lieB. 1st nicht die dreifache Krone
des Papstes jetzt auf den weiblichen Kopfen als eine vier-, funf-
10 fache da, und schossen nicht ihre Hiite in die Hohe wie Salat in den
Hundstagen? - Ists nicht den Weibern selber schon bekannt, dafi
sie so untriiglich sind wie der Papst, und wenn dieser es mehr in
dogmatischen als in historischen Dingen ist, wie die Jansenisten
glauben, ist es bei den Papstinnen nicht umgekehrt ?- Und wer
hat den Mut, eine zu widerlegen, die er nicht geheiratet? Der
Papst ist Gottes Vizekohig oder gar Gott selbst, wenn dem Feii-
nus 1 zu glauben; sind aber die Papstinnen nicht bekannte Gottin-
nen? - Allerdings sagt ein Papst selbst, Klemens VI., daB er
Engeln befehlen konne, jeden Kerl aus dem Fegefeuer in den Him-
20 mel zu spedieren*; brauchen aber unsre Papstinnen Engel dazu?
BloB eine Woche brauchen sie, um uns ins Fegefeuer, und eine
Stunde, um uns zuruck in den Himmel zu werfen. - Marianus
Soccinus, welcher behauptet', daB ein Papst aus Nichts Etwas,
aus Unrecht Recht und aus allem Henker alien Henker machen
konne, muB nur nicht glauben, daB unsre Papstinnen es nicht
auch vermogen, und sind ihm ihre Ohrenbeichten nicht erinner-
lich? — Wer exkommuniziert seine Ketzer, oder dispensieret seine
Rechtglaubigen ofter, Papste oder Papstinnen? - Und wer macht
heutzutage, durchlauchtige Abtissin, allmachtigere Augenbreven
30 und Lippenbullen, wer kreieret mehr Heilige, mehr Selige und
1 Wolfii lect. memorab. Cent. XVI. p. 994. etc.
3 loco cit.
* loco cit.
86 DIE UNSICHTBARE LOGE
mehr Nuntien a und de latere? Petri Nachfolger oder Petri Nach-
folgerinnen? - Papste sollen sonst immerhin Konigreiche weg-
geschenkt oder abgenommen haben ; beherrschen nicht Papstinnen
diese Konigreiche? - Papste konnten von Amerika nichts ver-
schenken als den Namen; ist aber nicht das, was einige Papstinnen
von diesem Lande uns mitteilen, etwas viel Reelkres? - Konige,
die sonst von Papsten gequalt wurden, werden jetzt von Papstin-
nen begliickt; und wenn jene hochstens einen oder ein paar Ko-
nige schufen, werden nicht die Konige unter den meisten euro-
paischen Thronhimmeln von Papstinnen gemacht, und zwar in 10
niedlichem Taschenformat, bis sie aus der Taufschussel nach und
nach heranwachsen, daB sie so lang sind wie ich oder ihr Thron?-
Kiissen wir ihnen nicht den Pantoffel ofter als dem seligsten Vater,
indem die zwei Arme vom Professor Moskati zu Padua langst als
zwei VorderfuBe befunden worden, auf deren lederne oder seidne
Schuhe wir alle Wochen unsre Lippen driicken? - Legen nicht
Papst und Papstin den alten Namen ab, wenn sie den Thron be-
schreiten, den der eine durch Alter, die andre durch Jugend be-
hauptet? - Und wehns wahr ware, daB Papst und Papstin ur-
spriinglich nur Bischofe einer Provinz (eines Mannes) sein sollen 20
und daB es weiter keine Papstin gibt als die gate Johanna: wiird'
ich wohl gerade das Gegenteil offentlich in einem Extrablattchen
oder heimlich zu Ihnen zu sagen wagen, durchlauchtige Abtis-
sin? -
Ende des Extrablattes
Fortsetzung des vorigen Sektors
Wahrend ich die Abtissin befragte : kamich von der wildlaunischen
Rittmeisterin weg. Ich will setzen, ich oder der Leser hatten sie
geheiratet: so wiirden wir zwar dem Himmel danken, an ihren
Ringfinger unsern brillantierten Ring geschraubt zu haben; - 30
aber doch wiirden wir uns taglich, wie man sieht, mit ihr herum-
zubeiBen haben: so gewiB bleibts, daB nicht die weiblichen
Laster, sondern die weiblichen Launen so viel Pferdestaub und
ACHTER SEKTOR 87
Dornen in das Ehelager saen, daB oft der Satan darauf liegen
mochte. -
Ohne Gustav, der so viel zuschleppt, kamen wir vor zehn Mi-
nuten nicht aus dem Schlosse. Mein Leser malt sich ihn wider
meine Erwartung ganz falsch vor, traurig namlich, weil er aus
seiner Kindheit-Erdenwiege, aus seinem Adamsgarten und von
seinem Abendberge weichen soil. So falsch ! - Ein anderer Leser
wiirde sich ihn freudig denken, weil fiir Kinder, denen noch jede
andre Szene eine neue ist, Reisen die Schopfung eines neuen
10 Himmels Und einer neuen Erde wird und weil die Phantasien eines
Kindes noch keine kummerhaften sind. Scheerau muBte in seinen
Vermutungen durchaus die Stadt mit langen Hausern sein, worin
er mit seiner Schwester gespielt. Noch dazu wurde - was alien
Kindern eine Naturalisationakte ist - sein Spielmagazin einge-
schifft; sogar den Starmatz, der als geschuttelter Hierarch in der
salomonischen Filialkirche auf- und absprang, hielt er auf den
stauchenden Knien. Jeden Winkel des Schlosses bedauerte er samt
dem,wasdarinwar,daB esnichtmit einsteigen durfte; dieses ganze
Konchyliengehaus kam ihm so eng, so abgegriffen, so abgeschos-
20 sen vor I Leute, die wenig gereiset, schauen ihre Stube in den
Augenblicken der Abreise - der Ankunft - und in den iibrigen
mit drei verschiedenen Gefiihlen an; aber fiir Zugheuschrecken
und Zuggefttigel sind die KunststraBen und ResidenzstraBen nur
Korridore zwischen den Zimrnern.
Schon eine halbe Stunde saB er auf dem nackten Kutschen-
kasten voraus, mit den Beinen in Gepack eingekeilt und in zap-
pelnder Erwartung, wann die Pferde den ersten RiB taten. End-
lich wurde die Wagentiire zugeworfen, und alles rollte dahin, den
Berg hinab, den Gemeindeanger hiniiber, auf welchem der weiB-
jo geschalte Baum, der zur Kirchweih sich mit gerotelter Fahne und
Banderwimpeln noch einmal in die Erde bohren sollte, unserem
Gustav ganz verachtlich wurde, der jetzt in Scheerau hundert
schonern Maienbaumen und Kirchweihen entgegenfuhr. - Aber
als es vor der an Freuden fruchtbaren Region seines Berges vor-
xiberging: so zog er vom Trauergeriiste der gestorbnen Nach-
mittage, vom klingenden Vieh, das am Gipfel grasete, von einem
88 DIE UNSICHTBARE LOGE
Weideadjunktus, der ihm schlecht gefiel, vom zusammengetra"
genen Steinpferch, in den er sein Lammchen gestellt, das nun ohne
Band und ohne Liebe droben stand, und endlich vom Markstein,
auf dem sonst seine Traute, seine Schone strickte, davon freilich
zog er die zuriickgewandten Blicke sehnend langsam weg. »Ach«,
dacht' er, »wer wird dir Zitronenkuchen geben und meinem
Lammchen Brotrinden? Ich will euch aber schon alle Tage recht
viel herschicken!«
Es war ein reiner Oktobermorgen, der Nebel lag zusammenge-
faltet dem Himmel zu FiiBen, derwegfliegendeSommerschwebte 10
mit seinen blauen Schwingen noch hoch iiber den Asten und Blu-
men, die ihn getragen, und schauete mit dem weiten, still erwar-
menden Sonnenauge den Menschen an, von dem er Abschied nahm.
Gustav wollte aus dem Wagen, um den betaueten fliegenden Som-
mer, der zartgesponnen wie ein Menschenleben die Erde iiberzog,
zusammenzuwickeln und mitzunehmen. Aber du, Mensch, hangst
so oft als'stinkende Pest- und Nebelwolke in die reine Natur her-
ein!
Denn sie mochten kaum eine Stunde gefahren sein, nach der er
schon jedes Dorf fur Scheerau hielt Ich willaber erst angeben, 20
wo's war. Bei Issig schrie er im Wald: »0! nun dort wird der
schwarze Arm hineinlangen und mich hinausziehen !« Als sich der
Alte noch daruber wunderte, woher der Kleine wuBte, daB jetzt
eine Armsaule komme, die wirklich aus den Baumen herauswies :
so tings auf einmal darhinter an zu schreien : »Ach meine Augen,
meine Augen !« Den Kleinen und die Mutter versteinerte der
Schrecken; absr der Rittmeister sturzte sich aus oder durch den
Wagen, zerstieB die Glaser und prallte in den Wald hinein - und
an ein kniendes feines Kind hinan, aus dessen zerschnittenen
Augen Tranen und Wasser Hefen. »Ach tu mir nichts, ich kann 30
nimmer sehen!« sagt' es und griff mit den Handchen um sich, um
die Lanzette wegzuschlagen, die zu seinen Knien lag. »Wer hat dir
denn das getan?« sagt' er mit der sanftesten, vom heftigsten Mit-
leid brechenden Stimme; aber eh' es sprach, kam ein altes ver-
wiistetes Bettelweib naher und sagte, im Gebiisch war' ein Bettler
hingeschossen, ders Kind blenden hatte wollen, um darauf zu
NEUNTER SEKTOR 89
betteln. Allein das Kind kriimmte sich mit groBern Konvulsionen
an seine Hand und sagte: »0! sie will mich wieder schneiden.«
Der Rittmeister erriet die Spitzbxiberei, schlitzte den nachsten Ast
herab, peitschte die Elende mit verfehlender Wut ins Angesicht
und lief mit dem Blinden auf dem Arm dem furchtsamen Wagen
zu. Es war ein herzerdriickender Anblick, der unschuldige Wurm
mit feinen Zugen und Bewegungen in Lumpen und mit rot ein-
gerunzelten Augen! -
Neunter Sektor
10 Eingeweide ohne Leib - Scheerau
Nicht bloB Liigner und L'hombrespieler, sondern auch Romanen-
leser mussen eiri gutes Gedachtnis haben, um die ersten 10 oder
12 Sektores gleichsam als Deklinationen und Konjugationen aus-
wendig zu lernen, weil sie ohne diese nicht im Exponieren fort-
kommen. Bei mir steht kein Zug umsonst da; in meinem Buche
und in meinem Leib hangen Stiicke Milz; aber der Nutzen dieses
Eingeweides wird schon noch herausgebracht. - Da ein Roman-
schreiber wie ein Hofmann bloB darauf hinarbeiten muB, daB er
seinen Freund und Helden stiirze und in geladene Gewitter fuhre :
20 so bild* ich seit einem Quartale am Himmel hie ein graues Wolk-
chen, das schwindet, dort eines, das zerlauft; aber wenn ich end-
lid) alle Zellen des Horizonts unsichtbar elektrisiert habe : fass' ich
den ganzen Teufel in ein Donnerwetter zusammen - nach dem
Abdruck von 14 Bogen kann der Setzer das Krachen schon horen
und setzen. — Im Grunde ist freilich kein Wort wahr; aber da
andre Autoren ihre Romane gern fur Lebensbeschreibungen aus-
geben: so wird es mir verstattet sein, zuweilen meiner Lebens-
beschreibung den Schein eines Romans anzustreichen.
Das Kind gab statt seiner Geschichte bloB die Klagen iiber seine
30 Geschichte. Es schien iiber sieben Jahre alt, akzentuierte das
Deutsche italienisch, und sein kranklich zarter, blaBroter Korper
legte sich um seine Seele, wie ein bleiches Rosenblatt um das
Wurmchen darin. Sein Vater hieB Doktor Zoppo, kam aus Pavia,
90 DIE UNSICHTBARE L0GE
botanisierte sich aus Italien nach Deutschland und lieB die Kleinen
unterwegs gelbe Blumen reiBen. Der blinde Amandus wollte in
diesem Walde auch Krauter pfliicken; aber die teuflische Augen-
arztin traf ihn, half ihm gelbe Blumen finden und lockte ihn damit
so tief in den Wald hinein, daB sie ihm Kleider und Augen rauben
konnte.
Gustav fragte ihn jede Minute, ob er noch nicht sahe, schenkte
ihm sein Morgenbrot, damit er nicht mehr weinen sollte, und
konnte seine Blindheit, da seine Augen so offen waren, nicht be-
greifen. Im nachsten Landstadtchen lieB sich Falkenberg rasieren 10
und Amandus verbinden. Ich sah einmal auf der letzten Station
vor Leipzig eine so reizende Querbinde iiber der Stirn und dem
Auge eines Madchens, daB ich wunschte, meine Frau wiirde von
Zeit zu Zeit dor thin geritzt, weil es nett ausfallt; hingegen Aman-
dus' Verband iiber zwei Augen machte ihn zu einem Kinde des
Jammers.
Da Amandus in besserer Einkleidung und mit der traurigen
Binde im Wagen saB: konnte Gustav gar nicht zu weinen auf-
horen und wollte ihm seinen Matz herauslangen und schenken;
denn nicht die GroBe, sondern die Gestalt des Leidens bestimmt 20
das Mitleiden.
Wenige Menschen, die nach Scheerau fahren, werden das nar-
rische Gliick haben, daB ihnen zwei Stunden davor ein einsamer
Magen ohne den Pertinenz-Menschen aufstoBet; Falkenberg und
seine Leute und Pferde hatten dieses Gliick. Es kam angefahren
der Magen, das diinne und dicke Gedarm, die Leber, worin die
Fiirsten ihre Galle sieden, die Lunge, deren Luftblaschen die furst-
liche Gallenblase sind, wie die Luftrohre der Gallengangderselben
ist, und das Herz; aber kein Leichnam kam mit; denn der Leich-
nam, der regierender Herr von Scheerau war, lag schon in der 50
Erbgruft. Dieser ganze Magen verdaute so viel wie sein Gewissen,
namlich ganze Hufen Landes; und besser als sein diinner Kopf,
dem Wahrheiten und Gravamina eine schwere Speise waren; die
papinianische Magenmaschine blieb noch im Alter feurig, als schon
alles andre kindisch war. Er ritt, kurz vor seinem Tode, stunden-
lang einen - Kammerherrn, den er wohl lei den konnte; gleich-
NEUNTER SEKTOR 9 1
wohl schob er wie ein ganz Verstandiger den Teller und das Glas
weg, wenn nicht der alte rechte Inhalt in beiden war'. Hinter dem
Eingeweidesarge - dem Reliquienkastchen des Unterleibes —
fuhren der Obristkiichenmeister, einige Beikoche, der Hof kellerei-
adjunkt und noch groBere Glieder des Hofetats - z.B. der Medi-
zinalrat Fenk. Dieser und Falkenberg bemerkten einander nicht.
Letzter stieB heute auf lauter Seltenheiten, auf den Doktor, den er
in Italien, und den Fiirsten, den er noch auf der Erde suchte. Die
gekronten insolventen Eingeweide, die ihm auf diese Weise das
10 Geld nicht zahlten, verwickelten ihn nun mit dem Kronerben in
ein Glaubigergefecht.
Der Leichenzug des fiirstlichen Gedarms ging in die Abtei
Hopf, wo das Erbbegrabnis derer fiirstlichen Glieder war, die -
wenn dem Plato ein Wort zu glauben ist - wahres Vieh sind und
mit denen der Mensch, er iiberschniire sie mit Ordenbandern oder
Tragriemen, allemal seine Hollennot hat. Ich will der Darmkapsel
nur drei Schritte nachziehen, weil der Medizinalrat jetzo - nach
seiner lustigen Sitte, an alien Orten, in Theater- und Kirchen-
logen und Gasthofen, nur in seinem Museum nicht, zu schreiben-
to in der Begrabniskirche der Eingeweide seine Schreibtafel auf-
wickelte und Sachen hineinschrieb, die wahrhaftig so lauten : »Da
Fiirsten sich an mehren Orten auf einmal beerdigen lassen, wie
sie auch so leben, so mocht* ichs auch - allein nicht anders als so:
mein Magen miiBte in die Episkopalkirche beigesetzt werden -
meine Leber mit ihrer bittern Blase in eine Hofkirche - das dicke
Gedarm iri ein jiidisches Bethaus - die Lungenfliigel in eine Simul-
tan- oder doch Universitatjdrche - das Herz in die triumphierende,
und die Milz in ein Filial. Wenn ich aber erster Leichenprediger
eines gekronten Unterleibes ware : so hatt* ich einen andern Gang ;
30 ich nahme den Schlund zum Eingange der - Trauerrede und den
Blinddarm zum BeschluB ! Und konnt' ich nicht in den drei Teilen
der Predigt die drei Konkavitaten durchgehen, darin die edlern
Teile des Korpers fliichtig beriihren und endlich auf den letzten
Wegen desselben mich weinend und preisend aus dem Staube
machen? Denn so scherzt man hienieden.« Es gibt einen poetischen
Wahnsinn, aber auch einen humoristischen, den Sterne hatte;
92 DIE UNSICHTBARE LOGE
aber nur Leser von vollendetem Geschmack halten hochste An-
spannung nicht fur Oberspannung.
Der Falkenbergische Reisezug kam in Scheerau abends an,
abends, der schonsten Zeit, um anzulangen, daher so viele abends
in der andern Welt anlangen. Gustav schien schon dort gewesen
zu sein, wahrend seiner Entfiihrung. Da aber von meinen Lesern
die wenigsten der Schonheit wegen nach Scheerau sind entfuhrt
worden und sie also die Stadt nicht kennen : so soil sic ihnen der
zehnte Ausschnitt vorzeigen.
Zehnter Sektor io
Ober-, Unterscheerau - Hoppedizel — Krauterbuch - Besuchbraune —
Fiirstenfeder
Es ist noch keinem Geographen und Oberkonsistorialrat das
Ungliick begegnet, das Herr Busching hatte, daB er in seinem to-
pographischen Atlas ein ganzes gutes Fiirstentum auslieB, das auf
der wetterauischen Grafenbank mit sitzt und Scheerau heiBet -
das nach dem Reichsmatrikularanschlag •/• zu RoB und 9'/» zu
FuBe und zum Kammerzieler 21 FI. Vu Xr. gibt - das unter
Karl IV. gefurstet wurde - das seine funf hiibschen Landesstande
hat, die allerhand zu sagen, aber nichts zu tun haben, namlich den 20
Kommentur des deutschen Ordens, die Universitat, die Ritter-
schaft, die Stadte und die Dorfer - und das unter andern Ein-
wohnern auch mich hat. Ich mochte nicht an der Stelle eines
solchen Schreib-Mannes sein, der sonst in jede Sackgasse mit
seinem geographischen Spiegel kriecht, um sie zuriickzuspiegeln,
der aber hier ein ganzes Fiirstentum samt seinen funf paralytischen
Landstanden rein iibersprungen hat; ich weiB, wie es ihn krankt,
aber nun, da ich mit der Welt daruber gesprochen, ist ihm nicht
mehr zu helfen.
Die Hauptstadt Scheerau besteht eigentlich aus zwei Stadten, 30
aus Neu- oder Oberscheerau, wo der Ftirst residiert, und aus Alt-
oder Unterscheerau, wo der Rittmeister logiert. Ich meines Orts
ZEHNTER SEKTOR 93
bin langst iiberzeugt, daB die Sachsenhauser nicht halb so weit
von den Frankfurtern abstehen als die Altscheerauer von den Neu-
scheerauern, in Ton, Gesicht, Kost und allem. Dei* Neuscheerauer
hat Hofton genug, urn Anstand und Schulden und Wut zu aufler-
hauslichen Freuden zu haben, und doch wieder zu viel Kanzleiton
(weil alle hochste Landeskollegien da sind), um nicht uberall
steife Subordination entweder anzuerkennen oder abzufodern
und um nicht aus dem Kammerherrn in den Kanzelisten und
Rechnungrevisor zuriickzufallen. Das sieht nun der Altschee-
io rauer ein. Der Neuscheerauer hingegen sieht ein, daB jener
folgende Zugehat:wennin Chinadie Mauler einerTischgenossen-
schaft sich wie ein Doppelklavier zu gleicher Zeit bewegen miis-
sen; wenn in Monomotapa das Land dem Kaiser nachzuniesen
pflegt: so gehe man nach Altscheerau, wo es noch viel besser ist;
in derselben Minute miissen alle Gassen weinen, husten, beten,
laxieren, hassen und pissen - ihre Konduitenliste sieht wie eine
Partitur aus, aus der alle das namliche Stuck, nur mit verschiednen
Instrumenten und Stimmen spielen - (bloB in der Musik regiert
sie einiger wahre Freiheitgeist, und keiner bindet seinen Ellen-
20 oder Fiedelbogen oder Tangenten sklavisch an seines Nachbars
seinen) - sie hassen scheme Wissenschaften so sehr wie sich unter-
einander - unfahig, gesellschaftliches Vergniigen zu entbehren,
zu veranstalten, zu genieBen, unfahig zu wagen, einander offen
zu hassen und zu Heben und zu ertragen, bohren sie sich in ihre
Geldhiigel und achten offentlich den Reichsten und geheim den
Verwandten oder gar niemand - ohne Geschmack und ohne Pa-
triotismus und ohne Lekture . . .
Ich mach' es aber gar zu toll; kein Leser wird hinter dem Ritt-
meister einen FuB nach Unterscheerau setzen wollen. Ihr groBter
30 Fehler ist, daB sie nichts taugen; aber sonst sind sie fleiBig, voll
lauter Kauf leute, enthaltsam und fegen die Gassen und Gesichter
hubsch. Residenzstadte haben wie Hofe Familienahnlichkeit; aber
Landstadte haben - je nachdem mehr kaufmannische, militarische,
juristische, bergmannische, seemannische Safte in ihnen rinnen -
ein verschiednes Vollgesicht und Halbgesicht.
Vor der UberblechtenHaustiirdes Professors der Moral/fr>/>/Wz-
94 DIE UNSICHTBARE LOGE
£e/stieg die FalkenbergischeSchiffgesellschaftausihrerfahrenden
Arche; sie hielt in des Professors zweitemStockwerk gewohn-
lich ihr Winterquartier. Gleich hinter der Haustiire stieB der Ritt-
meister auf ein tolles Melodrama. Namlich der FloBinspektor
Peuschel Iehnte sich an die Wand und vomierte und schimpfte;
und wechselte mit beidem regelmaBig, wie mit Pentameter und
Hexameter — Der Professor der Moral schrieb mit einem unein-
getunkten Finger ruhig die Ziige folgender Worte an die Wand,
die er unaufhorlich ablas : »Ekelhaft wars wohl, verteufelt ekel-
haft!« — Jeden andern hatte ein eintretender alter Freund wie to
Falkenberg sogleich in der ganzen Szene gestort; aber der Pro-
fessor war. nicht aus seinem SpaB zu ziehen, sondern hob seine
Umhalsung in unverandertem Tone mit dem Rapport des gegen-
wartigen Vorfalls an: »gegenwartiger Herr FloBinspektor Peu-
schel«, begann Hoppedizel, »zeche gern, Wein namlich — es habe
nichts verfangen, daB die Frau Inspektorin« (- denn schonende
Diskretion war nie auf Hoppedizels Lippen -) »ihn habe um-
bessern wollen durch einen lebendigen Frosch, den sie in seinem
Weine krepieren lassen. Er selber habe daher heute Hand ange-
legt, ihm das Nippen zu verleiden. Denn er habe zum Gliick einen 20
Blasenstein - so dick wie eine Muskatellerbirn - aus einem Uni-
versitatkadaver geschnitten; den nab* er zu einer Trinkurne aus-
gebohret und Herr Peuscheln weisgemacht, aus Lava sei sie ; und
heute habe er seinen vomierenden Freund echten ungarischen
Ausbruch daraus saugen lassen; damit es ihn nun geekelt und zu
einem andern Ausbruch genotigt hatte, hab' ers vor einem Paar
Minuten dem Patienten klar dargetan, daB das vulkanische Spitz-
glas wahrer Harn- oder Nierenstein gewesen. Und er hofFe, sein
Freund schlage sich das urinose Steingut eine Zeitlang nicht aus
dem Kopf.« Der Professor ging den Inspektor an, ihm den Ge- 30
fallen zu tun und, sobald der Ekel nachlieBe, heute abends in der
Gesellschaft des Herrn Rittmeisters zu einem Loffel voll Suppe
dazubleiben.
Man komme noch so oft in gewisse Hauser, so erblickt man
alles revidiert und umgesetzt und umgestiirzt; aber im Hoppe-
dizelschen am meisten; und des Rittmeisters Winterlager sah
ZEHNTER SEKTOR 95
immer aus wie ein Gartenhaus im Winter. Menschen von feinem
Gefuhl bezaubern durch eine gewisse zartliche Aufmerksamkeit
au£ kleine Bedurfnisse des andern, durch ein Erraten seiner leisesten
Wiinsche, durch eine stete Aufopferung ihrer eignen, durch Ge-
falligkeiten, deren seidenes Geflecht sich fester und sanfter um
unser Herz herumlegt als das schneidende Liebeseil einer groflen
Wohltat. - Hoppedizel bediente sich weder des Flechtens noch
Seiles und fragte nach nichts. Es war nicht Abwesenheit des feinen
Gefuhls, sondern Ungehorsam gegen dasselbe, dafi er - wenn der
10 Rittmeister die erste Woche Quartier und Verleiher verfluchte -
dazu lachte.
Der zarte Amandus bewohnte den ganzen Abend das Siechbett,
und Gustav kroch an seine Seite, um mit ihm zu spielen. Wie
heitern uns im steinichten Arabien der hassenden Welt Kinder
wieder auf, die einander lieben und deren gute kleine Augen und
kleine Lippen und kleine Hande noch keine Masken sind !
Am andern Tage nahm beide Kinder ein Zufall wieder ausein-
ander. Der Rittmeister fuhrte sie durch alle Gassen der Stadt wie
durch eine Bildergalerie und hielt endlich mit den zwei Herzens-
20 milchbrudern vor seines Freundes, des Doktor Fenks Hause still
und sah sehnend das Gemalde desselben an - es bildete eine Dok-
tors-Kutsche vor mit einem Arzt innen, mit dem Tode vorn, der
in die Gabel eingespannt war, und mit dem Teufel oben, der auf
dem Bock saB. - »Der gute Nam, dacht' er, »kdnnt* auch einmal
aus seinem Italien abziehen und seinen Freunden eine Freude
machen!« Denn er wuBte von seiner Ankunft nichts. »Mandus!
Mandus! lauf rauf !« schrie plotzlich ein zappelndes Madchen oben
und kam selber gesprungen und zerrte und guckte am Kleinen.
Der gutmtitige Rittmeister wanderte gern aus dem groBen Par-
30 terre den Kindern nach ins vertraute Haus, und seine Verwunde-
rung uber alle Zeichen der Ruckkehr Fenks endigte nichts als der
hereinbrechende Doktor selbst. Dieser prallte vom halben Wege
zu seiner Umarmung auf den kleinen Blinden zuriick und riB
unter Tranen und Kussen die Bandage auf - besah die Augen
lange am Fenster - und sagte nach einem tiefen Atemzug: »Gott
Lob und Dank ! er wird nicht blind !« Erst jetzt schlug der Doktor
96 DIE UNSICHTBARE LOGE
seine Arme mit doppelter Warme um den Freund: »Verzeihs, es
1st mein Kind!« Gleichwohl nahm er Amandus wieder ans Licht
und beschauete ihn noch langer und sagte mit hinaufgezogenen
Augenbrauen: »BloB die Sclerotica scheint ladiert; die Okulistin
zapfte die wasserige Feuchtigkeit heraus. In Pavia sah ichs alle
Wochen an Hunden, denen die Zahnarzte (unsre medizinischen
Lehnsvettern) die Augen aufschnitten und eine dumme Salbe da-
raufstrichen. Wenn nachher die Feuchtigkeit und das Gesicht
von selber wiederkamen: so hatt' es die Salbe getan.<(
Ich iibergehe den Strom von gesprachiger und freudiger Er- 10
gieBung beider Freunde, vor demsiekaummehrhortenundsahen,
am wenigsten die Uhr - »Adh sie kommen!« sagte Fenk, namlich
die Gaste. - Da meine Leser Verstand genug haben : so konnen
sie mich, hoff ' ich, auserzahlen lassen, eh' sie ihre Zornrute gegen
den bildlichen SteiB des Doktors hinter dem Spiegel vorholen. -
Niemand als er hafite so brennend das Enge, das Unduldsame
und Kleinstadtsche der Unterscheerauer, womit sie sich ein so
kurzes Leben verkitrzten und ein so saueres versauerten. - »Mich
ekelts, von ihnen gelobt zu werden«, sagt* er nicht bloB, sondern
er erboste auch gern mit dem schlimmsten Anstrich seiner reinsten 20
Sitten alles von einem Tore zum andern; indes vermocht' er aus
Herzens-Weichheit mehr nicht zu argern als die ganze Stadt in
grosso, einen allein nie. Deswegen grassierte er am zweiten Mor-
gen seiner Ankunft wie eine Influenza von einem Hause zum andern
und bat alle Muhmen, Basen, B\utfeinde y Leute, die ihn nichts an-
gingen als die Hebe Christenheit, z. B. den FloBinspektor Peuschel,
den Lottodirektor Eckert mit seinen vier Spatbirnen von Tochtern,
und was nur unterscheerauschen Atem hatte, das bat er samtlich
zusammen auf den Nachmittag, auf eine Reiseseltenheit ? namlich
auf ein Herbarium vivum,das er zeigen werde: »es sei kein leben- 30
diges Krauterbuch, sondern etwas ganz Besondres, und von den
Gletschern ware das Beste her.«
Diese kamen eben jetzo alle - nicht weil sie das geringste nach
einem Krauterbuch fragten ? sondern weil sie es doch sehen wollten
und die Haushaltung des unbeweibten Doktors nebenbei. Ich
muB den europaischen Hofen so viel gestehen, daB sich die Lands-
ZEHNTER SEKTOR 97
mannschaft und Basenschaft mit Grazie hineinhustete, hineinfegte
und -niusperte; und den vier Spatbirnen fehlt* es nicht an Welt,
sondern sie machten statt der Verbeugung eine Vertiefung und
bewegten sich sehr gut steilrecht. Der Hauswirt trug alsdann zwei
lange Krauterfolianten herein und sagte freundlich, er wolle gern
alles herweisen - nun ziindete er die Holle an, in die er die Gesell-
schaft warf - er kroch mit RaupenfiiBen und Schneckenschleim
von Blatt zu Blatt des Buches sowohl als des Krautes — er zeigte
nichts oberflachlich - er ging die Pistillen, die Stigmen, die Anthe-
io ren eines jeden Gewachses genau durch - er sagte, er wiirde sie
ermuden, wenn er weitlauftiger ware, und beschrieb also Namen,
Land, Naturgeschichte eines jeden Grases ganz kurz — alle Ge-
sichter brannten, alle Riicken briihten sich, alle FuBzehen zuckten.
- Vergeblich versuchte eine Base, dem blinden Amandus mit den
Augen nachzulaufen, um nur etwas Animalisches zu ersehen; der
Krauterkenner befestigte sie an einen neuen Staubbeutel, den er
gerade anpries. Schon bis an die Pentandria hatte er seinen Klub
geschleift, als er sagte: »Der heutige Abend soil uns nahe um die
Dodecandria finden; aber SchweiB und FleiB kostets.« - Er wurde
20 beim allgemeinen Jammer iiber einen solchen Fegfeuer-Nach-
mittag, dergleichen noch kein Scheerauer erlebt hatte, immer ver-
gniigter und sagte, ihre Aufmerksamkeit feuere am meisten ihn
an. - Gleichwohl lieBen sich die botanischen Magistranden aus
einem Blatte ins andere martern und wollten verbindlich bleiben:
- bis der Rittmeister, ob er gleich den Scherz erriet, teufelstoll
wurde und fort wollte. Der Doktor sagte: »den zweiten Folianten
muBt' er ohnehin fur eine andre Stunde versparen; aber er wiin-
schte, siekamen bald wieder, das soil' ihm erst einBeweissein,daB
es ihnen heute gefallen.« Der blofie Gedanke an den zweiten Tor-
30 turfolianten - wogegen der Theresianische Kodex mit seinen Fol-
ter abrissen nur ein TaschenkalendermitMonatkupfernist-fuhrte
etwas von einem Fieberschauer bei sich. So hatten sie also einen
ganzen halben Tag schandlich ohne eine Verleumdung, ohne eine
Erzahlung verloren, die hatte nach Haus konnen mitgebracht und
von da weitergegeben werden. Die altern Damen besuchten Kon-
zerte und Balle gewohnlich, aber gar nicht, um gesehen zu wer-
9» DIE UNSICHTBARE LOGE
den, sondern um zu sehen und darin physiognomische Fragmente
zur Beforderung der Menschenkenntnis, obwohl nicht der Men-
sckenliebe, auszuarbeiten ; - ja sie besuchten auch ihre erklarten
Feindinnen gern, wenn iiber eine abwesende Feindin Ioszufallen
war, wie Wolfe, die einander fliehen, sich doch verbiitlden zum
Tode eines andern Wolfs. Ich habe immer mit Yergniigen bemerkt,
wie ein Paar Scheerauerinnen sich einander so herzlich und mit
reiner Freundschaft dann mitteilen, wenn sie gerade das geheimste
Schlimme von einer dritten auszupacken haben. Nur, wenn zwei
auf dem Kanapee nicht mehr nebeneinander sitzen, sondern sich 10
die Gesichter statt der Hiiften zuwenden, so mag ich der nicht
sein, den sie gerade handhaben.
Extrazeilen uber die Besuchbraune,
die alle Scheerauerinnen befallt bei dem Anblick
einer fremden Dame
Mannern schadet daselbst der Anblick einer fremden Dame wenig;
bloB alle Friseure und Barbiere kommen spater als sonst; auf dem
Billard zeichnen die Queues oder die Tabakpfeifen ihre Gestalt in
die Luft, und die Lehrer des loblichen Gymnasiums horen gar
nicht darauf- Hingegen die Weiber! - 20
Auf der Insel St, Kilda geschieht, wenn ein Fremder da aus
dem Scruff aussteigt, ein Ungliick, das noch kein Philosoph er-
klaren konnte - das ganze Land hustet seinetwegen 1 . AlleDorfer,
alle Korperschaften, alle Alter husten - kauft sich der Passagier
etwas ein, so umhustet ihn der Nahrstand - unter dem Tor tuts
der Wehrstand; und der Lehrstand hustet in seine Lehren hinein.
Es hilft gar nichts, zum Arzt zu gehen — der bellt selber arger als
seine Kunden und ist sein eigner Kunde....
In Unterscheerau istdasselbe Ungliick, aber groBer. Eine fremde
Dame setze ihren netten FuB in das Posthaus, in den Konzert- 30
oder Tanzsaal, in irgendein Visitenzimmer: sogleich sind alle
Scheerauerinnen genotigt zu husten und - was allzeit von einem
1 Sogar Kinder im Mutterleibe. S. Allgem. deutsche Bibl. Bd.67. S. 138.
ZEHNTER SEKTOR 99
schlimmen Hals herkommt - Wiser zu reden - alien fliegt die
Braune an, d.h. die angina vera. An den armen Damen erscheinen
alle Zeichen der giftigsten Halsentziindung, Hit\e (daher das
Fachern), Kdhe, schweres Atemholen, Phantasien, aufgeblahte
Nasenflugel, steigender Busen. Kilhlende Mittel, Wasser, Ent-
ledigung der Luftrohren tun den Patientinnen noch die besten
Dienste. 1st aber (welches der Himmel abkehre) die eintretende
Fremde die schonste - die bescheidenste - die reichste - die ge-
ehrteste - die am meisten gefeierte - die geschmackvolleste - so
10 wird keine einzige Leidende im Krankensaale kuriert; ein solcher
Engel wird ein wahrer Todesengel, und man sollte am Tor gar
keine Fremde von Verdienst einpassieren lassen. -
Die Besuchbraunegras-siertwiejedeandre am meisten imHerbste
und Winter unter den Winterlustbarkeiten und Wintergasten.
- Diese Braune schreibt Witz oder Verstand zwei Grunden zu :
erstlich den aufiern oder Schalenverdiensten (innern nie); so
glaubt auch l/n^er, dafi Schaltiere auf den Hals am meisten wirken,
daher z.B. Austern schweres Schlucken, kalzinierte Krebse gegen
Wasserscheu, Dunst von Krebsen Stummheit, Skorpionen Zun-
20 genlahmung wirken. - Der zweite Grund ist, daB Damen in einer
Stadt wie auf einem Isolatorium wohnen und daB, wenn eine
Fremde, die mit ihnen sich nicht in Rapport gesetzt, die manipu-
lierten Clairvoyanten beriihrt, oder auch nur in der Feme von
ihnen steht, diese lauter haBliche Empfindungen in alien Gliedern
spiiren.
Ende der Extrazeilen
Den weggehenden Scheerauerinnen gab Fenk nach dem bota-
nischen Gottesdienste noch die Nachricht als einen Altarsegen
mit nach Haus, bei welchem er das Kreuzmachen ihnen selber
50 UberlieB : »daB die beiden Kinder, die man gesehen, den Kleinen
und die Kleine, keine andere Wiege gehabt als den Reisewagen;
daB aber er gegenwartig Pestilenziarius samt Medizinalrat ge-
worden; jedoch nur Frauen kurieren wolle und mit der Zeit eine
ehelichen, und er bitte instandig.« —
Wenn die Unterscheerauer etwas, das suB, sauer und toll zu-
IOO DIE UNSICHTBARE LOGE
gleich scheint, vorbekommen : so horchen sie erstlich auf- dann
lacheln sie an - dann sinnen sie nach - dann sehen sie es nicht ein
- dann mutmaBen sie drei Tage darnach nichts Gutes - und end-
lich werden sie dariiber recht aufgebracht. Fenk fragte nichts dar-
nach und sagte von Zeit zu Zeit etwas, was sie nicht verstanden
oder er selber nicht.
Er erklarte alsdann dem Rittmeister, und ich dem Leser, alles.
Die aufgeklebten Krauter, sagt' er, hielten von nun an alle Basen
und Tropfe und Visitenameisen von seiner Stube ab, wie um-
zaunenderHanf die RaupenvomKrautfeld.- Seine Reisegeschichte 10
und ein paar Ratsel daraus zeig* er nur halb, weil man sich fur die
Menschen am meisten interessiere, an denen man noch etwas zu
erraten suche, und die neugierigen Patientinnen wurden die sei-
nigen sein. - Ob er verheiratet sei, wiss' er selber nicht; und andere
solltens auch nicht wissen, weil man ihn in alle Hauser, wo ein
Warenlager von Tochtern steht, als Arzt hineinrufen werde, damit
er als Brautigam wieder herausgehe. — Endlich nehm' er deshalb
nur weibliche Kranke an, weil diese die haufigsten waren; weil
man zu ihm fiir diese ausschlieBende Praxis ein besonderes Zu-
trauen fassen wiirde; weil dieses Zutrauen das ganze Dispensa- 20
torium eines Weiberdoktors sei; weil die meisten Krankheiten der
Weiber bloB in schwachen Nerven und deren ganze Kur in Ent-
haltung von — Arzeneien bestande; weil Apotheken nur fiir Man-
ner, nicht fiir Weiber waren und weil er sie ebensogern anbetete
als kurierte.
Ein anderer Punkt war der, wienach er so geschwind nach
Scheerau und so geschwind zum Medizinalrat gekommen. Es ist
so : der Erbprinz, der jetzt auf dem hohen Thronkutschersitz mit
dem Staatwagen zumTeufel fahren wird,liebtniemand; auf seiner
Reise spottete er iiber seine Matressen; seine Freundschaft ist nur 30
ein geringerer Grad von HaB, seine Gleichgiiltigkeit ist ein groBe-
rer; den groBten aber, der ihn wie Sodbrennen beiflet, hegt er
gegen seinen unehelichen Bruder, den Kapitan von Ottomar,
Fenks Freund, der zu Rom in der schonsten natiir lichen Natur
sowohl als artistischen geblieben war, um im Genufi und Nach-
ahmen der romischen Gegenden und Antiken zu schwelgen. Otto-
ZEHNTER SEKTOR 10 1
mar schien ein Genie im guten Sinne und im bosen auch. Er und
der Erbprinz ertrugen einander kaum in Vorzimmern und waren
dem Duelle oft nahe. Nun hasset der scheerauische GroBfurst
auch den armen Fenk, erstlich weil dieser ein Freund seines Fein-
des isr, zweitens weil er dem dritten Bruder des Erbregenten einmal
das Leben und mithin die Apanagengelder wiedergab, drittens
weil der Fiirst weit weniger (oder gar keine) Grunde brauchte,
um jemand zu hassen, als um zu lieben. -
Nun ware der Doktor schon unter der vorigen Regierung,
10 deren Magen uns entgegenfuhr, gern Medizinalrat geworden;
unter der kiinftigen Regierung, deren Magen sich noch in Italien
fiillte, war wenig zu machen. Der Doktor suchte also sein Gluck
noch ein paar Wochen vor der neuen Kronung festzupflanzen. Er
fand den alten Minister noch, der sein Conner war und dessen
Gonner der Erbprinz aus dem Grunde wenig war, aus welchem
Erbprinzen gewohnlich glauben, daB sie die Kreaturen des ver-
storbenen Vaters ebensowohl, nur delikater und langsamer unter
die Erde bringen mussen als wilde Volker, die auf den Scheiter-
haufen des Konigs auch seine Lieblinge und Diener legen. Als
20 Fenk kam, machte ihn der verstorbene Regent zu allem, was er
werden wollte; denn es war so:
Da der selige Landesvater ein Landeskind im physiologischen
Sinne geworden war, d.h. wieder so alt, als er gewesen, da man
ihm das erste Ordenband statt eines Laufbandes umflochten, nam-
lich 6 l / 8 Jahr: so wurde dem Fiirsten das ewige Unterschreiben
seiner Kabinettdekrete viel zu sauer und zuletzt unmoglich. - Da
er indessen doch noch regieren muBte, als er nicht mehr schreiben
konnte : so stach der Hofpetschierstecher seinen dekretierenden
Namen so gut in Stein aus, daB er den Stempel bloB einzutunken
jo und naB unters Edikt zu stofien brauchte: so hatt' er sein Edikt
vor sich. Auf diese Weise regierte er um 1 5 Prozent leichter; -der
Minister aber um 100 Prozent, welcher zuletzt aus Dankbarkeit,
um dem geschwachten Fiirsten sogar das schwere Handhaben des
Stempels abzunehmen, das schone Petschaft (er zog es Michel-
Angelos seinem vor) selber in sein eignes DintenfaB eintunkte; so
daB der alte Herr ein paar Tage nach seinem eignen Tode ver-
DIE UNSICHTBARE LOGE
schiedene Vokationen und Reskripte unterschrieben hatte - aber
dieser Poussiergriffel und Pragstock der Menschen wurde der
Legestachel und Vater der besten Regierbeamten und laichte zu-
letzt den Pestilenziarius.
Extragedanken liber Regentendaumen
Nicht die Krone, sondern das DintenfaB druckt Fursten, GroB-
meister und Kommenturen; nicht den Zepter, sondern die Feder
fuhren sie mit so vieler Beschwerde, weil sie mit jenem bloB be-
fehlen, aber mit dieser das Befohlne unterschreiben miissen. Ein
Kabinettrat Viirde sich nicht wundern, wenn ein gequalter 10
gekronter Skribent sich, wie romische Rekruten, den Daumen
amputierte, um nur vom ewigen Namen-Malen, wie diese vom
Kriege, loszukommen. Aber die regierenden und schreibenden
Haupter behalten den Daumen ; sie sehen ein, daB das Landeswohl
ihr Eintunken begehrt, - das wenige Unleserliche aus Kabinettbe-
fehlen, was man ihren Namen nermt, macht wie eine Zauber-
formel Geldkasten, Herzen, Tore, Kauf laden, Hafen auf und zu;
der schwarze Tropfe ihrer Feder dunget und treibet oder zerbeizet
ganze Fluren. Der Professor Hoppedizel hatte, da er erster Lehrer
der Moral beim scheerauischen Infanten war, einen guten Ge- 20
danken, wiewohl erst im letzten Monat: konnte der Oberhof-
meister nicht dem Unterhofmeister befehlen, daB er den Kron-
Abcschutzen, der doch einmal schreiben lernen muBte, statt
unniitzer Lehnbriefe lieber mitten auf jedem leeren Bogen seinen
Namen schmieren lieBe? - Das Kind schriebe ohne Ekel seine
Unterschrift auf so viele Bogen, als es in seiner ganzen Regierung
nur bedurfe - die Bogen legte man bis zur Kronung des Kindes
zuriick - und dann, fuhr er fort, wenn es genau iiberschlagen
ware, wie oft ein Kollegium seinen Namenzug jahrlich haben
muBte, wenn folglich am Neujahrtage die notige Zahl signierter 30
Ries Papier zum Gebrauche aufs ganze Jahr den Kollegien zu-
geteilt wiirde : was hatte nachher das Kind unter seiner Regierung
fur Not?
Ende der Extragedanken
EILFTER SEKTOR IO3
Noch ein Wort: nach neun Wochen tat dem Doktor die Rache
mit dem Krauterbuche, wie jedem guten Menschen die kleinste,
wieder wehe. »Das Herbarium«, sagte er, »argert mich, sooft ich
hineinklebe; aber es ist gewiB wahr, ein Mann sei immerhin durch
alle Residenzstadte bescheiden passiert: unter dem Tor seiner
Vaterstadt fahrt der Hochmutteufel in ihn und macht mit ihm
die ersten Besuche - seine guten Landsleute, will er haben, sollen
wahrend seiner Reise vernunftig geworden sein.«
ElLFTER SEKTOR
10 Am and us* Augen - das Blindekuh spiel
Die Sympathie, welche Erwachsene in der ersten Viertelstunde
ahlaktkrt) fugt auch oft Kinder aneinander. Unser Paar lief ein-
ander taglich iiber vierzigmal in die Arme und herzte sich. Ihr
guten Kinder ! seid froh, daB ihr eure Liebe noch starker ausdriicken
durfet als durch Briefe. Denn die Kultur schneidet dem Ausdruck
der Liebe das Gebet des Korpers immer kleiner vor - diese hagere
Gouvernante nahm tins erstlich den ganzen Korper dessen weg,
den wir lieben - dann die Hand, die wir nicht mehr drucken dur-
fen - dann die Knopfe und die Achseln, die wir nicht mehr be-
20 riihren durfen - und von etner ganzen Frau gab sie uns nichts zum
Kiissen zuriick als (wie ein Gewolle) den Handschuh : - wir rriani-
pulieren einander jetzt alle von feme. - Amandus hing mit seinem
mehr weiblichen Herzen an Gustavs mehr mannlichem mit aller
der Liebe, die der Schwachere dem Starkern reichlicher gibt, als
er sie ihm abgewinnt. Daher liebt die Frau den Mann reiner; sie
Hebt in ihm den gegenwartigen Gegenstand ihres Herzens, er in
ihr ofter das Gebilde seiner Phantasie ; daher sein Wanken kommt.
Dieses Vorredchen soil nur eine Anfurt zueinerkleinen Schlagerei
zwischen unserem kleinen Kastor und Pollux sein.
30 Sie waren namlich ungern so lange auseinander, als die Augen
auf- und zugebunden wurden. Sooft der Verband wegkam,stellte
sich Gustav vor ihn und verlangte durchaus, er sollte ihn sehen,
104 DIE UNSICHTBARE LOGE
und tat seinen Finger sich an die Nase und sagte: »Wo tipp' ich
jetzt hin?« Aber er examinierte den Blinden nicht sehend. Nach
einer wochentlichen Abwesenheit fuhr Amandus auf ihn zu:
»Schieb mein Band auf,« sagte er, »ich kann dich gewiB auch sehen
wie meinen Katzenheinz !« Da Gustav es aufgeluftet hatte und da
er wirklich in das Auge des operierten Freundes einging, ganz wie
er war, mit allem, mit Rock, Schuhen und Striimpfen; so war er
froher als ein Patriot, dessen Fiirst die Augen oder den Verband
aufmacht und ihn sieht. Er inventierte sein ganzes Bilderkabinett
vor seinen Augen mit einem ewigen »Guck!« bei jedem Stuck. 10
Aber weiter! Die Welt wird wenig davon wissen - die kleinen
Partikelchen derselben ausgenommen, die Kinder, von denen eben
ich reden will -, daB diese bei Hoppedizel Blindekuh gespielet.
Ein fatales Spiel! wenn Madchen dabei sind, wie hier war, zumal
so schlimme wie des Professors seine! Amandus lieB sich in das
Spiel ein und rannte hinter seinem Schnupftuch, das weibliche
Pnffigkeit iiber seine Augen gefaltet hatte, im Zimmer umher,
nichts fangend als entkorperte Kleider. Zum Ungluck stieBen
die Madchen unter dem Ofen, worunter sie gegen alle gute Spiel-
ordnung geschlichen waren, auf die voile Milchschussel des Spitz- 20
hundes. Da sie nun damals zu wenige Moralphilosophen gelesen,
obgleich deren genug gesehen hatten: so schoben sie, aus Mangel
an reiner praktischer Vernunft, die Schussel so weit leise vor, daB
der greifende Hascher ohne Miihe hineintrampelte und driiber-
schlug. Gustav muBte als Kind ein wenig lachen. Auf ihn schoben
es die Siinderinnen und riefen: »0 du! wenn nun Amandus ein
Ungluck genommen hatte !« Er riB sich von den nassen Scherben
auf und pufFte dem Gustav, der ihn trostend bei denHanden faBte,
ein wenig hinten ans Schulterblatt, da, wo nach den Kompendien
der Milchsaft mit dem Blut zusammenrinnt. »Ich hab's doch nicht 30
hingestellw, sagt' er. - »Ja, ja! und hast mir nichts gesagt«, ver-
setzte der Blinde und stieB ihn wieder, aber hef tiger und doch
weniger zornig. - »Schlag immerl ich nab* dir nichts getan«, und
die Stimme brach meinem guten Helden - jener schlug wieder
nach und sagte: »Ich bin dir auch gar nimmer gut«, aber so, als
wurd* er sogleich zu weinen anfangen. - »Ach du hast dir gewiB
ZWOLFTER SEKTOR IO5
einen Splitter eingestochen?« fragte Gustav mit der mitleidigsten
Stimme — mitten im Versuch zu einem neuen StoBe glitt die dunne
Eisrinde vom erwarmten Herzen Amandus' herunter, er umfaBte
den Unschuldigen und sagte unter hellen Zahren : »Du hasts ja
nicht getan, und ich geb* dir all meine Spielware: schlag mich
doch rechtl« und schlug sich selber. — BloB die Empfindung der
Liebe kampft mit solchen bittersiiBen Sonderbarkeiten. Amandus
gestand oft, noch immer wandle ihn, wenn er jemand unrecht
getan, mitten in seiner Krankung daruber die Neigung an, fort-
10 zubeleidigen, um sich selber so weit fortzukranken, daB er end-
lich vor Schmerz sich mit der heiBesten Liebe ans versehrte fremde
Herz werfen miiBte. Aber, o lieber Amandus! wenn gerade ein
Padagog in Gestalt einer Moral die Tiir aufgemacht hatte ! -
Man muB niemals glauben, als wollt' ich hier personlichen Groll
an samtlichen Hofmeistern auslassen : denn erstlich hatt' ich gar
niemals einen Hofmeister, zweitens war ich selber einer und ein
rechter.
ZWOLFTER SEKTOR
Konzert - der Held bekommt einen Hofmeister von Ton
20 Ich habe mich in einen neuen Ausschnittbegeben,weiiichdarin
dem Leser eine neue Person zu prasentieren habe - den Hofmeister
meines Helden.
Ich brauche keinen Menschen daran zu erinnern, daB der Ritt-
meister ein so narrisches, bald zu gefiigiges, bald zu sprodes, mo-
ralisierendes, mutloses Ding, als ein Informator ist, in Scheerau
suchte, damit sein Kind zu gleicher Zeit mit dem Lande einen
Regenten bekame. Nun hatt' er eine Pate da, welche advozierte,
musizierte, badinierte, lorgnierte und Welt hatte; aber er hatte
nicht den Mut, ihr in einem Padagogium, dessen Schuljugend auf
5° einen Mann belief, die Lehrstelle anzutragen. Ich will es nur her-
aussagen, daB ich selber diese Pate und diese neue Person bin;
aber es wird meiner Bescheidenheit mehr zustatten kommen, wenn
ich mich in einem Sektor, wo ich so viel zu meinem Lobe vor-
106 DIE UNSICHTBARE LOGE
bringen muB, aus der ersten Person in die dritte umsetze und blofi
sage Pate, nicht ich.
Diese Pate blies im Unterscheerauer Konzert, um mit der Flote
in die Spharenstimme eines sehr jungen Frauleins von Roper zu
spielen, dessen Kehle sich oft kaum von der Flote scheiden lieB.
Die ganze Seek dieses Madchens ist ein Nachtigallton unter
Bluteniiberhang; der Leib desselben ist eine fallende himmelreine
Schneeflocke, die nur im Ather dauert und auf dem Kot des Bo-
dens zerlauft. Dem Flotenisten fiel wahrend den Pausen ein
schones, in phantasierende Aufmerksamkeit verlornes Kind in die 10
Augen und auf das Herz : Gustav wars. Der erste Blick nach der
Begleitung war auf die Nachbarschaft des Kindes, um den Eigner
desselben zu finden - der erste Schritt, den die Pate tat, war zur
andern Pate, zum Rittmeister, dessen Freundschaft mit mir be-
kannt genug ist. Das mannliche Geschlecht ist gliicklicher und
neidloser als das weibliche, weil jenes imstande ist, zweierlei
Schonheiten mit ganzer Seele zu fassen, mannliche und weibliche;
hingegen die Weiber lieben meistens nur die eines fremden Ge-
schlechts. Ich hab' aber vielleicht zu viel Enthusiasmus fur die er-
habne mannliche Schonheit, so wie fur poetische Schwarmerei, 20
ungeachtet ich wenigstens letzte selber nicht habe. Aus Gustav
wirkte die doppelte Zauberei auf mich, ich vergaB alle Zauberin-
nen des Konzerts uber den Zauberer; aber ich ward am Ende
traurig, daB ich dem Schonen mehr Blicke als Worte abzuschmei-
cheln vermochte. Auf das Konzert gab ich, gleich andern Zu-
horern, ohnehin nur so lange acht, als ich selber ein Mitarbeiter
war oder als eine meiner Schulerinnen spielte; denn die Scheerauer
Konzerte sind bloB in Musik gesetzte Stadtgesprache und prosai-
sche Melodramen, worin die Sesselreden der Zuhorer wie ge-
druckter Text unter der Komposition hinspringen. Obrigens 30
unterzeichnen wir auf unsere Konzerte mehr unserer Kinder als
unserer selber wegen; die musikalische Schuljugend bekommt
darin einen Tanz- Und Tummelplatz ihrer Finger, und von meinen
artistischen Katechumenen kantschuet wochentlich wenigstens
einer den Flugel. Ich frische die Eltern dazu an und sage, in einem
solchen Konzertsaal lernen die Kleinen Takt, weil da nicht nur
ZWOLFTER SEKTOR IO7
genug, sondern auch iiberflussig Takt ist, indem jeder dasige
Musikoffiziant seinen eignen originellen pfeift, hackt, streicht,
stampft, den erstlich kein anderer neben ihm pfeift, hackt, streicht,
stampft und den er zweitens selber von Minute zu Minute um-
bessert. »Und wenn aucn das nicht ware, « sag* ich, »so ist doch
wahrer musikalischer Ausdruck im OberfluB da; jeder driickt
darin seine Empfindungen, die der Verlegenheit, des Erstarrens,
auf seinem Instrumente aus; und Backs Regel, Dissonanzen stark
und Konsonanzen schwach vorzutragen, weiB in einem Saale
10 jeder, wo die Konsonanzen so sanft eingeschmolzen werden, da 6
man fast keine hort und nur die Dissonanzen zu vernehmen
meint.«
Am andern Morgen flog ich unfrisiert zum Rittmeister und -
daichden gutenKleinenumkeinenniedern Preis erhaltenkonnte-
brachte ihn ganz ans erste Ziel seiner Reise hinan, namlich das,
einen Hofmeister mitzubekommen. Man muB nicht denken, daB
ich Informator geworden, um Lebensbeschreiber zu werden,
d.h. urn pfiffigerweise in meinen Gustav alles hineinzuerziehen,
was ich aus ihm wieder ins Buch herauszuschreiben trachtete;
20 denn ich brauchte es erstlich ja nur wie ein Romanen-Manu-
fakturist mir bloB zu ersinnen und andern vorzuliigen; aber
zweitens damals wurde an eine Lebensbeschreibung gar nicht
gedacht.
Mir ist weit weniger daran gelegen, meine scheerauischen Ver-
haltnisse bekannt zu sehen, als der Welt; denn ich kenne sie schon.
Aber die Welt nicht. Ich formierte eine Dreieinigkeit von Per-
sonen da: ich war Klaviermeister, Rechtskonsulent und Welt-
mann. Drei narrische Rollen! - Ich studierte in der Stadt, die
sonst die groBten Juristen und jetzo die kleinsten Hunde liefert,
30 in Bologna, zwei ganz entgegengesetzte Lieferungen, wie Paris
sonst die Universitat aller europaischen Theologen war, jetzo der
Philosopher In Paris war ich auch, hatte auch da ein geschxckter
Parlamentsadvokat werden konnen; ich wollt* aber nicht und nahm
nichts daraus mit (so wie aus Bologna und aus einigen deutschen
Reichsstadten) als die schwarze juristische Kleidung, die ihren
Grund hat; denn da unsere Klienten uns ernahren und bezahlen
I08 DIE UNSICHTBARE LOGE
und mehr Recht und Not als Geld behalten: so trauern wir Pa-
tronen um sie schwarz; hingegen bei den Romern legten die
KHenten, die mehr bekamen als gaben, fiir den Patronus, wenn es
ihm schlimm erging, Trauerkleider an.
Zweitens war ich Klaviermeister, aber vielleicht kein gesetzter;
denn ich verliebte mich im ersten Quartal in alle meine Schiile-
rinnen (fiir Schiiler dankte ich) und richtete mich nach meinen
Stunden mit meinen Empfindungen. Ich hegte wahre Zartlkhkeit,
erstlich gegen eine Dame von Rang, die ich nie kompromittieren
werde - zweitens gegen ihre Schwester, eine Abtissin, weil sie 10
GeneralbaB bei mir lernte - drittens gegen *** - viertens gegen
die Hofkaplanin, die zwar hektisch, aber geschmackvoll ist und
die eher zu viel als zu wenig Zieraten an (nicht auf) dem Klaviere
liebte und es auf das schonste wichste, iiberzog und aufstellte —
fiinftens in die Residentin von Bouse, die gar nicht einrrial die
Sache weiB und an deren Hiiften und Reizen ich ordentlich vor
Bewunderung dumm wurde, bis ich zum Gluck ihre allgemeine
Koketterie und ihre Untreue gegen ihren Inkognito-Liebhaber
verspiirte - sechstens in den ganzen Scheerauer Hof, wo ich nach
dem Recht der toten Hand den Empfang einer lebendigen Hand, 20
die eine Schiilerin der meinigen werden wollte, fiir eine Investitur
zum ganzen Herzen und Vermogen ansah - siebentens sogar in
ein wahres Kind, in Beata (die obgedachte Tochter von Roper),
fiir welche ich alle Wochen einmal bei schlechtem Wetter und
ebenso schlechtem Honorar aufs Land lief und bei der an gar
nichts anders zu denken war als an Liebe- kurz in alles, in Laub-
knospen, Bliitknospen, Bliiten und Friichte verschieBet sich ein
Mensch, der ein Klaviermeister ist.
Nun kommt der Weltmann. Ich kann mich zwar meinen Lesern
(wovon ich mir die Volkmenge und richtigere Tabellen wiinschte) 30
nicht personlich zeigen; aber die Scheerauer, denen dieses Blatt
vorkommt, werden hier aufgefordert, ihre Gedanken zu sagen und
abzuurteln, ob ein Mann, der der groBen Welt taglich drei Kla-
vierstunden gibt, mehr ihr Lehrer als ihr Schiiler ist. Anstand,
Gang, geschmackvoller Anzug, Attitiiden, steilrechte,waagrechte
und quere, sind zwar nicht die geforderten Vorziige des Autors,
DREIZEHNTER SEKTOR IO9
obwohl cles feinen Gesellschafters, unci konnen nicht gedruckt
werden; aber ich verfechte nur so viel: bloB an einem Hofe lernt
mans, zumal bei einigem EinfluB, und wenn man mitspielt, es sei
am L'hombretisch oder am Klaviertisch 1 , der, wie manche Brust
am Hofe, unter der stummen Holzplatte ein holdes Saitenspiel
verbirgt. Wenn man freilich wieder in seinem Museum auf- und
abgeht, unter groBen Biichern und groBen Mannern, begleitet
von der ganzen republikanischen Vergangenheit, emporgerichtet
zur tiefen Perspektive der unendlkhen Welt hinter dem Grabe :
10 so verachtet selber der Inhaber seine Konchylien-Vorziige; er
fragt sich: gibt es nichts Bessers als iiber seinen Korper (anstatt
iiber Leidenschaften) Herr zu sein und ihn so leicht zu tragen wie
nach den drei ersten Glasern Champagner - seinen Ton in den all-
gemeinen Ton hineinzustimmen, weil an Hofen und Klavieren
keine Taste iiber die andre hinausklingen darf- auf dem diinnen
schaukelnden Brette der weiblichen Launen so fliegend wegzu-
eilen, daB unsere Tritte die Schwankungen bloB begleiten — schon
zu tanzen und zu gehen, soweit es mit einem langen Bein tunlich
ist (denn freilich wenn ein Klaviermeister mit einem Kurzbein zu
20 kampfen hat: so mag der Henker auf beiden so zierlich aufstehen
wie der Prinz von Artois) - kurz alien Verstand zu Narrheit zu
sublimieren, alle Wahrheiten zu Einfallen, alle Kraftgefiihle zu
pantomimischen Nachaffungen? Nichts Bessers, fragt der
Laufer im Museum, gibt es? -
- Etwas viel Bessers gibts: ein Informator zu werden in Auen-
thal bei so einem Himmel-Kinde, wie Gustav ist, und den ganzen
Spuk drucken zu lassen. -
Dreizehnter Sektor
Landestrauer der Spitzbuben - Scheerauer Fiirst - furstliche Schuld
50 Der Kronprinz, auf dessen Zahlen der Rittmeister wartete, war
noch auf der auslandischen KunststraBe, von der er auf den Thron
1 Ich meine ein in die Gestalt eines Tisches verstecktes Klavier.
DIE UNSICHTBARE LOGE
wie auf cinen Turm hinauffuhr. Drei arme Spitzbuben hielten
ihren Einzug noch fruher als er. Es kann erzahlet werden : Sekdem
Tode des Hochstseligen — der Papst ist der Allerseligste - wurde
eine Kirche um die andre im Scheerauischen nicht ausgestohlen,
sondern ausgekleidet; die Kirchendiebe schalten bloB das Land-
trauertuch, das unsere Kanzeln und Altare anhatten, wieder ab.
Die Kirchner und Kantores fanden alle Morgen skalpierte heilige
Statten, und die Pfarrer muBten darin stehen in dem Friihgottes-
dienst. Nun hatte neulich der Geldgreifgeier, Kommerzien-Agent
Roper, in der MauBenbacher Kirche Altar und Kanzel am BuB- 10
tage mit einem Frack von schwarzem Tuch — buntes war ihm
nicht heilig und wohlfeil genug - iibersohlen lassen. Diese
schwarze Emballage blieb daran als Landtrauer. Der alte Roper
hatte mithin wenig Schlaf mehr, weil er besorgte, die Kirchen-
Greifgeier zogen dem MauBenbacher Altar das Ehrenkleid aus
und nahmen den mit silbernen und seidnen Lettern aufs Tuch
genahten Schuldschein mit, welcher besagte, wer alles herge-
schenkt.SeinGerichthalteriTo/^demeinDiebfang Zobelfangund
Perlenfischerei ist, umgab daher die Kirche mit allerlei Falken-
augen; es ware auch nichts gewesen, wenn nicht der Falkenber- 20
gische Bediente Robisch am Sonntage abends, sobald die Kirche
zugeschlossen war, zum. Schulmeister gesagt hatte : »er solle sie
zulassen, er habe die Kirchleute gezahlet, und drei waren nicht mit
herausgegangen.« Kurz man blockierte den Tempel bis nachts
und - zog gliicklicherweise drei versteckte Tuchkorsaren aus dem
Andachtorte heraus. Am Morgen erstaunt alles, die drei Kirch-
ganger fahren auf einem Leiterwagen zum Scheerauer Tor hinein
und haben samtlich schwarie Rocke und Unterkleider an - abends
sind sie verschwunden. Fur den Hof (wenn er nicht noch ge-
schlafen hatte) wars ein haBHcher Prospekt,dafi eine Rauberbande 30
so gut wie er Hoftrauer angelegt und sich deswegen die Trauer-
garderobe aus Kirchen gestohlen hatte.
»Henken sollte man dich,« sagte derRittmeister zu seinem Kerl -
»arme Diebe ins Ungliick zu bringen, die keinem Menschen etwas
nehmen, sondern nur Kirchen.<< - »Aber fiir solche Schufte« (sagt'
ich) »gehort doch auch keine Hoftrauer, schon des Aufwands we-
DREIZEHNTEU SEKTOR 1 1 1
gen. Warum darf man iiberhaupt nicht seinen leiblichen Vater 1 ,
aber wohl den Landesvater betrauern? - Oder warum verstattet
die Kammer den Landeskindern noch das Weinen, da doch das
die Tranendriisen des Staats erschopft und da die Tranen noch
steuerfrei sind?« -
»Sie greifen zu weit,« sagte der Rittmeister;»gerade so wiebis-
her muB die zeitige Regierung bleiben, wenn sie sich von alien
vorigen durch die Sorgfalt auszeichnen soil, womit sie iiber unsern
Flor, iiber alle unsere Pfennige und Pulsschlage wacht.«
io »Die Negermarketender« (sagte der Doktor, aber unpassend
genug) »wachen noch mehr; denn einen Sklavenhandelsmann
kiimmert die UnpaBlichkeit eines solchen Stuck-Menschen oder
Sklaven mehr als seiner Frau ihre. Sogar Bewegung und Tanz
soil sein menschlicher Viehstand haben, und er priigelt ihn dazu.«
»Ackerbau,« (fuhr er fort) » Handel, Fabriken, Volksreichtum
und Volkswohlleben sogar, kurz die Korper der Untertanen kann
der schlimmste Despot erheben und nahren - aber fur ihre See/en
kann er nichts tun, ohne alles wider seine zu tun.« '
Ich bin oft auf den Gedanken gefallen, ob nicht die Trauer-
20 ordnungen oder -abordnungen haben wollen, daB der pfifflge und
traurige Staatsburger die Erlaubnis der Landtrauer beniitze und
seine Haustrauer mit ihr zusammenwerfe. Konnt' er nicht seinen
Einzelkummer iiber die Sterblichkeit seiner Tanten, seiner Vettern
auf heben, bis ein allgemeiner einfiele, und so, wenn das Land den
Kondolenzflor um Arm und Degen gewickelt hatte, alles in Pausch
und Bogen wegtrauern und sich hinter dem namlichen Flor iiber
eine Landsmutter und eine Stiefmutter betriiben? Hofen war's
leicht. Ja konnten diese nicht in der Landestrauerihre Sippschaft
gar voraus betrauern? Konnte man iiberhaupt nicht die ganze
30 Narrheit bleiben lassen? -
Mein neuer Landesherr stieg endlich aus dem Reisewagen auf
den Thron und verwechselte den Kutschenhimmelmit dem Thron-
himmel. Der Rittmeister hielt vor der Kronung eine Bittschrift
bereit, worin er so trotzig wie ein Sattler sein Geld verlangte;
1 Im Scheerauischen war clamals, wie in noch einigen Staaten, den Unter-
tanen alle Trauer verboten.
DIE UNSICHTBARE LOGE
nach der Kronung hatte der Fiirst wie ein Demant so viel Feuer-
glanz aus seiner Krone und seinem Zepter eingeschluckt, daB sein
Glaubiger vom Gerichthalter ein neues Memoriale machen lieB
und bloB urn die Zinsen anhielt. Da er nichts bekam, nicht einmal
eine Resolution: so wollt* er mehr fordern. Denn er bedachte
nicht, daB unsere regierende Brotherrn in Scheerau selten Geld
haben. Wenn wir auBerordentliche Gesandtschaften bekommen
oder senden, wenn wir taufen oder begraben lassen, der Kriege
gar nicht zu erwahnen : so haben wir wenig oder nichts als - Ex-
trasteuern, diese metallischen Stiitzen und Klammern des miirben 10
Thrones. In dem Kammerbeutel deuten wir, wie in der Heraldik,
das Silber durch leeren Raum an.
Aber dem Schuldner und Glaubiger war bald geholfen. Letzter,
der Rittmeister, marschierte als Cicerone mit seinem Gustav durch
das Kadettenhaus und zeigte ihm alles, um ihm alles zu loben, weil
er mit seinem Kopf einmal in einen Ringkragen hinein sollte -
als der junge Fiirst auch ankam und auch alle Gemacher besah,
nicht um alles wieder auf dem nachsten Sattel zu vergessen, son-
dern um gar nichts zu bemerken. Es tat mir leid - denn ich war
auch mitgekommen -, daB jeder Professor sich darauf verlieB, 20
der Regent zahle, wenn nicht jedes Haar auf seinem Haupte, doch
jede Locke an seiner Periicke; denn er wurde nicht einmal meiner
und meines Anstandes ansichtig; aber ganz naturlich, da ihm ein
solcher Anstand in den feinsten Salen aller Lander schon etwas
Altes geworden war. Er trug - denn wie lang* war er vom Reisen
heim? - den Fiirstenhut mit der Ungezwungenheit eines Damen-
hutes; keine lange Regierung hatte noch die Krone finster herein-
gedriickt, und die geracten Menschen brachen sich in den Medien,
Feuchtigkeiten und Hauten seines Auges noch nicht zu krummen
Baugefangnen. Seine Worte bot ef mit der Freigebigkeit eines 30
Weltmanns noch wie Schnupftabak herum. Endlich erhielt auch
Falkenberg eine Prise. Ich sehe meine beiden Prinzipale noch
gegeneinarider stehen - meinen adeligen und verborgenden Prin-
zipal mit dem festen, aber gehorchenden Anstande eines Soldaten,
in Embonpoint und aufquellende Muskeln gedriickt, und mit dem
leichtglaubigen Wohlwollen, das gutmiitige Menschen fur jeden
DREIZEHNTER SEKTOR 1 1 3
hegen, der gerade mit ihnen spricht - den gekronten und insol-
venten Prinzipal aber mit dem malerischen Anstand, worin jedes
Glied sich in den andern hinein verbeugt und worin selbst die
Stellung eine fortdauernde Schmeichelei ist, mit einem vielblatte-
rigen Faltenwurf im lahmgespannten Gesicht, mit einer Gefallig-
keit, die weder verweigert noch halt. Meine Pate sah die allge-
meine Gefalligkeit des Krontragers fur eine ausschlieBende gegen
sich an ; sie dachte, er tue seine Fragen, um eineAntwort zu haben;
und als vollends mein gnadigster Fiirst und Landesherr geauBert
10 hatten: »der kleine Gustav sei kier an seiner Stelle, er interessiere
durch sein air de reveur starker, als man sich selber die Rechen-
schaft zu geben wisse, und man wiirde ihn, sobald er fiir diese
ZimmergroB genug ware, dem Vater mit 13000 Rtlr. Handgeldab-
kaufen«: so war der Rittmeister auBer sich, oder vielmehr aus sei-
ner Bitte; seine Bittschriften wurden Dankadressen; sein Wunsch
war, daB ich schon acht Jahre Hofmeister bei ihm gewesen ware ;
seine HofTnung war, das Geld komme nach; und der wahre Vor-
teil war, daB der Sohn ins beste deutsche Kadettenhaus kame.
Man tut mir keinen Gefallen, wenn man ihn auslacht. Freilich
20 schwur er auf seinem Schlosse, »Hof leuten traue er keine Hand
breit und die ganze Nation stink* ihn an«; hingegen solchen Hof-
leuten, mit denen er gerade zu tun hatte, traut* er mehr - allein
militarische Unwissenheit der Rechte ist bei ihm an vielem schuld;
wie soil er als Soldat wissen, daB ein Fiirst zu keiner Bezahlung
verbunden ist? - Vielleicht ists nicht einmal alien Lesern so be-
kannt, als sie vorgeben werden. Ein Regent braucht aus drei
Griinden nicht einen Heller zu bezahlen, den er seinen Landes-
kindern abgeliehen (borgte sein Herr Vater : so versteht sichs von
selber). Erstlich: ein Gesandter, er sei vom ersten oder dritten
30 Rang, stieBe die altesten Publizisten vor den Kopf, wenn er seine
Schulden abtruge; nun kann er, der ja der bio Be Reprasentant
und die abgedriickte Schwefelpaste des Regenten ist, unmoglich
Rechte haben, die dem Urbilde abgehen, folglich wird nicht be-
zahlt. Zweitens: der Fiirst ist - oder wir diirfen unsern akade-
mischen Nachmittagstunden kein Wort mehr glauben - der wahre
summarische InbegrifFund Reprasentant des Staates (wie wieder
1 14 DIE UNSICHTBARE LOGE
der Envoye ein Reprasentant des Reprasentanten ist oder ein
tragbarer Staat im kleinen) und stellet folglich jedes Staatsglied,
das ihm einen Kreuzer leihet, so vor, als wenn ers selber ware;
mi thin leihet er sich im Grunde selber, wenn ein solches zu seinem
reprasentierenden Ich gehoriges Glied ihm leihet. Gut! man ge-
steht es; aber dann gestehe man audi, daB ein Fiirst sich so lacher-
lich machen wurde, wenn er seinen eignen Landeskindern wieder
bezahlen wollte, als sich der Vater des Generals Sobouroffmachte,
der die Kapitalien, die er sich selber vorstreckte, sich ehrlich mit
den landesublichen Interessen heimzahlte uhd sich nach dem 10
Wechselrecht bestrafte. Woher kam' es denn als aus der Ver-
wandtschaft mit dem Throne und dessen Rechten, daB sogar
GroBe im Verhaltnis ihres Standes und ihrer Schuldenmasse fal-
lieren durfen? Oder warum ist ein gerichtliches Konsens- oder
Hypothekenbuch der richtigste HofadreBkalender oder almanac
royal? -
Drittens: der geflickteste Untertan kann sich von seinem Fiir-
sten Anstandbriefe oder Moratorien verschaffen; wer soil sie aber
dem Fiirsten geben, wenn ers nicht selber tut? Und tut ers Ge-
wissens halber nicht: so kann er sich doch wenigstens alle funf 20
Jahre ein erneuertes Quinquetmell bewilligen.
Einen vierten Grund wiiBt' ich aber nicht.
VlERZEHNTER SEKTOR
Eheliche Ordalien - funf betrogene Betriiger
Einen Hofmeister hatte Falkenberg also jetzt und die Hoffnung
der 13 000 Rtlr. und eine Kadettenstelle fur seinen Sohn - Rekru-
ten braucht' er nur noch. Auch diese fiihrte ihm und seinen Un-
teroffizieren der Maulwurfs-Moloch Robisch reichlich zu; ich weiB
aber nicht, was die Kerle wollten, daB sie, wenn Robisch seinen
Kuppelpelz und sie ihr militarisches Patengeld hatten-mit letztem 30
meistens davongingen. Im MauBenbacher Wald fielen Diebe den
Transport an, und nach dem Ende der Schlacht wareh Feind und
VIERZEHNTER SEKTOR 1 1 5
Transport vora Schlachtfelde geflohen. Den Rittmeister druckt*
es sehr, weil er, der fur sich und seine Familie nicht die niitz-
lichste Ungerechtigkeit beging, zuweilen auf dem Werbplatz
eine kleine verstattete.
Dem stillen Gustav machte der laute Stadtwinter die langsten
Stunden. Er sah keine weiBe Kopf binde und kein schwarzes Lamm
vorbeitragen, ohne auf einem Seufzer hinuber zu seinem zauberi-
schen Wall und unter seine Sommerfreuden zuriickzufliegen.
Wenn ihn die ungezogne Nachkommenschaft Hoppedizels fiir
10 dumm hielt, weil er nicht listig, fiir stolz, weil er nicht laut war:
so stillte er das Bluten seines Innern, das verlacht und geneckt
wurde, mit dem Gedanken an die Menschen, die ihn geliebt hatten,
an seinen Genius und an seine Schaferin. Um seinen Amandus
hatt' er so gern eine andere als Hoppedizelische Nachbarschaft
gehabt, so gern die Fluren und den freien Himmel seiner Heimat!
- Er liebte das Stille und Enge neben sich und das UnermeBliche
in der Natur. O wenn du bei mir bist, Trauter, wie will ich dich
schonen und lieben ! Dein Auge soil nie triibe neben meinem Lehr-
stuhle werden, dein Herz nie schwer ! Du zarte Pflanze sollst nicht
20 mit einschneidendem Bindfaden um mich wie um eine richtende
Hopfenstange geschniiret sein, sondern mit lebendigen Efeu-
wurzeln sollst du selber mich als etwas Lebendiges umfassen !
Oberhaupt hatte man im Hoppedizelischen Hause ein ver-
dammtes Hundeleben, wie ich selber oft sah, wenn ich und der
Hausherr einander iiber die ersten Prinzipien der Moral bloB mo-
ralisch bei den Haaren hatten : denn alles hatte da einander dabei,
aber physisch, ein Hund den andern - die Knaben die Madchen -
die Dienerschaft einander - die Herrschaft die Dienerschaft - der
Professor die Professorin, wovon ein merkwiirdiges Faktum ab-
jo gedruckt werden soil - und alle diese einander wechselseitig nach
der Vermischrechnung. - Zum Ungliick hatte Hoppedizel nie Ach-
tung fiir irgendeinen Menschen (mithin Verachtung auch nicht) ; er
borgte alles, besudelte alles, kompromittierte jeden, verzieh jedem
und zuerst sich. Im Winterquartier des Rittmeisters waren die 61-
farbigen Tapeten (Elle zu 24 Gr.) eine spanische Wand zwischen
des Rittmeisters leerem Raum und zwischen der Wanzen Wand-
Il6 DIE UNSICHTBARE LOGE
spalten; cler Ofen war gut, aber wie der Babylonische Turm ohne
Kuppel; die Zimmerdecke drohte (wiewohl glcich manchen
Thronhimmeln schon lange ohne Schaden) einzubrechen undden
groBten Philosophen die Kopfe einzuschlagen, die von Stein auf
dem Spiegeltischestanden. Er hatte oftdarumwenigZartheitfiir
die Leute, weilersichdaraufverlieB, daB sie deren zu viele hatten,
urn die Unsichtbarkeit der seinigen zu rtigen - in Unterscheerau
machen wirs nicht anders. Aber nun kommt der Zufall, der uns
alle eher daraus wegtrieb.
Der Professor hatte namlich, wie die meisten Leute, keinen 10
Geschmack in Mobeln; am liebsten stellte er die besten unter die
elendesten, die feinste PiBvase unter ein GroBvaterbett und
gegeniiber einem sandigen WaschgefaB, eine geputzte Livree sei-
nes Bedienten hinter versaumten Anzug seiner Kinder u.s. w. Nun
beging er allemal einen Friedensbruch an seiner Frau dadurch, daB
er nie leer heimkam; er hatte immer etwas erhandelt, das nichts
taugte; er hatte die Schwachheit unzahliger Manner, sich weiszu-
machen, er verstande die Haushaltkunst so gut wie die Frau, wenn
er nur anfangen wollte - Sachen, die man lange treiben sieht,
glaubt man zuletzt selber treiben zu konnen - Sie hatte die 20
Schwachheit unzahliger Weiber, sich vorzuschmeicheln, der Ehe-
herr sei ein wahrer Ignorant im Haushalten und konn' es nicht
einmal erlernen, wenn er auch wollte. »Red* ich in deine Biicher-
sachen auch?« fragte die sehr grob verkorperte Professorin. Man
konnt' es also bei jeder Mobelversteigerung oder auf jedem Jahr-
markt in einer Kalenderpraktika neben den Kriegen der groBen
Herren prophezeien, daB hier ein kleiner zwischen dem Ehepo-
tentaten und der andern feindlichen Macht ausbrechen werde;
weil diese seinen Kommerzien-Traktat nicht leiden konnte; das
Ehepaar feierte dann seine olympischen Spiele der Zunge und 30
Hande und konnte die Zeitrechnung der Ehe nach diesen Olym-
piaden abteilen.
Weiter! Unser neue Regent lieB - da das Volk in Italien den
Palast des verstorbnen Papstes und Doge gratis erhalt - die Mo-
beln seines Herrn Vaters um Weniges versteigern; er tats wie alle
Kronprinzen aus Achtung gegen ihn, damit das Volk ein Anden-
VIERZEHNTER SEKTOR 1 17
ken vom Seligen, wic das romische die Garten von Casar, erben
konnte. Der Professor wollte auch erben und erstehen. Er bot
also zum Besten des Rittmeisters, in dessen Zimmer die Kommode,
der Spiegel und die Sessel jammerlich waren, nicht auf diese drei
Dinge, sondern auf drei benachbarte - auf zwei schone Bronze-
Vasen mit Ziegenkopfen und Myrtenblattern fur die elende Kom-
mode, auf einen gerad- und spitzbeinigen Spiegeltisch unter den
elenden Spiegel, auf eine prachtige Bergere zwischen die elenden
Sessel. Es wurde ihm zugeschlagen. Sein erstes Wort, als er aus
io dem Auktionzimmer in seines trat, war an seine Frau: »Ist der
Rittmeister droben? - Ich nab' schone Dinge fur ihn erstanden.«
Jetzo sang sie schon den ersten Vers ihres Kriegliedes, ohne ein
Kaufstiick noch zu kennen. Er nannte ihr keines; denn er hatte
das groBte Ungluck eines Ehemannes, namlich Verachtung gegen
seine Frau, so wie sie hingegen ihm gegen alle Menschen, sogar
gegen die besten, beitrat, auBer gegen sich nicht. Unter dem Ab-
holen der Kaufstucke antwortete er auf den ersten Vers des Krieg-
gesanges und nannte doch keines; und so antiphonierten sie bloB.
Endlich wurden die Ziegenkopfe und Spitzbeine ins Haus gesetzt.
20 Da ging das Krieggeschrei los: »Das ist dumm, dumm, dumm!
Ei du dummer Mann du! das Zeug! den Bettel! wo waren heute
deine funf Sinne? Ich bezahle keinen Deut.« (sie war ohnehin nie
Kassierer) »Und so teuer! Aber wenn man Kinder und Narren zu
Markt etc.« Er sagt ganz kalt: »Lasse nur nichts drankommen und
schaffes hinauf zum Rittmeister, mein Schatz!«Sie gehorchte den
Augenblick; ging aber in seine Stube und offhete alle Schleusen
ihres rauschenden Zorns. Spat unter diesem Rauschen sagt* er end-
lich drohend : »Du weiBt, Frau !....« Nun wurde in ihrem Munde
aus dem Wind ein Sturm. Er war kein Mann, den Zorn oder
30 irgendeine Leidenschaft fortrissen, sondern ein echter Stoiker war
er und immer bei sich; daraus lasset sichs erklaren, warum er, da
Epiktet und Seneka Stoikern den verbotnen innern Zorn durch
den auBern Schein desselben zu ersetzen raten, um die Leute zu
bandigen, sich sogar dieses zornigen Scheins befliB und gelassen
seine Faust petrifizierte und diesen Knauf als eine Leuchtkugelauf
diejenigen GHedmaBen seiner Gattin warf, die ohne Licht in der
Il8 DIE UNSICHTBARE LOGE
Sache waren. Dieser stumpfe Wilsonsche Knopfableiter ihrcs
Zorns zog erst die groBten beredten Funken aus ihr herv'or; und
in der Tat ists in der Ehe wie in den alten Republiken, die (nach
Homes Bemerkung) nie groBere Redner trugen als in stiirmenden
kriegerischen Zeiten. Er machte das Sinnliche bloB zum Fahr-
zeug des Geistigen und begleitete seine Hand mit ausgewahlten
Bruchstiicken aus Epiktets Handbuch: »Ich bin wahrlich ganz bei
mir;« (sagt' er) »aber du schreiest gar zu sehr, wenn ich michnicht
dreinschlage.« Sein weltlicher Arm bewegte sich auf ihr fort. »Ich
fahre immer fort« (fuhr er fort) - »inzwischen danke Gott, daB 10
dein Mann so viel Gelassenheit hat, daB er alles abwagen kann,
was er tut.« Sie wurde nicht eher kalt, als bis er hitzig wurde;
dieses merkte sie daraus, wenn er wie Sokrates stumm wurde und
seine Hand mit seiner herabgerissenen Schlafmiitze bewaffhete
und befliigelte. So heiB ihr vor seinem einschlagenden Gewitter
seine stechende Sonnenfreundlichkeit vorkam: so unangenehm
kalt war ihr nach demselben sein Gewolke; kurz beide spielten
vor und nach dem Kampfe umgekehrte Rollen. Diesesmal traf
ihr Zorn eine Wetterscheide an und zog sich ganz iiber den, der
unter den ziegenkopfigen Vasen auf der Bergere saB, auf den 20
Rittmeister. Dieser lieB auf die erste Zeitung dieses ekelhaften
Kriegessein WintergerateinScheeraueinpackenund das Sommer-
gerate in Auenthal auspacken und ging - zwar.
Aber er ware beinahe geblieben.
Obrigens wiinsch* ich dieses geschilderte schlagfertigeEhepaar
mit seinen Ehe- und Schiagringen nicht zu sehr von der feinern
Ehewelt, die sich nie ausprugelt, verachtet zu sehen; denn wahr-
lich die atzenden Giftworte, die das raffinierte Ehepaar einander
zutropfelt, das verhaltene, wie ein Blasenpflaster ziehende Kran-
ken, womit sie einander wund und heil machen wollen, reiBet die 30
Wunde bloB tiefer unter der Haut und macht zwar nicht den
Chirurgus, aber wohl den Doktor notig.
Jetzt will ich berichten, warum der Rittmeister beinahe ge-
blieben ware.
Hoppedizel hatte auBer ihm an einem Nachmittag fiinf Leute
bei sich, den Gerichthalter Kolb, den FloBinspektor Peuschel,
VIERZEHNTER SEKTOR 119
einen alten Karmenmacher, einen Hofzimmerfrotteur und einen
Hof junker; denn was wird der Leser nach Zunamen dieses Volks
fragen? Er zog erstlich den Gerichthalter beiseite und sagte zu
ihm: »heute sol'lt' er einen SpaB machen und den vier andern
Herren mit gefarbtem Wasser, das sie fur Weinhielten,zutrinken,
damit diese sich in wahrem Wein bes6ffen.« »Recht gut!«
sagte der Gerichthalter, »sie sollen alle an den Gerichthalter ge-
denken.« Das namliche sagte der Professor dem FloBinspektor,
dem Karmenmacher u.s.w. ; alle antworteten : »Recht gut ! siesollen
10 alle an den FloBinspektor, an den Karmenmacher u.s.w. geden-
ken.« Jeder wollte vier Mann zum Narren haben; der Professor
wollte fiinf Mann dazu haben - alien gelang es.
Abends wurden fiinf Korbe gefarbtes Wasser ins Zimmer ge-
tragen; jeder riickte hinter sein Schenktischchen und schraubte
den Korkstopsel vom Quasi- Wein ab. Die ersten Flaschen Bou-
teillenwasser wurden still von der Gesellschaft eingesogen ; wahre
Pfiffigkeit muBte der Lust- und Wasserpartie diesen Schein
stufenweiser Berauschung vorschreiben.
Nun aber hob das Sonnensystem sein Wasseriieken an. »Der
so Wein konnte starker sein«, sagte jeder und wollte jeden betriigen.
Der Gerichthalter mit rosenroter Nasenknospe spritzte seinen
Kadaver statt des Spiritus mit mehr Wasser aus, als er in seiner
ganzen Ewigkeit a parte ante selbst getrunken oder gep.ss. t, oder
aus fremden Augen gedriickt. Ein Mensch, der so wasserhaltig
wie er wird, daB er sich schwer aufrecht erhalt vor Niichternheit,
macht andern Trunkbundnern leicht glaublich, es sei vor Be-
trunkenheit; und alle lachelten sehr, da er lachte.
Der FloBinspektor Peuschel leitete einen ganzen Wasserschatz
in den Magen und machte seine Blutadernzu Wasseradern; aber
30 er argerte sich halb, daB er die andern mit seinem Schein-GesdfT
betriigen muBte, und sehnte sich heimlich statt der verstellten Be-
trunkenheit nach echter.
Der Zimmerfrotteur mazerierte und laugte sich im Grunde
durch das geschminkte Wasser aus und ersaufte beinahe sein gal-
lisches Obel - so schluckte der Schadenfroh.
Dem Hof junker, der sich fast den Magen entzweisoff, schlugs
120 DIE UNSICHTBARE LOGE
schlechter zu ; drei Tage nachher schmolz er an einer incontinentia
urinae hin. - BloB durch den zellulosen Karmenmacher fuhr eine
ganze aufgefarbte Siindflut ohne Schaden glatt hinein und hinaus;
er sah aber munter und satirisch herum und lauerte darauf, wenn
sein Nachster hinter den vier Tischen besoffen ware.
Etwan eine flammende Scheune ware mit ihren Walfisch-Be-
scheiden zu retten gewesen.... Nun kam die Zeit, da jeder be-
trunken scheinen muBte, wer SpaB verstand - sie diskurierten und
lallten widereinander mit iiberschweppender baumender Zunge -
der Junker und Frotteur streckten sich gar in die Stube als zwei 10
Lagerbaume hin, und ihre bauschenden Unterleiber, sollte die
Welt denken, lagen als Weinschlauche auf den Baumen - der
Amtmann machte die Augen zu, das Maul auf- der Karmenmacher
stellte sich vor, am tollsten und plausibelsten wurd* ers machen,
wenn er erstlich gleich wahren Betrunknen vorschwiire, er sei
niichtern, und zweitens, wenn er so gegen die Bettpfoste um-
sanke, daB er ein wahres Lochelchen kriegte. Er hatte sich auch
glucklicherweise eine Wunde verschafFt, die groBer war als seine
Trunkenheit, und wollte aus Rache mit derNachricht vorbrechen,
er habe die Vierherren zum Narren und bloB Wasser gehabt - 20
der Professor wollte auch alles heraussagen, wie alles und der Wein
ware — die andern wolltens auch und lachten schon samtlich vor-
aus : als zum Ungluck der langst iibersattigte FloBinspektor sich
zum Frotteur abgeschlichen und diebisch statt eines Gegengiftes
und Konfortativs gegen seinen nachgedruckten Wein die vor-
gebliche Originalausgabe desselbengekredenzthatteausdesFrot-
teurs oder Reibers Kelch .... es war auch Wasser darin wie in
seinem - blitzschnell und halbnarrisch kredenzte er die Kelche
aller Wassergotter - in alien war Wasser - da fuhr er mit alien
heraus - und die ganze Marine kredenzte fliegend herum, und 30
jeder sollt' es im Ernste sagen, ob er toll und voll ware. - Leider
war die ganze SpaBbruderschaft niichtern. Der Rittmeister, dem
solche Scherze "lieber waren als Fastnachthuhner, verwandelte
aus Liebe zur Moral die allgemeine Verstellung der Betrunkenheit
in reine Aufrichtigkeit und vollfuhrte es durch echten Wein. Als
nachher das Fiinfeck nach Hause hiipfte und diese funf torichte
VIERZEHNTER SEKTOR 121
Jungfrauen als funf kluge, wiewohl mit der Wasser-Plethora,
heimzogen, so sagt' er: »Bei meiner Seele! so etwas sollte man
drucken lassen,« Und wahrhaftig, hier lasset man es ja
drucken. -
Ich mochte gern von diesem Hoppedizel, eh* ich und der Leser
aus seinem Hause ziehen, ein Medaillon, eine Abschattung zum
Andenken mit uns nehmen; aber es grauet mir vor der Arbeit -
Heber bossier' ich alle Charaktere dieses Werkchens in Papier
oder Wachs als diesen Mann. Sein Charakter besteht aus hundert
io kompilierten Charaktern, seine Kenntnisse aus alien Kenntnissen,
sein Scharfsinn aus Skeptizismus, seine Laster aus Stoizismus,
seine Tugend aus einem System iiber die Tugend und seine Hand-
lungen aus Schnurren, Schnacken und Charakterziigen.
Dennoch oder demnach liebte ihn der Rittmeister, weil er ihn
oft sah (er war fast jedem gram, der ihn nicht besuchte) und weil
beide lustig waren und weil hundertmal Menschen einander lie-
ben, ohne daB ein Teufel weiB warum. Falkenberg hatte sich fur
jeden Freund, selbst fur den, der ihn erst beruckt hatte, mit dem
Behemoth selber geschossen - aus Ehre und Gutherzigkeit* der
20 Professor hingegen zog reine Moral, gleichsam als reine Mathe-
matik, der angewandten weit vor und handelte selten. Man er-
innert sich daher gern an seine schone Selbstandigkeit in Grund-
satzen, die er einmal in Auenthal als Gast bewies, da nachts um
12 Uhr statt des Rittmeisters aus dem aufgeturmten Schnee bloB
der leere Gaul heimkam. - Ein andrer, z. B. der Rittmeister selber,
ware auf demselben Gaule aufgesessen und hinausgeritten, um
den Ausgebliebenen zu suchen und zu retten; allein der Professor
schnauzte nett das Talglicht und setzte sich an die trostlos fort-
weinende Ehefrau - welche schon frtiher bei einem bloBen kurzen
jo Verspaten in jeder Nacht sich abangstigte, ob sie gleich an jedem
Morgen darauf sich ausschalt - und sagte mit Fassung zu ihr:
»sie moge nur weinen, so viel sie wolle, er erlaub* es gern ; es schade
wenig, erleichtere vielmehr das Herz; und wasche dabei die Aug-
apfel ab und breche zu heftiges Licht; die iibrigen Tranen miiBten
ohnehin durch die Nasenhohle in den Schlund und Magen sickern
und dem Verdauen helfen; ihren Mann aber anbelangend, so
122 DIE UNSICHTBARE LOGE
konne das Schlimmste, was ihm zugestoBen, ohnehm nur sein,
daB er erfroren ware; er kenne aber halb aus Erfahrung kein sanf-
teres Sterben als das aus Kalte - denn es sei im Grunde so vie],
als werde man gehenkt oder ersauft; denn man sterbe am Schlag-
fluB.«
Aber, wie gesagt, der Rittmeister liebte und verlieB ihn doch.
FUNFZEHNTER SeKTOR ODER AUSSCHNITT
Der funfzehnte Sektor oder Ausschnitt
Vor der Abreise gab ich alien, besonders der Residentin von
Bouse, die geborgten Musikalien zuriick; und dieser, die mir so 10
viel aus Italien geliehen, lieh ich noch etwas Bessers aus Deutsch-
land, meine Schwester Philippine namlich: diese soil da die kleine
Tochter der Residentin bilden helfen; aber sie wird unter den
zarten Fingern einer solchen talentvollen Dame selber mehr ge-
bildet werden, als sie bildet. Moge sie da nur nie ihr rasches,
zitterhaftes, scherzendes und doch fuhlendes Herz zu einem ko-
ketten umsetzen ! Moge sie ihrer Laura (eben der Tochter der Re-
sidentin) das Joch der koketten Erziehung luften, da das arme
Kind bestandig unter der Glasglocke des Fensters schmachtet,
den Leib unter der Bettdecke in 4 Lot Fischbein einkeilt, die 20
Handchen auch wieder nachts in die Handschuh-Hulsen sperret
und das Kopfchen mit einem Blei an Haaren riickwarts gewohnt.
Bekanntlich lebt die Mutter, die Residentin, eine halbe Stunde
von der Stadt zu Marienhof, im sogenannten neuen SchloB, das
mit einem alten zusammenstoBet> welches, glaub' ich, vermietet
ist.
Aber zu meinem Gefolge in dieser Lebensbeschreibung
stoBen mit jedem Bogen, sen' ich, mehr Leute und machen mir das
Lenken und Schwenken sauerer. Ich wollte lieber, ich war* ein
Reichstand und hatte Millionen zu regieren - und einzunehmen - 30
als hier dieses fatale Menschen-Siebeneck, das mit Miihe in die
rechten Ausschnitte zu treiben ist und worunter ich selber der
FUNFZEHNTER SEKTOR I 23
widerhaarigste bin. Denn mir, als bloBem Lebensbeschreiber,
stehen weder Rekhskammergericht noch Exekuriontruppen gegen
mein Siebeneck bei; war* ich aber ein Reichstand, so taten sie
schon manches - versprechen.
Unsern Abschiedwagen in Scheerau umgab die lustige Kalte
des Professors - das arbeitsame Geschrei seiner Stoikerin - das
zartliche Lacheln des Pestilenziarius mit Iltisschwanzen - das gute
Herz seines Sohnchens, das kaum mit Liigen von Gustav abzu-
schneiden war - und meine dankbaren Erinnerungen an unsicht-
10 bare Stunden, an geliebte Menschen und an alle meine Schulerin-
nen — O daB doch der Mensch hier so viel vergehen sieht, eh'
er selber vergeht
Unterweges weinte Gustav im Wagen immerfort in unsere Ge-
dankenstille hinein; aber der Alte, dem doch selber das Herz so
leicht zerlauft, wurde endlich dariiber toll und sagte zu mir: »Ich
sehe immer mehr, daB mir ihn der Herrnhuter« (er meinte den
Genius) »zu einer Milchsuppe eingeriihrt hat; und wenn Sie ihn
nicht, Herr Hofmeister, ein biBchen kernhaft machen, so wird ein-
mal ein weinerlicher Soldat herauskommen, der kaum zu einem
20 Feldprediger taugt; denn auch der muB manchmal sich auf einen
Kernfluch verstehen.« -
Den Herrnhuter btachte er im Kopfe nach dem Stadtchen Issig,
als folgendes Selbgesprach vor unserem Wagen vorbeiging: »Ich
bin ein Esel und ein rechter Spitzbube von Hause aus, ich eleftder
Schlingel. ich Racker allzumal und verflucht-bekannter alter
Hollenbrand! Sollte man mich denn nicht entzweisagen und bra-
ten, mich Teufel, mich Matz und Vieh!« sagte ein Schulknabe, den
alle Schulkameraden umliefen und beklatschten. »Er sprichw, sagte
mein Prinzipal, »wie eine herrnhutische Bestie, die sich herunter-
30 setzt, um jeden andern noch mehr herabzusetzen.« Aber nicht im
geringsten; ein armer Teufel wars, der Hunger hatteund Humor,
und fur welchen die ganze Schule Brotkrumen und Apfel zusam-
mengeschossen hatte, wenn er ihr den Gefallen tate und auf sich
entsetzlich schimpfte ....
— Schones Auenthal! dein Schnee ist schon weg? -
124 die unsichtbare loge
Sechzehnter Sektor
Erzieh-Vorlegb latter
Da ich meine Pretiosen (Manuskripte warens) und meine Effek-
ten (das Guterbuch derselben war iiber dreiBig Zeilen dick) und
mein Vaterliches und Miitterliches (das war ich selber) in meiner
Wohn- und Schulstube herumgestellet hatte; da ich schon vorher
mit drei langen Schritten an meine Fensteraussicht getreten war,
die in einer Windmuhle, in der Abendsonne und einem Staren-
hauschen an einer Birke bestand : so konnte ich sogleich ein aus-
gemachter Hofmeister sein, und ich durfte nur anfangen; - ich I0
konnte jetzt die ganze Woche ernsthaft aussehen und meinenZog-
ling auch dazu notigen - alle meine Worte konnten Wochen-
predigten, alle meine Gesichter Gesetztafeln sein - ich hatte sogar
zwei Wege vor mir, ein Narr zu sein: ich konnte eineunsterbliche
Seele sich halbtot deklinieren, konjugieren, memorieren und ana-
lysieren lassen im Lateinischen - ich konnte aber auch seine junge
Zirbeldriise in hohere Wissenschaften eintunken und versenken,
so sehr, daB sie ganz aufschwolle und sich groB anschluckte von
Logik, Politik und Statistik - ich konnte mithin (wer wehrte es)
die Beinwande seines Kopfes zu einem diirren Biicherbrett aus- 20
hobeln, den lebendigen Kopf zu einem Silhouettenbrett, woran
sich gelehrte Kopfe abschatten, entzweidrucken; sein Herz hin-
gegen lieB sich verarbeiten aus einem Hochaltar der Natur zu
einem Drahtgestell des alten Testaments, aus einer Himmelkugel
zu einem engen Paternosterkiigelchen der Frommelei, oder gar
zu einer Schwimmblase der Weltklugheit - wahrhaftig, ich konnte
ein Tropf sein und ihn zu einem noch groBern machen....
DichTrauten!DichArglosen,Freundlichen,derdudichmitdei-
nem ganzen Schicksal, mit deiner ganzen Zukunft in meine Arme
warfst! - O es tut mir schon wehe, daB so viel von mir abhangt! - 30
Da aber vom Hofmeister meiner kiinftigen Kinder ebensoviel
abhangt: so will ich fur ihn hier folgende Erzieh-Vorlegblatter
drucken lassen, die er nicht ubelnehmen kann, weil ich den guten
Mann ja noch nicht kenne und nicht meine.
SECHZEHNTER SEKTOR I25
»Mein lieber Herr Hofmeister!
War' ich der Ihrige : so setzten Sie sich gewiB nieder und schrieben
mir folgende recht gute Regeln auf:
Die Naturgeschichte sei das Zuckerbrot, das der Schulmeister
d'em Kinde in der ersten Stunde in die Tasche steckt, um es anzu-
kodern, - so auch Geschichten aus der Geschichte. - Aber nur
nicht komme die Geschichte selber! Was konnte nicht diese hohe
Gottin, deren Tempel auf lauter Grabern stent, aus uns machen,
wenn sie uns zum ersten Male dann anredete, wann unser Kopf
io und Herz schon offen waren und beide die groBen Worter ihrer
Ewigkeitsprache - Vaterland, Volk, Regierform, Gesetze, Rom,
Athen - verstanden! - Was Herrn Schrockh anlangt, der noch
ehrliche Gelehrtenhistorie und reine Waisenhaus-Moral mit bei-
geschaltet, so schneiden Sie mir, Herr Hofmeister, nur nicht aus
seinem Buche die Kupferblatter mit heraus, und am englischen
Einband ist mir auch gelegen.
Geographie ist ein gesundes Voressen der kindlichen Seele;
auch Rechnen und Geometrie gehort zum friihen wissenschaft-
lichen ImbiB; nicht weil sie denken lehren, sondern weil sie es
20 nicht lehren (die groBten Rechenmeister und Differential isten und
Mechaniker sind oft die seichtesten Philosophen) und weil die
Anstrengung dabei die Nerven nicht schwacht, wie" Rechenrevi-
soren und Algebraisten beweisen.
Philosophic aber oder Anspannung des Tiefsinns ist Kindern
todlich oder knickt die zu dunne Spitze des Tiefsinns auf immer
ab. - Tugend und Religion in ihre ersten Grundsatze bei Kindern
zuriickzerspalten, heiBet, einem Menschen die Brust abheben und
das Herz zerlegen, um ihm zu zeigen, wie es schlagt. - Philosophic
ist keine Brotwissenschaft, sondern geistiges Brot selber und Be-
30 diirfnis; und man kann weder sie noch Liebe lehren; beide, zu
fruh gelehrt, entmannen Leib und Seele.
Es gefallet mir, daB Sie selber erklarten, Sie wurden das Fran-
zosische dem Lateinischen, das Sprechen den grammatischen Re-
geln (d.h. den Laufwagen den Theorien von der Muskelbewegung)
vorausschicken und die toten Sprachen spater vornehmen, weil
126 DIE UNSICHTBARE LQGE
sie mehr durch den VerstandzXs durch das Geddchtnis gefasset wer-
den. Latein wird zum Teil darum so schwierig, weil es so fruli-
zeitig vorkommt; im funfzehnten Jahre tut man darin mit einem
Finger, wozu man friiher die Hand brauchte.
Abscheulich ists, daB auch schon unsere Kinder lesen und sitzen
und den SteiB zur Unterlage und Basis ihrer Bildung machen
sollen. Das belehrende Buch ersetzt ihnen den Lehrer nicht, das
belustigende das gesiindere Spielen nicht ; die Dichtkunst ist fur '
ein unbartiges Alter noch zu unverstandlich und ungesund; der
Lehrer, der vorlieset, muB erbarmlich sein, wenn er nicht weit 10
nachdrucklicher spricht. Kurz keine Kinderbiicher!
In ein padagogisches Stammbuch wiirden wir beide schreiben:
Vergeblich tadeln ist schlimmer als gar nicht tadeln - Fehler, die
das Alter nimmt, nehme der Lehrer nicht, der dauerhaftere zu be-
kampfen hat, u.s.w. Ihr Katechismus sei Plutarch und Feddersen
(aber ohne seinen elenden Stil); d.h. keine Moralien, sondern Er-
zahlungen darnach - und noch dazu in keiner besondern Stunde,
sondern zur rechten, damit der Kopf meiner Kinder nicht ein Vo-
kabetnsaahon Moralen, sondern ihr Herz eine durchgluhte/fcta/i-
da der Tugend werde. 20
Da der blode, enge, angstliche Anstand der dummste und un-
natiirlichste ist, so lehren Sie den Kindern den besten, wenn Sie
ihnen keinen befehlen; von Natur achten sie weder silberne Sterne
noch silberne Kopfe — gewohnen Sie ihnen dergleichen nicht ab. ,
Meine groBte Bitte ist - die ich viele Jahre vorher drucken
lassen -, daB Sie der spaBhafteste Mann in meinem Hause sind;
Lustigkeit macht Kleinen alle wissenschaftliche Felder zu Zucker-
feldern. Meine miissen bei Ihnen durchaus nach ihrem Wohlge-
fatlen scherzen, reden, sitzen diirfen. Wir Erwachsene standen
den abscheulichen Schulzwang unserer Abkommenschaft keine 50
Woche aus, so verniinftig wir sind; gleichwohl muten wir es
ihren mit Ameisen gefullten Adern zu. Oberhaupt: ist denn die
Kindheit nur der muhselige Rusttag zum genieBenden Sonntag
des spatern Alters, oder ist sie nicht vielmehr selber eine Vigilie
dazu, die ihre eigne Freuden bringt? Ach, wenn wir in diesem
leeren niederregnenden Leben nicht jedes Mittelfur den nahern
SECHZEHNTER SEKTOR 1 27
Zweck (wie jeden Zweck fur ein entferntes Mittel) ansehen: was
finden wir denn hienieden? - Ihr Prinzipal (ein abscheuliches
Wort!) hat sich auf seine Verlobung ebensosehr gefreuet als auf
seine Hochzeit.
Spielender Unterricht heiBt nicht, dem Kinde Anstrengungen
ersparen und abnehmen, sondern eine Leidenschaft in ihm er-
wecken, welche ihm die starksten aufnotigt und erleichtert. Nun
taugen dazu durchaus keine unlustigen Leidenschaften - z.B.
Furcht vor Tadel, vor Strafe etc. -, sondern freudige; spielend
10 wiirden alle Madchen von Scheerau das Arabische erlernen, wenn
ihre Liebhaber in keiner andern Sprache an sie schrieben als in
dieser synonymischen. Hoffnung des Lobs ist es, das Kindern (das
Lob auBerer Vorziige ausgenomrnen) weit weniger schadet als
Tadel und gegen welches sich keines, am wenigsten das beste,
verstocken kann. Ich will Ihnen hier sagen, was mein eigner Hof-
meister fur Erzieh-Ranke anwandte: er nahte sich ein ZifFerbuch;
in diesem gab er jedem Glied seines Lyzeums (19 waren) fiir jede
Arbeit eine groBe oder kleine Zahl; diese Zahlen erwarben, wenn
sie auf eine gewisse festgesetzte Summe gestiegen waren, einen
20 Adel- und FleiBbrief, worauf man sein Lob mit nach Hause nahm.
Da Belohnungen kraftlos werden, die zu oft oder erst von weitem
kommen: so setzte er auf diese geschickte Art den Weg zur ent-
fernten Belohnung aus taglichen kleinen zusammen. Wir konnten
ferner unsere Zahlen zusammensparen; und Kinder heftet nichts
so sehr an FleiB als ein wachsendes Eigentum (von ZifFern oder
von Schreibbiichern). Solche Zahlen wegstreichen war Strafe. Er
machte uns alle dadurch so fleiBig, besonders mich, daB ich we-
nige Jahre darauf imstande war, eine Biographie zu schreiben, die
noch jetzt gelesen wird.
30 Reden Sie mit meinen Lieben nie kurz, nie allgemein, sondern
sinnlich, und er^ahlen Sie so ausfuhrlich wie Vofi seine Idyllen.
So hab' ich die PoussiergrifFel und Formzeuge an meinem
Gustav gebraucht, wahrhaftig nicht, um ihn seiner Lebensbe-
schreibung, die ich verfaBte, sondern dem Leben anzupassen; ich
wollt* aber, der Henker holte das Menschenherz, das fiir eigne
Kinder nicht tun will, was es fur ein fremdes tat.
128 'die unsichtbare loge
Meine Tochter hingegen, werter Herr Hauslehrer, die altern
sowohl als die jungern, geb* icli Ihnen nicht in die namliche Schul-
stunde - Madchen konnten mit Knaben ebensogut Schlafzimmer
als Schulstube teilen - und in gar keine. Ein Hofmeister, der
Madchen zu erziehen wiafke (und Sie konnens), miiBte so viel
Welt, so viel Weiberkenntnis, so viel Witz, so viel launige Ge-
wandtheit bei ebenso vieler Festigkeit besitzen - inzwischen er-
zieht eine recht gescheite Gouvernante die meinigen: hausliche
Arbeit unter dem Auge einer gebildeten Mutter.
Ehe ich diese geheime Instruktion beschlieBe, merk* ich noch 10
an, daB sie ganz unniitz ist- erstlich fur Sie, weil ein Mann von
Genie auch mit jeder andern Methode allmachtig bleibt, zweitens
fur dealahmen Kopf, weil er Kindern die Geisteskrafte, er mags
machen, wie er will, wie ein alter SchlafgenoB einem jungen die
korperlichen, stets auszehren wird. Ich habe uberhaupt diesen pa-
dagogischen Schwabenspiegel lange vor meinen Kindern in die
Welt vorausgeschickt - mithin gar nicht fur Sie, sondern fur ein
Buch.« -
Namlich fur dieses.
Urn meinem Prinzipal zu zeigen, was ich in der Erziehung ge- 20
tan hatte, sagt* ich so : »Der Superintendent in Oberscheerau hat
einen Wachtelhund, Het^ genannt, den er fiir keine Menagerie
SchoBhunde weggibt. Nun sollte man denken, der Mann, da er
Beichtkinder, eigne Kinder und Weine und indianische Huhner
genug hat, ware gut daran ; aber falsch : Hetz leidet es nicht. Denn
sobald die Suppe auf dem Tische raucht: so umschirTt Hetz den
Tisch, springt in die Hohe - seine Schnauze liegt dann wasserpaB
in einer Ebene mit der Rehkeule - und bilk und stochert mit dem
Kopfe an jedes Knie so sehr, besonders ans geistliche, daB der
Mann seines Orts wie in einem Fegefeuer fortschlucket und haufig 30
nicht weiB, kauet er Zucker oder Salz. Es rettete ihn nicht, daB er
oft den Hund selber anboll; die Radikalkur dagegen aber ware
bloB die, Hetzen nie einen Bissen zu geben. Er hielt es auch oft
tagelang: aber in der nachsten Mahlzeit bewarf er aus Vergessen
oder Unwillen den Plagegeist mit einem Knochen. Dieser einzige
SECHZEHNTER SEKTOR 1 29
Knochen verhunzte den ganzen Hund. Dem Seelenhirten ist, be-
sorg* ich, so lange nicht zu helfen, bis Hetz, der von selbst sich
nicht andert , etwa verreckt. Mir hingegen begegnet Hetz mit Ver-
nunft und Schonung: warum? - Solang ich an jenem Tische aB,
schenkt' ich Hetzen keine Faser, ohne Ausnahme. Auf Hetze und
Menschen wirkt Festigkeit allmachtig. Wer keinen Hund erziehen
kann, Herr Rittmeister, kann auch kein Kind erziehen ; ich wiirde
Hofmeister, welche in mein Brot wollten, an keinen Probierstein
streichen als an den, daB sie mir Eichhornchen und Mause zahmen
10 miiBten : wers am besten verstande, zog* ein, z. B. Wildau wegen
seiner Bienenzahmung.« — Aber meine gnadige Pate lachte nie
herzhaft iiber meine oder Fenkische Scherze; hingegen iiber einen
Hoppedizelischen lachte sie sehr, und doch hat sie uns beide lieber.
Wenn ich noch zwei Erzieh-Idiotismen - wovon der eine ist,
daB ich den Witz meines Zoglings so stark als seinen Verstand
iibte, der zweite daB ich lauter Autores aus Zeitaltern von unedlen
Metal len mit ihm traktierte - in einem Extrablatt werde gerettet
haben: so gehen wir weiter in sein Leben hinein.
Extrablatt
20 Warum ich meinem Gustav Witz und verdorbne Autores zulasse
und klassische verbiete, ich meine griechische und romische?
Ich muB vorher mit drei Worten oder Seiten beweisen ; daB und
warum das Studium der Alten niedersinke 1 und daB es zweitens
wenig verschlage.
Wir sind bekanntlich jetzt aus den philologischen Jahrhunder-
ten heraus, wo nichts als die lateinische Sprache an Altaren, auf
Kanzeln, auf dem Papier und im Kopfe war und wo sie alle ge-
lehrte Schlafrocke und Schlafmutzen von Irian d bis Sizilien in
einen Bund zusammenknupfte, wo sie die Staatsprache und oft die
3° Gesellschaftsprache der GroBen ausmachte, wo man kein Gelehr-
ter sein konnte, ohne ein Inventarium alles romischen und grie-
chischen Hausrats und einen Kiichen- und Waschzetteldieser klas-
1 Diese Bemerkung iiber den Verfall hat seit 20 Jahren, wenn nicht in
Frankreich, doch in Deutschland viel von ihrer Ausdehnung verloren.
130 DIE UNSICHTBARE LOGE
sischen Leute im Kopfe zu fiihren. Jetzt ist unser Latein Deutsch
gegen das eines Camerarius, ders also nicht notig gehabt hatte,
seinen schmalkaldischen Krieg griechisch abzufassen; jetzo wird
selten eine Predigt lateinisch, geschweige -wie sonst griechisch ge-
schrieben und kann also nicht wie sonst ins Lateinische sondern
bloB ins Deutsche iibersetzt werden. In unsern Tagen drangt
keine Frau mehr ihren eingepuderten infulierten Kopf durch das
klassische engeKummet,wenns nicht Hermes' Tochter tun. Dieses
war meinem Leser noch eher bekannt als mir, weil ich jiinger bin -
so wie uns beiden auch das jetzige bessere Kommentieren, Rezen- 10
sieren und t)bersetzen der Alten bekannt genug ist. Nur wuchs
mit dem Werte ihrer Verehrer nicht die Zah! dieser Verehrer; alle
andre Wissenschaften teilen sich jetzt in eine Universalmonarchie
iiber alle Leser; aber die Alten sitzen mit ihren wenigen philolo-
gischen Lehnleuten einsam auf einem S. Marino-Felsen. Es gibt
jetzo nichts als Vielwisser, die alles gelesen haben, nur die Alten
nicht.
Der Geschmack am Geiste der Alten muB sich so gut ab-
stumpfen als der an ihrer Sprache. Ich behaupte nicht, daB man in
den klassischen Papageien-Jahrhunderten diesen Geist besser 20
fiihlte als jetzo; denn Vossius hing am Lukan ? Lipsius am Seneka,
Kasaubon am Persius; ich sage nicht, daB damals ein Faust, eine
Iphigenie, eine Messiade, ein Damokles geschrieben wurden wie
jetzt. Allein ich rede vom jetzigen Geschmack des Volks, nicht des
Genies.
Wenn der Geist der Alten in ihrem geraden festen Gang zum
Zweck bestand, in ihrem Hasse des doppelten dreifachen Man-
schetten-Schmucks, in einer gewissen kindlichen Aufrichtigkeit:
so muB es uns immer leichter werden, diesen Geist zu fiihlen, und
immer schwerer, ihn in unsre Werke zu hauchen; mit jedem Jahr- 30
hundert miissen in unserm Stile die Ein-, Ober- und Rucksichten
mit unserm Lernen schimmernd wachsen; die Fiille unserer Kom-
position muB ihre Riinde verwehren; wir putzen den Putz an,
binden den Einband ein und Ziehen ein Oberkleid iiber das Ober-
kleid; wir miissen den weiBen Sonnenstrahl der Wahrheit, da er
uns nicht mehr zum ersten Male trifft, in Farben zersetzen, und
SECHZEHNTER SEKTOR I3I
anstatt daB die Alten mit Worten und Gedanken freigebig waren,
sind wir mit beiden sparsam. Gleichwohl ists besser, ein Instru-
ment von sechs Oktaven zu sein, dessen Tone leicht unrein und
ineinander klingen,als ein Monochord, dessen einzige Saite sich
schwerer verstimmt ; und es ware ebenso schlimm, wenn jeder, als
wenn niemand wie Monboddo schriebe.
Mit unserer Unfruchtbarkeit an Werken im alten Stil nimmt
zugleich der Geschmack fiir diese Werke zu. Die Alten fuhlten
den Wert der Alten — nicht; und ihre Einfachheit wird bloB von
10 denen genossen, von denen sie nicht erreicht werden, von uns.
Ich denke, aus diesem Grunde : die griechische Einfachheit ist von
der der Morgenlander, Wilden und Kinder 1 nur durch das hohere
Talent verschieden, womit das heitere griechische Klima jene
Simplizitat auszeichnete. Das ist die angeborne y nicht erworbene.
Die kunstltche erworbene Einfachheit ist eine Wirkung der Kultur
und des Geschmacks; die Menschen des i8 ten Jahrhunderts waten
erst durch Slimpfe und GieBbache zu dieser Alpen-Quelle hinauf;
wer aber droben bei ihr ist, verlasset sie nie mehr, und nur Volker,
nicht einzelne konnen von Monboddos Geschmack zu Balzacs
20 seinem herabfallen. Dieser erworbne Geschmack, den das junge
Genie immer antastet und das bejahrte meistens bekennt, mufi
von Messe zu Messe durch die Obung an allem Schonen bei Ein-
zelwesen empfindlicher und scharfer werden: die Volker selber
aber verlieren sich jedes Jahrhundert weiter von den Grazien weg,
die sich, wie die homerischen Gotter, in Wolken verstecken. Die
Alten konnten mithin die natiirliche Einfachheit ihrer Hervor-
bringungen so wenig empfinden, als das Kind oder der Wilde die
der seinigen. Die reinen einfachen Sitten und Wendungen eines
Alplers oder Tirolers bewundert weder der eigne Besitzer, noch
30 sein Landsmann, sondern der gebildete Hof, der sie nicht erreichen
kann; und wenn die romischen GroBen sich am Spielen nackter
Kinder labten, mit denen sie ihre Zimmer putzten: so hatten die
1 In der Erzahlung des Kindes ist die namliche Verschmahung des Putzes,
der Seitenblicke und der Kurze, dieselbe Naivetat, die uns oft Laune zu sein
scheint und keine ist, und dasselbe Vergessen des Erzahlers iiber die Erzah-
lung, wie in den Erzahlungen der Bibel, der altern Griechen etc.
132 DIE UNSICHTBARE LOGE
GroBen, aber nicht die Kinder die Labung und den Geschmack.
Die Alten schrieben also mit einem unwillkiirlichen Geschmack,
ohne damit zu lesen - wie die jetzigen genievollen Autoren, z.B.
Hamann, mit weit mehr Geschmack lesen als schreiben - daher
jene Speckgeschwiilste und Hitzblattern an den sonst gesunden
Kindern eines Plato, Aschylus, sogar eines Cicero; daher be-
klatschten die Athener keine Redner mehr als die Antithesen-
Drechsler und die Romer die Wortspieler. Zur iibermaBigen Be-
wunderung Shakespeares fehlte ihnen nichts als Shakespeare sel-
ber. Eben deswegen konnten diese Volker, wie das Kind, von der 10
natiirlichen Einfachheit zum gleiBenden, lackierten Witzeln her-
untergehen.
Zweitens versprach ich auf drei Seiten zu behaupten, daB die
Vernachlassigung der Alten wenig schade. Denn was nutzet denn
ihre Bearbeitung? Sie werden wie die Tugend weit weniger ge-
fuhlt und genossen, als man sagt 1 . Das Vergniigen an ihnen ist
die richtigste Neuner- Probe des besten Geschmacks; aber dieser
beste Geschmack setzt eine solche geistige AufschlieBung fur alle
Arten von Schonheiten, ein solches Rein- und SchonmaB aller
innern Krafte voraus, daB nicht bloB Home Geschmack unverein- 20
-bar mit einem bosen Herzen findet, sondern auch daB ich nachst
dem Genie, das ihn nach Entladung seiner geistigen Vollsaftigkeit
immer bekommt, nichts Seltners kenne als ihn, den vollendeten
Geschmack. O ihr Konrektoren und Gymnasiarchen, die ihr uber
dieDevalvation der Alten winseltund greint,wennsie noch Augen
hatten, sie wiirden uber euere Valvation weinen! - O es gehoren
andre Herzen und Seelenfliigel (nicht bloBe Lungenflugel) dazu,
als in euren padagogischen Riimpfen stecken, um einzusehen,
warum die Alten Plato den Gottlichen nannten, warum Sophokles
groB und die Anthologen edel sindl Die Alten waren Menschen, jo
keine Gelehrten; was seid ihr? Und was holt ihr aus ihnen?...
Copiam vocabulorum - In mittlern Jahrhunderten war auch
jeder kleine Nutzen der Alten ein groBer; aber jetzt im i8 ten , wo
alle Volker gradus ad parnassum in den Musen-Granit einge-
1 Was die Neuern im Geschmack der Alten schreiben, wird wenig ver-
standen; und die Alten selber sollen so haufig verstanden werden?
SECHZEHNTER SEKTOR 133
hauen, kommt es auf zwei Treppen mehr oder weniger nicht ar.
Haben denn die jetzigen Nationen nichts im alten Geschmacke
geschrieben? - War* es so: so wurden ohnehin Muster, die sich
in keinenEbenbildern vervielfaltigt haben, Ieicht zu entraten sein;
es ist aber nicht einmal so, und die Omarsche Verbrennung aller
Alten konnte uns nur ein wenig mehr entreiBen, als wenn man
den ganzen noch stehenden Herbstflor von einigen griechischen
Tempeln und andern Ruinen umbrache: wir wiirden doch noch
Hauser im griechischen Geschmack bekommen. Die Muster haben
io ja selber ohne Muster geschrieben, und Polyklets Bildsaule wurde
nach keiner Polyklets Bildsaule geregelt. Trotz dem Studium der
geschriebenen Antiken lag sonst in Deutschland und liegt noch
in Italic n die dichtende Schopfcrkraft auf dem Siechbett.
Wer wie Heyne die alten Sprachen zur formalen Ausbildung der
Seele dingen will: der vergisset, daB jede Sprache es kann, und
daB eine unahnlichere, wie die orientalischen, es noch besser kann,
und daB diese Ausbildung uns zuweilen so teuer zu stehen kommt
als manchem Baron sein Franzosisches. Die Griechen und Romer
wurden Griechen und Romer ohne die formale Bildung von
20 griechischen und lateinischen Autoren - sie wurden es durch Re-
gierung und Klima.
Es ist ein Ungliick fur das Schonste, was der menschliche Geist
geboren hat, dafi dieses Schonste unter den Handen der Primaner,
Sekundaner und Tertianer zerrieben wird — daB das Scholarchat
glauben kann, die bessere Ausgabe oder die besseren Nominal-
und Real-Erklarungen setzten die jungen Gymnasiasten mehr in-
stand, die erhabenen klassischen Ruinen zu fassen,als eine bessere
von Druckfehlern gesauberte Ausgabe des Shakespeares und die
beigefugten Novellen nebst den Noten einen Schulmann oder
30 Franzosen instand setzen wurden, die Augen vor diesem eng-
lischen Genius aufzuschlieBen - daB sonach das Scholarchat sich
einbildet, einen Hamling oder TaufJing erhalte nichts kalt gegen
die Reize einer Kleopatra als die Hullen dieser Reize - und daB
die Scholarchate nicht mir und der Natur nachgehen\
1 Fiihlen denn alle Deutsche die Messiade, die der deutschen Sprache und
biblischen Geschichte kundig sind?
134 DIE UNSICHTBARE LOGE
Die Natur erziehtnamlich unsern Geschmack durch vorragende
Schonheiten fur feinere; der Jiingling zieht den Witz der Emp-
findung vor, den Bombast dem Verstand, den Lukan dem Virgil,
die Franzosen den Alten. Im Grunde hat dieser minderjahrige
Geschmack nicht darin unrecht, daB er gewisse niedere Schon-
heiten starker empfindet als wir, sondern daB er die damit ver-
bundnen Flecken und hohere Reize schwacher empfindet als wir
alle; denn wir wiirden nur desto vollkommner sein, wenn wir zu-
gleich mit dem jetzigen Gefiihl fiir das griechische Epigramm das
verlorne Jugend-Entzucken iiber das franzosische verknupfen 10
konnten. Man sollte also den Jiingling sich an diesen Leckereien,
wie der Zuckerbacker seinen Lehrjungen an andern, so lange sat-
tigen lassen, bis er sich daran iiberdriissig und fiir hohere Kost
hungrig genossen hatte; - jetzo aber ubersetzt er sich umgekehrt
an den Alten satt und bildet und reizet damit seinen Geschmack
fiir die Neuern. In unserer Autoren-Welt erscheinen die traurigen
Folgen davon, daB Scholarchate den An fang mit dem Ende machen
und von Schriftstellern,diebloBdem zartesten besten Geschmacke
die letzte Runde geben, den gymnasiastischen aus dem Groben
wollen hauen lassen und so weder der Natur folgen noch mir. 20
Die Scholarchate besorgen freilich, »dadurch kame unter die
jungen Leute mehr Witz, als schicklichist, wenn man den Seneka,
Epigrammen und verdorbne Autores lese«. Meine erste Antwort
ist, daB die Konstitution des Deutschen robust und gesund genug
ist, um dem Fleckfleber des Witzes weniger ausgesetzt zu sein als
andre Volker. Z.B. das witzige Buch »0ber die Ehe« oder Ha-
manns Schriften machen wir durch tausend reine Werke wieder
gut, wo der Witz nicht darin ist. Ich habe daher oft gedacht, so
wie der Deutsche von seinen Vorziigen wenig weiB, so weiB er
auch von dem nichts, daB er nicht uberfliissigen Witz hat, ob- 30
gleich die Rezensenten mir und den Verfassern derRomane diesen
OberfluB oft genug vorwerfen. Aber ich und diese Verfasser ver-
langen unparteiische Richter hieriiber; sogar diese sonst unbe-
deutenden Rezensenten selber sind hierin einem Seneka und Rous-
seau, die beide den witzigen Stil verdammten, bekampften und
doch haschten, zu ihrem Ruhm so wenig ahnlich, daB sie den
SECHZEHNTER SEKTOR 135
Fehler des Witzes strenge an andern riigen und gliicklich selber
vermeiden.
Meine zweite Antwort ist tiefer: eh' der Korper des Menschen
entwickelt ist, schadet ihm jede kiinstliche Entwicklung der Seele;
philosophische Anstrengung des Verstandes, dichterische der
Phantasie zerrutten die junge Kraft selber und andredazu. BloBdie
Entwicklung des Witzes, an die man bei Kindern so selten denkt,
ist die unschadlichste - weil er nur in leichten fliichtigen Anstren-
gungen arbeitet; - die niitzlichste - weil er das neue Ideen-Rader-
10 werk immer schneller zu gehen zwingt - weil er durch Erfinden
Liebe und Herrschaft iiber die Ideen gibt - weil fremder und eig-
ner uns in diesen friihen Jahren am meisten mit seinem Glanze
entziickt. Warum haben wir so wenig Erfinder und so viele Ge-
lehrte, in deren Kopfen lauter unbewegliche Giiter liegen und die
BegrifTe jeder Wissenschaft klubweise auseinandergesperrt in
Kartausen wohnen, so daB, wenn der Mann iiber eine Wissen-
schaft schreibt, er sich auf mchts besinnt, was er in der andern
weiB? - BloB weil man die Kinder mehr Ideen als die Handhabung
der Ideen lehrt und weil ihre Gedanken in der Schule so unbeweg-
20 Hch fixiert sein sollen wie ihr SteiB.
Man sollte Schld{ers Hand in der Geschichte auch in andern
Wissenschaften nachahmen., Ich gewohnte meinem Gustav an, die
Ahnlichkeken aus entlegnen Wissenschaften anzuhoren, zu ver-
stehen und dadurch selber zu erfinden. Z. B. alles GroBe oder Wich-
tige bewegt sich langsam : also gehen gar nicht die orientalischen
Fiirsten - der Dalai Lama - die Sonne - der Seekrabben; weise
Griechen gingen (nachWinckelmann) langsam - ferner tut es das
■ Stundenrad — der Ozeaft - die Wolken bei schonem Wetter. -
Oder : im Winter gehen Menschen, die Erde und Pendule schneller.
3 o - Oder: verhehlt wurde der Name Jehovas - der orientalischen
Fiirsten — Roms und dessen Schutzgottes — die sibyl linischen Bii-
cher-die erste altchristliche Bibel-diekatholische-derVedametc.
Es ist unbeschreiblich, welche Gelenkigkeit aller Ideen dadurch in
die Kinderkopfe kommt. Freilich miissen die Kenntnisse schonvor-
her da sein, die man mischen will. Abergenug I der Pedant versteht
und billigt mich nicht; und der bessere Lehrer sagt eben: genug!
I36 DIE UNSICHTBARE LOGE
SlEBZEHNTER SEKTOR
Abendmahl — darauf Liebemahl und Liebekufl
O geliebter Gustav! die ausgewinterten Tage unserer Liebe
schlagen in meinem Dintenfasse wieder in Bluten aus, indem ich^
sie vorzeichnel Hast du, Leser, irgendeinen Friihling deines Le-
bens gehabt, und hangt noch sein Bild in dir: so leg es im Winter-
monat des Lebens an deinen warmen Busen und gib seinen Farben
Leben, wie Erwarmung das unsichtbare Fruhlinggemalde des
Ofens enthiillt und belebt - denk dir alsdann deine Blumentage,
wenn ich unsere zeichne Unsere vier kleinen Wande waren 10
die Staketen eines reichern Paradieses, als sich durch einen Au-
garten ausstreckt, unser Kirschbaum am Fenster war unser Des-
sauisches Philanthropinwaldchen, und zwei Menschen waren
gliicklich, ob sie gleich befahlen und gehorchten. Das Maschinen-
werk des Lobes, das ich in dem Regulativ meinem Hofmeister so
sehr anpries, legt' ich beiseite, weil es nicht an einen, sondern an
eine ganze Schule anzusetzen 1st: mein Paternosterwerk war seine
Liebe zu mir. Kinder lieben so leicht, so innig; wie schlimm muB
ders treiben, den sie hassen! Auf der Skala meiner Strafen-Karo-
Hna oder Theresiana standen - statt der padagogischen Ehren- 20
und Leibesstrafen - Kalte, ein trauernder Blick, ein trauernder
Verweis und die hochste, das Drohen, fortzugehen. Kinder von
zartem Herzen und von einer immer durch den Wind aufgehobnen
Phantasie wie Gustav sind am leichtesten zu wenden und zu dre-
hen; aber auch ein einziger falscher RiB des Lenkseils verwirrt
und verstockt sie auf immer. Besonders sind die Flitterwochen
einer solchen Erziehung so gefahrlich wie diein der Ehe mit einer
feinfuhlenden Frau, bei welcher ein einziger kakochymischer
Nachmittag durch keine kiinftigen Jahr- und Tag^eiten wieder
auszutilgen ist. Ich wills nur bekennen : eben einer solchen sensiti- jo
ven Frau wegen bin ich Hofmeister geworden. Da die Weiber
(hieB es in mir) in einem auffallenden Grade alle Vollkommen-
heiten der Kinder haben - die Fehler derselben schon weniger -:
so kann ein Mensch, der an den so weit auseinanderstehenden
SIEBZEHNTEK SEKTOK 1 37
Asten der Kinder sein Gespinste anzukleben und anzuziehen weiB,
d.h. der sich in Kinder schicken kann, so sehr schlimm unmoglich
fahren als andre, wenn er - heiratet.
Wo der Tadel das Ehrgefuhl des Kindes versehrte, da unter-
driickte ich ihn, um meine Kollegen in der Runde durch das Bei-
spiel zu lehren, da 6 das Ehrgefuhl, das unsere Tage nicht genug
erziehen, das Beste im Menschen sei — daB alle andre Gefiihle,
selbst die edelsten, ihn in Stunden aus ihren Armen fallen
lassen, wo ihn das Ehrgefuhl in seinen emporhalt - daB
io unter den Menschen, deren Grundsatze schweigen und deren
Leidenschaften ineinanderschreien, bloB ihr Ehrgefuhl dem
Freunde, dem Glaubiger und der Geliebten eine eiserne Sicher-
heit verleihe.
Sieben Tage fruher, als recht war, kommunizierte meinGustav;
denn das Konsistorium - die Feme der Pfarrherren, die Poniten-
tiaria der Gemeinden und die Widerlage der Regierung — schickte
uns mit Vergniigen als geistige Fastendispensation oder Alters-
ErlaB (venia aetatis) diese sieben Tage, um welche sein Kom-
munion-Alter zu leicht war, fur ebensoviel Gulden geschenkt
20 aufs SchloB heraus. Mein Zogling muBte also - der geschickteste
Religionlehrer saB vergeblich zu Hause - wochentlich zweimal
zum dummen Senior Set^mann in Auenthal abmarschieren, der
zum Gluck kein Jurist wie ich war und in dessen Pfarrwohnung
ein Rudel Katechumenen die Schnauzen in geronnene Katechis-
mus-Milch stecken muBten - Gustav brachte statt des Tier-Rus-
^ sels einen zu kurzen Mund mit.
Gleichwohl war der Senior Setzmann nicht iibel; auf einem
Parlaments-Wollensack hatt* er sich zu einem Redner gesessen,
d.h. zu einem Ding, das unter den Personen, die ihm anfangs
3° nicht glauben, zuerst seine eigne iiberredet - Ein Redner ist so
leicht zu iiberreden , als er iiberredet - Der Senior war jeden Sonn-
tag in den ersten Stunden nach der Predigt fromm genug; er kann
zwar verdammt werden, aber bloB Mangel an Predigten wiird'
es tun und der an Bier. Eine verniinftige Betrunkenheit kommt
beides dem as^etischen und dempoetischen Enthusiasmus unglaub-
lich zustatten. Die Leser sind meine Freunde nicht, welche sagen,
138 DIE UNSICHTBARE LOGE
aus bloBem Arger unci Neid - daB mein Gustav seine Stunden
horte - schrieb' ich es hier in die Welt hinaus, daB der Keller die
Pauls- und Peterskirche-des Seniors war - daB seine Seele, wie ge-
fliigelte *Fische, nur so lange emporflog, als die Schwingen ein-
geolet waren - daB er immer betrunken und geruhrt zugleich er-
schien und eher nicht in den Himmel hineinbegehrte, als bis er
ihn nicht mehr sehen konnte. Hermes und Oemler sagen, ich
wiirde Argernis vermeiden - obgleich das Beispiel Setzmanns ein
groBeres geben mufi als der Spafi dariiber -, wenn ichs lateinisch
vortriige, daB die aquae supra coelestes seiner Augen allemal seine 10
zwei Schuh tiefern humores peccantes begleiteten.
Gustav ging an wehenden Friihlingnachmittagen auf jungem
Grase zu ihm und freuete sich unterwegs auf zwei hubsche
Dinge - : erstlich auf diesen Missionar der heidnischen Dorf jugend
selber, dessen schwarmerischer Atem Gustavs Ideen, deren jede
ein Segel war, wie ein Sturmwind bewegte und der besonders in
der letzten, sechsten Woche, wo er die jungen Sechswochner iiber
den Leisten des sechsten Hauptstiicks schlug, meines Gustavs
Ohrenso verldngerte^ daB zwei i%tge/daraus wurden, die mitseinem
Kopfchen davongingen. - Zweitens spitzte dieser sich auf eine 20
breite Bituk iiber einem breken Halstuch und dergleichen Schiirze,
welches alles noch dazu so blutenweiB war wie er und am schon-
sten Leibe in der ganzen Pfarrei saB - an Reginens ihrem, welche
darin sich auf das zweite Kommunizieren vorbereitete. So etwas,
mein Gustav, machte dich ganz naturlich aufmerksamer als zer-
streuet; und wenn mir das Scholarchat nur eine halbe solche Muse
statt des Bauchkissens meines lecken Konrektors auf dem Lehr- -
stuhle entgegengestellt hatte: Himmel! ich wiirde gelernt haben,
ferner memoriert, ferner dekliniert, desgleichen konjugiert, und
endlich exponiert !- Deshalb war es zweitens eben keine Hexerei, 30
Gustav - da bloB dein Ohr der Windseite vom Pastor entgegen-
lag, das Auge aber der Sonnenseite von Reginen -, daB du wenig
dir aus der halben Stunde machtest, die der Senior dariiber gab,
um sein Gewissen zum Narren zu haben. Er hielt, um den Frais-
und Zentherrn und Feimer im Herzen, das Gewissen, stille zu
machen, seine Kinderlehren eine halbe und seine Predigten drei-
SIEBZEHNTER SEKTOR 139
viertel Stunden langer als die ganze Diozes. Der Mensch tut lieber
mehr wie seine Pflicht als seine Pflicht.
Da Gustav nicht wuBte, daB Madchen nichts iibersehen und
alles uberhoren: so war ihm der ganze Katechismus ein Liebe-
brief, in dem er sich mit ihr unterredete. Wenn sie dem Senior zu
antworten hatte: wurd' er rot; »der Senior«, dacht' er, »kann sein
Fragen und Qualen nicht verantworten«, und sein Sehnerve wur-
zelte auf ihrem Gesichte.
Da die Falkenbergischen kein besonderes Kommunizierzimmer
io mit samtnen Dielen hatten: so ging meine Pate, der Rittmeister,
an der Spitze ihrer Lehnleute um den Altar; also auch Gustav.
, Am Beichtsonnabend - O ihr stillen Tage meiner frommsten
Entziickungen, geht wieder vor mir voriiber und gebt mir euere
Kinderhand, damit ich euch schon und treu beschreibe! - Am
Sonnabend ging Gustav nach dem Essen — schon unter demselben
konnt* er vor Liebe und Ruhrung seine Eltern kaum ansehen -
die Treppe hinauf, um nach einer so schonen Sitte den Seinigen
seine Fehler abzubitten. Der Mensch ist nie so schon, als wenn er
um Verzeihung bittet oder selber verzeiht. Er ging langsam hin-
20 auf, damit seine Augen trocken und seine Stimme fester wiirde;
aber als er vor die elterlichen kam, brach ihm alles wieder, er hielt
lange in seiner gluhenden Hand die.vaterliche, um etwas zu sagen,
um nur die drei Worte zu sagen : »Vater, vergib mir«; aber er fand
keine Stimme, und Eltern und Kind verwandelten die Worte in
stille Umarmungen. Er kam auch zu mir... in gewissen Verfas-
sungen ist man froh, daB der andre in der namlichen ist und also
unsre vergibt... Ich wollt', Gustav, ich hatte dichjetzt in meiner
Stube. - Wenn Kinder sich Gott - nicht wie Erwachsene als ihres-
gleichen, namlich als ein Kind, sondern - als einen Menschen den-
30 ken : so ist das fiir ihr kleines Herz genug. Gustav ging nach diesen
Abbitten wankend, zitternd, betaubt, wie wenn er das sahe, was
er dachte - Gott -, in die verlassene Kindheithohle hinab, wo er
unter der Erdrinde erzogen wurde und wo seine ersten Tage und
ersten Spiele und Wiinsche begraben lagen. Hier wollt* er knien
und in dieser zerbrochnen Andachtstellung, worin der Genius
der Sonnen und Erden in jener vielleicht frommsten Zeit unsers
J4° DIE UNSICHTBARE LOGE
Lebens alle gefuhlvolle Kinder erblickt, seine ganze Seele in einen
einzigen Laut, in einen einzigen Seufzer verwandeln und sie op-
fern auf dem Dankaltar; aber dieser groBte menschliche Gedanke
riB sich wie eine neue Seele von seiner los und iiberwaltigte sie —
Gustav lag, und sogar seine Gedanken verstummten . . . Aber die
Stimme wird gehort, die in der Brust bleibt, und der Gedanke ge-
sehen, der zuriicksinktunter den Strahlen des Genius; und in der
andern Welt betet der Mensch seine hiesigen verstummten Ge-
bete hinaus.
Am Abende dieses heilig-seligen Tages trug eine wiegende 10
Ruhe auf ihren sichern Handen sein uberfulltes Herz; er schlug
nicht gewaltsam die kurzen Kinder- und Menschen-Arme um die
Freude, sondern dieseechlofl die Mutterarme leis' lim ihn. Dieser
Zephyr der Ruhe wehte - anstatt daB der Orkan des Jauchzens
den Menschen durch und wider alles reiBet - noch am Pfingst-
tage spielend um sein Leben voll kleiner Bluten, und sein Wesen
lag wie auf einer sanft tragenden Wolke, da die heitere Pfingst-
sonne ihn fand; aber als der Blumengeruch der geschmuckten
Brust, das Gefiihl des pressenden, rauschenden Anzugs, das Glok-
kengelaute, dessen fortlaufende Tone wie goldne Faden um alle a=>
einzelne Auftritte Hefen und siein einem verbanden, der Birkenduft
und das griine Helldunkel der Kirche, sogar das Fasten, da all
dies seine Gefuhle und seine Blutkiigelchen in fliegende Kreise
warf: so stand in seiner Brust eine angeziindete Sonne; das Bild
eines tugendhaften Menschen brannte nie in so groBen, iiber die
Wolken hinaustretenden Umrissen vor ihm als da! —
Aber der Abend! - Die kleinen Kommunikanten spazierten da
mit leichterem Herzen und vollerem Magen in sittsamen Gruppen
herum und fiihlten Essen und Putz. Gustav - von dessen Flammen
das Abendessen einiges iiberleget hatte, wiewohl sich noch eine jo
sanfte Glut verhielt - wandelte seinen Garten, da sein Kopf kein
Tanzplatz, sondern eine Moosbank froher Gefuhle war, langsam
auf und ab und zog die eingeschlafnen Tulpenblatter auseinander,
um aus diesem Blumenkerker manches verspatete Bienchen los-
zulassen. Endlich lehnte er sich an den Turstock des hintern Gar-
tenturchens und sah sehnend liber die Wiesen ins Dorfchen hinab,
SIEBZEHNTER SEKTOR 141
wo die gereiheten Eltern zusammen plauderten und den Kindern
miitterlich-eitel nachschaueten, welche heute zum ersten und wohl
zum letzten Male spazieren gingen, weil Bauern und Morgenlan-
der nur Sitzen lieben. Da ruckte ein scheues Bauerkinder-Pikett
behutsam um die Gartenmauer herum, weil dasselbe den alten
Starmatz, den Gustav heute mit seinem Bauer ins Freie getragen,
gern naher horen wollte in seiner echt-ironischen Laune voll der-
ber Schimpfworter. Kinder sind in fremden Kleidern und an frem-
den Orten sich fremd; aber Gustav hatte seinen Leitton, um mit
10 ihnen ins Gesprach uberzugehen, zum Gliicke bei der Hand, den
Matz, mit welchem er bloB in eines zu geraten brauchte. Und alles
gelang; und die redenden Kunste des Vogels machten bald die
Konversation so allgemein und unbefangen, dafi man uber alles
mit alien sprechen konnte. Gustav fing an Geschichtchen zu er-
zahlen, aber vor einem jiingern und billigern Publikum als ich;
seine Geschichtchen erdachte und erzahlte er im namlichen Augen-
blick, und seine Phantasie stieB mit ihren Fliigeln im unermefi-
Hchen Tummelplatz an nichts. Oberhaupt erflndet man geschei-
tere Contes unter dem Sprechen als unter dem Schreiben, und
20 Madame d'Aunoy, die ich lieber heiraten als lesen mochte, wurde
uns groBen Kindern bessere Feenmarchen gegeben haben, wenn
sie solche vor den Ohren der kleinen erfunden hatte.
Unter dem Vorwande des Niedersetzens lud und bat er sein gan-
zes Hor-Publikum auf einen Altan, der um einen Lindenbaum im
Garten samt einerTreppe geflochten und gewolbet war — Ich lasse
so zeitig meine Leser nicht herab; denn Bienen, Bildschnitzer
und ich lieben Linden sehr, jene des Honigs, diese des weichen
Holzes und ich des weichen Namens und des Duftes wegen.
Aber hier ist noch etwas ganz anders zu lieben - Drei Kommu-
30 nikantinnen horchten zur offnen Gartentur hinein und verdoppel-
ten von weitem den Horsaal: mit einem Worte, Regina war dar-
unter und ihr Bruder schon mit droben; die Galerie oder die
Logen muBten endlich - da das Hinaufrufen nichts half - das
weibliche Parterre hinaufzerren. Ich erzahle selber jetzt feuriger
nach; kein Wunder, daB auch Gustav es tat. Regina setzte sich
am weitesten von ihm, aber ihm gegeniiber. Er fing eine ganz
142 DIE UNSICHTBARE LOGE
frische Historie an, weil das bureau d'esprit viel starker geworden.
Em elendes blutjunges Madchen - Kinder wollen inder Geschichte
am liebsten Kinder - make er vor, eines ohne Abendbrot, ohne
Eltern, ohne Bett, ohne Haube und ohne Siinden, das aber, wenn
ein Stern sich putzte und herunterfuhr, unten einen hiibschen
Taler fand, auf dem ein silberner Engel aufgesetzt war, welcher
Engel immer glanzender und breiter wurde, bis er gar die Fliigel
aufmachte und vom Taler aufflog gen Himmel und dann der Klei-
nen droben aus den vielen Sternen alles holte, was sie nur haben
wollte, und zwar herrliche Sachen, worauf der Engel sich wieder 10
auf das Silber setzte und sehr nett da sich zusammenschmiegte. -
Welche Flammen schlugen unter dem Schaffen aus Gustavs Wor-
ten heraus, aus seinen Augen und Mienen in die Zuhorerschaft
hinein. Noch dazu stickte nebenbei der Mond die Lindennacht auf
dem FuBboden mit wankenden Silber-Punkten - eine verspatete
Biene kreuzte durch den gliihenden Kreis und ein schnurrender
Dammerungvogel um einen bekranzten Kopf- auf dem Doppel-
Grund von Lindengriin und Himmelblau zitterten Blatter neben
den Sternen — der Nachtwind wiegte sich auf diinnem Laube und
auf Goldflittern der geputzten Regina und bespiilte mit kiihlen 20
Wellen ihre Feuerwange und Gustavs Flammenatem . . . . Aber
wahrhaftig ich behaupte, den Katheder brauchte er nicht einmal,
so herrlich waren Katheder und Redner. Wie konnt' ihm dieser
notig sein, da er der Braut Christi und seiner eignen erzahlte; da
der ganze heutige Tag mit seinem blendenden Nimbus wieder
aufstand; da er das Mitleid in die Brust der unbefangenen Kinder
einfiihrte und aus ihren Augen es wieder vorpreBte; und da er
gewisse weibliche sich benetzen sah — Seine eignen zergingen in
Wonne, und er dehnte sein Lacheln immer weiter auseinander,
um damit sein Auge zu bedecken, das sich schon schoner bedecket 30
hatte. — »Gustav!« hatt* es schon zweimal vom Schlosse her ge-
rufen- aber in dieser seligen Stunde horte es keiner; bis zum drit-
ten Male die Stimme nahe unten im Garten erklang. Die betaubte
geheime Gesellschaft rollte die Treppe hinab; - neben Gustav
verweilte nur noch Regina unter der dunkeln Laube, um eiligst
mit ihrer Schiirze die Spuren der Erzahlung aus den Augen zu
SIEBZEHNTER SEKTOR 143
bringen und mit einer Nadel sich etwas hinaufzustecken - er stand
dem Gesichte, auf dem so viele schone Abendroten seines Lebens
untergegangen waren, so nahe und so stumm und hielt sie ein
wenig, als sie nachwollte - ware sie stille gestanden, so hatt* er sie
nicht halten konnen; aber da sie riB: so umfaBte er sie fester und
im groBern Bogen - ihr Ringen vereinigte beide, aber seiner
trunknen Seele ersetzte die Nahe den KuB - das Strauben fuhrte
seine zuckende Lippen an ihre - aber doch erst als sie seine Brust
von ihrer wegstemmte und seine mit der Nadel zerritzte, dann
io erst strickte er sie mit unaussprechlicher vom eignen Blute be-
rauschter Liebe an sich und wollte ihren Lippen ihre Seele aus-
saugen und seine ganze eingieBen - sie standen auf zwei entfernten
Htmmeln, zueinander iiber den Abgrund heriibergclehnt und ein-
ander auf dem zitternden Boden umklammernd, um nicht los-
lassend zwischen die Himmel hinunterzusturzen —
Konnt* ich seinen ersten KuB tausendmal brennender ab-
malen: ich tat* es; denn er gehort unter die ersten Abdriicke der
Seele, unter die Maiblumen der Liebe, er ist die beste mir be-
kannte Dephlegmation des erdigen Menschen. Nur ist es in diesem
20 deutschen und belgischen Leben nicht moglich zu machen, daB
der Mensch iiber fiinf oder sechs Male zum ersten Male kusse.
Spater sieht er allezeit in seine Sachdefinition, die er von einem
Kusse im Kopfehat, ordentlichhinein und zitiert den Paragraphen,
wo's stent; der ganze Inhalt des dummen Paragraphen ist aber
der, die eigentliche Sache sei ein Zusammenplatten roter Haute.
Wahrlich ein Autor von Gefuhl kann sich nicht niedersetzen und
bedenken, daB ein KuB eines von den wenigen Dingen ist, die nur
genossen werden , wenn unter dem Geistigen das Korperliche nicht
vorschmeckt - ohne daB ein solcher Autor von Gefuhl (es ist
jo niemand als ich) die ausfilzet, die nicht so viel Verstand haben wie
er - er filzet nicht bloB die Herren Veit Weber und Kot^ebue, in
deren Schriften zu viele Kusse stehen, sondern auch andre Leute
aus, in deren Leben zu viele kommen, namentlich ganze Picke-
nicks, die einander nach dem Tischgebet die Wangen mit den
Lippen abbiirsten und anschropfen. Kommt es gar so weit, daB
diese schone Lippenbliite unsers Gesichts sich an Hauten von
144 DIE UNSICHTBARE LOGE
Schafen und von Seidenraupen,an Handsandalen, zerkniillen muB :
so will ein Autor von so viel Empfindung derleidenden Partei
die Hande und der tatigen die Lippen wegschneiden
Ich begieBe den vom letzten Kusse erhitzten Leser mit diesem
kalten Wasserschatze wirklich nicht deshalb, urn mit ihm so um-
zuspringen wie das Schicksal mit mir; denn dieses hat sichs einmal
zum Gesetz gemacht, jedesmal wenn ich mitten im Freudenot
solcher Auftritte wie der Gustavische — oder auch nur der Be-
schreibung solcher Auftritte - stehe, mich sogleich in Salzlaken
und Vitriolole unterzutauchen. Sondern ich wollte gerade um- 10
gekehrt die haBliche Empfindung uber den Tausch entgegenge-
setzter Szenen dem Leser halbieren, die der arme Gustav ganz
bekam, da es unten rief:
»Wollt ihr gleich!« Die Rittmeisterin legte in den Ton mehr
Beleidigendes, als mein unschuldiger Gustav noch zu fuhlen ver-
stand. Die Liebhaberin verliert in solchen Oberraschungen den
Mut, den der Liebhaber bekommt. Die ersten Versikel des ab-
gefluchten Strafpsalms durchlocherten das Ohr der schuldlosen
Regina, welche stumm und weinend aus dem Garten schlich und
so den freudigen Tag triibe beschloB. Die sanftern Verse erfaBten 20
den Geschichtdichter, der seine Contes moraux asthetisch und
mit Pathos auszumachen vorhatte und nun selber von einem
fremden Pathos erwischt wurde. Ernestinens Herz, Lippen und
Ohren waren hinter den strengsten Gittern erzogen ; daher wich
ihre so melodische Seele (bei einem bloBen KuB) in eine fremde
harte Tonart aus; sie gab vom schonsten Madchen nichts zu, als:
»Ein gutes Madchen ists.« Oberhaupt ist mir die Frau, die gewisse
Fehltritte einer andern sehr schonend beurteilt, mit ihrer Duldung
verdachtig : eine ganz reine weibliche Seele erzwingt an sich hoch-
stens die Miene dieser Toleranz fur eine weniger reine. 30
1 Gustavs Mut zum KuB istiibrigens natiirlich. Unser Geschlecht durch-
Iauft drei Period en des Muts gegen das schone - die erste ist die kindliche,
wo man beim weiblichen Geschlecht noch aus Mangel an Gefuhl etc. wagt -
die zweite ist die schwarmerische, wo man dichtet, aber nicht wagt - die dritte
ist die letzte, wo man Erfahrung genug hat, um freimutig zu sein, und Gefuhl
genug, um das Geschlecht zu schonen und zu achten. Gustav kiiflte in der
ersten Periode.
ACHTZEHNTER SEKTOR 1-45
Auf unschuldige Lippen driickte Gustav den ersten und letzten
KuB; denn in der Pfingstwoche zog die Schaferin nach MauBen-
bach als SchloB-Dienstbote. Wr werden nichts mehr von ihr
horen. - So wird es durch das ganze Buch fortgehen, das wie das
Leben voll Szenen ist, die nicht wiederkommen. Nun tritt schon
die Sonne hoher an Gustavs Lebenstage und fangt an zu stechen -
eine Blume der Freude um die andre biickt sich schon vor-
mittags zum Schlummer nieder, bis nachts um 10 Uhr der ge-
senkte Flor mit verschwundnen Bliiten schlaft....
10 ACHTZEHNTER SEKTOR
ScheerauischeMolukken - Roper- Beata-offizinelleWeiberkleider-Oefel
Ich wiirde narrisch handeln und schreiben, wenn ich - da uns
alle, Leser sowohl als Einwohner dieser Biographie, Scheerau so
nahe angeht; da Gustav, der Held, dahin als Kadett kommt; da
ich, der Hofmeister, daraus komme; da Fenk, der Doktor, noch
daselbst ist und da Fenk in dieser Geschichte noch wichtig werden
kann - drei Papiere von Dr. Fenk trotz aller dieser Griinde nicht
einruckte. Die Rede ist von {wei Zeitungsartikeln und einem Brief,
die der Pestilenziar geschrieben.
20 Ich weiB gewifi, daB es einigen hohen Fremden, die durch die
scheerauischen hohern Zirkel gereiset, bekannt ist, daB der Doktor
eine Zeitung schreibt, die nicht gedruckt wird, namlich eine ge-
schriebne Gazette oder Nouvelles a la main, wie mehre Residenz-
stadte sie haben. Dorfer haben gedruckte Neuigkeiten, kleine
Stadte miindliche, Residenzstadteschriftliche. Das Papier ist Fenks
Marforio und Pasquino, der seine satirischen Arzneien austeilt.
Seinen ersten Zeitungartikel flecht' ich ein, schon bloB des
Journals fur Deutschland wegen. Dieses so platte und so wort-
reiche Journal - denn sonst war' es weder von noch fur Deutsch-
30 land geschrieben - riickte eine gute Abhandlung von mir nicht
ein, die ich liber den auBerordentlichen Handelflor in Scheerau
eingeschickt, weil vielleicht keine Regierung in Deutschland we-
146 DIE UNSICHTBARE LOGE
niger bekannt ist als die scheerairische. Wahrhaftig man sollte
denken, dieses Fiirstentum verstecke sich wie ein Walfisch unter
die Eisrinde der Polarmeere, so unbekannt sind die wichtigern
Nachrichten von ihm; z.B. solche wie die, daB wir Scheerauer
seit der neuen Regierung den ganzen ostindischen Handel und die
Molukken an uns gezogen, von denen wir jetzo unsere Gewurze
selber holen, welche letzte die Regierung eigenhandig dazu aus
Amsterdam verschreibt. — Aber das steht ja eben im ersten Zei-
tungsartikel.
Nro. 16
Gewiirzinseln und Molukken in Scheerau
Der Brandenburger Weiher bei Baireuth ist ein ausgegrabner
Landsee von 500 Tagwerken, und vor einigen Monaten saB ich
eine Stunde darin; denn man trocknet ihn jetzt zum Besten seiner
bleichen Kiistenbewohner aus. Der scheerauische Weiher, an dem
vier Regenten weitergraben lieBen, hat 1 29 Tagwerke mehr und
ist fur Deutschland wichtig: denn durch seine aerostatischen
Diinste wird er so gut wie das Mittellandische Meer das Wetter in
Deutschland andern, sobald der Wind iiber beide geht. Die Ebbe
und Flut muB genau genommen sogar auf einer Trane oder im ;
Saufnapfchen eines Zeisigs stattfinden, wie viel mehr auf einem
solchen Wasser: - die Diozes von Inseln, die diesen Teich so
putzt und furniert, z.B. Banda, Sumatra, Zeylon und das schone
Amboina, die groBen und kleinen Molukken, traten erst unter der
jetzigen Regierung aus dem Wasser - oder vielmehr ins Wasser.
Herrn Buffon, wenn er noch lebte, und andre Naturforscher muBt'
es frappieren, daB die Inseln auf dem Scheerauischen Ozean nicht
durch Auftiirmungen von Korallen entstanden — auch nicht durch
Erdbeben, die den Dromedar-Rucken des Meergrundes aus dem
Wasser aufkrummten - selber durch keinen Vulkan in der Nahe,
der diese Berge ins Wasser hineingesaet hatte; denn Sumatra, die
groBen und die kleinen Molukken wurden bloB in kleinen Partien
auf unzahligen Schubkarren und Leiterwagen an die Kiisten her-
ACHTZEHNTER SEKTOR 147
beigeschoben - und weil auf den Karren Steine, Sand, Erde und
alle Ingredienzien einer hubschen Insel waren, so brachten die
Fronbauern, Iandesherrliche sowohl als ritterschaftliche, die eben-
so viele (Tabak-) rauchende und Inseln bildende Vulkane waren,
in kurzem die Molukken fertig, indes die ritterschaftlichen Briik-
ken tiber Iandesherrliche Wasser noch nicht angefangen sind. Die
Absicht des Landesherrn ist, den ganzen ostindischen Handel bei
Asien in Scheerau so bei der Hand zu haben wie eine Rappemuhle
- und ich denke, wir haben ihn; nur mit dem Unterschiede, daB
i3 die scheerauischen Gewurzinseln noch besser sind als die hol-
landischen. Auf den letzten muB man erst das Reifen des PfefFers,
der Muskatnlisse etc. abpassen; aber auf unsern liegt schon alles
reif und trocken da. und man darfs nur ans Essen reiben : das
macht, weil wir alle diese Fruchte schon ganz zeitig aus — Amster-
dam verschreiben. Es ist namlich so:
»Entweder alles oder nichts ist ein Regale. Der Rechtskundige
kann es nicht billigen, daB die Fursten, wiewohl sie die kostbar-
sten, aber seltensten Produkte zu ihren Regalien erheben, gleich-
wohl die gemeinen, aber desto ergiebigern in den Handen der
20 Landeskinder lassen und dadurch den Fiskus schwachen. Der
Jurist findet bei den siidasiatischen Fiirsten, so despotisch sie sonst
sind, mehre Folgerichtigkeit, welche nicht das Wild, oder Salz,
oder Bernstein, oder Perlen, sondern das ganze Land und den
ganzen Handel nehmen und beide bloB jahrlich verpachten. Die
deutschen Fiirsten haben hiezu groBere Befugnis als alleandre;
denn alle europaische Reiche haben indische Besitzungen, haben
ein Neu-England, Neu-Frankreich, Neu-Holland; aber ein Neu-
Deutschland hat das Alt-Deutschland nicht, und das einzigeLand,
welches ein Fiirst noch wegzunehmen hat, ist sein eignes, man
30 miiBte denn aus Polen oder der Turkei ein Neu-Osterreich, Neu-
PreuBen etc. zu machen wissen.
Allein dieses sah bisher kein Regent als der scheerauische ein,
der diese Grundsatze seinem geheimen Kabinette vorlegte, aber
schon vor dem Abstimmen seinen EntschluB gefasset hatte: daB
nun die Leute alles Gewiirz bei ihm nehmen sollten. Er selber
schafft nun, gleich der Natur, auf seinen Molukken die Gewiirze,
I48 DIE UNSICHTBARE LOGE
die sein Land isset, indem er sich durch den Kommerzien-Agenten
von Roper den Samen dieser Gewurze - Pfeffer-Korner, Niisse
etc., aber nicht zum Pflanzen, sondern zum Kochen - aus Amster-
dam spedieren lasset. Daher umschniiret (weil die Molukken bei
der Gewiirz-Defraudation litten) ein Pfeffer- und Zimt-Kordon
von Kadetten und Husaren das Land; niemand konnte eine Mus-
katnuB einschwarzen als die Muskattaube in ihrem dicken Ge-
darm. Alles, was meine scheerauische Leser aus den Laden nehmen,
der Kaufladen mageinem groBen Hause gehoren,dasmehr Schiffe
und Reisediener auf den Beinen erhalt als ich Setzer, oder er mag 10
von einem armen Hoker gemietet sein, dessen Schilderung mich
schon dauert, dessen Strazza eine Schiefertafel ist und dessen Ka-
pitalbuch eine schmierige Stubentur und dessen Kaufmannsgiiter
nicht zu Schiffe, sondern als Landfracht unter dem Arme oder auf
der Achse, d.h. an einem Stocke auf der Achsel gebracht werden-
in beiden Fallen kauet der scheerauische Leser Erzeugnisse aus
Molukken, die vor seiner Nase sind. -
Einer, der dergleichen beurteilen kann, fallet nachher dem Ge-
wiirz-Inspektor von Herzen bei, welcher im scheerauischen Intel-
ligenzblatte schreibt, 1) daB jetzt das LandPfeffer und Ingwer um 20
niedrigern Preis erhalten konnte, weil bloB der Fiskus imstande
ware, sie in groBern, mithin in wohlfeilern Partien zu beziehen -
2) daB der Regent jetzt vermogend sei, diese Leckereien, die unsern
Beutel iiber Indien leeren, unter alien Deutschen zuerst den Schee-
rauern abzugewohnen, indem er bloB den Preis betrachtlich zu
steigern brauchte. - 3) und daB eine neue Dienerschaft ihr Brot
hatte.
Ich brauch* es nicht zu verteidigen, daB unser Fiirst - da die
russische Kaiserin Dorfern das Stadtrecht gibt - Schutt-Hiigeln
das Inselrecht er teilt, oder daB er ihnen ostindische Namen schenkt, 30
da jeder Tropf von Schiffer bei der groBten Insel, die er noch dazu
mehr entdeckt als macht, Patenstelle vertreten darf. Unser Suma-
tra ist iiber 1 / 4 Quadratviertelstunde groB und hat hauptsachlich
Pfeffer — die Insel Java ist noch groBer, aber noch nicht fertig -
auf Banda, das dreimal so grofi als der Konzertsaal ist, liefert die
Natur Muskatnusse, auf Amboina Gewiirznelken - auf Teidor '
ACHTZEHNTER SEKTOR 1 49
steht ein artiges Landhaus eines bekannten Scheerauers (des
Doktors hier selber) - die kleinen Molukken, die in den Weiher
hineinpunktiert sind, kann ich samt ihren Produkten in die Westen-
tasche stecken, sie haben aber ihr Gutes. - Wer noch in keiner
Seestadt, in keinem Hafen war: der kann hieher in den Scheerauer
reisen und selber nachmittags ein Zeuge davon werden, was in
unsern Tagen der Handel ist, den die verbundnen Hande aller
Volker heben — hier kann er sich einen Begriffvon Kauffahrtei-
fiotten machen, von denen er so viel, aber nur blind gelesen und
10 die er hier wirklich uber unsern Teich segeln sieht - er kann die
sogenannte Gewiirzflotte des Herrn Kommerzien-Agenten von
Roper sehen, die gleich einem hitzigen Klima die notigen Ge-
wiirze, die er verschrieben, unter alle Inseln austeilt - cr kann audi
auf arme Teufel stoBen, die auf ein wenig FloBholz sich aus Ost-
indien die wenigen Kaufmannsgiiter abholen, die sie kreuzerweise
absetzen — am Hafen und Ufer, wo er selber steht, kann er be-
merken, was der Kustenhandel ist, den da sogenannte Fratschler-
Weiber mit Pfeffer- und Welschen-Niissen im kleinen treiben.«
Ende von Nro. 16
20 Das zweite Stuck der Fenkischen Zeitung isteine Schilderungeben
dieses Kommerzien-Agenten von Roper ohne seinen Namen.
Wenn der Leser diese Abschweifung gelesen hat: sowird er sagen,
es war gar keine.
Nro. 21
Ein unvollkommner Charakter, so fur Romanenschreiber im Zeitung-
komptior zu verkaufen steht
Im Roman gefallen wie in der Welt keine vollkommen-gute
Menschen ; aber auch auf der andern Seite wird einer weder Lesern
noch Nebenmenschen gefallen, der ganz und gar ein Schelm ist -
30 bloB halb oder dreiviertel muB ers sein, wie alles in der groBen
Welt, Lob und Zote und Wahrheit und Luge.
150 DIE UNSICHTBARE LOGE
Im Zeitungkomptoir steht ein halber Schelm und wird alien
Romanschreibern im Scheerauischen urn das wenige, was sie dafiir
geben konnen, verkauflich erlassen. Ich versichere die Herrn
Schreiber, daB ich etwa nicht die Unvollkommenheiten dieses
Schelms iibertreibe, um ihn teuerer abzusetzen; der Inhaber
nimmt den Schelm wieder zuriick, wenn er nicht Bosheit genug
hat.
Dieser unvollkommne Charakter wurde im Kirchenstaat ge-
zeugt und an der Grenze von Unter-Italien geboren ; und kaufte
sich, nach seiner Taufe und Mundigkeit, Hecheln und Mausfallen. 1
Die wenigsten Deutschen wissen, daB sie die Italiener, bei denen
dieser Handelzweig bliihet, reich auskaufen. Unser Charakter
schwang sich bald von einem Hechel-Kommissionar zu einem
Hechel-Associe empor; er verfertigte die Mausfallen, die er aus
Italien bezog, in Deutschland, und die Mauslocher waren sein
Ophir und die Flachsfelder seine Miinzstadte. Die Hechel, die er
vor dem Einkauf seines Adeldiploms an gegenwartigen Tiermaler
verkaufte, schlug er ihm fur sechstehalb Gulden los.
Er muB schon vor seiner Geburt in der andern Welt in einem
gro.Ben Hause gehandelt haben; denn er brachte eine Kaufmann- :
Seele schon fertig mit. Es war nicht klug von mir, daB ichs nicht
eher erzahlet habe, daB er als Knabe von neun Jahren in seiner
Blatterkrankheit einen kleinen Kaufladen aufsperrte und mit dem
Pockengifte feil hielt, das man aus seiner Apotheke, namlich von
seinem Korper nahm zum Einimpfen. Er gab keine Blatter um-
sonst her, sondern verlangte sein Geld dafiir und sagte, er sei ein
Pocken-Samereihandler, aber noch ein junger Anfanger. Diesen
Handel mit eigner Manufaktur legt' ihm bald der Arzt und die
Natur, und der Doktor sagte, er sei so teuer wie ein Apotheker.
Daher wollt' er sogar selber einer werden.
Er wurd' auch einer, aber nach dem mecklenburgischen Idio-
tikon; denn in diesem heiBet jeder Materialladen eine Apotheke.
Namlich in Unterscheerau anderte er die Religion und den Nahr-
zweig und bauete sich einen Laden, der bloB fur Kaufer Hechel
und Mausfalle war. Hier hielt er sich einen Ladenjungen, ein
Kiichenmensch, einen Friseur, einen Barbier und einen Vorleser
ACHTZEHNTER SEKTOR I 5 I
des Morgensegens - alle diese Personen machten nur cine
Person aus, seine eigne; diese war und tat wie ein Ensoph
alles.
Da bei unserem Schelm als einem unvollkommnen Charakter
Tugenden in Fehler vererzt sein mussen - ich wiird' inn sonst
keinem Roman-Bauherrn antragen — : so nehme man mirs nicht
ubel, daB ich auch seine weiBe Seite neben seine schwarze bringe,
wie man auf boheimischen Tafeln immer weiBe und schwarze Ge-
richte nebeneinander stellet.
10 Er ging damals Sonntags aus seinem Laden bei aller erlaubter
Sparsamkeit doch gut gekleidet heraus. Seinen Hut, seine Ring-
finger und seine Weste bordierte echtes Gold; seinen Magen und
seine Waden spann der Seidenwurm cin und seinen Riicken das
englische Schaf. Es ist ganz der menschlichen Bosheit gemaB, das
Verschwendung zu nennen, was hier seltene verheimlichte Wohl-
tatigkeit war; alles, was der unvollkommne Charakter anhatte,
waren - Pfander; denn urn die Leute vom Verpfanden abzu-
bringen, drohte er jedem, jedes Pfand, worauf er leihe, wurd' er
so lange anziehen, als es bei ihm stande. Auf diese Art hielt er
20. manchen ab, und die Kleidung dessen, bei welchem menschen-
freundliches Warnen nichts verfing, legte er wirklich Sonntags
nach dem Essen an. Es war daher weniger Mangel an Geschmack
als an Geiz und Harte, daB er an sich, so wie mehre Dienst-
Personen, so auch mehre Kleider vereinigte und so bunt aufschritt
wie ein Regenbogen oder wie eine Kleidermotte, die sich von
Tuch zu Tuch durchfriBt.
Da ich so gewiB weiB, daB Verschwendung ihn nicht verun-
zierte, so sehr es den Anschein hat ; so will ich alien Anschein durch
die Nachricht wegnehmen, daB er jeden Sonnabend sein Pfund
50 Fleisch im Zolibate kaufte, aber - denn sonst bewiese es noch
nichts - nicht aB. Er aB allerdings eines und mit dem Loffel; aber
es war vom vorigen Sonnabend. Der unvollkommne Charakter
holte namlich jeden Sonnabend sein Andachtfleisch aus der Bank
und veredelte und dekorierte damit sein Sonntag-Gemus. Aber er
nahm nichts zu sich als den vegetabilischen Teil. Am Montag
hatt' er den tierischen noch und wiirzte mit ihm ein zweites Ge-
I J2 DIE UNSICHTBARE LOGE
mus - am Dienstage arbeitete das abgekochte Fleisch mit neuem
Feuer an der Kultur eines frischen Krautes - am Mittwoch muBt'
es vor ihm mit matten Fettaugen auf einer andern Krautersuppe
liebaugeln - und so ging es fort, bis endlich der Sonntag erschien,
wo das ausgelaugte Fleischgeader selber zum Essen, aber in einem
andern Sinne, kam und Roper das Pfund wirklich aB. Ebenso
kann man mit einem Pfund Leibnizischer, Rousseauischer, Ja-
kobischer 1 Gedanken ganze Schiffkessel voll schriftstellerischen
Bldtterwerks kraftig kochen.
Diese Sparsamkeit legierte der unvollkommne Charakter noch 10
mit einigem Betrug. Er interpolierte die Giiter, die er gut bekam,
und schrieb zuriick, er habe sie schlecht bekommen, sie waren so
und so und er konnte sie nur um den halben Preis gebrauchen.
Ein Drittel des Preises spielt' er so dem Kaufmann geschickt ge-
nug aus der entfernten Tasche. Waren, Fasser, Sacke, die inseinem
Hause nur ein Absteig-Quartier hatten und weiterreisen mufiten,
gaben ihm den Transito-Zoll durch ein kleines Loch heraus, das
er in sie hineinmachte, um das wenige daraus sich zu entrichten,
was dem Fuhrmann aufgebiirdet werden konnte, wenns fehlte. -
Er legte ein Miinzkabinett oder Hospital fiir arme invalide ampu- 20
tierte Goldstucke an. Andern verrufenen Munzen gab er den ehr-
lichen Namen, den sie verloren, wieder und zwang seine Faktore,
sie als Iegitimiert und rehabilitiert anzunehmen. Ein Goldstuck
1 Friederich Jakobi in Diisseldorf. Wer an seinem Woldemar - das Beste,
was noch iiber und gegen die Enzyklopadie geschrieben worden - oder an
seinem Allwill - wodurch er die Stiirme des Gefuhls mit dem Sonnenschein
der Grundsatze ausgleichet - oder an seinem Spinoza und Hume - das Beste
iiber, fiir und gegen Philosophic- die zu grofte Gedrungenheit (die Wirkung
der altesten Bekanntschaft mit alien Systemen) oder den Tiefsinn oder die
Phantasie oder einige Ziige, die gewisse seltnere Menschen heben, bewundert : 3°
einem solchen wird dabei das erste Anbellen, unter welchem Jakobi in den
Tempel des deutschen Ruhms treten muBte, sehr widrig ins Ohr fallen; aber
er muB sich nur erinnern, da6 in Deutschland (nicht in andern Landern)
neue Kraftgeister immer an der Tempelschwelle anders empfangen werden
(z . B. von bellenden Dreikopfen) als im Tempel selber, wo die Priester sind ;
und sogar einem Klopstock, Goethe, Herder ging es nicht anders. Aber voll-
ends du armer Hamann in Konigsberg! Wie viele Mardochais haben in der
Allgemeinen deutschen Bibliothek und in andern Journalen an deinem Galgen
gezimmert und an deinem Hangstrick gesponnen ! - Inzwischen bist du doch
glucklicherweise nur scheintot vom Galgen gekommen.
ACHTZEHNTER SEKTOR 1 5 J
mochte noch so schlecht in sein Haus gekommen sein, er dankte es
wie einen Offizier nie ohne Avancement ab. So decken solche
edlere Seelen sogar die Mangel des Geldes mit dem Mantel der
Liebe zu.
Auf diese Art breiteten sich seine Kaufmanns- und Feldgiiter
immer mehr aus, und in seinem von der freundschaftlichen Warme
des Publikums angebriiteten Herzen regte sich, wie ein Ei-Infu-
siontierchen, ein federloses durchsichtiges mattes Ding, das er
Ehre nannte. Der unvollkommne Charakter HeB sich also einen
10 Charakter als Kommerzienrat kommen.
Jetzt, da er die Ehre recht beim Flugel und aufs Papier be-
festigt hatte, konnt' er sie eher beleidigen als vorher, als er sie noch
nicht unter seinen Papieren besa3. Er machte also seine Lieb-
erklarung dem reichsten und geizigsten Vater einer schonen Toch-
ter, welche die Liebe gegen einen Offizier zum letzten Schritte
hingerissen hatte. Die Tochter haBte seine Lieberklarung; aber
der Charakter mit Hiilfe des Vaters bemachtigte sich ihrer strau-
benden Hand, zog sie daran zum Altar, schraubte den Ring ihr
an und pfahlte ihre Hand in seine. Ihr zweites Kind war sein
20 erstes. 1
Da indessen seine Ehre sich nach diesem Blutverlust und diesen
Ausleerungen schlecht auf den FuBen erhaiten konnte: so muBt*
er daran denken, ihr ein recht starkendes Amulett, ein Ignatius-
Blech, einen Lukas- und Agathazettel umzuhangen - ein Adel-
diplom. Sie wurde aus der Reichshofrats-Kanzlei von Wien auch
gliicklich hergestellt.
Da er nicht mit seiner Frau, sondern nur mit seinen Glaubigern
Guter-Gemeinschaft hatte: beurlaubte er sich vom Kaufmann-
stande mit einem unschuldigen Falliment und rettete sich und sein
30 reines Gewissen und die Giiter seiner Frau und seine eigne auf
seinen Landgiitern, um da seinem Gott zu dienen.
Ich meine seinen Gottern. - Freunde hatte iibrigens der un-
1 Gebe doch der Himmel, dafi der Leser alles versteht und sich hier nur
einigermaCen noch der ersten Sektoren erinnert, wo ihm erzahlt wurde, dafi
die Frau des Kommerzien-Agenten Roper die erste Geliebte des Rittmeisters
Falkenberg gewesen und dem Agenten ihren Erstgebornen von dem Ritt-
meister als Morgengabe zugebracht.
154 DIE UNSICHTBARE LOGE
vollkommne Charakter nicht. Seine BegrifFe von Freundschaft
waren zu edel und hoch und verlangten die reinste uneigenniitzig-
ste Liebe und Aufopferung vom Freunde ; daher ekelten ihn die
niedrigen Tropfe um ihn an, die nicht sein Herz, sondern seinen
Beutel verlangten und die ihn bloB an sich driickten, um etwas
aus ihm herauszudrucken. Er konnte einen solchen Eigennutz
nicht einmal vor sich sehen, und sein Haus Htt daher, wie die
menschliche Luftrohre oder wie Sparta, nichts Fremdes in sich.
Er glaubte mit Montaigne, man konne nicht mehr als einen Freund,
so wie eine Geliebte, recht lieben; daher schenkt* er sein Herz 10
einer einzigen Person, die er unter alien am hochsten schatzte -
seiner eignen namlich - diese hatt' er gepruft; ihre uneigenniitzige
Liebe gegen ihn selber vermochte ihn, daB er Ciceros Ideal er-
reichte, welcher schrieb, daB man fur den Freund alles, sogar das
Schlimme tun konne, was man fur sich nicht tate.
Er ist der groBte Stoiker im Scheerauischen; er sagt nicht bloB,
an alien Vergnugungen sei nichts: sondern er verachtet auch alle
zeitliche Giiter, weil sie ihn nicht glucklich machen konnen. Diese
Verachtung derselben ist vom heftigsten Bestreben nach ihnen
wohl nicht zu trennen, weil ein Weiser, wie die Stoiker in der Note 1 20
sagen, ein Leben, in dessen Mobiliarvermogen nur eine Kratz-
biirste oder ein Stallbesen driiber ist, einem Leben, dem bloB dieses
wenige fehlte, vorziehen wird, ob er gleich nicht durch jenes
gliicklicher wird. Daher legt der unvollkommne Charakter auf
die kleinsten Effekten, wie der alte Shandy auf die kleinsten Wahr-
heiten, einen so groBen Wert wie auf die groBten; daher muB er
mit den NuBschalen heizen, mit abgelosten Siegeln siegeln, auf
fremde leere Briefraume eigne Briefe schreiben etc. Der unvoll-
kommne Charakter hat hierin Ahnlichkeit mit dem Geizigen, der
mit ahnlichen Kleinigkeiten wuchert und den keine Griinde wider- 30
legen konnen : denn wenn ich einen Groschen nicht wegwerfen
darf, so darf ich auch keinen Pfennig, keinen halben Pfennig,
keinen -7^ Pfennig- die Griinde sind dieselben.
1 Si ad ill am vitam, quae cum virtu te degatur, ampulla aut strigilis accedat,
sumturum sapientem earn vitam potius quo haec adjecta sint nee beatiorem
tamen ob earn causam fore. Cic. de finib. honor, et mal. Lib. IV.
ACHTZEHNTER SEKTOR I 55
Im Menschen liegt ein entsetzlicher Hang zum Geiz. Den groB-
ten Verschwender konnte man zu noch etwas Schlimmern, zum
groBten Knicker machen, wenn man ihm so viel gabe, daB er es
fiir viel und der Vermehrung wert hielte; und umgekehrt. So will
der Wassersuchtige desto mehr Wasser, je hoher er davon ge-
schwollen ist; mit seinem Wasser fallet zugleich der Durst dar-
nach.
Der unvollkommne Charakter dankt dem Himmel fiir zweier-
lei, erstlich daB er in keinen Geiz, zweitens in keine Verschwen-
io dung gefallen sei — daB er seiner Frau und seinem Kinde nichts
versagt, alles gibt und blofi dummen Leuten, die Stoff zur Ver-
schwendung behalten wollen, diesen Stoff aus den Handen nimmt,
wie die alten Deutschen, Araber und Otaheiter nur Fremde, nie
aber Inlander bestehlen - daB er keusch ist und lieber die Geld-
katze eines Kaufmanns als den Gurtel der Venus loset - daB er
Armen ganz anders beispringen wollte, wenn er so viel Pfennige
hatte wie der und der -. daB er aber gleichwohl sein biBchen sich
so wenig wie der Traurige seinen Kummer nehmen lasse und daB
er einmal am Jiingsten Tage werde befragt werden, ob er mit
10 seinen Pfunden (Sterling) gewuchert. —
Dieser verkauf liche Charakter im Zeitungkomptoir ist wie ein
englischer Missetater Ware und Verkaufer zugleich und will vom
Romanschreiber nichts fur sein ganzes Wesen haben als gratis
den Roman, in den er geworfen wird.
So weit Fenk, der alle Menschen trug, aber keinen Unmenschen,
keinen Filz. Ich habe diesen unvollkommnen Charakter fur meine
Biographie an mich gehandelt (denn er selber existiert auch bio-
graphisch unter dem Namen Roper); es fehlet ihr ohnehin an
echten Schelmen merklich; ja wenn ich auch Ropern mit den
$o Teufeln der epischen Dichter vergleiche und mich mit den Dich-
tern selber: so sind wir beide doch nicht sehr grofi.
Wenn die Leser einen Brief vom Doktor Fenk hatten, der seine
vorige Harte entschuldigte - der uns an Scheerau, an den Doktor
und an eine mir so Hebe Person erinnerte und der zum Ganzen
recht paBte: so wiirden sie den Brief in die Lebensbeschreibung
I 56 DIE UNSICHTBARE LOGE
mit einkniipfen. Ich habe den namlichen Brief und das namliche
Recht; und schicht' ihn hier ein.
Fenk an mich
„Nimm den armen Oberbringer dieses zum Klienten an; der
MauBenbacher hat seine Saug- und Schopfwerke dem armen Teufel
eingeschraubt und zieht. Die samtlichen Spitzbuben yon Advo-
katen in Scheerau dienen ihm gegen keinen reichen Edelmann zu
Patronen, den sie einmal zu ihrem eignen zu bekommen wiinschen.
Ich bin zwar selber taglich in MauBenbach und advoziere; aber
der Knicker nimmt keine uneigenniitzigen Griinde an; und sonst 10
hat Roper fiir alles andre Gefuhl und Vernunft. Es wird einmal
eine Zeit kommen, wo man unsre vergangne Dummheit so wenig
begreifen wird als wir kunftige Weisheit, ich meine, wo man nicht
bloB, wie jetzo, keine Bettler, sondern auch keine Reichen dulden
wird.
Vom Vater einer schonen Tochter zwingt man sich gut zu
denken. Ich notige mich auch: an deiner Klavierschulerin Beata
sahest du nur die griinen Blatter unter der Knospe; jetzo konntest
du die aufbrechenden Rosenblatter selber sehen urtd den Duft-
Nimbus darum. Eine solche Tochter eines solchen Vaters! Das 20
heiBt, die Rose bluht auf einem schwarzen, im Schmutze saugen-
den Wurzelgeflecht.
Ich bin dort, sie zu heilen; der Alte will fiir sein Geld was
haben; aber in MauBenbach bedenkt kein Mensch, daB der Abt
Galiani, den man vier Tage vor meiner Abreise aus Italien begrub,
gesagt hat, daB die Weiber ewige Kranke sind. Jedoch bloB an
Nerven; die Gefuhlvollsten sind die Kranklichsten; die Verniinf-
tigsten oder Kaltesten sind die Gesiindesten. Wenn ich ein Fiirst
ware: ich resolvierte fiirstlich und setzte in einem allerhochsten
Reskript Hausarrest darauf, wenn eine Frau auch nur einen ein- 30
zigen Medizinldffel austranke. Ihr armen hintergangnen Ge-
schopfe, warum habt ihr so viel Zutrauen zu uns Mannern iiber-
haupt und zu uns Doktoren insbesondere und lasset es euch gern
gefallen, daB wir, die Arzneiglaser wie in einer Reiheschank ver-
zapfend, euch auf einem Medizinwagen so lange spazieren fahren,
ACIITZEHNTER SEKTOR 1 57
bis wir euch auf den Leichenwagen abladen?... So sagt' ich
manchmal zu ihnen; und dann nahmen sie alle Arzneien noch
lieber ein, die ich ihnen verordnete.
Die einzigen Arzneien, die Weibern mehr niitzen als schaden,
sind hochstens Kleider. Nach vielen Naturforschern verlangert
das Mausern das Leben der Vogel; aber auch das der Weiber, setz*
ich dazu, die allemal so lange siechen, bis sie wieder ein neues Ge-
fieder anhaben. Aus der Therapeutik lasset sichs schlecht erklaren ;
aber wahr ists; und je vornehmer eine ist, mithin je kranklicher,
10 desto ofter muB sie sich mausern, wie auch der Sumpfsalamander
sich alle ftinf Tage hautet. Ein weiblicher Krebs, der auf eine neue
Schale wartet, hockt erbarmlich in seinem Loche. Jedes Gift kann
ein Gegengift werden; und da gewiB ist, daB Kleider Kranklieiten
geben konnen, z. B. die Hektik, Pest etc. : so mussen sie unter An-
leitung eines verniinftigen Arztes auch Krankheiten heben kon-
nen. Ein aufgeklarter Medikus wird meines Bediinkens, wenn die
Hallische Hausapotheke, d.i. die Kleiderkommode, nichts hilft,
aus keiner Apotheke als aus dem Auerbachischen Hofe in Leipzig
rezeptieren. Da du mancher PreBhaften damit beispringen kannst :
20 so will ich dir aus meiner weiblichen materia medica folgende
offizinelle Halstticher, Kleider etc. hersetzen :
Stahlarzneien sind Stahlrosetten und Stahlketten. Der Stahl-
und Magenschild des atlassenen Gurtels erwarmt den Magen und
andre intestina sehr.
Die Edelsteine, die sonst aus Apotheken gegeben wurden,sind
noch jetzo auBerlich gut zu gebrauchen.
Blumenbouquets, sobald sie von Seide sind, sind probate Arz-
neipflanzen und starken durch den Geruch das Gehirn.
Schals sind Brustarzneien, und nicht ein roter Faden (welches
3 o Aberglaube ist), sondern ein Halsband mit einem Medaillon ist
nach neuern Arzten kranken Halsen dienlich.
Mit der peruvianischen Rinde wird viel betrogen, aber echte ist
ein Rock a la peruvienne.
Da alle Wunden nach der neuern Chirurgie durch bio Be Be-
deckung geheilet werden : so tut statt des englischen Taftpflasters
bloBer Taft am Leibe dieselben Dienste.
158 DIE UNSICHTBARE LOGE
Ein neuer Visitenfacher ist bei starken Ohnmachten unentbehr-
lich; ob aber ein Muff unter die erweiehenden Mittel, falsche
Touren unter die Haarseile, und ein Sonnenschirm unter die
kiihlenden Mittel, und eine Kleidgarnitur unter die Bruchbander
und Bandagen gehore - das konnen ein oder dreihundert Beispiele
noch nicht erweisen.
Wir halten uns lieber daran, daB ein Frisierkamm ein Trepan
gegen Kopfubel, eine Repetieruhr gegen intermittierenden Puis
und ein Ballkleid ein Universale gegen alles ist.
So ist also, scherzhaft zu reden, der Damenschneider ein Ope- 10
rateur, sein Nahfinger ein Arzneifinger, sein Fingerhut ein Doktor-
hut
. . . Warum vergaB ich dich, edle Beata? Dich heilt eine Pariire
nicht; und wenn kiinftig einmal dein schones Herz erkrankte: so
wiirde nichts es heilen als das beste Herz, oder es sturbe. —
Wundere dich iiber mein Feuer nicht. Ich komme gerade von
ihr und vergesse alle Fehler, die ich vor vierzehn Tagen noch von
ihr wuBte. Madchen, die oft krank sind, gewohnen sich eine Miene
von geduldigem Ergeben an, die ){um Sterben schom ist. Ich habe
ihren Lieblingausdruck unterstrichen, aber nur von ihrer Zunge 20
kann er im schonsten sterbenden sinkenden Laute flieBen. Diese
Geduld gewohnet ihr auBer ihren ewigen Kopfschmerzen auch
ihr Vater an, der sie gleich sehr qualt und liebt und der ihr zu Ge-
fallen (nach dem Egoismus des Geizes) eine Welt abschlachtete.
Wenn die Seek mancher Menschen (sicher auch diese) zu zart und
fein fur diese Morast-Erde ist : so ist es auch oft der Korper mancher
Menschen, der nur in Kolibri- Wetter und in Tempe-Talern und
in Zephyrn ausdauert. Ein zarter Korper und ein zarter Geist rei-
ben einander auf. Beata hangt, wie alle von dieser Kristallisation,
ein wenig zur Schwarmerei, Empfindsamkeit und Dichtkunst hin ; 30
aber was sie in meinen Augen hoch hinaufstellt, ist ein Ehrgefuhl,
eine demutige Selberachtung, die (meinen wenigen Bemerkungen
nach) ein Erbteil nicht der Erziehung, sondern des giitigsten
Schicksals ist. Diese Wiirde sichert ohne prude Angstlichkeit die
weibliche Tugend. Wenn man aber dieses weibliche point d'hon-
neur erst einerziehen, ja einpredigen muB - ach wie leicht ist nicht
ACHTZEHNTER SEKTOR 159
eine Predigt besiegt! - Weiber, die sich selber achten, umringt
eine so voile Harmome aller ihrer Bewegungen, Worte, Blicke!
... Ich kann sie nicht schildern, aber die sind zu schildern, die der
Rose gleichen, welche unten, wo man sie nicht bricht, die langsten
und hartesten Dornen hat, aber oben, wo man sie geniefiet, sich
nur mit weichen und umgebognen verpanzert.
Ich weiB nicht, ob es dir etwas Altes ist, daB Tochter ihren
Miittern jede Wahrheit und alle Geheimnisse sagen; mir ists etwas
Neues, und nur eine beste Tochter, wie Beata, kann es.
io Vor vierzehn Tagen erinnerte ich mich eines Fehlers von ihr
nicht so schwach als heute, welcher der ist, daB sie zu wenig Freude
an der - Freude und zu groBe an traurigen Phantasien hat. Es
gibt zu weiche Seelen, die sich nie freuen konnen (so wie nic be-
leidigt fiihlen), ohne zu weinen, und die ein groBes Gliick, eine
gro fie Giite mit einem seufzenden Busen empfangen. Wenn aber
diese vor rohen Seelen stehen, die den verborgnen Dank und die
stumme Freude nicht erraten konnen : so werden sie gezwungen,
nicht Empfindung, aber den Ausdruck derselben vorzuheucheln.
Beatens Vater will fur jedes seiner Geschenke, deren Wert er bis
20 zu Apothekergranen auswiegt, eine springende Freude; sie hin-
gegen fuhlt hochstens spater darauf eine; die Erscheinung irgend-
eines lichten Gliicks selber blitzet ihr auf einmal iiber alle traurige
Tage hin, die wie Graber in ihrer Erinnerung liegen. Auch an
dieser Beata sen' ichs wieder, daB der weibliche Leib und Geist
zu zart und zu wallend, zu fein und zu feurig fur geistige An-
strengung sind und dafi beide sich nur durch die immerwahrende
Zerstreuung der hauslichen Arbeit erhalten; die hohern Weiber
erkranken weniger an ihrer Diat als an ihren exzentrischen Emp-
findungen, die ihre Nerven wie den Silberdraht durch immer
30 engere Locher treiben und sie aus Fadennudeln in geometrische
Linien zerdehnen. Eine Frau, wenn sie S chillers Feuerseele hatte,
stiirbe, wenn sie damit eines seiner Stiicke machte, im fiinften
Akte selber mit nach.
Ich verstehe deine verliebte Fragartikel recht gut: freilich steigt
der geheime Legationrat von Oefel hier oft aus. Er scheint zwar
keine zartlichern Geschafte hier zu haben als kaufmannische und
l6o DIE UNSICHTBARE LOGE
vom Kommerzien-Agenten nichts verschrieben zu fodern als
Pfeffer fur Zeylon und Muskatnusse fur Sumatra, folglich seine
Tochter und ihre Giiter am allerwenigsten. - Desgleichen ist die
Minister in, dieser Zoll- und Almosenstock voll mannlicher Her-
zen, zwar auch mit da und hat Oefels angeohrtes oder gehenkeltes
schon an ihren Reizen hangen; aber der Teufel trau' geheimen
Legationraten, zumal Oefeln. Ich sage dir, er mag Beaten kapern
oder nicht, so wundert fnich jedes. Du wirst dieh freilich damit
trosten, lieber Jean Paul, daB du erstlich groBere Reize hast als er
und zweitens gar nicht weiBt, daB du die Reize hast, welches in 10
der Konversation viel tut. Es ist wohl etwas daran; denn Oefel
will nicht sowohl gefallen als bloB zeigen, daB er gefallen konnte,
wenn er nur wollte, und er erlaubt sich daher alle Launen, bloB
damit man etwas zu tadeln und zu vergeben und er gutzumachen
habe* er ist auch - weil ein Hofmann und ein Demant auBer der
Harte noch reine Farbenlosigkeit haben miissen, um fremde Far-
ben und Lichter treuer nachzustrahlen - so gar zu einem Hofmann
zu eitel und kauft sich mit fremder Gunst nur seine eigne. Ich will
dich mit noch mehr >Zwars< trosten, bis ich meine Aber hole.
Beata sieht zwar aus, als ob sie sich alle Minuten frage : > warum 20
bewunder' ich ihn nicht?<; die Ministenn sieht aus, als ob sie jene
alle Minuten frage: >warum beneidest du mich nicht, da mein
Lehnmann ein Forte-Piano mit hundert Zugen und Tritten ist
wie ich selber?< - denn er behalt keine Stellung und kann sich in
jede wagen; jede Bewegung scheint aus der andern herzuflieBen;
seine Seele andert ebenso spielend wie der Korper die Positionen
und biegt sich, wie ein Springbrunnen bei Wind, in die entlegen-
sten Materien hinuber; ihn macht nichts irre, er jeden; er weiB
hundert Eingange zu einer Predigt, fangt an, um anzufangen,
bricht ab, um abzubrechen, und weiB selber nicht eher als seine 30
Zuhorer, was er will — kurz es ist ein Nebenbuhler, lieber Paul ! -
Ich kann jetzt das versprochene Aber nicht recht hereinbringen.
Aber obgleich meine schone Patientin ihn so kalt uberblickt
wie einen, der uns ein Kleid anprobiert, so setzt er doch das Gegen-
teil voraus und wirft Leuchtkugeln zu seiner Erhellung und
Dampfkugeln zu ihrer Verfinsterung in sie und sticht schon im
ACHTZEHNTER SEKTOR I 6 1
voraus die Miinzstempel fur seine kunftige Eroberung-Medaillen.
- Manner oder Mannchen wie Oefel haben einen solchen Ober-
fluB von Treue, daB sie ihn nicht einer, sondern unter tausend
Weibern verteilen mussen ; Oefel will ein ganzes weibliches Skla-
venschiff kommandieren : er fragt dabei nach dir so wenig wie
nach der Ministerin, die ihn liebt, weil es ihr letzter Liebhaber ist,
und die er liebt, erstlich weil er an ihrem Triumphwagen, vor
welchem sonst mehre Tropfe eingespannt waren, gern als Gabel-
pferd allein ziehen will, zweitens weil sie mehr List und weniger
io Empfindung als er besitzt und ihn beredet, es sei gerade umge-
kehrt.
Da ich nun unsere Beata, die du gern in dein Leben und in dein
Buch hineinhaben mochtest, in das Leben und das Buch des
Oefels (er ist audi iiber einem) verflechte, so hab' ich, trauter
Paul, dem alten Roper so viele Kabinett-Predigten daruber ge-
halten, daB die Kranklichkeit seiner Tochter nicht durch einen,
sondern durch ein paar hundert Arzte zu besiegen sei, d.h. durch
Gesellschaft - daB der Alte ihr eine Gesellschaft oder vielmehr
sie einer geben will, ohne selber fur eine die Alimentengelder aus-
20 zugeben. Er will sie auf irgendein Beet des Hofgartens verpflan-
zen: >Sie soil auch Welt mitkriegem, sagt er und hat selber keine.
Er wiirde, wenn er diirfte, die ganze weibliche Welt von ihren
Altaren und Bilderstiihlen und Prasidentenstuhlen und ordent-
lichen Sesseln auf Melkstuhle und Werkstiihle und Schemel her-
abziehen und driicken; gleichwohl sollen seiner Tochter durch
Juden und durch Diamant-Pulver Facetten oder Glanzecken an-
geschlifFen werden, die er selber hasset. Ist sie am Hofe, so sieht
sie nachher der Legationrat alle Tage — und Jean Paul hat nichts.
Dieser Jean fragte mich auch pfiffigerweise, ob er nicht Ge-
30 richthalter beim Vater der besagten Tochter werden konne, weil
er, der Jean, von dem Abdanken des jetzigen gehort habe - Herr
Kolb (eben der Gerichthalter) ist aber noch da, zankt sich noch,
sagt jede Woche : >Wenn jeder die Streiche von Roper wuBt', die
ich<,...; Roper sagt jede Woche: >Wenn jeder die Streiche von
Kolb wiiBte, die ich< , und so sind beide aneinander durch
wechselseitige Besorgnisse geleimt. — Jetzt ist ohnehin nicht da-
1 62 DIE UNSICHTBARE LOGE
ran zu denken; denn in vierzehn Tagen lasset sich der alte Roper
von seinem Rittergute huldigen. Ein Geiziger scheuet sich, zu
andern und zu wagen.
>Warum lassest du deine gute Schwester so lange im giftigen
Hiittenrauche des Hofes stehen? 1st das, was sie dort gewinnen
kann, wohl so viel wert wie das, was sie mitbringt und dort ver-
Heren kann, ihr reines, weiches, obgleich fliichtiges Herz? Auf
meinen Reisen dacht' ich anders, aber jetzt in der Einsamkeit ist
mir ein kokettes Insekt, eine kokette Krebsin, die bald vor-, bald
ruckwarts kriecht, die ihre groBe und kleine Scheren immer auf- jo
sperrt und sie immer wieder erzeugt, wenn man sie abgerissen, die
in der Brust statt des Herzens einen Magen tragt und doch kalt-
bliitig ist wie alle Insekten, eine solche inkrustierte Krebsin ist mir
widerlicher als eine schalenlose in der Mause der Empfindsamkeit,
die zu weich ist und aus der Romanschreiber die empfindsame
Krebsbutter machen. Empfindelei bessert sich mit den Jahren,
Koketterie verschlimmert sich mit den Jahren. — Warum schaffst
du deine Philippine nicht nach Haus?< Auf diese Fragen hat mir
Jean Paul nicht geantwortet; ich aber auf seine: denn ich rache
mich nicht; ich wunschte vielmehr, besagter Paul driickte Beatens 20
Finger heute an unrechte Finger mehr als auf die rechten Tasten
und jetzt im Lenz-Alter sahe sie sich neben dem Klavier fragend
nach Paulo um und uberleuchtete ihn mit dem blauen Himmel
ihres weiten Auges; der arme Teufel, eben der Paul, wiirde sich
nicht mehr kennen und dann sagen : >Ohn* ein schones Auge geb*
ich -fur alles andre Schone nicht einen Deut, geschweige mich;
aber iiber ein Himmels-Augenpaar vergess' ich alle benachbarte
Reize und alle benachbarte Fehler und den ganzen Bach und Benda,
wie er ist, und meine Mordanten und die falschen Quinten und
weit mehr.( Leb wohl, Vergefilicher! 30
Dr. Fenk.n
Wir verstehen uns, herzlicher Freund; wer selber einmal Satiren
geschrieben hat, vergibt alle Satiren auf sich, zumal die boshaf-
testen, bloB die dummen nicht. Aber, ob es der Doktor gleich im
Scherze verfochten hat, so muB ich doch solche Leser, die weit von
ACHTZEHNTER SEKTOR 1 63
Scheerau wohnen, ohneRucksichtaufmichbenachrkhtigen,daB
der besagte Legationrat Oefel die unbedeutendste Haut ist, die
wir beide nur kennen, wie er denn bloB unter Weibern weniger,
aber unter Mannern allzeit verlegen ist und im kleinen Zirkel viel
mehr als im groBen, zu geschweigen, daB er immer die Aufmerk-
samkeit aufsucht und auch erjagt, welche bescheidne Leute ge-
schickt vermeiden, die allgemeine namlich. Wenn ihm diese iiber-
all gelingt: so soil er sie doch nicht in meinem Buche haben....
Die folgende Sache ist freilich unmoglich - zumal meiner ver-
10 dammten lang- und kurzbeinigen oder sponddischen Stellage und
Konsole wegen, auf die mein iibrigens von Kennern beurteilter
Torso gelagert ist — aber ausmalen kann sich doch ein Mensch
die unmogliche Sache, welche diese ist, daB ich mich einmal Be-
aten mit einer Lieberklarung zeigte und so - wider eigne Er-
wartung- selber der Held dieser Lebensbeschreibung und sie die
Heldin wiirde ich bin ordentlich verdutzt, denn ich wollte
wahrhaftig nur sagen und setzen, dafi ich bei Roper Geriehthalter
wiirde und hernach im Grunde - weil ich jeden Gerichttag zart-
lich ware, oder eine zartliche Bestie, wie eine Frau sich ausdruckt,
20 die mehr zum schonen als schwachen Geschlecht gehort - gar sein
Schwiegersohn - Mit Freuden wollt' ich dem so guten Leser, der
Mitfreude fuhlt, alles biographisch beschreiben und ihn er-
gotzen .... Aber, wie gesagt, die Sache ist fatalerweise wohl un-
moglich, so weit ich in die Zukunft schauen kann; und dies bloB
eines verdammten unsymmetrischen Drahtgestelles wegen, das
doch der, den sein Ungliick darauf geheftet, durch tausend Gla-
suren und Rasuren wieder gutmachen will und auf welchem ja
Epiktet gleichfalls lange stand.
Im Feuer bin ich ganz aus meinem biographischen Plan her-
30 ausgegangen; es sollte bisher der Lesewelt geschickt verhalten
werden (und gliickte auch), daB alle diese Avanturen noch nicht
alt sind und daB in kurzem das Leben dieser Personen mit meiner
Lebensbeschreibung davon Hand in Hand gleichzeitig gehen
werde — Jetzt aber nab' ich alles losgeziindet - Es muB nun uber-
haupt ein neuer Sektor angefangen werden, worin mehr Ver-
nunft ist...
164 DIE UNSICHTBARE LOGE
Neunzehnter Sektor
Erbhuldigung - Ich, Beata, Oefel
Vierzehn Tage nach Fenks Brief — 1st aber auf Leser zu bauen?
- Ich weiB nicht, wohers beim deutschen Leser kommt, ob von
einem Splitter im Gehirn oder von ergossener Lympha oder von
todlichen Entkraftungen, daB er alles vergisset, was der Schrift-
steller gesagt hat - oder es kann auch von Infarktus oder von
versetzten Ausleerungen herriihren : genug der Autor hat davon
die Plackerei. So hab' ichs schon auf einer Menge Bogen dem
Leser durch Setzer und Drucker sagen lassen (es hilft aber nichts), 10
daB wir 13000 Taler beim Fursten stehen haben, welche kommen
sollen — daB ich zwar keine Jura studiert, daB ich aber doch,
wahrend ich mich zum Advokaten examinieren lassen, manchen
hubschen juristisehen Brocken weggefangen, der mir jetzo wohl
bekommt-daB Gustav Kadett werden soil und ich Gerichthalter
werden will - daB Ottomar unsichtbar und sogar unhorbar ist -
und daB mein Prinzipal zu viel verschleudert! —
Leider freilich: denn solang' er noch ein Zimmer oder einen
Pferdestand ohne tierischen Kubik-Inhalt weiB : so hangt er seine
Angelrute nach Gasten ein. Er ist wie die jetzigenWeiber nirgends 20
gesund als im gesellschaftlichen Orkan und Visiten-Dickicbt - er
und diese Weiber steigen aus einem solchen lebendigen Menschen-
Bad so verjiingt und neugeboren wie aus einem Ameisen- und
Scknecken-Bad. Er kann sich nie schmeicheln, hier nur die ge-
ringste Ahnlichkeit (geschweige mehr) mit dem Kommerzien-
Agenten Roper zu haben, der in der Einsamkeit eines Weisen und
Rentierers stille nachdenkt iiber Hausprozesse und riickstandige
Zinsen und der es weiB, daB sein SchloB nur Schenk- und Krug-
gerechtigkeit besitzt und also niemand iiber Nacht beherbergen
darf.-Falkenberg!hor aufdenBiographen! Ziehe deinen Beutel, 30
dein SchloBtor und dein Herz zuweilen zu! Glaube mir, das
Schicksal wird deine gro Bmutige Seele nicht schonen, das rennende
Gluck wird dein weiches Herz mit seinem Rade uberfahren
und zerschneiden, um sein Lottorad hinter seiner Binde vor einem
NEUNZEHNTER SEKTOR 1 65
Roper auszuladen! O Freund! es wird dir alles nehmen, was du
dem fremden Elend oder der eignen Freude geben willst, nicht
einmal den Mut wird es dir lassen, dein beschamtes Herz mit
seinen Wunden an einem Freunde zu verbergen! - und wie soil
es dann deinem Sohn ergehen? —
Und doch! - ich tadle dich nur vorher; aber nachher, wenn du
dich einmal ungliicklich gemacht durch Gliicklich-Machen : so
fmdest du Achtung in jedem guten Auge, Liebe an jeder guten
Brustl
10 ... Also vierzehn Tage nach Fenks Briefe, als mein ZogHng
schon achtzehn Jahre, aber noch ohne die Kadettenstelle war, saB
bei meinem Prinzipal ein bureau d'esprit boheimischer Edelleute
und hatte feurige Pfmgst-Zungen und Marz-Bier. Ich hatte nichts,
war aber mit drunter: ich konnt* es meinem guten Rittmeister nie
abschlagen, sondern vermehrte, wenn nicht die Gesellschafter -
man schatzet Menschen von einer gewissen zu groBen Feinheit
erst dann am meisten, wenn man von ihnen weg ist unter Men-
schen von einer gewissen Grobheit -, doch die Leute. Manche
Menschen sind wie er Visiten-PreBknechte und konnen nicht ge-
20 nug Leute zusammenbitten, ohne zu wissen weswegen, ohne sie
zu lieben; Taubstumme Hide Falkenberg ein. Es hat fur die Leser
Folgen, daB ich sagte : »Heute lasset sich Roper huldigen.« Falken-
berg, der gern Boses von andern sprach und ihnen nichts als Gutes
tat und der seinen abwesenden Erbfeinden, d.h. Geizigen, gern
Erbsen auf den Weg streuete und diese doch wieder wegfegte,
wenn jene fallen wollten, dieser war froh iiber meinen Gedanken
und iiber seinen : »Wir sollten«, sagt* er, »ihm (Roper) zum Arger-
nis heute alle hinreiten.« - In sechs Minuten saB das trinkende
bureau d'esprit und der Hofmeister auf den Gaulen ; Gustav nicht :
30 er war fur ein schoneres Schwarmen gemacht als fiir ein lautes.
Daher verwickelte Gustavs inneres Leben mich oft bei seinem
Vater, der aufieres forderte, in den verdruBlichen und vergeblichen
Versuch, dafi ich ihm beibringen wollte, worin eigentlich der hohe
Wert seines Sohnes lage - fur einen Hofmeister, der auf Ehre halt,
ist dergleichen zu fatal.
Wir sahen auf unsern Pferden Maufienbach^ das vor seinem
l66 DIE UNSICHTBAKE LOGE
adeligen Bojaren stand und ihm die Feudal-Krone auf seinen ita^
Henischen Kopf setzte. Neben dem gehuldigten Lehenherren stand
sein Justiz-Departement, sein Akzis-Kollegium, seine geheime
Landesregierung, sein Departement der auswartigen Angelegen-
heiten - namlich Herr Kolb, der.Gerichthalter, der alle diese
Kollegien vorstellte. Dieses Miniatur-Ministerium des Miniatur-
Souverans hatte auf einer Wiese - das konnten wir von weitem
sehen — einen Iangen Brief in der Hand, woraus es den Leuten
alles vorlas, was zu beschwdren war; die hundert Hande der Eid-
genossenschaft zogen sich dann durch die hartenden zwei Hande i
Ropers und Kolbes hindurch und versprachen, dem Edelmann
gern zu gehorchen, falls er seines Orts versprechen wollte, zu be-
fehlen.
Aber nach Freud* kommt Leid, nach Erbhuldigung ein bureau
d'esprit . . . Im achtzehnten Jahrhundert sind allerdings viele Men-
schen erschrocken und sehr, z. B. die Jesuiten, die Aristokraten,
auch Voltaire und andre groBe Autores erschraken oft ziemlich -
aber es erschrak doch keiner im ganzen aufgehellten Jahrhundert
so als der Kommerzien- Agent, da er sah, was kam; da er sah
1 5 Menschenkopfe und 1 5 RoSkopfe zwischen einem Artillerie- zo
train von Hunden oben uber den Berg hinunterziehen, die samt-
lich in seinem Schlosse nichts zu suchen hatten, aber zu finden
genug. Da aber auch zweitens niemand im achtzehnten Jahrhun-
dert seltner zu Hause war als er - er war es zwar, hockte aber
hinter Spiegelglas-Fenstern wie hinter Brandmauer und Schanz-
korb, weil sie ihm wie ein Gyges-Ring die Sichtbarkeit be-
nahmen — , so hatt* er sich helfen und fur so viele Saugetiere ebenso
viele Meilen entfernt sein konnen; aber auf der Wiese wars nicht
zu machen. Ein frbhlicher Mensch, und war* es ein Geiziger, will
Frohlichemachen: Roper erschrak - erstaunte - resignierte- und 30
empfing uns freudiger, als wir errieten. Er blieb im Geben heute,
we'd er einmal im Geben war.
Denn seine Lehnleute, die heute den Verstand verschworen
hatten, sollten ihn auch vertrinken; einige sauer erworbene und
ebenso sauer schmeckende zwei Eimer hatt' er als Gefangne aus
ihrem Burgverlies am Krontage losgelassen - er hatte die Fasser
NEUNZEHNTER SEKTOR 167
ihnen mit doppelter Kreide weniger angeschrieben als getunchet
und leuteriert und Fleckkugeln von Kreidenerde so lange in Hang-
bettchen darein eingesenkt gehabt, daB das GesofFfast am Ende
zu gut war, urn verschenkt zu werden. Der Filz sucht zu ersparen,
sogar indem er verschenkt. Obrigens sprang er mit seinen Lehn-
Untertanen zutraulicher und freigebiger um als mit uns geadelten
Gasten; - »so handelt ein Mann stets , der keinen Adelstolz be-
sitzt«, sagt der Rezensent; aber »so handelt der Knicker stets, dem
geringere, aber silberhaltige Leute lieber sind als standmaBige
10 nehmende Gaste und der einen eignen Bedienten uber einen frem-
denFreund und iiber den Stand die Nutzbarkeithinaufsetzt«, sag*
ich. - Luise, die Kommerzien-Agentin von Roper, legte jeder
Bier-Arche ihres Mannes noch eine kleine Schaluppe zu; seine
Geschenke waren ihr allemal ein Vorwand, geheime Zusatze dazu
zu machen. Nur befahl sie dem Dorfrichter, ein wachsames Auge
darauf zu haben, daB ihr von der Bierhefe nichts verloren gehe.
Die Natur hatte ihr eine freie liebende Seele gegeben; aber eben
diese Liebe fur ihren Mann HeB ihr von seinen Fehlern wenigstens
den Schein.
20 Du treues Herz! Lasse mich einige Zeilen bei deiner ehelichen
Uneigenniitzigkeit verweilen, die alle eigne Wiinsche fur Siinden
und alle Wiinsche ihres Mannes fiir Tugenden halt, und der kein
Lob gefallet als eines auf den, welchen du iibertrirTst! Warum bist
du nicht einer Seele zugefallen, die dich nachahmt und kennt und
belohnt? Warum waren dir fur deine Aufopferungen, fur deine
Herzensrisse hienieden keine schmerzstillenden Tropfen als die
beschieden, die deinetwegen aus den schonen Augen deiner Toch-
ter fallen? - Ach du erinnerst mich an alle deine Leidens-Mit-
schwestern. — Ich weiB es zwar aus meiner Seelenlehre recht gut,
30 ihr armen Weiber, daB euere Leiden nicht so groB sind, als ich
mir sie denke, eben weil ich sie denke und nicht fiihle, da der
Blitz, der in der Ferne der Vorstellung zu einer Flammen-Schlange
wird, in der Wirklichkeit nur ein Funke ist, der durch mehre
Augenblicke schieBet; aber kann sich ein Mann, ihr weiblichen
Wesen, die Seelen-Schwielen und Bruche denken, die sein grober,
von WafFen geharteter Finger in euere weichen Nerven driicken
l68 DIE UNSICHTBARE LOGE
muB, da er nicht einmal so sanft mit euch umgeht, wie ihr mit
ihm, oder er selber mit saftvollen glatten Raupen, die er nur mit
dem ganzen Blatte, worauf sie liegen, wegzutragen wagt? . . . Und
vollends eine Luise und eine Beata ! - Aber ware Jean Paul nur
euer Gerichthalter, wie ihm der Alte zugesagt, er wollt* euch
trosten genug —
Es ist aber auf den Alten schlecht zu bauen : schleicht er nicht in
ganz Unterscheerau umher und voziert im voraus alle Advokaten
zu seiner Gerichthalterei, urn uns Rechtsfreunde durch die Hoff-
nung, unter ihm zu dienen, vom Entschlusse wegzubringen , gegen 10
ihn zu dienen? — Inzwischen muB ers doch mit einem ehrlich
meinen, der ich wohl bin.
Als die boheimische Ritterschaft und ich von der Wiese ins
SchloB eintraten: so stieB sie und ich auf etwas sehr Schones und
auf etwas sehr Tolles. Das Tolle safi beim Schonen. Das Tolle
hieB Oefel, das Schone hieB Beata. Der Himmel sollte einem Au-
tor eine Zeit geben, sie zu schildern, und eine Ewigkeit, sie zu
Heben; Oefeln kann ich in drei Terzien ausmalen und auslieben.
Es gereichte mir und ihr zur Ehre, daB sie in ihrem alten Klavier-
Lehrer sogleich den Bekannten wiederfand; aber es gereichte mir 20
zu keiner Freude, daB sie am Bekannten nichts Unbekanntes ent-
deckte und daB sie bei meinem Anblick sich nicht erinnerte, aus
einem Kind ein Frauenzimmer geworden zu sein. - Es gibt ein
Alter, wo man Schonen doch verzeiht, wenn sie uns auch nicht be-
merken und nicht annehmen. O ich verzieh dir alles, und der
groBte Beweis ist der, daB ich davon spreche. - Der junge Jung-
ling bewundert und begehrt zugleich, der altere Jiingling ist fahig,
bloB zu bewundern. Beatens Empflndungen und Worte sind noch
der blendend weiBe und rekie frische Schnee, wie sie vom Himmel
gefallen sind: noch kein FuBtritt und kein Alter hat diesen Glanz 30
beschinutzt. Sie wurde noch schoner, weil sie heute tatiger war als
sonst und ihre schonen Schultern den Lasten der Mutter lieh- die
blasse Mond-Aurora, die sonst auf ihren Wangen den ganzen
Himmel weiB lieB, uberfloB ihn mit einem Rosen- Widerschein;
auch die fremde Freude, fur die sie heute tatig war, gab ihr das
erhohte Kolorit, das sie sonst durch eigne verlor. - Die Madchen
NEUNZEHNTER SEKTOR 1 69
wissen nicht, wie sehr sie Geschaftigkeit verschonere, wie sehr an
ihnen und den Taubenhalsen das Gefieder nur schillere und spiele,
wenn sie sich bewegen, und wie sehr wir Manner den Raubtieren
gleichen, die keine Beute haben wollen, welche festsitzt.
Ihre Mutter sagte mir freudig die Ursache, weswegen der Lega-
tionrat dasitze : er hatte Beaten eine Einladung von der Residentin
von Bouse gebracht, auf ihr Landgut zu kommen, wo meine
Schwester auch ist. Das neue SchloB Marienhof liegt eine halbe
Stunde von der Stadt; am neuen hat Oefel das alte innen, das
10 vielleicht durch geheime Tiiren mit jenem zusammenhangt. Er
gab unhoflicherweise zu erraten, ohne sein feines Intrigieren -
d. h. er machte, wie die Advokaten, iiber den schmalsten Bach eine
Briicke statt eines Sprunges - war* es hinkend gegangen. Unmog-
lich kann ein solcher eitler Narr von seinem Herzen einen Schiefer-
Abdruck in einen so edlen Stein, als Beata ist, auspragen. Wenn
sie auch der Faselhans kunftig alle Nachmittage im neuen Schlosse
• umlagert, wie er tun wird : so kann ich mich doch darauf verlassen
- ja ich wollte dafur schworen. Ein Haselant seiner Grofie kann
zwar ein paar eckige begrasete Landfraulein (wie heute geschah)
zo zu einem verliebten Erstaunen liber seine Glockenpclypen-Dre-
hungen, iiber seinen Mut, iiber seinen Verstand (d.h. Witz) und
seine Unverschamtheit zwingen, statt Damen und Schonen bloB
zu sagen Weiber - das kann er und mehr, sag* ich; aber von Be-
atens Herz werden ihn ewig alle ihre Tugenden trennen; sie wird
neben seiner Liebe zur Ministerin seine zu ihr selber gar nicht
sehen und nicht glauben; sie wird ihre Seele keinen Oefelschen
empfindelnden Floskeln offnen, die, wie das falsche Geld, bald
zu groB sind, bald zu klein. - Sie wird vielmehr finden, mit einem
ehrlichen Jean Paul sei mehr anzufangen; sie wird, hofF ich, be-
30 sagtem Paul die Ahnlichkeit, die er mit Oefel in einigen Vorziigen
haben mag, gern verzeihen, da'er ohne seine Fehler ist und mit
einem treuen bescheidenen Herzen vor ihr stent, das kaum den
Mut hat, ihr das feinste Goldblatt des Lobes leise aufzuhauchen,
und welches schweigt, auch miBverstanden, und zuriickweicht,
auch ohne versucht zu haben Sie wird in ihrem Urteile ge-
rade so von den alten Landfraulein abweichen wie ich von den
170 DIE UNSICHTBARE LOGE
jungen Landjunkern, die mit dasaBen. Denn Oefels Erscheinung
nahm ihnen alien vorigen Witz und Verstand, und sein queck-
silberner Anstand goB alle ihre Glieder mit Blei aus; sie zogen in
einer Falkenbeize, wo ein solcher Vogel die weiblichen Herzen
stieB, ihre plumpen Schwingen an sich und bewunderten vermoge
der mannlichen Aufrichtigkeit statt der weiblichen Reize seine -
Hingegen Jean Paul blieb, wie er war, und lieB sich nichts an-
haben.
Ich wiirde manchen deutschen Kreis auf die Vermutung einer
heimlichen Eifersucht bringen, wenn ich gar nichts zum Lobe 10
Oefels sagte: er versprach am namlichen Nachmittag meinem
Zogling einen groBen Dienst. Er hielt sich namlich, ob er gleich
das alte SchloB neben der Residentin zur Miete hatte, nicht darin,
sondern im Scheerauer Kadettenhause auf und riickte von Zimmer
zu Zimmer, um - da ihm sein hoher Stand verbot, sich sonderbar
zu kleiden - wenigstens sonderbar zu handeln; er wollte da Men-
schen studieren, um sie in Kupfer stechen zu lassen. Er setzte nam- •
lich einen Roman als eine kurze Enzyklopadie fiir Erbprinzen und
Kronhofmeister auf und schrieb'auf den Titel »Der GroBsultan« -
Dieser Fenelon machte den Harem seines Telemachs zu einem 20
Spiegelzimmer, das den ganzen weiblichen Scheerauer Hof wider-
spiegelte, sein Werk war ein Herbarium vivum, eine Flora von
allem, was auf und am Scheerauer Throne wachset, vom Fursten
an bis, wenn er sich noch erinnert, zu mir. Wenns erscheint, ver-
schlingen wirs alle, weil er uns selber darin verschlungen. Die
Rezensenten werden nichts darin finden, sondernsagen : »Triviales
Zeug!« - Da er nichts tat, was er nicht vorher und nachher aller
Welt vortrompetete : so hatt* es sogar mein Rittmeister gehort,
daB er beim Kadettengeneral so lange und so fein intrigiert hatte,
bis er statt eines aufsehenden Offiziers die Zimmer des Kadetten- 30
schulhauses bewohnen und wechseln durfte; und so kam unser
Fiirst diesem Menschen-Naturforscher ebenso mit einer mensch-
lichen Menagerie zu Hiilfe, wie Alexander dem Aristoteles mit
einer tierischen. Der Rittmeister trat also mit seiner siegenden
Menschenfreundlichkeit zu ihm und bat ihn, sich fiir seinen Gustav
beim Kadettengeneral geschickt zu verwenden, damit er einmal
ZWANZIGSTER SEKTOR 1 71
unter dessen Fahne kame. Der Pfotektor Oefel sagte, nunmehr
sei es schon so gut als richtig ; er entziickte sich selber .nit der Vor-
stellung, einen unter der Erde erzognen Sonderling zum Stuben-
kameraden und zum sitzenden Urbilde zu bekommen.
Die Strahlenbrechung zeigt Schiffern das Land allezeit um et-
liche hundert Meilen naher, als es liegt, und starkt durch so einen
unschuldigen Betrug sie mit HofFnung und GenuB. Aber auch in
der moralischen Welt ist diewohltatigeEinrichtung,daB Fiirsten
und ihre Ministerien uns Bitts teller (so will Campe statt Suppli-
io kant horen) dadurch froh und munter erhalten, dafi sie uns durch
eine Augen-Tauschung die Hofstellen, Amter, Gnaden, die wir
haben wollen, allzeit um einige hundert Meilen oder Monate naher
- wir konnen sie mit der Hand erlangen, denken wir - sehen
lassen, als sie wirklich sind. Diese Tauschung der Annaherung
ist auch alsdann nutzlich und gewohnlich, wenn die geistliche oder
weltliche Bank, die den Sitzern auf der langen Expektantenbank
naher gewiesen wird, am Ende gar bloB eine - Nebelbank ist.
»Der Kommerzien-Agent«, sagte unterwegs der Rittmeister zu
mir, »ist doch kein so iibler Mann, als sie ihn machen - und der
20 Legationrat braucht nur vollends in die Jahre zu kommen.« -
ZWANZIGSTER SEKTOR
Das zweite Lebens-Jahrzehend - Gespenstergeschichte - Nacht-Auftritt
Lebensregeln
Oefel hielt Wort. Vierzehn Tage darauf schrieb uns der Pro-
fessor Hoppedizel, er werde den neuen Kadetten abholen. — Nun
wurde unser bisheriger Wunsch unsre Pein. Gxistavs und mein
Bund sollte auseinandergedehnt und verrenkt werden ; jedes Buch,
das wir nun zusammen lasen, krankte uns mit dem Gedanken,
daB es jeder allein zu Ende bringen wurde; ich wollte meinem
30 Gustav kaum etwas mehr lehren, dessen Ausbau ich an fremde
Architekten ubergeben muBte, und jeder schone Blumenplatz war
uns die Gartentiir des Edens, die ein bewaffneter Cherub abschloB.
172 DIE UNSICHTBARE LOGE
Die Sturmmonate seines Herzens riickten nun auch naher. Ich
hatte ohnehin den Flugeln seiner Phantasie nicht Federn genug
ausgerisssen und ihn aus seiner Einsamkeit nicht oft genug ver-
jagt. In dieser trieb seine Phantasie ihre Wurzeln in alle Fibern
seiner Natur hinein und verhing mit den Bliiten, die seinen Kopf
auslaubten, die Eingange des auBern Lichts. -
Wahrhaftig weder der klappernde Mentor noch seine Biicher,
d.h. weder die Gartenschere noch die GieBkanne sattigen und
farben die Blume, sondern der Himmel und die Erde, zwischen
denen sie steht - d.h. die Einsamkeit oder Gesellschaft, in der das 10
Kind seine ersten Knospen-Minuten durchwacbset. Gesellschaft
treibt im Alltagkind, das seine Funken nur an fremden StoBen gibt.
Aber Einsamkeit zieht sich am besten iiber die erhabnere Seele,
wie ein oder Platz einen Palast erhebt; hier erzieht sie sich unter
befreundeten Bildern und Traumen harmonischer als unter un-
gleichartigen Nutzanwendungen. Um so mehr haben General-
Akziskollegien darauf zu sehen, daB groBe poetische Genies - im
Grunde taugt keines zu einem gescheiten Kammer- oder Kanzlei-
verwandten - vom zehnten Jahre bis zum fiinfunddreiBigsten in
lauter Besuch-, Schreib- und Votierzimmern herumgehetzet wer- 20
den, ohne in eine stille Minute zu kommen ; sonst ist keines in einen
Archivar oder Registrator umzusetzen. Daher halt auch das
Marktgetose der groBen Welt alien Wuchs der Phantasie so
gliicklich am Boden.
Daran dacht' ich oft und warf mir manches vor. Wiirde nicht
(hielt ich mir vor) ein grundlicherer Schulkollege deinen Gustav,
wenn er mit dem Rucken auf dem Grase liegt und in den blauen
Himmelkrater hinaufzusinken oder auf Flugeln an den Schulter-
blattern durch das All zu schwimmen traumt, mit dem Spazier-
stock an ein Buch von Nutzen treiben? Und, sagt' ich, wenn ich 30
zum griindlichern Kollegen sagte, es sei einerlei, woran eine kind-
liche Phantasie sich aufwinde, ob an einem lackierten Stabchen,
oder an einer lebendigen Ulme, oder an einem schwarzen Raucher-
stecken: wiirde der Kollege nicht witzig versetzen, eben deshalb,
es sei also einerlei? —
Inzwischen besaB* ich meines Orts auch Witz; ich wiirde auf
ZWANZIGSTER SEKTOR 173
die Replik verfallen: »Glauben Sie denn, Herr Konfrater, dafi
unter dem groBten Spitzbuben und dem groBten komischen
Dichter, den Sie vertieren, ein Unterschied ist? - Allerdings; em
guter Plan des Cartouche ist von einem guten Plan des Dichters
Goldoni darin verschieden, daB der erste die Komodie selber aus-
fiihret, die der letzte von Schauspielern ausfuhren lasset.«
Gustav war jetzt in der Mitte des schonsten und wichtigsten
Jahrzehends der menschlichen Flucht ins Grab, im zweiten nam-
Hch. Dieses Jahrzehend des Lebens besteht aus den langsten und
10 heiBesten Tagen; und - wie die heiBe Zone zugleich die GroBe
und den Gift der Tiere mehrt - so kocht sich an der Jiinglingglut
zwar die Liebe reif, die Freundschaft, der Wahrheit-£ifer, der
Dichtergeist, aber auch die Leidenschaften mit ihren Giftzahnen
und Giftblasen. In diesem Jahrzehend schleicht das Madchen aus
ihren durchlachten Jahren weg und verbirgt das trubere Auge
unter derselben hangenden Trauerweide, worunter der stille Jung-
ling seine Brust und ihre Seufzer kiihlt, die fur etwas Nahers
steigen als fur Mond und Nachtigall. Gliicklicher Jiingling! in
dieser Minute nehmen alle Grazien deine Hand, die dichterischen,
20 die weiblichen und die Natur selber, und legen ihre Unsichtbar-
keit ab und schlieBen dich in einen Zauberkreis von Engeln ein.
Ich sagte : selber die Natur; denn an ihr gliihen noch hohere Reize
als die malerischen; und der Mensch, fiir dessen Auge sie ein mei-
lenlanges Kniestiick voll Zaubereien war, kann ihr ein Herz mit-
bringen, das aus ihr ein Pygmalions-Gebilde macht, welches
tausend Seelen hat und mit alien eine umschlingt — O sie kehrt
niemals, niemals wieder, die zweite Dekade des armen Lebens,
die mehr hat als drei hohe Festtage : ist sie voriiber, so hat eine
kalte Hand unsre Brust und unser Auge beriihrt ; was noch in diese
$0 dringt, was noch aus ihnen dringt, hat den ersten Morgenzauber
verloren, und das Auge des alten Menschen offnet sich dann bloB
gegen eine hohere Welt, wo er vielleicht wieder Jiingling wird!
Drei Tage, eh* der Professor kam, war Gespensterlarm im
SchloB; zwei Tage vorher wahrte er noch fort; einen Tag zuvor
machte der Rittmeister Anstalten zur Entdeckung der Schelmerei.
Er hatte einen Wasserscheu vor Gespenstergeschichten und gab
174 DIE UNSICHTBARE LOGE
jedem Bedienten, der eine wie Bokaz erzahlte, als ein Honorar
seiner Novelle nach der Bogenzahl Priigel. Die Rittmeisterin
argerte ihn durch ihren Leichtglauben, und sie bekam oft den
Blick von ihm, den Manner werfen, wenn die Hoffnungen oder
Befiirchtungen ihrer Weiber Hasenspriinge wie Erdhalbmesser
tun. - Sie hatte nachts ein dreifuBiges Gehen durch den Korridor
gehort, ein Blitz war durch ihr Schlusselloch gefahren, und eine
andre Taschenuhr als ihre hatte 12 geschlagen, und alles war ver-
flogen.
Er lud also seine Doppelpistolen, um den Teufel mit dem Pul- 10'
ver, das er nach Milton fruher als die Sineser erfunden, anzu-
fallen; sein Gustav muBte mit dabei sein, um mutig zu werden.
Die SchloBuhr schlug 11, es kam nichts - sie schlug 12, wieder
nichts — sie schlug 12 noch einmal ohne Hiilfe des Uhrwerks:
jetzo wickelte sich auf dem SchloBboden ein hieroglyphisches
Gepolter heran, drei FiiBe traten die vielen Treppen herab und
erschuttern den Korridor. Er, der selten in Leiden, aber immer in
Gefahren mutig war, ging langsam aus dem Zimmer und sah im
langen Gange nichts als die ausgeblasene Hauslaterne an der
Haupttreppe; etwas ging im Finstern auf ihn zu - und indem er 20
auf das stumme Wesen feuern wollte, rief er: »Wer da?« Plotzlich
blitzte funf Schritte von ihm - und hier faBte der Tetanus der
Angst Gustavs Nerven - das Licht einer Blendlaterne auf ein Ge-
sicht, das in der Luft hing und das sagte : »Hoppedizel !« Der wars ;
warf sein Stiefelholz und andern Apparat dieser Farce weg, und
niemand hatte etwas darwidef als der Rittmeister, weil er seinen
Mut nicht beweisen konnte, und die Rittmeisterin, weil sie keinen
bewiesen hatte.
- Aber in Gustavs Gehirn riB dieses in der Luft hangende Ge-
sicht mit der Atznadel ein verzerrtes Bild hinein, das seine Fieber- 30
phantasien ihm einmal wieder unter die sterbenden Augen halten
werden. BloB heftige Phantasie, nicht Mangel an Mut schafFt die
Geisterfurcht; und wer jene einmal in einem Kinde zum Er-
schrecken aufwiegelte, gewinnt nichts, wenn er sie nachher wider-
legt und sie belehrt: »Es war naturlich.« Daher fiirchten sich in der
namlichen Familie nur einige Kinder, d.h. die mit gefliigelter
ZWANZIGSTER SEKTOR 175
Phantasie - daher zieht Shakespeare in seinen Geisterszenen die
Haare des Unglaubigen in der Frontloge zu Berge, offenbar ver-
mittelst seiner aufgewiegelten Phantasie. - Die Geisterfurcht ist
ein auflerordentliches Meteor unserer Natur, erstlich wegen ihrer
Herrschaft uber alle Volker; zweitens weil sie nicht von der Er-
ziehung kommt; denn in der Kindheit schauert man zugleich vor
dem groBen Baren an der Tiire und vor einem Geiste zusammen,
aber die eine Furcht vergeht, warum bleibt die andre? - Drittens
des Gegenstandes wegen: der Geisterfurchtsame erstarret nicht
io vor Schmerz oder Tod, sondern vor der bio Ben Gegenwart eines
ganz fremdartigen Wesens; er wiirde einen Mond-Insassen, einen
Fixstern-Residenten so leicht wie ein neues Tier erblicken konnen,
aber in den Menschen wohnt ein Schauer gleichsam vor Obeln,
die die Erde nicht kennt, vor einer ganz andern Welt, als um
irgendeine Sonne hangt, vor Dingen, die an unser Ich naher
grenzen
Ich muBte den einfaltigen Professor-SpaB aufschreiben, weil
" er nach zwei Tagen um den fliegenden Gustav folgende Szene er-
zeugte, die ihm ebensogut das Herz zerquetschen als erheben
20 konnte.
In der Frist vor seiner Abreise trug er sein schweres Herz und
schweres Auge an alle Orte, die er liebte und verlieB, in das heilige
Grab seiner Kinderjahre, unter jeden Baum, der ihm die Sonne
genommen, auf jeden Hugel, der sie ihm gezeigt hatte - er ging
zwischen lauter Ruinen des sanften Kinderlebens hindurch; uber
seinem ganzen Jugendparadies lag die Vergangenheit wie eine
Flut; vor ihm, hinter ihm zog sich das Marsch- und Ackerland,
worein das Schicksal so bald den Menschen treibt Das war die
Minute, wo ich vor der Sonne, die wie er von dannen ging, und
30 vor der ganzen groBen Natur, die mit unsichtbaren Handen den
blinden Menschen in weite, reine, unbekannte Regionen hebt,
meinem geliebten Schuler das Bild seines Guido 1 , das ich ihm bis-
her entzog, ans Herz driickte; in solchen Minuten sind Worte
nicht notig, aber jedes, das man spricht, hat eine allmachtige Hand :
1 Das Bild des veVlornen Kleinen, das er an seinem Halse von der Ent-
fuhrerin mitbrachte, und das ihm so ahnlich sah.
I7<S DIE UNSICHTBARE LOGE
»Hier, Gustav,« (sagt* ich) »hier vor dem Himmel und der Erde
und vor allem Unsichtbaren um den Menschen, hier iibergeb' ich
dir aus meinen bewahrenden Handen fiinf groBe Dinge in deine:
- ich iibergebe dir dein unschuldiges Herz - ich iibergebe dir
deine Ehre - den Gedanken an das Unendliche - dein Schicksal -
und deine Gestalt, die auch um Guidos Seele liegt. Die groBen
Stunden stehen nicht auf der Erde, die dich fragen werden, obdu
diese fiinf groBen Dinge erhalten oder verloren hast - aber sie
werden einmal deine kunftige Seele mit deiner jetzigen ver-
gleichen — ach! laB mich an mich nicht denken, wenn du alles 10
verloren hast!«...
Ich ging und umarmte ihn nicht; die besten Gefuhle haften
starker, wenn man ihnen nicht erlaubt, sich auszudriicken. Er blieb,
und seine Gefuhle wendeten sich an Guidos Bild; aber das konnte
ihn nicht an seine eigne Gestalt erinnern - denn eine Mannsperson
kann 20 Jahre alt werden, ohne ihre Zahne, und 25 Jahre, ohne
ihre Augen-Wimpern zu kennen, indes ein Madchen dahinter
kommt vor der Firmelung -, sondern das Bild regte alles, was in
ihm von dem Andenken und der Liebe gegen seinen Genius, den
ersten Erzieher, schlummerte, wieder auf; ja er fand am Bilde 20
lauter Ahnlichkeiten mit seinem weggeflohenen Freunde aus und
sah dessen Gestalt im gemalten Nichts wie in einem Hohlspiegel.
Sein Gehirn brannte wie eine glimmende Steinkohlenmine im
Traume auf dem Kopfkissen fort. Ihm kams darin vor, als zerlief '
er in einen reinen Tautropfen und ein blauer Blumenkelch sog'
ihn ein - dann streckte sich die schwankende Blume mit ihm hoch
empor und hob* ihn in ein hohes hohes Zimmer, wo sein Freund,
der Genius, oder Guido mit dessen Schwester spielte, dem der
Arm, sooft er ihn nach Gustav ausstreckte, abfiel und dem die
Schwester ihn wieder reichte. Auf einmal knickte die Blume zu- 30
sammen, und niederfallend sah er drei weiBe Mondstrahlen seinen
Freund in den Himmel ziehen, der die Blicke abwarts gegen den
Gefallnen drehte. Ererwachte- auBerdem Bette amoffnen Fenster
lehnend, das iiber den Garten ins schlafende Auenthal sah. Der
Himmel sank in einem stummen Strahlen-Regen nieder - am
leuchtenden Universum regte sich nichts als die Strahlenspitzen
ZWANZIGSTER SEKTOR
177
der Fixsterne - die Hauser standen wie Grabmaler, in denen die
Sterblichen ausschliefen - die Traume gingen in den geschlossenen
Sinnen der Sterblichen aus und ein, und der Tod trat zuweilen
ein Haupt und den Traum darin entzwei. Der Himmel schien
Gustaven an sein Fenster gesunken. »0 kehr urn, komm wieder,
Geliebter!« (defer, durch Traum und Gegenwart dahingerissen)
- »o du warst da, du suchest mich! Erscheine mir, tote michl -
Ach du tausendfach Geliebter! sende mir von deinem Himmel
wenigstens deine Stimme !« - Unversehends schnitt etwas vor dem
10 Fenster. die Luft entzwei und rief »Gustav«, und im fernen Weiter-
fliegen riefs zweimal hoher herab »Gustav, Gustav«. Ein Eisberg
fiel auf seine starrende Haut in der ersten Sekunde; aber in der
zweiten gliihte er wieder an, gab seine Arme dem Tode und dem
Freunde und schlug das Auge an einer Luftstelle unter dem Mond-
blenden ein, um etwas zu sehen. - Die zwei Welten waren nun
fur ihn in eine zusammengefallen; gefaBt erwartete er den Freund
aus der Welt hinter den Sonnen und wollte an seine Atherbrust
stiirzen mit einer von Erde. Er gliihte sich ab und ging endlich
mit dem Schaudern der Seele und der Haut ins Bett zuruck. Aber
ao lange werden von dieser Stunde her, wie von der Gegend eines
Gewitters die Winde, die Bewegungen seiner Seele wehen.
— Der alte Starmatz tats vermutlich, der, so viel ich weiB, aus
dem Bauer entkommen war. Gustav erfuhr es nicht. Ob eine
Seele Wellen gleich einem Setzteich, so hoch wie Hemd- Jabots,
oder gleich dem Ozean solche wie Alpen schlage, das ist zweier-
lei; ob diese hohen Bewegungen ein Star erregt oder ein Seliger,
das ist einerlei.
Der Professor lehrte ihm unter meinen Ohren giildne Brokar-
dika der Menschenkenntnis, die er durch das Lehren selber iiber-
$o trat - z. B. : Nicht bloB die Liebe, sondern auch der HaB der Men-
schen ist veranderlich, und beide sterben, wenn sie nicht wachsen.
- Die meisten reden bloB gegen die Laster, die sie selber haben. -
Je groBer das Genie, je schoner der Korper ist, desto mehr ver-
zeiht ihnen die Welt; je groBer die Tugend ist, desto weniger ver-
zeiht sie ihr. - Jeder Jiingling denkt, keiner gleiche ihm in Ge-
fuhlen etc.; aber alle Jiinglinge gleichen sich. - Man muB sich nie
178 DIE UNSICHTBARE LOGE
entschuldigen ; denn nicht die Vernunft, sondern die Leidenschaft
des andern ziirnt auf uns, und gegen diese gibt es keinen Grund als
die Zeit. - Die Menschen lieben ihre Freuden mehr als ihr Gliick,
einen guten Gesellschafter mehr als den Wohltater, Papageien,
SchoBhunde und AfFen mehr als nutzliche Lasttiere. - Man errat
die Menschen, wenn man ihnen keine Grundsatze zutraut; und der
Argwohnische hat allemal recht, er errat, wenn nicht die Handlun-
geh des andern, doch seine Gedanken; die Niederlagen des Schlim-
men und die Versuchungen des Guten. - Die Siinde gegen den
heiligen Geist, die dir keiner vergibt, ist die gegen seinen Geist, 10
d. h. gegen seine Eitelkeit ; und der Schmeichler gefallet, wenn nicht
durch seine Oberzeugung, doch durch seine Erniedrigung etc.
Es gibt gewisse Regeln und Mittel der Menschenkenntnis, die
der bessere hohere Mensch verschmaht und verdammt, und die
gerade diesen nicht erraten helfen und die ihn weder belehren noch
erforschen. - Der Professor riet noch meinem Gustav, sein Ge-
sicht zu formen, Tugend auf demselben zu silhouettieren, es vor
dem Spiegel auszuplatten und es mit keinen heftigen Regungen
zu zerknullen. Ich weiB es selber, fur Weltleute ist der Spiegel
noch das einzige Gewissen, das ihnen ihre Fehler vorhalt und das 20
man, wie das Gehirn, ins grofie und kleine einteilen muB; das
groBe Gewissen sind Wand- und Pfeilerspiegel, das kleine steckt
in Etuis und wird als Taschenspiegel herausgezogen ; fiir die Welt-
leute; aber fiir dich, Gustav? - du, der du den obigen Dekalogus
fiir Spitzbuben nicht annehmen, nicht einmal verstehen oder
niitzen kannst - denn man niitzt und versteht nur solche Lebens-
regeln, von denen man die Erfahrungen, worauf sie ruhen, so
durchgemacht, daB man die Regeln hatte selber geben konnen -
du, den ich gelehrt,.daB Tugend nichts sei als Achtung fur das
fremde und fiir unser Ich, daB es besser sei, an keine Laster als an 50
keine Tugend zu glauben, daB die Schlimmsten nur ihre eigne
Kaste und die Besten noch eine mehr kennen?... Wenn Gustav
nicht gegen jene Lehren, die meistens Wahrheiten sind, und gegen
den Lehrer aufgefahren ware; wenn er nicht geschworen hatte,
daB diese ekelhafte Kanker-Philosophie nie iiber eine Ecke seines
Herzens sich spinnen und kleben sollte: so hatt' ich von ihm nicht
EINUNDZWANZIGSTER SEKTOR 179
einmal so gut gedacht als von der Residentin von Bouse, der das
System des Helvetius so schon wie sein Gesicht vorkommt ; denn
in ihrem Stande hat oft das beste Herz die schlimmste Philosophic
Es wird kaum die Miihe verlohnen, daB ichs hersetze, daB der
Spitzbube Robisch zum Henker gejagt wurde, weil er einen ent-
wischten Rekruten fur einen neuen ausgab und verrechnete. Wenn
ich sagte: zum Henker gejagt, so satirisierte ich; denn zum Herrn
von Roper wars, der keine Bediente annimmt als die, welche
Livree-Polyhistore wie Robisch sind, d.h. zugleich Jager, Gart-
10 ner, Schreiber, Bauern und Bediente. -
EINUNDZWANZIGSTER ODER MlCHAELIS-SEKTOR
Neuer Vertrag zwischen dem Leser und Biographen - Gustavs Brief
»Ziehe hin, Geliebter,« (sagt* ich) »den das Welt-Meer mit-
nimmt; das Sonnenbild deines verborgen fuhlenden Herzens
lachle aus dem Meergrund und schwimme mit dir! Dein junges
Herz bringest du nicht mehr nach Auenthal! - O daB doch die
Friichte am Menschen ein andres Wetter haben miissen als seine
Bltiten - statt des Hauches des Lenzes den Stich des Augusts und
den Sturm des Herbstes!« Ich dachte dies, solange sein Wagen in
20 meinen Augen blieb; nachher ging ich in die Gartenhohle hin-
unter zu den zwei Monchen; und als ich dachte: in euerer kalten
Stein-Brust wohnt kein Wunsch, kein Sehnen, kein Schmerz, kein
- Herz: »Eben darum«, sagt* ich in anderem Sinn.
Heute ist Michaelis, und heute - ich kann mich nicht langer
verstellen - bejahrt sich seine Abreise. Heute fangt zwischen mir
und dem Leser ein ganz neues Leben an, und wir wollen ruhig
alles miteinander vorher ausmachen.
Erstlich bin ich zwar ein Jahr hinter Gustavs Leben zuruck;
aber in acht Wochen gedenk' ich solches erschrieben zu haben.
3 o Ich verhoffte freilich schon vor einem halben Jahre, nun kam' ich
ihm nach; aber ein Leben ist leichter zu fuhren als zu schildern,
zumal gut stilisiert. Uberhaupt kann ein Autor - ein guter - leich-
180 DIE UNSICHTBARE LOGE
ter die Sterne des Himmels zahlen als seine zukiinftigen Bogen,
die auch Sterne sind. SchluBlich erwartet man, daB die Literatur-
Zeitung wenigstens so viel bedenke, daB ich ein Rechtsfreund bin
und unmoglich fiir sie so viel zu schreiben vermag wie fur ganze
Kollegien, Fakultafen und hochste Reichsgerichte. Kennt die
Literatur-Zeitung meine entsetzlichen Arbeiten ? Man muB meinen
Speiseschrank voll Manualakten gesehen haben, in denen noch
dazu kein Wort steht, weil ich sie erst aus der Papiermuhle holen
IieB, oder man muB in meiner Gerichthalterei in Schwenz, worin
die 12 Untertanen und der Lehn- und Gerichtherr selber Bauern 10
sind, gewesen sein,um von mirnicht mehr zufordernals jahrlich
ein Buchi Wer ist um ganz Scheerau derjenige Sachwalter, der in
einem Prozesse dient, welcher mit nachstem - der Teufel miiBte
sein Spiel haben - zum Wetzlaer Tor unter die Sessiontische des
Reichskammergerichts, das von gutem Stil weiB, diirfte hinge-
trieben werden? Und doch diente der ProzeB, wie Peter der
GroBe,-von unten auf und bestieg, wie die Styliten-Sekte, immer
hohere Stiihle.
Zweitens - oder das ist noch erst-lich: ich kann folglich, gleich
den Juden, nur am Sabbat oder Sonntag auf die Plastik meines 20
Seelen-Fotus denken; an Wochentagen wird nichts geschrieben —.
als zwar auch Biographien, aber nur von Schelmen, man meint
Protokolle und Klaglibelle.
Zweitens oder drittens bin ich der InsaB eines Schulmeister-
tums. - Der gute Rittmeister wollte mich, da sein Sohn zur Tiir
hinaus war, mit Personalarrest belegen, der bei mir zugleich Real-
arrest ist, weil mein Mobiliar-Vermogen in meinem Korper und
mein Immobiliar-Vermogen in meiner Seele besteht; ich sollte
auf seinem Schlosse so lange advozieren und satirisieren, als ich
wollte. Es ware zu wunschen, sein alter Gerichthalter verbliche : so 30
wiirde ichder neue ; denn abdanken kann sein gutes Herz-dem doch
mein spitzbiibisches, an Hoffeinheiten verwohntes den Mangel
der letzten nicht allemal vergeben mag - keinen Menschen.
Behalte deinen gesunden Nord-Ost-Atem, behalte deine Hande
mit dem priigelnden Stab Wehe und deine Zunge mit ihrem Paar
Donnerwettern und tausend Teufeln, mein Falkenberg!
EINUNDZWANZIGSTER SEKTOR 131
Ich blieb auch bei ihm im Winter; aber heuer im Friihjahr zog
ich an den Ort herab, wo ich dieses schreibe - in die obere Stube
des Auenthaler Schulmeister Sebastian Wut^ 1 . Ich hatte vielleicht
die drei vernunftigsten Griinde von der Welt dazu; ich schwind'
erstlich nirgends mehr ein als in einem Vatikan voll oder Kliifte,
in Sara-Wiisten von leeren Zimmern; ein EBsaal mit seiner
Moblen-Armut ist fiir mich ein Patmos, und blofi in kleinen
Stiibchen wird man groBer. Der Mensch sollte von Jahr zu Jahr
in immer kleinere Zellen kriechen, bis er in die kleinste schliipfte,
10 d.h. ins engste Loch dieses gequetschtenSilberdrahts.-Derzweite
Grund war Herr Fortius (in Morhof. Polyhist. L. II. c. 8.), wel-
cher Gelehrten anrat, alle halbe Jahre die Stadte zu wechseln, da-
mit sie besscr schrieben ■ — und in der Tat schreibt man besser nach
jeder Veranderung, und ware es eine des Schreibepults. Ohne
solche auffrischende Luft schreibt sich die Seele so tief in ihren
Hohlweg hinein, daB sie darin steckt, ohne Himmel und Erde zu
sehen. Aus gegenwartigem Werke konnte vielleicht etwas wer-
den; aber jeden Monat und jeden Sektor muB ich in einer andern
Kajute schreiben. -
20 Der dritte und vernunftigste Grund ist meine Schwester : sie ist
wieder von der Residentin von Bouse zuriick, erstlich, weil sie
ihre Stelle einer schonen Biicherpatientin leer zu machen hatte,
der guten Beata namlich, welche der Vater, der Doktor, der Lieb-
haber - der dumme Oefel (er wird aber gar nicht begiinstigt) -
endlich mitten in diese Zusammenstromung aller Freuden und
Visiten hinberedeten; - zweitens ist meine Schwester da, weil ichs
so haben wollte, aber Schwester, Schwester, warum nab' ich dich
nicht eher aus diesem ubersinternden Mineral-Strudel gerissen?
Warum hast du dich so verandert? Wer kann dich zuriick ver-
30 andern? Wer will dir aus dem Herzen scheuern deine Gedanken
an fremde Blicke, deine Gier, bewundert, aber nicht geliebt zu
werden, deine Gefallsucht, welche Liebe nur erregen, nicht er-
1 Den ganzen Lebenslauf seines Vaters, Maria Wutz, har/ ich dem Ende
des zweiten Bandes beigegeben. Allein ob er gleich eine Episode ist, die mit
dem ganzen Werke durch nichts zusammenzuhangen ist als durch die Heft-
nadel und den Kleister des Buchbinders : so sollte mir doch die Welt den Ge-
fallen erweisen und ihn sogleich lesen nach dieser Note.
182 DIE UNSICHTBARE LOGE
widern will, und alles das, was dein Herz unterscheidet von dei-
nem vorigen Herzen und von Beaten s ewigem? — Mit meiner
Schwester wollt' ich also nicht gern das SchloB verengern, auf
dem sie iibrigens alle Tage ein paar Stunden versitzet.
Jetzt nab* ich dem Leser beigebracht, woran er ist: wir wenden
uns wieder zu Gustavs Wagen und sind alle zufrieden, Leser,
Setzer und Schreiber.
Gustav fuhr in einer Trunkenheit des Schmerzes, die der schone
Himmel in Tranen auf losete, nach Scheerau und hielt jede Schwalbe
und Biene, die unserem Schlosse zuflogen, fur gliicklich; die 10
nachsten zehn Jahre hingen als zehn Vorhange vor ihm duster
nieder, »und liegen«, fragt* er sich, »Totengerippe, Raubtiere oder
Paradiese hinter den Vorhangen?« - Was ohne Vorhang vor ihm
saB und dozierte, sah er auch nicht, den Professor. Zwei Stunden
vor Scheerau schrieb er mir mit jener flammenden Dankbarkeit,
die aus dem Menschen nur in seinem zweiten Jahrzehend so
strahlend bricht. Wie bei alien Seelen, die sich mehr von innen
heraus als von auBen hinein verandern, stand in ihm der Baro-
meter seines Herzens oft unbeweglich auf demselben Grade. Die
Regenwolken und den Regenbogen in seinem innern Himmel 20
brachte er nach Scheerau mit; er trug sein uberhulltes Herz in das
weite widerhallende Kadettenhaus und in dessen Jahrmarktlarm auf
den Treppen und in das Kadetten-Feldgeschrei wie unter die
Schlage einer Kupferschmiede und Walkmiihle hinein - er wurde
noch trauriger, aber mit mehr Schmerzen.
Das Merkwiirdige im Zimmer, das er betrat und bewohnte, wa-
ren nicht drei Kadetten-denn sie warenKurrent-Menschen, Schei-
demunze und prosaische Seelen, d.h. lustig, witzig, ohne Gefuhl,
ohne Interesse fur hohere Bediirfnisse und von maBigen Leiden-
schaften -, sondern der Stuben-Ephorus, Herr von Oefel, der mit 30
dem Degen wie einegespieBteFliegemitderNadellief. Oefel fing
ihn sogleich zu beobachten an, um ihn abends zu beschreiben; -in
Gesellschaften aber beobachtete er jeden, nicht umfremde PfifFezu
erlauschen, sondern um seine vorzuweisen. So lobte er auch, ohne
zu achten, und schwarzte an, ohne zu hassen : glanzen wollt* er bloB.
Unter diesen Vernal tnissen, ehe Gustav den schweren Gang
EINUNDZWANZIGSTER SEKTOR 183
iiber Schmerzen zu Geschaften tat, kam der Trost in der Gestalt
der Erinnerung zu ihm, und Gustav sah, was er nicht hatte ver-
gessen sollen - seinen Amandus, seinen Kindheitfreund. Aber der
gute Jiingling trat vor ihn nicht in derersten Gestalteines Blinden,
sondern in der letzten eines Sterbenden; er hatte die Nerven-
schwindsucht, die alles sein Mark aus der noch stehenden Rinde
ausgezogen hatte - an der Rinde griinte nichts mehr als hangende
Zweige mit fahlem gesenkten Laub. Er bereitete sich auf kein
Amt und kein Leben vor, sondern erwartete und wollte empfan-
10 gen an der Schwelle des Erbbegrabnisses den Tod, der die Treppe
heraufstieg. - Aber dafi seine Seele in einer lebendigen Wunde
lag, daran kann uns nichts wundern als das Geschlecht; denn die
schonsten weiblichen Seelen wohnen selten anders; aber die
Manner schonen diese Wunde nicht ; es erweicht sie gegen ein so
weiches Geschlecht der Anblick nicht, daB die meisten nicht von
einem Tage zum andern, sondern voneinem Schmerze zum andern
leben und von einer Trane zur andern —
In Gustav wohnte das zweite Ich (der Freund) fast mit dem
ersten unter einem Dache, unter der Hirnschale und Hirnhaut;
20 ich meine, er liebte am andern weniger, was er sah, als was er sich
dachte; seine Gefuhle waren uberhaupt naher und dichter urn
seine Ideen als urn seine Sinne; daher wurde oft die Freundschaft-
Flamme, die so hoch vor dem Bilde des Freundes emporging,
durch den Korperdesselbengebogenundabgetrieben.Daheremp-
fing er seinen Amandus, weil uberhaupt eine Ankunft weniger er-
warmt als ein Abschied, mit einer Warme, die aus seinem Innern
nicht vollig bis zu seinem AuBern reichte- aber Oefel, der beobach-
tete, hatte mit sechs Blicken heraus, der neue Kadett sei adelstolz.
Unter alien Kriegs-Katechumenen hatte Gustav die meiste Not.
30 Aus einer stillen Kartause war er in ein Polter-Zimmer verbannt,
wo die drei Kadetten ihm den ganzen Tag die Ohren mit Rapier-
stdfien, Kartenschlagen und Fluchen beschossen - aus einer Dorf-
burg war er in ein Louvre geworfen, wo die Trommel das Sprach-
organ und die Sprachmaschine war, wodurch das Scholarchat mit
den Schulern sprach, wie die Heuschrecke alien ihren Larm mit
einer angebornen Trommel am Bauche macht. Zum Essen, zum
1 84 DIE UNSICHTBARE LOGE
Schlafen, zum Wachen wurden sie wie das Parterre eines Dorf-
komodianten zusammengetrommelt. Im Marschschritt und hinter
dem Kommandowort erstieg diese Miliz den Speisesaal als ihren
Wall und nahm von der Festung nichts weg als die Mundportion
auf einen halben Tag. Der Kommandozuck riB sie von ihrenStuh-
len auf und lenkte sie zur Zitadell wieder hinaus. Man konnte
nachts die Schritte eines einzigen Kadetten zahlen, und man wuBte
die aller iibrigen, weil der kommandierende LuftstoB diese Rader
auf einmal trieb. - Eben deswegen, ich meine, weil der Dank vor
dem Essen ordentlich kommandiert wurde, hatte das ganze Korps 10
die gleiche Andacht; keine Sekunde sprach einer langer mit Gott
als der andre. Ich weiB nicht, in welchem scheerauischen Regi-
mente der Kerl stand, der einmal bei der Kirchenparade, wo der
Offizier die Seelen einmal zu Gott kommandierte, die er sonst
zum Teufel gehen hieB, so sehr wider vernunfrige Subordination
verstieB, daB er wenigstens vier Minuten langer dem Himmel auf
seinem frommen Knie dankte als der Fliigelmann — ich sag' es
deswegen, weil ich nachher, als der Beter dariiber Fuchtel bekam,
offentlich die Frage tat, ob nicht eben auf diese Weise den Kom-
pagnien die Logik beizubringen ware, die Linen so notig ist wie 20
die Schnurrbarte und noch nutzlicher, da man diese, aber nicht
jene zu wichsen braucht. Konnte man nicht kommandieren und
das Wortchen »macht« weglassen : »Macht den Vordersatz - macht
den Hintersatz - macht den SchluB«? So war' ich nicht zu tadeln,
wenn ich mir eine Kompagnie kaufte und sie die drei Teile der
BuBe etwa so durchmachen lieBe: bereuet - glaubt - bessert -
namlich euch, oder sonst soil das Hebe in euch fahren, wie
jungere Offiziere beisetzen.
Der ostreichsche Soldat hatte bis Anno 1756 zweiundsiebzig
HandgrifTe zu lernen, nicht um damit den Feind zu schlagen, son- 30
dern den - Satan.
In dieser Stimmung, worin Gustav gegen Krieg und seine Ka-
meraden war, schrieb er mir einen Brief, dessen Anfang hter weg-
bleibt, weil unser Briefsteller dabei allemal so kalt wie beim Emp-
fang zu sein pflegte.
EINUNDZWANZIGSTER SEKTOR 185
»Das Exerzieren und Studieren machen mich zu einem
ganz andern Menschen, aber zu keinem glucklichern. Ich argere
mich oft selber iiber meine Weichheit, iiber meine Augen, aus
denen ich die Spuren ingeheim wegzuwaschen suche, und iiber
mein Herz, das bei Beleidigungen, die ich jetzo hauhg, aber gewiB
ohne Absicht der Beleidiger erfahre, nicht hart aufschwillt, son-
dern sich zusammenpreBt, wie zu einer groBen Trane iiber die
unheilige Welt. Meine Stubenkameraden, unter denen ich nichts
hore als Rapiere und Fliiche, lachen mich iiber alles aus. Sogar
10 dieses Blatt schreib* ich nicht unter ihnen, sondern unter freiem
Himmel im stillen Lande zu den FuBen und auf dem FuBgestell
einer Blumengottin, von welcher Arm und Blumenkorb abge-
brochen sind. Der gute Herr von Oefel ist unterdessen im alten
Schlosse bei der Residentin.
Sobald ich nicht arbeite, driickt jedes Zimmer, jedes Haus, jedes
Gesicht auf mich herein — Und doch, wenn ichs wieder tue - zwar
wenn triibes Wetter ist, wie in voriger Woche, mach* ich mein
mathematisches ReiBzeug so gern wie ein Schmuckkastchen auf;
aber wenn ein Flammenmorgen unter dem Geschrei aller Vogel,
20 sogar der gefangenen, von den Dachern in unsere Gassen nieder-
sinkt, wenn der Postilion mich mit seinem Horn erinnert, daB er
aus den eckigen, spitzigen, verwitternden ? unorganisch zusammen-
geleimten Schutthaufen der getoteten Natur, die eine Stadt heiBen,
nun hinauskomme in das pulsierende, drangendej knospende Ge-
wiihl der nicht ermordeten Natur, wo eine Wurzel die andre um-
klammert, wo alles mit- und ineinander wachset und alle kleinere
Leben sich zu einem groBen unendlichen Leben ineinander schlin-
gen: da tritt jeder Bluttropfen meines Herzens zuriick vor den
Pechkranzen, Trancheekatzen und vor den Wischkolben, womit
jo die Artillerie unsere blauen Morgenstunden ausstopfet. - Dennoch
vergess* ich die griinende Natur und die Kontraminen, womit wir
1 So hiefi der englische Garten um Marienhof, den die Gemahlin des ver-
storbenen Furs ten mit einem romantischen, gefuhlvollen, iiber Kunstregeln
hinausreichenden Geiste angelegt. Der Kummer gab ihr den Namen und die
Anlage des stillen Landes ein. Jetzt ist ihrer sterbenden Seele selbst dieses
Land zu laut, und sie lebt verschlossen. Diejenigen Leser, die nicht da waren,
will ich mir durch eine Beschreibung des Gartens verbinden.
1 86 DIE UNSICHTBARE LOGE
sie in die Luft aufschleudern lernen, und sehe bloB die langen
Flore, die an den Stan gen aus dem Hause eines Farbers gegentiber
in die Hohe fliegen, schon wie Nachte uber den Gesichtern armer
Mutter hangen, damit der Tau des Jammers im Dunkeln hinter
den Leichen falle, die wir am Morgen machen lernen. - - Ach!
seitdem es keinen Tod mehr/«r, sondern nur wider das Vaterland
gibt; seitdem ich, wenn ich mein Leben preisgebe, keines errette,
sondern nur eines binde : seitdem muB ich wiinschen, daB man mir,
wenn mich der Krieg einmal ins Toten hineintrommelt, vorher
die Augen mit Pulver blindbrenne, damit ich in die Brust nicht 10
steche, die ich sehe, und die schone Gestalt nicht bedaure, die ich
zerschnitze, und nur sterbe, aber nicht tote O da ich noch
aus Kartausen, noch aus Ihrem Studierzimmer in die Welt hinaus-
sah, da breitete sie vor mir sich schoner und groBer aus mit wo-
genden Waldern und flammenden Seen und tausendfach gemalten
Auen - jetzo steh' ich auf ihr und sehe das kahle Nadelholz mit
kotigen Wurzeln, den schwarzen Teich voll Sumpf und die ein-
mahige Wiese voll gelbes Gras und Abzuggraben. -
Vielleicht konnt' ich aber doch meine Traume, den Menschen
zu nutzen, mehr verwirklichen, wenn ich eine andre Laufbahn 20
einschliige und statt des Schlachtfeldes den Sessiontisch wahlen
und den Zweck der Aufopferung veredeln diirfte 1 Die rote
Sonne steht vor meiner Feder und bewirft mein Papier mit laufen-
den Schatten : o du wirkst stehend, Himmeldiamant, und machst
licht wie der Blitz, aberohneseinen morderischen KnalHDie ganze
Natur ist stumm, wenn sie erschafFt, und laut, wenn sie zerreifiet.
GroBe, im Abendfeuer stehende Natur! der Mensch sollte nur
deine Stille nachahmen und bloB dein schwaches Kind sein, das
deine Wohltaten dem Diirftigen hinaustragt!
Wenn Sie heute von Auenthal zu den im Sonnengolde wogen- 50
1 Ich kann nichts dafiir, daB mein Held so dumm ist und zu nutzen hofft.
Ich bins nicht, sondern ich zeige unten, dafi das Medizinieren eines kakochy-
mischen Staatskorpers (z . B. bessere Polizei-, Schul- und andre Anstalten,
einzelne Dekrete etc.) dem Arzneieinnehmen des Nerven-Schwach lings
gleiche, der gegen die Symptome und nicht gegen die Krankkeitmaterie arbeitet
und der sein Ubel bald wegschwitzen, bald wegbrechen oder weglaxieren
oder wegbaden will.
ZWEIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 1 87
den Fenstern unsers Schlosses aufsehen: so schauet jetzt meine
Seele auch hiniiber, aber mit einem Seufzer mehr.« etc.
Die Offiziere sehen ein, daB Gustav keiner werden will; aber
er hat seinen ganzen Vater wider sich, der bloB den stiirmenden
Krieger liebt und ruhigere Geschaftmanner ebenso verschmahet,
wie diese den noch ruhigerrt geschaftlosen Gelehrten verachten.-
ZwEIUNDZWANZIGSTER ODER XVII II. TRINITATIS- SEKTOR
Der echte Kriminalist - meine Gerichthalterei - ein Geburttag und
eine Korn-Defraudation
10 Als ich am Donnerstag darauf meinen Gustav besuchen und ein
wenig belehren will : hat ihn Herr von Oefel aus einer Ursache,
die bloB ein ganzer Sektor vor- und auswickeln kann, mit einigen
Husaren an die Grenze verschickt, wo sie einen Frucht-Kordon
bildeten, der kein Korn hinaus- und keinen Pfeffer hereinlieB. Da
die meisten Bewegungen des Volks sich von peris taltischen an-
fangen: so wollten es manche feine Leute gerochen haben, der
Landesvater tate die Sache, damit seine Landskinder etwas zu
brocken und zu beiBen hatten.
Ich bekam aber am Ende die groBte Teufelei damit, und man
20 soil es jetzo horen, aber nur von vornen an.
Namlich so : das groBe Rittergut Maufienbach hat, wie bekannt,
die Obergerichtbarkeit, obgleich ich und der Rittergutbesitzer,
Herr Kommerzien-Agent von Roper, dariiber aus entgegenge-
setzten Griinden argerlich sind. Ich bin argerlich, weil ich das
Leben, wenigstens die Ehre von einigen hundert Menschen nicht
in den Handen eines ganzen romischen Volks, sondern eines Amt-
manns etc. sehe; - der Erb-, Lehn- und Gerichtherr ist argerlich,
weil der Blutbann nichts eintragt, da es mehr kostet, das Richt-
schwert schleifen zu lassen, als alles abwirft, was damit in den
30 Beutel hineinzumahen ist. »Ehebruch ist fur eine malefizische
Obrigkeit noch das einzige !« sagt der Erbherr. - Ganz das Gegen-
I 88 DIE UNSICHTBARE LOGE
teil sagte sein Gerichthalter Kolb\ hohe Frais war seine hohe
Oper, peinliche Akten waren ihm Klopstocks Gesange und ein
Scherge sein Orest und Sancho Pansa - Er hatte die Welt in zwei
Reihen zerteilet, in die auf hangende und in die aufgehangne Reihe,
und er ware Kriminalist geblieben - Ein unrasierter Malefikant
im Karzer war ihm ein sinesisches Goldfischchen in einer glasernen
Bowie, beide wurden Gasten vorgestellt - Freie Spitzbuben-
Piirsch nur in ein paar Weltteilen ware seine Sache und Lust ge-
wesen - Mich haBte er auf den Tod, weil ich ihm einmal einen
vom Tode ins Zuchthaus wegdefendieret hatte - Er besaB die 10
Sterbelisten aller Hingerichteten und eine Matrikul oder ein gene-
alogisches Saatregister aller Rauber (Ehrenrauber ausgenommen),
die in alien deutschen Kreisen zu ernten standen, und wahre
Spitzbuben waren fur ihn, was fur den biographischen Plutarch
gutgesinnte Menschen. Kurz er war ein echter Kriminalist, ganz
wie ihn die alten deutschen oder neuen englischen Gesetze haben
wollen; denn nach beiden soil jeder bio 8 von seinesgleichen ge-
richtet und verdammt werden; Kolben aber muBte jeder Spitz-
bube und Morder fur einen ebenso groBen halten, und Inkulpat
konnte mithin sagen, daB er die Rechtswohltat genosse, von 20
einem seinesgleichen gerichtet zu werden. Ich kenne nicht viele
ebenbiirtige Malefizrate und Fakultisten, auf welche dieses anzu-
wenden ware.
Das verdroB Ropern ungemein; denn sein Maleflzrat zog ihm
alle Monate einen kostensplitterigen Fraisfall zu; und hohen
Frais-Gerichtherrn ist doch nicht sowohl mit der Einfangung als
Beerbung der Inquisiten gedient. Kurz als der Amtmann eine
neue Galgenrekruten-Aushebung im MauBenbacher Walde vor-
zunehmen gedachte - woran vielleickt Robisch schuld war -: so
stellte Herr von Roper diese Dieb-PreBgange dadurch ab, daB 30
er seinem Maleflzrat so viel Grobheiten antat, als dazu vonnoten
waren, daB der Amtmann nichts tun konnte als abdanken.
Er tat doch noch etwas, der Schelm, er malte meine Wenig-
keit ab. Da er mein Defensorat nicht vergessen konnte, so ver-
waltete er das Fiskalat und sagte zu Ropern, ich taugte nichts,
ich ware ein Mensch, der ihn und mehre Edelleute haBte und der
ZWEIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 1 89
den feinsten Hofton hatte; Paul nahme jeden ProzeB von Unter-
tanen gegen ihre Lehnherrn an und hatte selber einmal gegen den
Herrn Kommerzien-Agenten die Feder gefiihret. - Du elender
Kolb! warum sollen Einbeine das nicht tun? - Meine wichtigsten
Prozesse sind noch heute keine andern. - Und warum soil nicht
gar ein Vorschlag wirklich werden, dtn ich sogleich tun will? Der,
da 6 man nach dem Muster der Armen-Advokaten Untertanen-
" Advokaten einfuhrt, die bloB gegen Patrimonialgerichte wie die
Malteserritter gegen Unglaubige fechten. —
10 Ich hab* es aus Ropers eignem Munde ; denn kurz, er installierte
mich doch'zum MauBenbacher - Amtmann, die Advozier- und
Lesewelt erstaune, wie sie will. Die Kolbischen Angriffe waren
eben meine Wendeltreppe zu diesem Gerichtstuhle. Mein Gericht-
prinzipal muB zu seinen ewigen Kampfen mit alien Instanzen und
Edelleuten einen juristischen Taureador, einen hitzigen Feder-
messer-Harpunierer haben; Kolb sagte aber, ich ware einer. Zwei-
tens prasentierte mir Herr von Roper den Gerichtstuhl, weil ich
weder ritt (des kurzen Beines wegen) noch fuhr (des seekranken
Magens wegen) und mithin zur Justizpflege ohne den Pferde-
10 Nachtrab, den sein Stall bisher zu apanagieren hatte, gegangen
kam. Fur Rezensenten und deren Redakteurs wird der Wink kein
Schade sein, daB sie bedenken mogen, daB sie von nun an Papier
nehmen und einen Mann rezensieren, der nicht etwa wie sie nichts
ist, sondern einen, der so gut richtet wie sie, aber iiber ein reelleres
Leben als das Hterarische, und der solche Rezensenten selber
henken kann, wenn sie in seinem Gerichtsprengel etwas anders
stehlen als Ehre.
Jetzt kommt die Hauptsache. Ich war zum erstenmal als Richter
in MauBenbach und trat meine Amtmannschaft an. Es ging alles
30 recht gut, ich und Untertanen wurden einander vorgestellt, und
ich hatte an diesem Tage iiber funfhundert Hande in meiner. Frei-
lich muB ich noch manches saure Gesicht wegscheuern, das sie
mir mit machen, weil sie es meinem weniggeliebten Prinzipal
machen; denn Volk und Adel liegen nicht bloB in Rom, sondern
auch in heutigen Dorfern stets einander in Haaren und Zopfen
und fechten iiber Schuldensachen. AuBer meiner Gerichthalterei
190 DIE UNSICHTBARE LOGE
feierte heute noch etwas seinen Geburttag - der Verleiher der-
selben, Roper; wir a Ben also recht gut, zweierlei Dingen zu Ehren;
erstlich weil das von ihm aufgeloste Parlament in mir heute wie-
der zusammenberufen und zweitens weil der Berufer vor vielen
Jahren geboren worden. Ich kann sagen, mir war wohl dabei
trotz meiner Verschiedenheit von dem Wiedergebornen - von
dir ist gar nicht die Rede, Luise und Gerichtprinzipalin ! - Welches
lahme Herz schliige nicht mit deinem in sympathetischer Harmo-
nie zusammen, wenn es dein Auge iiber das Vergnugen deines
Mannes und von Wiinschen fiir sein Leben glanzen sieht. - Son- 10
dern von deinem Eheherrn selber red' ich: er sei nun, wie er will,
mir ist es unmoglich, von einem Manne, mit dem ich unter einer
Stubendecke sitze, das Schlimme zu denken, das ich bisher von
ihm gehort oder auch geglaubt, und es ist wahrlich nicht einerlei,
ob uns ein Tisch oder eine KunststraBe trennt. Wenn du einen
Menschen von Horensagen hassest: so gehe in sein Haus und
sehe zu, ob du, wenn du in seinen Gesprachen so manchen freund-
lichen Zug, in seinem Betragen gegen das Kind oder Weib, das
er liebt, so manches Zeichen der Liebe aufgefunden hast, ob du da
mit dem hineingebrachten Hasse wieder hinausgehest. War gegen- 20
wartiger Verfasser in seinem Leben gegen etwas eingenommen,
so waren es die GroBen; seitdem er aber in seinen Klavierstunden
zu Scheerau Gelegenheit gehabt, mit manchem GroBen unter
einem Deckengemalde zu stehen, seitdem er selbst unter diesen
Riesen mit herumspringt: so sieht er, daB ein Minister, der ein
Volk driickt, seine Kinder lieben und daB der Menschenfeind am
Sessiontisch ein Menschenfreund am Nahpult seines Weibes sein
kann. So haben die Alpenspitzen in der Feme ein kahles steiles
Ansehen, in der Nahe aber Platz und gute Krauter genug.
Ich gesteh' es also, da nach altvaterischer Sitte (an Geburttagen 30
bei Hofe speist' ich dergleichen nie) eine Biskuit-Torte aufgetra-
gen wurde, auf der das Vivat und der Name Roper mit Typen
von Mandeln aufgesaet zu lesen und zu essen war - da ferner der
Inhaber des Namens zwar sagte : »Solche dumme Streiche machst
du nun«, aber sogleich das Auge voll bekam und beifiigte : »Schneid
unsern Leuten drauBen auch einen Bissen«- ich gestehe, sagt' ich,
ZWEIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 191
ich wiinschte alsdann manche Sage von ihm aus meinem Gedacht-
nis, die sich mit dem lapidarischen Mandelstil nicht wohl vertrug,
und ich hatte besonders etwas darum gegeben, die Krebse am
allerliebsten, wenn er, weniger urn das Steingut in ihren Kopfen
besorgt, seine Luise nicht angebrummt hatte, die in der Freude
einige Beitrage zu seiner Krebs-Daktyliothek verschiittet hatte. -
Ich will nur aufrichtig sein : der Henker hatte mich holen mussen,
wenn ich hart wie ein Krebsauge hatte bleiben wollen, da du,
meine Musik-Schiilerin, geliebte Beata, welche aus der Hofyuft 1 ,
10 wie andre Blumen aus der mephitischen, nichts eingesogen als
zartere Reize und hohern Schmelz, da du, holde Schiilerin, mit
dem weiblichen Gefuhle des vaterlichen Ansehens hingingest und
dem Vater, mit dem Munde auf seiner Hand, die aufrichtigsten
Wunsche brachtest und da du erst am Halse deiner Mutter, die
euch beide mit Blicken der Liebe uberschuttete, dein Herz in ein
naheres ubergossest ....
Erst jetzo kommt die versprochne Hauptsache - namlich mein
Gustav. Ich wollt', er war' ausgeblieben. Er tritt vor zwei Husaren
voraus, die einen Kornwagen eskortierten. Der Wagen wollte
20 sich iiber der Grenze - das Furstentum Scheerau stoBet wie der
menschliche Verstand iiberall auf Grenzen - abladen; die zwei
Husaren wollten sich bestechen lassen, es war alles gut; aber
Gustav wars nicht; der Kondukteur, der Pachter, hatte die
Schleichware fur Roperisches Gut ausgegeben - und vor Roper
straubte sich der ganze Gustav schon vom Vater her zuruck.
Zweitens Iebte er jetzt mit der Tugend im Brautstand und in den
Flitterwochen, wo man gute Werke und moralische hors d'oeuvre
fur einerlei nimmt und wo zugleich Stil und Tugend zu viel Feuer
haben. Kurz der Pachter und Wagen muBten zuruck; und der
50 Kadett war ins Geburttagzimmer getreten, um es mit uberwallen-
dem Hasse gegen Roperische Betriigereien anzusagen. — Aber
war er dies imstande, als er mich nach vielen Wochen und meine
Schiilerin zum ersten Male sah und unter die frohlich geroteten
Gesichter trat, aus denen er auf einmal Blut und Freude jagen
1 DerLeser muB sich erinnern, daB sie von der Residentin von Bouse blofi
zur Feier des vaterlichen Geburttags hierhergereiset war.
192 DIE UNSICHTBARE LOGE
wollte? - Er konnte nichts als mich beiseite ziehen und mir alles
entdecken; aber das Belauschen und das anfahrende corpus de-
licti entdeckten dem Kommerzien-Agenten das namliche. Er ge-
net ohne weiteres in eine schimpfende Wut gegen den Kadetten,
den die Sache, wie er sagte, nichts angehe, und steigerte sich so
lange darin, bis ihm ein Heilmittel gegen das ganze Ungliick bei-
fiel. Ich muBte mit ihm vor die Haustiir hinaus, und er sagte mir,
ich wiirde als sein Amtmann leicht einsehen, daB man das Ge-
treide fur das Getreide seiner Pachter ausgeben muBte, weil der
Fiirst mit einem Beamten kein Schonen hatte. Das letzte sah ich 10
als sein neuer Amtmann ein, daB der geizige Arsenikkonig, der
den Amter-Handel, Justiz-Unfug und ahnliches duldete, doch auf
Ungehorsame gegen ihn wie ein giftiger Wind zufahret; aber das
sah ich nicht ein, daB eine zweite Betrugerei der Verhack und Ad-
vokat der ersten sein musse. Zu unserem Gefechte stieB endlich
der Gegeristand desselben, der Pachter selber, der mit zerrutte-
tem Gesicht und mit der stotternden Bitte zulief, »Ihro Gnaden
sollten es nicht ungnadig vermerken, daB er in der Angst sein
Korn fur Ihro Gnaden Ihres ausgegeben hatte«. Nun war der
Knoten auseinander: mein Prinzipal hatte bisher bloB seine 20
gliicklich iiber die Grenze gebrachte Schleichware mit der er-
tappten fremden vermengt. Dem Pachter hielt er sogleich als ge-
sunder Moralist die Bosheit vor, auf einmal ihn, das Land und den
Fiirsten zu betrugen, »und er wiinschte, er brache jetzt das Schrei-
ben der Regierung auf, er wiirde ihn auf der Stelle ausliefern«.
Zu meinem Gustav eilt* er hinein und warf ihm mit der Hitze der
verkannten Unschuld so viel Grobheiten entgegen, als man von
einem beleidigten Halb-Millionar erwarten kann, da Besitzer des
Goldes, wie Saiten von Gold, am allergrobsten klingen. Mich
dauerte mein Heber Gustav mit seiner Tugend-Plethora; ihn 30
dauerte das Ungliick des armen Pachters; und Beaten dauerte
unsere allseitige Beschamung. Mit reiBenden Gefiihlen floh Gustav
aus einem stummen Zimmer, wo er vom weichsten Herzen, das
noch unter einem schonen Gesicht gezittert, von Beatens ihrem,
die Blumen kindlicher Freude weggebrochen und herabgeschla-
gen hatte.
ZWEIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 1 93
Im Grund ging jetzt der Henker erst los - namlich das Rope-
rische Gebelle gegen das Falkenbergische Haus und gegen dessen
abscheuliche Verschwendung und gegen den Kadetten. Beata
schwieg; aber ich nicht: ich ware ein Schelm gewesen (ein groBe-
rer, mem' ich), wenn ich dem Rittmeister die Verschwendung in
dem Sinne, worin sie der Gegner nahm, hatte beimessen lassen —
ich ware auch dumm (oder dummer) gewesen, wenn ich ihn nicht
in meinem ersten Amtmanns-Aktus an Widerstand zu gewohnen
getrachtet hatte, sondern erst im zehnten, zwanzigsten Aber
10 das Ol, das ich herumflieBen HeB, um seine Wellen zu glatten,
tropfte statt ins Wasser ins Feuer. Es half uns beiden wenig, daB
uns meine Schiilerin mit den silberhaltigsten Stellen aus Bendas
Romeo anspielte - der alte SpaB war nimmer zuruckzubrmgen —
' wir zuckten und lenkten vergeblich an unsern Gesichtern, Roper
sah wie ein indianischer Hahn aus und ich wie ein europaischer. -
Ich hatte vorgehabt, gegen Abend nach Mondaufgang etwas
sentimentalisch zu sein in Beisein von Beaten, da sie mir ohnehin
der Hof entrifi; ich weiB gewiB, ich hatte hinlanglich empfunden
und gefuhlt; ich wiirde unter einem Schatten oder Baum mein
20 Herz hervorgenommen und gesagt haben : „prenez" ; ja ich schien
sogar heute Beaten mir weit naher heranzuziehen als sonst, welches
bei alien Madchen gelingt, mit deren Eltern man die Geschafte
teilt. — Das war nun samtlich zum Henker; ich muBte kalt und
zahe davongehen wie ein Kammergerichtbote und empfand
schlecht. War der neue Amtmann verdrieBlich, den man in sein
Amt hineingeargert hatte: so wars sein Prinzipal noch mehr, der
in sein Jahr hineingezankt geworden. So hinkte ich davon und
sagte unter dem ganzen Weg zu mir : »So und mit dem Gesicht
und Aussehen ziehest du also, glucklicher Paul, von deiner
30 MauBenbachischen Gerichthalterei heim, von der du schon in
deinen Sektoren voraus geplaudert. — Du brauchst meinetwegen
nicht aufzugehen, Mond, ich brauche dein Puder-Gesicht heute
nicht - der einzige verdammte Korn-Karren! und der Fiirst! -
und der Filz dazu! und auch die Jiinglingtugend! - Ich wollt',
daB ihr alle.... War* ich aber nur so gescheit gewesen und
hatte gleich vormittags gefuhlt und hatte vor dem- Essen etwas
194 DIE UNSICHTBARE LOGE
von meinem Herzen vorgezeigt, nur ein Herzohr, nur eine
Faser.«
»Ei! Herr Amtmann!« (fuhr mir mein Wiitz entgegen) »wieder
da? Hats hubsche Ehebriiche gegeben, Hurenfalle, Raufereien,
Injurien?«
»BloI3 einige Injurien«, sagt' ich.
Dreiundzwanzigster oder xx. Trinitatis-Sektor
Andrer Zank - das stille Land - Beatens Brief- die Aussohnung -
das Portrat Guidos
Noch am heutigen Sonntag nab* ichs nicht heraus, warum 10
Gustav funf Tage spater in Scheerau eintraf, als er konnte ; er wich
sogar meinen Erkundigungen angstlicher als listig aus. Oefel liefi
sich alles rapportieren und machte daraus ein paar Sektores in
seinem Roman, den ich und der Leser hoffentlich noch zu sehen
bekommen. Ich wollte, seiner kame eher als meiner in die Welt,
so konnt' ich den Leser darauf verweisen oder vielleicht einige
Anekdoten daraus nehmen. Gustav schien ein geistiges Wundfie-
ber zu haben. Er trug sein vom bisherigen Bluten erkaltetes Herz
zu Amandus, um es an des Freundes heiBer Brust wieder auszu-
warmen und anzubruten und um die Achtung gegen sich selber, 20
die er nicht aus der ersten Hand bekommen konnte, aus der
zweiten zu erhalten. Und dort erhielt er sie stets - aus einem be-
sonderen Grunde. In seinem Charakter war ein Zug, der ihn,wenn
er unter einer Briidergemeinde ware, langst als Wildenbekehrer
aus ihr nach Amerika hinabgerollet hatte: er predigte gern. Ich
kann es anders sagen: seine quellende Seele muBte entweder
stromen oder stocken, aber tropfen konnte sie nicht - und wenn
sich ihr denn ein freundschaftliches Ohr auftat: so regnete sie
nieder in Begeisterung uber Tugend, Natur und Zukunft. - Dann
wehte eine heitere frische Luft durch seine Ideenwelt - die nieder- 30
gestiirzten ErgieBungen deckten den schonen lichten tiefblauen
Himmel seines Innern auf, und Amandus stand unter dem offnen
DREIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 195
Himmel entziickt. Dieser, dem die Obermacht seines herzlich
Geliebten ein Postament war, das ihn nicht belastete, sondern em-
porhob, genoB im fremden Wert seinen eignen; ja in seinem min-
der ausgelichteten Kopf entstand noch groBere Warme, als im
redenden war, wie etwa dunkles Wasser sich unter der Sonne
starker als helles erwarmt. Gustav erzahlte ihm den Vorfall und
sprach mit ihm so lange uber sein Recht und Unrecht dabei, bis
sein Schmerz dariiber weggesprochen war; dies ist das freund-
schaftliche Besprechen des innern Schadenfeuers. BloB Liebe und
io ein wenig Schwache war es, daB Amandus mit grdBerer Teil-
nahme eine herausgeweinte als eine hervorgelachte Trane aus
dem geliebten fremden Auge wischte; er kam deswegen, um sich
das Interesse an fremdem Kummer zu verlangern, nocheinmalauf
die Sache und tat die zufallige Frage, wo mein Held die iibrigen
ftinf Tage war. Gustav uberhorte es angstlich und rot - jener
drang heftiger an - dieser umfaBte ihn noch heftiger und sagte:
»Frage mich nicht, du qualest dich nur.« - Amandus, dessen
hysterisches Gefiihl nicht so fein als konvulsivisch war, feuerte
-* sich erst recht damit an - Gustavs Herz'war innigst bewegt, und
20 daraus kamen die Worte: »0! Lieber, du kannst es nie erfahren,
von mir nie!« - Amandus war wie alle Schwache leicht zur Eifer-
sucht in Freundschaft und Liebe geneigt und stellte sich beleidigt
ans Fenster. - Gustav, heute nachgiebiger und warmer durch das
BewuBtsein seiner neuesten Vergehung in der Korn-Anklage,
ging hin zu ihm und sagte mit nassen Augeh : »Hatt* ich nur keinen
Eid getan, nichts zu sagen« - Aber an Amandus* Seele waren
nicht alle Stellen mit jenem feinen Ehrgefuhl bekleidet, an wel-
chem Wort- und Eidbruch fressender Hollenstein ist. Auch
setzten in ihm wie in alien Schwachen die Bewegungen seiner
30 Seele, sogar wenn die Ursache dazu gehoben war, wie die Wellen
des Meers, wenn auf den langen Wind ein entgegenblasender
folgt, noch die alte Richtung fort. - Er sah also weiter durchs
Fenster und wollte vergeben, muBt' aber die mechanisch auf-
springenden Wellen allmahlich zusammenfallen lassen. Hatte
Gustav sich weniger um seine Vergebung beworben: so hatt* er
sie friiher bekommen; beide schwiegen und blieben. »Amandus!«
196 DIE UNSICHTBARE LOGE
rief er endlich im zartlichsten Ton. Keine Antwort und kein Um-
kehren. Auf einmal zog der einsame Gequalte das Portrat des
verlornen und ihm ahnlichen Guido, das in seinen schonen Kind-
heittagen iiber seine Brust gehangen worden und das er ihm heute
zu zeigen willens gewesen, vom Schmerze iibermannt, hervor und
sagte mit zerschmelzendem Herzen : »0 du gemalter Freund, du
geliebtes Farben-Nichts, du tragst unter deiner gemalten Brust
kein Herz, du kennst mich nicht, du vergiltst mir nichts, - und
doch lieb* ich dich so sehr. - Und meinem Amandus war' ich
nicht treu?« Er sah plotzlich im Glase dieses Portrats sein 10
eignes mit seinen Trauerzugen nachgespiegelt: »0 blicke her;«
(sagte er in einem andern Tone) »ich soil diesem gemalten Frem-
den so ahnlich sehen, sein Gesicht lachelt in einem fort, schau
aber in meinesk - und er richtete es auf, und weit offne, aber in
Tranen schwimmende Augen und zuckende Lippen waren darauf.
Die Flut der Liebe nahm beide in fester Umfassung hinweg
und hob sie — und als Amandus erst darnach seine halbeifer-
siichtige Frage: »er habe geglaubt, das Portrat sei Gustavs« mit
Nein und mit der ganzen Geschichte beantwortet erhielt: so tat
es keinen Schaden ; denn die Bewegungen seines Herzens zogen 20
schon wieder im Bette der Freundschaft hin.
Nach solchen Erweiterungen der Seele bietet eine Stube keine
angemessenen Gegenstande an; sie suchten sie also unter dem
Deckengemalde, von dem nicht ein gemalter, sondern ein leben-
diger Himmel, nicht Farbenkorner, sondern brennende und ver-
kohlte "Welten niederhangen, und gingen hinaus ins stille Land,
das keine halbe Stunde von Scheerau liegt. Ach, sie hattens nicht
tun sollen, wenn sie ausgesohnet bleiben wollten!
Willst du hier beschrieben sein, du stilles Land, iiber das meine
Phantasie so hoch vom Boden und mit solchem Sehnen hiniiber- 30
fliegt - oder du stille Seele, die du es noch in der deinigen be-
wachst und nur ein irdisches Bild davon auf die Erde geworfen
hast? - Keines von beiden kann ich; aber den Weg will ich nach-
zeichnen, den^unsre Freunde dadurch nahmen, und vorher teil*
ich noch etwas mit, das den sonderbaren Ausgang ihres Spazier-
gangs gebar t
DREIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 197
Ich wuBte ohnehin nicht recht, wohin ich den Brief tun sollte,
welchen Beata sogleich nach meiner und ihrer Rtickkehr von
MauBenbach an meine Schwester schrieb. Sie war in den wenigen
Tagen, die sie mit meiner Philippine bei der Residentin zuge-
bracht, ihre Freundin geworden. Die Freundschaft der Madchen
besteht oft dariri, daB sie einander die Hande halten oder einerlei
Kleiderfarben tragen; aber diese batten lieber einerlei freund-
schaftliche Gesinnungen. Es war ein Gluck fiir meine Schwester,
daB Beata keine Gelegenheiten hatte, ihrem sie halb bestreifenden
io Widerschein von Gefallsucht zu begegnen; denn Madchen er-
raten nichts leichter als Gefallsucht und Eitelkeit, zumal an ihrem
Geschlecht.
„Liebe Philippine,
ich habe bisher immer gezogert, um Ihnen einen recht mun-
tern Brief zu schreiben - Aber, Philippine, /tier mach' ich keinen.
Mein Herz liegt in meiner Brust wie in einer Eisgrube und zittert
den ganzen Tag ; und doch waren Sie hier so freudig und niemal
betriibt als bei unserem Abschiede, der fast so lange wahrte wie
unser Beisammensein: ich bin wohl selber schuld? Ich glaub' es
20 manchmal, wenn ich die lachenden Gesichter um die Residentin
sehe oder wenn sie selber spricht und ich mir in ihrer Stelle denke,
was ich ihr mit meinem Schweigen und Reden scheinen muB.
Ich darf nicht mehr an die HofFnungen meiner Einsamkeit den-
ken, so sehr werd' ich von den Vorziigen fremder Gesellschaft
beschamt - Und wenn mich eine Rolle, die fur mich zu groB ist,
freilich niederdriickt : so weiB ich mit nichts mich aufzurichten,
als daB ich ins stille Land wegschleiche : - da hab' ich siiBere
Minuten, und mir gehen oft die Augen plotzlich uber, weil mich
da alles zu lieben scheint und weil da die sanfte Blume und der
30 schuldlose Vogel mich nicht demutigen, sondern meine Liebe
achten; - dann sen' ich den Geist der trauernden Fiirstin einsam
durch seine Werke wandeln, und ich gehe mit ihm und fiihle,
was er fiihlet, und ich weine noch eher als er. Wenn ich unter dem
schonsten blauesten Tage stehe: so schau' ich sehnend auf zur
Sonne und nachher rings um den Horizont herum und denke:
198 DIE UNSICHTBARE LOGE
>Ach wenn du deinen Bogen hinabgezogen bist, so hast du doch
auf keine Stelle der Erde geschienen, auf der ich ganz gliicklich
sein konnte bis zu deinem Abendrot ; - und wenn du hinunter und
der Mond herauf ist: so findet er, daB du mir nicht viel gegeben.<
. . . Teure Freundin ! veriibeln Sie mir diesen Ton nicht; schreiben
Sie ihn einer Krankheit zu, die mich allemal hinter diesem Vor-
boten anwandelt. O konnt' ich Sie mit meinem Arme an mich
ketten : so war' ich vielleicht auch nicht so. Gluckliche Philippine !
aus deren Munde schon wieder der Witz lachelnd flattert, wenn
noch iiber ihm das Aug' voll Wasser stent, wie die einzige Bal- 10
sampappel in unserem Park Gewiirzdufte ausatmet, indes noch
die warmen Regentropfen von ihr fallen. - Alles ziehet von mir
weg, Bilder sogar; ein totes stummes Farbenbild hinter einer
Glastur war der ganze Bruder, den ich zu lieben hatte. Sie konnen
nicht fuhlen, was Sie haben oder ich entbehre - jetzo scheidet
sogar sein Widerschein von mir, und ich habe nichts mehr vom
geliebten Bruder, keine Hoffnung, keinen Brief, kein Bild. - Ich
vermisse dieses Portrat zwar seit meiner Riickkehr von MauBen-
bach; aber vielleicht ists schon langer weg; denn ich hatte mich
bisher bloB einzurichten; vielleicht nab' ichs selber mit unter die 20
Biicher, die ich Ihnen gab, verpackt - Sie werden mich benach-
richtigen. Ich weiB gewiB, in unserem Hause war noch ein zweites,
etwas unahnlicheres Portrat meines Bruders; aber seit langem
ists nicht mehr da.« etc.
*
Naturlich! denn der alte Roper hatt' es publice versteigert, weil
es das von Gustav war. - Aber wir wollen wieder ins stille Land
unsern beiden Freunden nach.
Sie muBten vor dem alten Schlosse vorbei, das wie eine Adams-
Rippe das neue ausgeheckt, das seinerseits wieder neue Wasser-
aste, ein sinesisches Hauschen, ein Badhaus, einen Gartensaal, ein 3°
Billard u.s.w., hervorgetrieben hatte. Im neuen Schlosse wohnte
die Residentin von Bouse, die diesen architektonischen Fotus das
ganze Jahr nicht zweimal bewunderte. Hinter dem zweken Riicken
des Schlosses fing sich der englische Garten mit einem franzo-
sischen an, den die Furstin stehen lassen, um den Kontrast zu
DREIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 199
beniitzen oder um den zu vermeiden, in welchem sich ein brillan-
tierter Gala-Palast neben die patriarchalische Natur im Schafer-
kleide postiert. Wer nicht vor den beiden Schlossern vorbei wollte :
konnte durch ein Fichtenwaldchen in den Park gelangen und vor-
her in eine Klausnerei, deren Vater der alte Furst und sein Favor it-
Kammerherr gewesen waren. Beide waren in ihrem Leben nicht
einen halben Tag allein gewesen, aufier wenn sie sich auf einer
Jagd oder sonst verirrten; — daher wollten sie doch allein sein und
setzten deswegen (was fragten sie darnach, daB sie ein Plagiat und
io einen Nachdruck der vorigen Baireuther Eremitage veranstalte-
ten?) neun Hauserchen aufs Papier, nachher auf den Tisch und
endlich auf die Erde, oder vielmehr neun bemooste Klafter Holz.
In diesen ausgehohlten Vexier-Klaftern steckte sinesisches Ameu-
blement, Gold und ein lebendiger Hofmann, wie man etwa in
lebendigen Baumstammen auf eine lebendige Krote mit Erstaunen
stoBet, well man nicht sieht, wo ihr Loch ist. Die Klafter umran-
gen eine Klause, die man - weil am ganzen Hof keine Seele zu
einem lebendigen Einsiedler Ansatz hatte— einem holzernen an-
vertrauete, der still und mit Verstand darin saB und so viel medi-
20 tierte und bedachte, als einem solchen Manne moglich ist. Man
hatte den Anachoreten aus der Scheerauischen Schulbibliothek
mit einigen aszetischen Werken versehen, die fiir ihn recht paBten
und ihn zu einer Abtotung des Fleisches ermahnten, die er schon
hatte. Die GroBen oder GroBten werden entweder reprasentiert
oder reprasentieren selber; aber sie sind selten etwas; andere
miissen fiir sie essen, schreiben, genie Ben, lieben, siegen, und sie
selber tun es wieder fiir andre; daher ist es ein Gliifck, daB sie, da
sie zum GenuB einer Einsiedelei keine eigne Seele haben und
keine fremde finden, doch holzerne Geschafttrager, welche die
50 Einsiedelei fiir sie genieBen, bei Drechslern auftreiben; aber ich
wiinschte nur, die GroBen, die nie mehr Langweile erleiden als
bei ihrer Kurzweile, lieBen auch vor ihre Parks, vor ihre Orchester,
ihre Bibliotheken und ihre Kinderstuben solche feste und unbe-
lebte Geschaft- und Himmeltrager oder GenuB-Curatores absen-
tis und Schonwetterableiter machen und hinstellen, entweder in
Stein gehauen oder bloB in Wachs bossiert.
20O DIE UNSICHTBARE LOGE
In die Decke der Klause sollte (wie an der Decke der Grotte
beim Kloster S. Felicita) hinlangliche Baufalligkeit, sechs Ritzen
und ein paar Eidechsen, die daraus fallen, eingemalet werden. Der
Maler war auch schon auf Reisen, blieb aber so lange darauf und
aus, da6 sich die Sache zuletzt selber hinaufmalte und gleich offnen
Menschen nichts war, als was sie schien. Allein als die kiinstliche
Einsiedelei sich zu einer natiir lichen veredelt hatte, war sie langst
von alien vergessen. Ich halt* es daher mehr fiir Persiflage als fur
reine Wahrheit, daB der Kammerherr - wie so viele Oberschee-
rauer sagten — Holzwurmer hatte zusammenfangen und in den 10
Stuhl des Eremiten impfen lassen, damit die Tiere statt der Haar-
sagen und Trennmesser daran arbeiteten und den Sessel friiher
antik machten - wahrhaftig das Gewtirm beiBet jetzo Stuhl und
Monch um 1 Noch lacherlicher ists, wenn man einem vernunftigen
Mann weismachen will, anfangs hatte der architektonische
Kammerherr ein kunstlich laufendes Raderwerk mit einem Maus-
fell kuvertiert und papillotiert, damit die Kunst-Eidechse oben
eine Korrespondenz-Maus unten hatte und so fiir Symmetric hin-
ten und vorn gesorgt ware, hernach hatte der Herr sich der Natur
genahert und iiber eine lebendige rennende Maus ein kiinstliches 20
zweites Mausfell als Cberrock und Frack gezogen, damit Natur
und Kunst ineinander steckten — lacherlich! Mause fahren zwar
stets um den Einsiedler herum, aber sicher nur in einer Unterzieh-
Haut....
Unsere zwei Freunde sind weit von uns und schon im soge-
nannten langen Abendtal des Parks, durch welches aus der unter-
gehenden Sonne ein schwebender Goldstrom fiel. Am westlichen,
sanft erhohten Ende des Tales schienen die zerstreuten Baume
auf der zerrinnenden Sonne zu griinen; am ostlichen sah man iiber
die Fortsetzung des Parks himiber bis ans gliihende SchloB, auf 30
dessen Scheiben sich die Sonne und das Abend-Feuerwerk ver-
doppelten. Hier sah die alte Furstin allemal den ersten Untergang
der Sonne; dann hob sie ein sanft aufgewundner Wegauf das hohe
Gestade dieses Tals, wo der Tag noch in seinem Sterben war und
noch einmal mit dem brechenden Sonnen-Auge vaterlich den
grofien Kinderkreis anblickte, bis ihm seine Nacht das Auge zu-
DREIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 201
driickte und diese in ihren miitterlichen SchoB die verlassene
Erde nahm.
Gustav und Amandus! hier versohnet euch noch einmal - der
rote Sonnenrand steht schon auf dem Rande der Erde — das
Wasser und das Leben rinnen fort und stocken unten im Grabe -
nehmet euch an den Handen, wenn ihr auf das zerstorte Ruhe-
statt 1 hiniiberschauet und auf seine stehende Kirche, das Bild der
unglucklichen Tugend - oder wenn ihr auf die Blumeninseln blickt,
wo jede Blume auf ihrem grunen Weltteilchen einsam zittert und
io ihr kein Verwandter entgegenschwankt als ihr gemalter Schatten
im Wasser - driickt euch die Hande, wenn euere Augen fallen
auf das Schattenreich, wo heute Licht und Schatten wie Leben und
Schlafen nebeneinander und ineinander zitternd flatterten, bis die
schwarze Schattenflut iiber allem, was an der Erde blinket, steht
und den Tod nachspielt — und wenn ihr an des stummen Kabinetts
dreifachem Gitter Alphorner und Aolsharfen lehnen sehet: so
miissen euere Seelen die Harmonien im Einklang nachbeben —
Es ist eine elende rhetonsche Figur, die ich aufstelle, daB ich hier
so lange an- und zugeredet habe : sind denn nicht die zwei Freunde
20 in einem grofiern Enthusiasmus als ich selbst? Ist nicht Amandus
iiber freundschaftliche Eifersucht emporgehoben und halt eigen-
handig das heutige angeredete Portrat des unbekannten Gusta-
vischen Freundes vor sich hin und sagt: »Du koniitest der Dritte
sein«? Ja legt er nicht in der Begeisterung das Bild ins Gras, urn
1 Diese wenigen Partien beschreib* ich nur kurz : Rukestatt ist ein abge-
branntes Dorf mit stehender Kirche, die beide bleiben muBten, wiesie waren,
nachdem die Fiirstin den Einwohnern Platz und alles eine Viertelstunde da-
von mit den groBten Kosten und durch Hiilfe des Herrn von Ottomars, dem
es gehort und der noch nicht da ist, vergutet hatte. - Die Blumeninseln sind
30 einzelne abgesonderte Rasenerhohungen in einem Teiche, jede mit einer an-
dern Blume geputzt. - Das Sckattenreick besteht in einem mannigfaltigen
Schatten-Gegitter und -Geniste, durch grofies und kleines Laub^erk, durch
Aste und Gitterwerk, durch Biische und Baume verschieden auf den Grund
von Kies, Gras oder Wasser gemalt. Sie hatte die tiefsten und die hellsten
Schattenpartien angelegt, einige fiir den abnehmenden Mond, andre fur das
Abend rot. - Das stumme Kabinett war ein schlechtes Hauschen mit zwei ent-
gegengesetzten Tiiren, iiber deren jeder ein Flor hing und die durch aus keine
Hand aufschlieften durfte als die der Fiirstin. Noch jetzo weiB man nicht,
was darin ist, aber die Flore sind zerstort.
202 DIE UNSICHTBARE LOGE
mit der linken Hand Gustav zu fassen und mit der rechten auf ein
Zimmer des neuen Schlosses zu deuten, und gesteht er nicht:
»Hatt' ich auch in der rechten das, was ich Hebe: so waren meine
Hande, mein Herz und mein Himmel voll, und ich wollte ster-
ben«? Und da man nur in der groBten Liebe gegen einen Zweiten
von der gegen einen Dritten sprechen kann : konnen wir unserem
Amandus mehr ansinnen, der hier auf dem Berge seine Ver-
liebung in Beaten bekennt?
Das Ungluck war, daB sie eben selber heraufstieg, um am
Sterbebette der Sonne zu stehen - noch schoner als die, die ihre 10
Augenlust war - immer langsamer gehend, als wollte sie jeden
Augenblick still stehen — mit einem Auge, das erst sah, nachdem
sie es einigemal schnell auf- und zugezuckt — kein lebender eu-
ropaischer Autor konnte Amandi Entziickung vormalen, wenn
es dabei geblieben ware; - aber ihr kleines Erstaunen iiber die
zwei Gaste des Berges floB plotzlich in das iiber den dritten auf
dem Grase iiber. Eine hastige Bewegung gab ihr das bruderliche
Bild, und sie sagte, unwillkiirlich zu Amandus gekehrt: »Meines
Bruders Portrat! Endlich find' ichs doch !« - Aber sie konnte nicht
vorbeigehen, ohne aus jenem weiblichen feinen Gefiihl, das in 20
solchen Manual- Ak ten zehn Bogen durchhat, ehe wir das erste
Blatt gelesen, zu beiden zu sagen: »sie dankteihnen, wenn sie das
Bild gefunden hatten« - Amandus biickte sich tief und erboset,
Gustav war weg, als stande sein Geist auf dem Berg Horeb und
hier bloB der Leib - sie wandelte, als war' es ihre Absicht gewesen,
gerade iiber den Berg hiniiber, mit den eignen Augen auf dem
Bilde und mit den vier fremden auf ihrem Riicken —
»Jetzt sind ja deine fiinf Tage heraus, und ohne deinen Mein-
eid«, sagte Amandus erziirnet, und die hohe Oper des Sonnen-
Untergangs riihrte ihn nicht mehr; Gustaven hingegen riihrte sie 30
noch starker; denn das Gefiihl, Unrecht zu leiden, floB mit dem
irrigen Gefiihle, Unrecht angetan zu haben - zarte Seelen geben
in solchen Fallen dem andern allzek mehr Recht als sich -, in eine
bittere Trane zusammen, und er konnte kein Wort sagen. Aman-
dus, der sich jetzt iiber seine Versohnung argerte, wurd* in seinem
eifersiichtigen Verdachte noch dadurch befestigt, daB Gustav in
DREIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 203
der pragmatischen Relation, die er ihm von der MauBenbacher
Avanture gemacht, Beaten vollig ausgelassen; allein diese Aus-
lassung hatte Gustav angebracht, well ihn beim ganzen Vorfall
gerade der Zarten Gegenwart am meisten schmerzte und weil
vielleicht in seinem warmsten Innersten eine Achtung fur sie
keimte, die zu zart und heilig war, um in der freien harten Luft
des Gesprachs auszudauern. »Und sie war naturlich neulich mit in
MauBenbach?« sagte der Eifersiichtige im fatalsten Tone. - »Ja!«
aber so viel vermochte Gustav nicht beizufiigen, dafi sie da kein
10 Wort mit ihm gesprochen. Dieses dennoch unerwartete Ja zer-
stiickte auf einmal des Fragers Gesicht, der seinen Stumpf in die
Hohe gehalten (falls die Hand ware abgeschossen gewesen) und
geschworen hatte : »es brauche weiter keines Beweises — Gustav
halte Beaten sichtlich in seinem magnetischen Wirbel - schweig'
er nicht jetzt? LieB er ihr das Bildnis nicht sogleich? Wird sie, da
sie die Kopien verwechselte, nicht auch die Originate verwechseln,
da sie sich alle vier so gleichen u.s.w.?«
Amandus liebte sie und dachte, man lieb* ihn auch, und man
merke, wo er hinauswolle. Er hatte Delikatesse genug in seinen
20 eignen Handlungen, aber nicht genug in den Vermutungen, die er
von fremden hegte. Er hatte namlich oft an der medizinischen
Seite seines Vaters die sieche Beata in MauBenbach besucht; er
hatte von ihr jene freimiitige Zutraulichkeit erfahren, die viele
Madchen in siechen Tagen immer auBern, oder in gesunden gegen
Junglinge, die ihnen tugendhaft und gleichgultig auf einmal vor-
kommen; das gute Partizipium in dus, Amandus, mutmaBte da-
her nach einigem Nachdenken, daB ein Brief, den Beata als ein
Spezimen aus Rousseaus Heloise auf feinem Papier - auf grobes
schreibt keine - verdolmetschet hatte und der an den seligen
30 St. Preux geschrieben war, an das Partizipium selber gerichtet
ware. Madchen sollten daher nichts vertieren; Amandus war in
einen Liebhaber vertiert.
In Gustavs wogendem Kopf brach endlich die Nacht an, die
auBerihm vortrat; Sturme und Mondschein waren in seiner neben-
einander, Freude und Trauer; er dachte an einen unschuldigen,
vom Verdacht angefressenen Freund, an das eingebiiBte Portrat,
204 DIE UNSICHTBARE LOGE
an die Schwester, mit der er einmal in seiner Kindheit gespielt
hatte, an den unbekannten abgemalten Freund, der also der Bru-
der dieses schonen Wesens sei u.s.w. - Amandus brach einseitig
auf; Gustav folgte ihm ungebeten, weil er heute nichts als ver-
zeihen konnte. Noch unter dem Hinuntergehen rangen HaB und
Freundschaft mit gleichen Kraften in Amandus, und erst ein Zu-
fall war einem von beiden zum Siege vonnoten - der HaB errang
ihn, und der Auxiliar-Zufall war, daB Gustav parallel an Aman-
dus* Seite ging. Gustav hatte voraus-* (oder hochstens hinten-
nach-)schleichen sollen, zumal mit seiner freundschaftlich . ge- 10
beugten Seele : so hatte die Freundschaft vermittelst seines Riickens
gesiegt, weil ein Menschenrucken durch den Schein von Abwesen-
heit mehr Mitleiden und weniger HaB mitteilt als Gesicht, Brust
und Bauch — Man kann die Menschen gar nicht oft genug von
hinten sehen....
Ihr Biicherleser! keift nicht mit dem armen Amandus, der sein
morsches Leben verkeift. Ihr solltet nur nachsehen, wie in einem
Nervenschwachling der Sitz der Seele ist, verteufelt hart, ausge-
polstert mit keinen drei Rindhaaren, einschneidend wie eine
Schlittenpritsche; kurz alle mir bekannte Ich sitzen weicher — 20
Dennoch wird mein Mitleiden gegen den wunden Schelm durch
ganz andre Dinge als durch seine harte steinige Zirbeldriise der
Seele erregt: es sind Dinge, die den Leser weich machen wiirden
und zu denen ich mich trotz meines Austunkens nur leider noch
nicht habe hinzuschreiben vermocht! -
Uberhaupt versteck' ichs vergeblich, wie sehr es meiner Histo-
ric noch mangelt an wahrem Mord und Totschlag, Pestilenz und
teuerer Zeit und an der Pathologie der Litanei. Ich und der
Biicherverleiher finden hier das ganze weiche Publikum im La-
den, das aufpasset und schon das weifie Schnupftuch - dieses sen- 30
timentalische Haarseil - heraushat und das Seinige beweinen will
und abwischen . ; . . und doch bringt keiner von uns viel Riihren-
des und Totes Von der andern Seite bleibt mir wieder die be-
sondere Not, daB das deutsche Publikum seinen Kopf aufsetzt
und sich nicht von mir angstigen lassen will; denn es bauet da-
rauf, ich konne als bloBer platter Lebensbeschreiber es zu keinem
DREIUNDZWANZIGSTER SEKTOR 20J
Morde treiben, ohne welchen doch nichts zu machen ist. Aber ist
denn nur der Romanen-Fabrikant mit dem Blut- und Konigsbann
beliehen, und ist nur sein Druckpapier ein Greveplatz? - Wahr-
haftig Zeitungschreiber, die keine Romane schreiben, haben doch
von jeher eingetunkt und niedergemacht, was sie wollten, und
mehr, als rekrutieret war — Geschichtschreiber ferner, diese GroB-
kreuze unter den gedachten Kleinkreuzen (denn aus ioo Zeitung-
Annalisten extrahier' ich hochstens einen Geschichtschreiber als
Absud), sind fortgefahren und haben so viel umgebracht, als der
io Plan ihrer historischen Einleitungen, ihrer Abreges, ihrer Kaiser-
historien und Reichsgeschichten durchaus erforderte .... Kurz ich
bin nicht zu entschuldigen, wenn ich hier gar nichts tot und inter-
essant mache; und ich erschlage am Ende aus Not einen oder ein
paar Lakaien, die noch dazu auBer Scheerau kein Henker kennt.
Ich fahre aber in meiner Geschichte fort und rucke aus des
Pestilenziarius Nouvelle a la main folgenden Artikel in meine fur
mehre Weltteile geschriebene Nouvelle a la main herein:
»Es bestatigt sich aus MauBenbach, daB der dasige Bediente
Robisch Todes verfahren ist wie seine Mause. Sein Tod hat zwei
20 medizinische Schulen gestiftet, wovon die eine verficht, sein Sek-
ten stiftender Tod komme von zu vielem Priigeln, und die andre,
vielmehr von zu wenigem Essen.«
Es ist nicht ein Wort daran wahr; der Mensch hat zwar Strie-
men und Appetit, lebt aber noch dato, und der Zeitungartikel ist
erst seit einer Minute von mir selber gemacht worden. Das kuhne
Publikum ziehe sich aber daraus auf immer die Witzigung, daB
es keinen Lebensbeschreiber reize und aufbringe, weil auch der
durch die Kelchvergiftung seines Dintenfasses und durch das
Rattenpulver seiner Streusandbuchse Robische und Fursten und
jo jeden umwerfen und auf den Gottesacker treiben konne; es lerne
daraus, daB ein rechtschafTenes Publikum stets unter dem Lesen
beben und fragen mxisse : »Wie wirds dem armen Narren (oder der
armen Narrin) ergehen im nachsten Sektor?«
206 DIE UNSICHTBARE LOGE
VlERUNDZWANZIGSTER ODER XXI. TRINITATIS-SEKTOR
Oefel s Intrigen - die Infammachung — der Abschied
Schlecht genug ergehts ihm, wenn das fragende Deutschland
anders unsern Gustav meinte. Oefel ist daran schuld. Ich will aber
dem erschrocknen Deutschland alles eroffnen; die wenigsten da-
rin wissen, warum dieser ein Romanschreiber und ein Legation-
rat ist.
Kein empfindsamer Offizier — im Kadettenhause trug er Uni-
form - hat weniger Kugeln und mehr Hemden und Briefe ge-
wechselt als Oefel. Letzte wollt' er an alle Leute schreiben; denn 10
seine Briefe lieBen sich lesen, weil er selber las, und zwar belle-
tristische Sachen, die er noch dazu nachmachte. Er war namlich
ein schoner Geist, hatte aber keinen andern. Samtliche franzosi-
sche Buchhandler sollten eine narrische Dankadresse an ihn er-
lassen, weil er ihr samtliches Zeug einkaufte — sogar gegenwartige
Lebensbeschreibung, worin er selber steht, wird einmal Wieder
bei ihm stehen, wenn er von ihrer Ausgabe und von ihrer Ober-
setzungins Franzosische hort. Sich selber, Leib und Seele namlich,
hatt' er schon in alle Sprachen iibersetzt aus seinem franzosischen
Mutter-Patois. Die schonen Geister in Scheerau (vielleicht auch 20
mich) und in Berlin und Weimar verachtete der Narr, nicht bloB
weil er aus Wien war, wo zwar kein Erdbeben einen ParnaB, aber
doch die Maulwurfs-Schnauzchen von hundert Broschuristen
Duodez-ParnaBchen aufstieBen und wo die daraufstehenden Wie-
ner Burger denken, der Neid blicke hinauf, weil der Hochmut her-
unterguckt — sondern er verachtete uns samtlich, weil er Geld,
Welt, Verbindungen und Hofgeschmack hatte. Der Furst Kau-
nitz zog ihn einmal (wenns wahr ist) zu einem Souper und Ball,
wo es so zahlreich und brillant zuging, daB der Greis gar nicht
wuBte, daB Oefel bei ihm gespeiset und getanzt. Da sein Bruder 50
Oberhofmarschall und er selber sehr reich war: so hatte niemand
in ganz Scheerau Geschmack genug, seine Verse zu lesen, als der
Hof; fur den waren sie; der konnte solche Verse wie die Gras-
partien des Parks ungehindert durchlaufen, so klein, weich und
VIERUNDZWANZIGSTER SEKTOR 207
beschoren war ihr Wuchs — zweitens gab er sie nicht auf Druck-
papier, sondern auf seidnen Bandern, Strumpf bandern, Bracelets,
Visitenkarten und* Ringen heraus. Unter andern Flohen, die auf
dem Ohrentrommelfell des Publikums auf- und abspringen und
sich Koren lassen, bin auch ich und donnere mit ; aber Oefel ahmte
keinen von uns nach und verachtete dich sehr, mein Publikum,
und setzte dich Hofen nach: »Mich«, sagt* er, »soll niemand lesen,
wenn er nicht jahrlich iiber 7000 Livres zu verzehren hat.«
Kunftigen Sommer reiset er als Envoye an den**schen Hof ab,
10 um die Unterhandlungen wegen der Braut des Fiirsten, die schon
neben ihrer Wiege angesponnen und abgerissen wurden, neben
ihrem Doktor-Grahams-Bette wieder anzukniipfen. Der Fiirst
muBte sich im Grunde mit ihr vermahlen, weil ein gewisser dritter
Hof, der nicht genennt werden darf,sie dadurch einem vierten,den
ich gern nennen mochte, entziehen wollte. Man glaube mir aber,
es glaubt kein Mensch am ganzen Hofe des Brautigams, daB er an
den Hof der Braut verschickt werde, weil dort etwaschone Geister
und schone Korper gesuchte Ware sind: wahrhaftig in beiden
Schonheiten war er von jedem zu uberbieten; aber in einer dritten
20 Schonheit war ers nur leider nicht, die einem Envoye noch notiger
und lieber als die moralische ist - im Geld. An einem insolventen
Hof hat der Fiirst die erste und der Millionar die zweite Krone.
Ich habe oft den verdammten Erbschaden des scheerauischen
Furstentums verflucht und besehen, daB selten genug da ist, und
wir halfen uns gern durch einen Nationalbankerutt, wenn wir nur
vorher Nationalkredit bekamen. Aber auBer diesem Fiirstentum
hab* ich auf meinen Reisen folgende vier Regionen nirgends an-
getroffen als am Atna selber: erstlich die fruchtbare und zweitens
die waldige Region unten am Throne, wo Fruchte und grasendes
30 und jagdbares Pobelwild zu haben ist, drittens die Eisregion des
Hofes, die nichts gibt als Schirnmer, viertens die Feuerregzon der
Thronspitze, wo auBer dem Krater wenig da ist. Ein Thron-
Krater kann selber Goldberge einschlucken, verkalken, auswer-
fen als Lava.
Zum Ungluck gefiel ihm Gustav, weil er seine jugendliche Men-
schenfreundlichkeit fur ausschlieBende Anhanglichkeit an sich an-
208 DIE UNSICHTBARE LOGE
sah, seine Bescheidenhekfur Demiitigung vor Oefelscher GroBe,
seine Tugenden fiir Schwachheiten. Er gefiel ihm, weil Gustav
fiir die Poesie Geschmack und folgHch, schloB er, fiir die seinige
den groBten hatte: denn Oefels adeliges Blut lief wider die Natur
in einer dunnen poetischen Ader, und in einer satirischen dazu,
dacht' er. Vielleicht fand auch Gustav in seinen Jahren des Ge-
schmacks, wo den Jungling die poetischen kleinern Schonheiten
und Fehler entziicken, zuweilen die Oefelschen gut. Wie nun
schon Rousseau sagt, er konne nur den zum Freund erwahlen,
dem seine Heloise gefalle : so konnen Belletristen nur solchen Leu- io
ten ihr Herz verschenken, die mit ihnen Ahnlichkeit des Herzens,
Geistes und folglich des Geschmackes haben und die mithin die
Schonheiten ihrer Dichtungen so lebhaft empfinden als sie selber.
Was indessen Oefel an Gustav am hochsten schatzte, war, daB
er in seinen Roman zu pflanzen war. Er hatte in der Kadetten-
Arche siebenundsechzig Exemplare studiert, aber er konnte davon
keines zum Helden seines Buchs erheben, zum Grofisultan r als
das achtundsechzigste, Gustav.
Und der ist gerade mein Held auch. Das kann aber unerhorte
Leselust mit der Zeit geben, und ich wollte, ich lase meine Sachen 20
und ein andrer schriebe sie.
Er wiinschte meinen Gustav zum kiinftigen Erben des ottoma-
nischen Throns auszubilden, ihm aber kein Wort davon zu sagen,
daB er GroBherr wiirde - weder im Roman noch im Leben; - er
wollte alle Wirkungen seines padagogischen Lenkseils nieder-
schreiben und iibertragen aus dem lebendigen Gustav in den ab-
gedruckten. Aber da setzte sich dem Bileam und seiner Eselin ein
verdammter Engel entgegen; Gustav namlich. Oefel wollte und
muBte aus dem Kadettenhause, wo seine Zwecke befriedigt waren,
ins alte SchloB zuriick, wo neue seiner warteten. Erstlich aus dem 30
alten SchloB konnt* er leichter in die kartesianischen Wirbel des
neuen, der Visiten und Freuden springen und sich von ihnen dre-
hen lassen ; - zweitens konnt' er da mit seiner Geliebten, der Mitu-
sterin, besser zusammenleben, die alle Tage hinkam und welche
der Liebe die Tugend und die Liebe der Assembleen-Jagd auf-
opferte - drittens ist die zweite Ursache nicht recht wahr, sondern
VIERUNDZWANZIGSTER SEKTOR 2O9
er machte sie der Ministerin nur weis, weil er noch eine dritte
hatte, welche Beata war, die er in ihrem Schlosse aus dem seinigen
zu beschieBen, wenigstens zu blockieren vorhatte. — Fort muBt*
er also; aber Gustav sollte auch mit.
»Das ist den Augenblick zu machen,« (dachte Oefel) »er soil
mich am Ende selber um das bitten, urn was ich ihn bitte.« Ihm
war nichts lieber als eine Gelegenheit, jemand zu seinem Zweck
zu lenken - das Lenken war ihm noch lieber als das Ziel, wie er in
der Liebe die Kriegziige der Beute vorzog. Er hatte als Gesandter
10 aus Krieg Frieden und aus Frieden Krieg gemacht, um nur zu
unterhandeln. - Er zog, um Gustaven nahezukommen, seine erste
Parallele, d.h. er stach ihm mit seiner spitzen Zunge ein schones
Bild der Hofe aus : daB sie allein das savoir vivre lehren und alles
und das Sprechen, wie denn auch die Hunde,. je kultivierter sie
sind, desto mehr bellen, der SchoBhund mehr als der Hirtenhund,
der wilde gar nicht - daB durch sie ein Paradieses-Strom von
Freuden brause - daB man da an der Quelle seines Gliicks, am
Ohre des Fursten und am Knoten der groBten Verbindungen
stehe - daB man intrigieren, erobern etc. konne. Es war in Oefels
20 Plan, dem kleinen GroBsultan nicht einmal die Moglichkeit, ins
alte SchloB mitzukommen, zu verraten: »Um so mehr reiz' ich
ihn«, dacht' er. Es ging aber nicht mit dem Reizen, weil Gustav
noch nicht aus den poetischen Idyllen-Jahren, wo der aufrichtige
Jungling Hofe und Verstellung hasset, in die abgekiihlten hin-
iiber war, wo er sie sucht. Oefel studierte, wie Hofleute und
Weiber, nur Einzelwesen, nicht den Menschen.
Nun wurde die zweite Parallele gezogen und der Festung schon
naher geriickt. Er ging einmal an einem Vormittage mit ihm in
den Park spazieren, als er gerade die Residentin da zu treffen
30 wuBte. Wahrend er sie unterhielt, beobachtete er Gustavs Beob-
achten oder errotendes Staunen, der noch in seinem Leben vor
keiner solchen Frau gestanden war, um welche sich alle Reize
herumschlangen, verdoppelten, einander verloren, wie dreifache
Regenbogen um den Himmel. Und du, Blumen-Seele, Beata,
deren Wurzeln auf dem irdischen Sandboden so selten die rechte
Blumenerde finden, standest auch dabei, mit einer Aufmerksam-
2IO DIE UNSICHTBARE LOGE
keit auf die Residentin, die eine unschuldige Maske deiner kleinen
Verwirrung sein sollte. - Gustav brachte fiir seine groBe keine
Maske zustande. Oefel schrieb diese Verwirrung nicht wie ich der
gegenseitigen Erinnerung an die Guido-Bildersturmerei, sondern
die Gustavische der Residentin, und die weibliche sich selber zu.
»So nab* ich ihn denn, wo ich ihn haben will!« sagt* er und lieB
sich von ihm bis ins alte SchloB begleiten. »A proposl Wenn wir
nun beide dablieben ! « sagt* er. Die aus anderen Griinden heraus-
geseufzete Antwort der Unmoglichkeit war, was erebenbegehrte.
»Gfeichviel! Sie werden mein Legationsekretar!« fuhr er mit sei- 10
nem feinen, auf Oberraschung lauersamen Blicke fort, den er
eigentlich niemal mit einem Augenlide bedeckte, weil er stets
alles zu iiberraschen glaubte.
— Es lief aber einfaltig fur Oefel ab : Gustav wollte nicht, son-
dern sagte: niel sei es nun aus Furcht vor Hofen, vor seinem
Vater, aus Scham der Veranderung, aus Liebe der Stille; kurz
Oefel stand dumm vor sich selber da und sah den schwimmenden
Stiicken seines gescheiterten Baurisses nach. Es ist wahr, es blieb
ihm doch der Nutzen daraus, daB er den ganzen Schiffbruch in
seinen Roman tun konnte - nur aber der Sekretar war fort! - Er 20
hatte ihn auch nicht unverniinftig schon im voraus zum Gesandt-
schaft-Sekretariat voziert; denn an den Scheerauer Thron ist eine
Leiter mit den tiefsten und den hochsten Ehrensprossen ange-
lehnt, die StafFeln aber stehen sich so nahe, daB man mit dem linken
Beine auf die unterste treten und doch die hochsten noch mit dem
rechten erspannen kann - wir hatten ja beinahe einmal einen Ober-
feldmarschall erschaffen. Zweitens hangt und picht an Hofen wie
in der Natur alles zusammen, und Professores sollten es den kos-
mologischen Nexus nennen; jeder ist Last und Trager zugleich;
so klebt am Magnet das eiserne Lineal, an diesem ein Linealchen, 30
an diesem eine Nadel, an dieser Feilstaub. Hochstens nur was auf
dem Throne oben sitzt und was unter ihm unten liegt, hat nicht
Nexus genug mit der wirksamen Kompagnie: so werden in der
franzosischen Oper nur die fliegenden Gotter und schiebenden
Tiere von Savoyarden gemacht, alles iibrige von der ordentlichen
Truppe.
VIERUNDZWANZIGSTER SEKTOR 211
Also muBte Oefel die dritte Parallele ziehen und daraus auf
den Kadetten schieBen. Er machte ihm namlich seine Uniform
taglich um einen Daumen spannender und knapper, um ihn aus
ihr hinauszuangstigen. Er hatte ihn schon neulich in dieser Ab-
sicht zum Getreide-Kordon versenden helfen, wo dem warmen,
nur an mildes Geben gewohnten Jiingling scharfe Neins neue und
harte Pflichten waren; aber nun wurde der Dienst von unten auf
noch mehr erschwert, und die militarischen Obungen zerbrachen
beinahe seinen feinen porzellanenen Leib, so oft und strenge
10 schleppte ihn der Romancier in die Gesellschaft des Vaters aller
Friedenschliisse, namlich des Kriegs. -
Wie schmerzlich muflte die rauhe AuBenwelt seine wunde
innere beriihren! Vor ihm stand, seit seinem Zerfallen mit seinem
sterbenden Liebling, fest jener Trauerabend mit seinen Tranen
und wich nicht; auf sein verlassenes Herz schimmerte noch die
blutrote Sonne und ging nicht unter. - Der stumme Abschied
seines Amandus, der ihn und andre Wiinsche verlor, die abneh-
menden Herbsttage seines Lebens und die vorige Liebe driickten
sein Auge und Herz zum Trauern zusammen. Die Freundschaft
20 duldet MiBhelligkeiten weniger als die Liebe; diese kitzelt damit
das Herz, jene spaltet es damit. Amandus, der ihn so miBver-
standen und betriibet und doch dessen innigste Liebe nicht vejr-
loren hatte, verzieh ihm alles bis abends um 5 Uhr - dann hort* er
(oder es war ihm genug, wenn er sichs nur dachte), daB Gustav
den Park (und mithin die Spaziergangerin) besucht hatte - dann
nahm er seine Versohnung bis auf 1 1 Uhr abends zuruck-dann legte
die Nacht und der Traum wieder einen Mantel auf alle Fehler der
Menschen und auf diesen. Abends um 5 Uhr fing es von vornen
an. Lacht ihn aus, aber ohne Stolz, und mich und euch audi; denn
30 alle unsre Empfindungen sind - ohne ihre Lowen- und Narren-
warterin, die Vernunft - ebenso toll, wenn nicht in unserem
Leben, doch in unserem Innern ! - Aber endlich hatte er seine Ver-
zeihung so oft zuruckgenommen, daB ers bleiben lassen wollte,
falls nur Gustav anklopfte und von ihm alle die Beschuldigungen
anhorte, welche er ihm zu verzeihen vorhatte. Man schiebt oft
das Vergeben auf, weil man das Votwerfen aufzuschieben ge-
212 DIE UNSICHTBARE LOGE
zwungen ist. - Aber, trauter Amandus, konnt* er denn kommen,
Gustav, und lieB ihn der Romancier? -
Letzter triebs noch weiter und kartete es listig ab, daB Gustav,
dieser GroBsultan, dieser Held zweier gut geschriebner Biicher,
an einem Abend, wo der Kadettengeneral groBes Souper gab,
vor dessen Haus kam als - Schildwache. Beim Henker! wenn die
schonsten Damen vorfahren, die bekannte Residentin - die mit
einem zufalligen Blick unsre gute Schildwache ausbalgte und aus-
gestopft unter ihrer Hirnschale aufstellte - und ihr Gesellschaft-
fraulein Beata, und wenn man vor solchen Gesichtern das Gewehr 10
prasentieren muB : so will mans viel Heber strecken und uberhaupt
statt stehen knien, um nicht sowohl den Feind zu verwunden als
die Freundin .... Beim Henker! ich werde hier mehr Witz gehabt
haben, als wohl gem gesehen wird; aber es versuch' es einmal ein
lebhafter Mann und schreib* iiber die Liebe und entschlage sich
des Witzes! - Es geht fast nicht. - Ich behaupt' es nicht und
widerleg* es nicht, daB Oefel vielleicht aus den Traumen Gustavs,
die immer sprechend und oft nach dem Erwachen nachwirkend
waren, die Namen der gedachten weiblichen Schonheit-Ambe
mag vernommen haben. Der Romanschreiber hat also einen Vor- 20
teil vor dem Lebensbeschreiber (ich bins) voraus : er schlaft neben
semem Helden.
Er angstigte seinen und unsern Helden, ders aber nur im asthe-
tischen, nicht im militarischen Sinne war, mit der Herbstheer-
schau ; denn jeder kleine Furst spielt dem groBen Soldaten auf der
Gasse nach neben noch kleinern Kindern; daher haben wir Schee-
rauer eine niedliche Taschen-Landmacht, eine tragbare Artillerie
und eine verjiingte Kavallerie. Es macht ein Landesherr ohnehin
einen SpaB, wenn er einen Menschen zu einem Rekruten macht:
es widerfahrt dem Kerl nichts, sondern nur Bewegung soil er 50
haben, weil jetzt 1 unsre wichtigern Kriege, wie sonst die italieni-
schen, in nichts bestehen als in Marschieren, aus Landern in Lan-
der. So bestehen auch die Feldziige auf dem Theater bloB in
wiederholten Marschen um das Theater, aber in kiirzern. Ich ging
vor einem Jahre zum Scherze V, Stunde neben einem Regimente
1 Namlich 1791.
VIERUNDZWANZIGSTER SEKTOR 21 3
her und machte mir weis: »Jetzt tuest du im Grunde einen halb-
stiindigen Feldzug gegen den Feind mit; aber die Zeitungen ge-
denken deiner schwerlich, ob du und das Regiment gleich durch
diese kriegerische Vexier-Prozession ebensoviel Landplagen ab-
weriden als die Klerisei durch geistlicne singende Prozessionen.«
Er angstigte ihn, sagt* ich; er schilderte die Heerschau nam-
lich : »Friedrich II. tat kleinere Wunder, als man da vom Kadetten-
Korps fordern wird! Mehr Blessierte als Biessierende wird es
geben! Unter alien Zelten und Kasernen wird man reden von der
10 letzten Scheerauer Heerschau !« Gustav hatt' es im kleinen Dienst
langst so weit gebracht, daB er imstande war, mit der Fortifika-
tion seines Leibes wenigstens einen zu verwunden, diesen Leib
selber. - Ich werde die Angst der Welt sicher nicht vermindern,
wenn ich noch erzahle, daB Gustav regelmaBig alle sieben Wochen
auf funf Tage verreiset, woraus seine Freunde und der Biograph
selber gerade so klug werden als die altesten Leser -r daB Oefel
ihm durch geheimes Intrigieren seinen Urlaub so sauer machte,
daB er ihn um diesen Preis kein zweites Mai begehren konnte -
daB Gustav vom letzten Verreisen an den Dr.Fenk einen Brief
20 von Ottomar heimbrachte, den man zwar dem Leser nicht vor-
enthalten wird, von dessen Oberkommung man ihm aber nichts
entdecken kann, weil man selber nichts davon weiB.
Aus alien diesen Dornen und aus der blessierenden Heerschau
rettete unsern Gustav eine fremde Infamie. Nach der gedachten
Riickkehr wurde in Oberscheerau ein Ofrlzier, dessen Namen und
Regiment man hier aus Schonung seiner vornehmen Familie
unterdriicken will, fur ehrlos erklart, weil er mit Spitzbuben Ver-
bindung gehabt. Als der Profos ihm in der Mitte des Regiments,
das er entehret hatte, den Degen und das Wappen zerknickte und *
30 die Uniform abriB und ihm alles nahm, was den gebuckten Men-
schen noch in die Hohe richtet im Ungluck: so sturzte Gustav,
dessen Ehrgefuhl sogar aus den Wunden eines fremden blutete
und der noch nie den schwarzen Anblick einer orTentlichen Be-
strafung erlebt hatte, in Ohnmacht zusammen; sein erster Laut
nach der Belebung war: »Soldat gewesen auf ewig! - Wenn der
arme Offlzier unschuldig war oder wenn er besser wird: wer
214 D1E UNSICHTBARE LOGE
gibt ihm die ermordete Ehre wieder? - Nur der untrugliche Gott
kann sie nehmen; aber der Kriegsrat sollte nichts nehmen als das
Leben! - Die Bleikugel, aber nicht die Infamie!« rief er wie in
einer Verzuckung. Ich denke, er hat recht. Zwei Tage war er
krankj und seine Phantasien schleiften ihn in die Rauber-Kata-
komben des Infamierten hinein zum neuen Beweis, da6 die
Fieberbilder der armen, aus dem Krankenbette ins Grab hinein-
gefolterten Menschen nicht immer die Steckbriefe und Abdriicke
ihres Innern sind! - Gemarterte Briider! wie lieb' ich euch jetzt
und den sanften Gustav in dieser Minute, wo meine Phantasie 10
unter euch alle hineinblickt, wie ihr, vom Zickzack des Schicksals
herumgetrieben, mit eueren Wunden und Tranen miide neben-
einander stehet, einander umfasset, einander beklagt und einan-
der — begrabet! -
Solang' er krank war und phantasierte: hing Amandus an
seinen gliihenden Augen und litt so viel wie er und vergab ihm
attes. — Als der Doktor Fenk versicherte, am Morgen sei er ge-
nesen: so kam Amandus am Morgen nicht und wollte wieder
hartherzig sein.
Oefel genoB den Sieg seines Plans. Er trug sich selber die Ein- 20
lenkung des alten Falkenbergs auf und schneb eigenhandig an
den Mann. Da er mit Dinte den guten Vater auf den mosaischen
Berg stellete, hinter dem Berg den Prospekt des gelobten Landes
der Gesandtschaft, und mitten ins Kanaan den jungen Legation-
sekretar: so hatte der gute Mann die Freude vieler Eltern, die ihre
Kinder gern das werden sehen, was sie selber zu werden hasseten
oder nicht vermochten. Er kam zu mir mit dem Briefs und ritt
unter mein Fenster. - Alles, was Gustav noch innerlich gegen
" seine Versetzung ins alte Schlo B zu sagen hatte, war, daB die schone
Beata im neuen wohnte, welches vom alten bloB durch eine 30
halbferte Mauer abgeschieden war, und daB er Amandus' Ver-
dacht bewahrte. Aber zum Gliick verfiel er nach dem Entschlusse
auf den eigentlichen Beweggrund, der ihm denselben eingegeben
hatte und der Veredlung und Erweiterung seines Wirkkreises
war: »er konnte«, sagte er, »nach der Ablosung vom Gesandt-
schaftposten in einem Kollegium angestellet werden und da dem
VIERUNDZWANZIGSTER SEKTOR 21 5
Hegenden Lande aufhelfen u.s.w.« Kurz die grofite Schonheit
Beatens hatt' ihn nun nicht dahin bringen konnen, sie zu - meiden.
Oberhaupt schalte ihn der Romanschreiber so eifrig aus seiner
militarischen Hiilse, daB man, da er, wie Ehemanner und Fursten,
den Zugel ofter im passiven Munde als in den aktiven Hdnden
hatte - hatte denken sollen, er werde gelenkt, urn zu lenken; aber
ich denk* es nicht.
Gustav legte den Abschiedbesuch bei Amandus ab. Ein gutes
Mittel, dem zu vergeben, den eine eingebildete Beleidigung auf
10 uns erbitterte, ist, ihm eine wahre anzutun - Gustav dachte in den
freiwilligen Umwegen von Gassen, durch die er zu seinem ge-
krankten Amandus ging, an Beata, die nun seine Wandnachbarin
wurde, an die Liebe und den Verdacht seines Freundes, an die Un-
moglichkeit, den Verdacht zu heben; und da gerade um 6 Uhr
vom eisernen Orchester um den Stephansturm die abendliche
Spharenmusik in die Gassen niederfloB: so sank sein Herz in die
Tone hinein, und er brachte seinem Freunde das weichste mit,
das es auBer der Brust Beatens gab. Ich und der Leser haben hier-
uber unsre Gedanken : eben diese versohnliche Weichheit schrieb
zo sich bloB vom versteckten BewuBtsein her, daB er halb den Ver-
dacht der Nebenbuhlerei verdiene; denn sonst hatt* er, von Stolz
gehoben, dem andern zwar auch vergeben, aber ihn darum nicht
starker geliebt. - Er fand ihn in der schlimrasten Stimmung fur
seine Absicht - in der freundschaftlichsten namlich; denn in Zart-
lich-Kranken ist jede Empfindung ein gewisser Vorbote der ent-
gegengesetzten, und alle haben abwechselnde Stimmen. Amandus
war im Anatomier-Zimmer seines Vaters - der Sonnenstrahl fiel
vor seinem Untergang in die leere Augenhohle eines Toten-
schadels - in Phiolen hingen Menschen-Bluten, kleine Grund-
30 striche, nach denen das Schicksal den Menschen gar ausziehen
wollte, Menschchen mit vorhangendem groBen Kopf und groBen
Herzen, aber mit einem groBen Kopfe ohne einen Irrtum und
einem groBen Herzen ohne einen Schmerz - auf einer Tafel lag
eine schwarze Farbers-Hand, an deren Farbe der Doktor Proben
machen wollte Welche Nachbarschaft fur eine Aussohnung
und einen Abschiedl Drei BHcke machten und versiegeltenye/ze -
2l6 DIE UNSICHTBARE LOGE
schon Blicke reden in dieser nackten Entkorperung der Seelen
eine zu schreiende Sprache — ; aber als Gustav diesen, vom schon-
sten Enthusiasmus iiber Verdacht und Furcht hmiibergehoben,
seinem Freunde ansagte; als er ihm, der noch nichts davon be-
griff, seine neue Wandnachbarschaft und den Verlust der alten
kundtat: - zerflogen war der Freund, und ein schwarzer Feind
sprang aus seiner Asche heraus — diese Minute beniitzte der Tod
und schlug die letzten Wurzelfasern seines wankenden Lebens
gar entzwei.... Gustav stand zu hoch, um zu ziirnen - aber er
muBte sich noch hoher stellen - er fiel um ihn und sagte mit ent- 10
schlossener reiner Stimme: »Zurne und hasse, aber ich muB dir
vergeben und dich lieben - mein ganzes Herz mit allem seinem
Blut bleibet deinem getreu und sucht es auf in deiner Brust - und
wenn du mich auch kunftig verkennest: so will ich doch alle
Wochen kommen, ich will dich ansehen, ich will dir zuhoren,
wenn du mit einem Fremden redest, und wenn du mich dann mit
HaB anblickst : so will ich mit einem Seufzer gehen, aber dich doch
lieben - ach ich werde alsdann daran denken, daB deine Augen,
da sienoch zerschnitten waren,mich schemer anblicktenund besser
erkannten.... o stoBe mich nicht so weg von dir, gib mir nur 20
deine Hand und blicke weg.« -
»Da !« sagte der zertrummerte Amandus und gab ihm die kalte
schwarze — Farbers-Faust Der HaB uberlief wie ein Schauer
das Hebreichste Herz, das sich noch in einer menschlichen Brust
verblutete - Gustav zerstampfte auf der Erde seine Liebe und sei-
nen HaB und ging verstummt mit erstickten Empfindungen aus
dem Hause und am andern Tage aus Oberscheerau.
Kaum hatte Amandus den gemiBhandelten Jugendfreund iiber
die Gasse zittern sehen : so ging er in sein Zimmer, hullte sich mit
dem Kopfkissen zu und lieB, ohne sich anzuklagen oder zu ent- 30
schuldigen, seine Augen so viel weinen, als sie konnten. Wir wer-
den es horen, ob er sein krankes Haupt wieder vom Kopfkissen
erhob und wann er wieder von Gustav ins stille Land begleitet
wurde, aus dem er ihn zuruckzustoBen suchte. O der Mensch! -
warum will dein so bald in Salz, Wasser und Erde zerbrockelndes
Herz ein anderes zerbrockelndes Herz zerschlagen - Ach eh* du
FUNFUNDZWANZIGSTER SEKTOR 217
mit deiner aufgehobnen Totenhand zuschlagst: fallt sie ab in den
Gottesacker hin - ach eh' du dem feindlichen Busen die Wunde
gegeben, liegt er um und fuhlt sie nicht, und dein HaB ist tot oder
auch du.
FUNFUNDZWANZIGSTER ODER XXII. TRINITATIS-SEKTOR
Ottomars Brief
Wenn wir Ottomars Brief gelesen: so wollen wir uns an Gustavs
neues Theater stellen und ihm zuschauen. Im folgenden Briefe
herrscht und tobt ein Geist, der wie ein Alp alle Menschen hohe-
10 rer und edler Art driickt und oft bewohnt und den bloB - so viel
er auch hollandische Geister iiberwiege - ein hoherer Geist Iiber-
trifft und hinausdrangt. Viele Menschen leben in der Erdndhe,
einige in der Erdferne, wenige in der Sonnenndke. — Fenk sehnte
sich so oft nach seinem Ottomar, zumal nach seinem Stillschwei-
gen von einigen Jahren, und er sprach so oft von ihm gegen
Gustav, daB es gut war, daB die Adresse des Briefes von fremder
Hand und an Doktor Zoppo in Pavia war: sonst hatte der Doktor
sogleich gegen die erste Zeile des Briefes gesundigt.
»Nenne, ewiger Freund, meinen Namen^dem Oberbringer
20 nicht; ich mufi es tun. Auf meinem letzten Lebensjahre liegt ein
groBes schwarzes Siegel; zerbrich es nicht, halte die Vergangen-
heit fur die Zukunft - ich mache sie zur Gegenwart fur dich, aber
jetzo noch nicht - und wenn ich stiirbe, ich trate vor dich und
sagte dir mein letztes Geheimnis der Erde.
Ich schreibe dir, damit du nur weiBt, daB ich lebe und daB ich
im Herbste komme. Mein Reisedurst ist mit Alpen-Eis und See-
wasser geloscht; ich ziehe nun heim in meine Ruhestatt, und wenn
mich dann unter meiner Haustiire wieder iiber die Berge hiniiber-
verlangt: so denk' ich: in den Guadiana- und in den Wolgastrom
30 sieht das namliche lechzende Menschenherz hinein, das in dir ne-
ben dem Rheine seufzet, und was auf die Alpen und auf den Kau-
kasus steigt, ist, was du bist, und wendet ein sehnendes Auge nach
2l8 DIE UNSICHTBARE LOGE
deiner Haustiire heriiber. Wenn ich aber hier sitze und alle Mor-
gen auf den Nachtstuhl gehe und froh bin, daB ich hungrig, und
nachher, dafi ich satt werde, und wenn ich alle Tage Hosen
und Haarnadeln ausziehe und anstecke; ach! was ists denn da am
Ende? Was wollt' ich denn haben, wenn ich in meiner Kindheit
auf dem Stein meines Torwegs saB und sehnend dem Zug der
Ian gen StraBe nachsah und dachte, wie sie fortliefe, iiber Berge
schosse, immer immerfort...? und endlich?... Ach alle StraBen
fuhren zu nichts, und wo sie abreiBen, steht wieder einer, der sich
riickwarts heriibersehnt. - Was wollt' ich denn haben, wenn mein 10
kleines Auge sonst auf dem Rhein mitschwamm, damit er mich
hinnahme in ein gelobtes Land, in welches alle Strome, dacht'
ich, zogen, ach sonst, wo ich nicht wuBte, daB er, wenn er man-
ches schwere Herz getragen, neben mancher zerquetschten Ge-
stalt vorbeigebrauset, die nur er von ihren Qualen erlosen konnte,
daB er dann wie der Mensch sich zersplittere und zertrummert
einsickere in kolldndiscke^vde? - Morgenland, Morgenland! auch
nach deinen Auen neigte sich sonst meine Seele wie Baume nach
Osten: ->Ach wie muB es da sein, wo die Sonne aufgeht!< dacht*
ich; und als ich mit meiner Mutter nach Polen reiste und endlich 20
in das nach Morgen liegende Land und unter seine Edelleute,
Juden und Sklaven trat Weiter gibts aber auf dieser optischen
Kugel kein Morgen-Sonnenland als das, welches alle unsere
Schritte weder entfernen noch erreichen. Ach ihr Freuden der Erde
alle, ihr sattigt die Brust bloB mit Seufzern und das Auge mit
Wasser, und in das arme Herz, das sich vor euerem Himmel auf-
tut, gieBet ihr eine Blutwelle mehr! Und doch lahmen uns diese
paar elenden Freuden, wie Giftblumen Kindern, die damit spie-
len, Arme und Beine. Nur keine Musik, diese Spotterin unserer
Wiinsche, sollt* es geben: flieBen nicht auf ihren Ruf alle Fibern 30
meines Herzens auseinander und strecken sich als so viele saugende
Polypenarme aus und zittern vor Sehnsucht und wollen urn-
schlingen - wen? was? . . . Ein ungesehenes, in andern Welten ste-
hendes Etwas. Oft denk' ich, vielleicht ists gar nichts, vielleicht
geht es nach dem Tode wieder so, und du wirst dich aus einem
Himmel in den andern sehnen - und dann zerdrucke ich unter
FUNFUNDZWANZIGSTER SEKTOR 21 9
diesem phantastischen Unsinn die Klaviersaiten, als wollt* ich aus
ihnen eine Quelle auspressen, als war' es nicht genug, daB der
Druckdieses Sehnens die dunnen Saiten meines innern Tonsystems
verstimmt und absprengt —
In Rom wohnte ein Maler, derKirche von S.Adriano gegen-
iiber, der unter dem Regen sich allemal unter die Dachrinnen stellte
und sich toll lachte; der sagte oft zu mir: >Einen Hundetod
gibts nicht, aber ein Hundeleben.< Fenk! nimm wenigstens, was
der Mensch wird oder tut: so gar gar wenig! Welche Kraft wird
10 denn an uns ganz ausgebildet, oder in Harmonie mit den andern
Kraften? Ists nicht schon ein Gliick, wenn nur eine Kraft wie ein
Ast ins Treibhaus eines Hor- oder Biichersaals hineingezogen
und mit partialer Warme zu Bliiten genotigt wird, indes der ganze
Baum drauBen im Schnee mit schwarzen harten Zweigen steht?
Der Himmel schneiet ein paar Flocken zu unserem innern Schnee-
mann zusammen, den wir unsre Bildung nennen, dieErde schmelzt
oder besudelt ein Viertel davon, der laue Wind Ioset dem Schnee-
mann den Kopf ab - das ist unser gebildeter innerer Mensch, so
ein abscheuliches Flickwerk in allem unser en Wisseri und Wollen !
20 Vom Einzelwesen auf die ganze Menschheit mag ich gar nicht
iibergehen ; ich mag nicht daran denken, wie ein Jahrhundert unter-
geegget und untergeackert wird zur Diingung des nachsten -
wie nichts sich zu etwas runden will, wie das ewige Biicherschrei-
ben und Aufschlichten des Scibile kein Ziel, kein Ende hat und
alle nach entgegengesetzten Richtungen graben und laufen! -
Was tut der Mensch? Noch weniger, als er weiB und wird. Sage
mir, was verrichten denn vor dem fiirstlichen Portrat iiber dem
Prasidentenstuhl, oder gar vor einem verschnittenen regierenden
Gesicht selbst, dein Scharfsinn, dein Herz, deine Schnellkraft?
50 Die zuriickgepreBten ineinander sich kriimmenden Zweige driik-
ken das Fenster des Winterhauses, der Regent lasset in der compo-
tiere ihre Frucht vor seinem Teller voriibergehen, der blaue
Himmel fehlet ihnen, das Gescheiteste ist noch, daB sie verfaulen !
- Was tun denn die edelsten Krafte in dir, wenn Wochen und
Monate verstromen, die sie nicht brauchen, nicht rufen, nicht
uben? Wenn ich oft so der Unmoglichkeit zusah, in alien unsern
220 DIE UNSICHTBARE LOGE
monarchischen Amtern ein ganzer, ein edel tatiger, ein allgemein-
niitzlicher Mensch zu sein — selbst der Monarch kann nicht mit
denen unendlich vielen schwarzen subalternen Klauen und Han-
den, die er erst a Is Finger oder Griffe an seine Hande anschienen
muB, etwas vollendet Gutes tun - sooft ich so zusah, so wunscht'
ich, ich wiirde gehenkt mit meinen Raubern, war' aber vorher ihr
Hauptmann und rennte mit ihnen die alte Verfassung nieder! ....
Geliebter Fenk! dein Herz reiBet mir niemand aus meiner Brust,
es treibet mein bestes Blut, und nie kannst du mich verkennen,
ich sej so unkenntlich, als ich wolle! Aber, o Freund, es kommen i
Zeiten heran, wo dir dieses Verkennen doch Ieichter werden kann !
Verhiillter Genius unserer verschatteten Kugel ! ach war' ich
nur etwas gewesen, hatte meine Gehirnkugel und mein Herz nur,
wie Luther, mit irgendeiner dauerhaften, weit wurzelnden Tat das
Blut abverdient, das sie rotet und nahrt: dann wiirde mein hung-
riger Stoli satte Demut, vier niedrige Wande waren fur mich groB
genug, ich sehnte mich nach nichts GroBem mehr als nach dem
Tode und vorher nach dem Herbst des Lebens und Alters, wo
der Mensch, wenn die Jugend-Vogel verstummen, wenn iiber der
Erie Nebel und fliegender Faden-Sommer liegt, wenn der Him- 20
mel ausgeheitert, aber nicht brennend iiber allem steht, sich ent-
schlafend auf die welken Blatter legt. Lebe wohl, mein
Freund, auf einer Erde, wo man weiter nichts Gutes tun kann als
in ihr liegen; im ndchsten Herbst sind wir aneinander!«
Zu diesem Briefe, der meine ganze Seele nimmt und meine
Irrtumer sowohl als meine Wiinsche erneuert, kann ich nichts
mehr sagen, als daB heute der erste Mensch in dieser Geschichte
auf einem Berg begraben worden ist. Wenn ich nach vier oder
fiinf Sektoren von seinem abendrotlichen Tode rede : so werden
schon die Ziige seiner Gestalt bleicher und zerrissen sein, sowohl
im Sarge als im Herzen der Freunde!
FUNFUNDZWANZIGSTER SEKTOR
Extrablatt
Von hohen Menschen - und Beweis, dafi die Leiden schaften ins zweite Leben
und Stoizismus in dieses gehoren
Gewisse Menschen nenn* ich hohe oder Festtagmenschen, und in
meiner Geschichte gehoren Ottomar, Gustav, der Genius, der
Doktor darunter, weiter niemand.
Unter einem hohen Menschen mem* ich nicht den geraden ehr-
lichen festen Mann, der wie ein Weltkorper seine Bahn ohne an-
dere Abirrungen geht als scheinbare - noch mein' ich die feine
10 Seele, die mit weissagendem Gefiihl alles glattet, jeden schont,
jeden vergniigt und sich aufopfert, aber nicht wegwirft - noch
den Mann von Ehre, dessen Wort ein Fels ist und in dessen von
der Zentralsonne der Ehre brennenden und bewegten Brust keine
anderen Gedanken und Absichten sind als Taten auBer ihr - und
endlich weder den kalten von Grundsatzen gelenkten Tugend-
haften, noch den Gefuhlvollen, dessen Fuhlfaden sich um alle
Wesen wickeln und zucken in der fremden Wunde und der die
Tugend und eine Schone mit gleichem Feuer umfasset - auch den
bloBen grofien Menschen von Genie mein' ich nicht unter dem
20 hohen, und schon die Metapher deutet dort waagrechte und hier
steilrechte Ausdehnung an.
Sondern den mein' ich, der zum groBern oder geringern Grade
aller dieser Vorzuge noch etwas setzt, was die Erde so selten hat -
die Erhebung iiber die Erde, das Gefiihl der Geringfugigkeit alles
irdischen Tuns und der Unformlichkeit zwischen unserem Herzen
und unserem Orte, das iiber das verwirrende Gebiisch und den
ekelhaften Koder unsers FuBbodens aufgerichtete Angesicht, den
Wunsch des Todes und den Blick iiber die Wolken. Wenn ein
Engel sich iiber unsern Luftkreis stellte und durch dieses triibe mit
3 o Wolkenschaum und schwimmendem Kot verfinsterte Meer her-
niedersahe auf den Meergrund, auf dem wir liegen und kleben -
wenn er die tausend Augen und Hande sahe, die geradeaus waag-
rechtnach demlnhalteder Luft, nach Geprange, fangenund starren;
wenn er die schlimmern sahe, die ^cAze/niedergebuckt werden
222 DIE UNSICHTBARE LOGE
gegen den FraB und Goldglimmer im morastigen Boden, und
endlich die schlimmsten, die liegend das edle Menschengesicht
durch den Kot durchziehen; - wenn dieser Engel aber unter den
Seetieren einige aufrecht gehende hohe Menschen zu sich auf-
blicken sahe - und er wahrnahme, wie sie, gedriickt von der
Wassersaule iiber ihrem Haupte, umstrickt vom Geniste und
Schlamm ihres FuBbodens, sich durch die Wellen drangten und
lechzeten nach einem Atemzuge aus dem weiten Ather iiber ihnen,
wie sie mehr liebten als geliebt wurden, das Leben mehr ertriigen
als genossen, gleich fern von stehendem Emporstaunen und ren- 10
nendem Geschaftleben Hande und FuBe dem Meerboden HeBen
und nur das aufwarts steigende Herz und Haupt dem Ather auBer
dem Meere gaben und auf nichts sahen als auf die Hand, die das
Gewicht des Korpers, das den Taucher mit dem Boden verbindet,
von ihm trennt und ihn aufsteigen lasset in sei i Element — o
dieser Engel konnte diese Menschen fur untergesunkne Engel
halten und ihre Tiefe bedauern und ihre Tranen im Meer —
Konnte man die Graber eines Pythagoras (dieser schonsten Seele
unter den Alten) - Platos - Sokrates* - Antonins (aber nicht so
gut des groBen Kato oder Epiktets) - Shakespeares (wenn sein 20
Leben wie sein Schreiben war) — J.J. Rousseaus und ahnlicher in
einem Gottesacker zusammenrucken : so hatte man die wahre Fiir-
stenbank des hohenAdels der Menschheit,die geweihte Erde unserer
Kugel, Gottes Blumengarten im tiefen Norden. — Aber warum
nehm' ich mein weiBes Papier und durchstech' es und bestreu'
es mit Kohlenstaub oder Dintenpulver, um das Bild eines hohen
Menschen hineinzustauben; indes vom Himmel herab das groBe,
nie erblassende Gemalde herunterhangt, das Plato in seiner Repu-
blik vom tugendhaften Manne aus seinem Herzen auf die Lein-
wand trug. 30
Die groBten Bosewichter sind einander am unkenntlichsten;
hohe Menschen einander in der ersten Stunde kenntlich. Schrift-
steller, die darunter gehoren, werden am meisten getadelt und am
wenigsten gelesen, z. B. der selige Hamann. Englander und Mor-
genlander haben diesen Sonnen-Stern ofter auf Ihrer Brust als
andre Volker.
FUNFUNDZWANZIGSTER SEKTOR 223
Ottomar fuhrte mich auf die Leidenschaften : ich weiB, daB er,
wenigstens sonst, nichts so haBte als Kopfe und Herzen, die von
der stoischen Stein-Rinde uberzogen waren — daB er in seine
Pulsadern Katarakten hineinwunschte und in seine Lungenfliigel
Sturme - daB er sagte, ein Mensch ohne Leidenschaft sei noch ein
groBerer Selbstling als einer mit heftigen; einen, den das nahe
Feuer der sinnlichen Welt nicht entziinde, flamme das weite Fix-
sternlicht der intellektuellen noch viel weniger an; der Stoiker
unterscheide sich vom abgeniitzten Hofmann nur darin, daB die
10 Erkaltung desersten von innen nach auBen fortgehe, die des andern
aber von auBen nach ihnen Ich weiB nicht, obs bei dem innen
brennenden, auBen glatteisenden Hofmann so ist; aber beim
Glase ists so, daB es, wenn es von auBen und nach dem gluhenden
Kern zu erkaltet, hohl und zerbrechlich wird; es muB umgekehrt
sein
Alle Leidenschaften tauschen sich nicht uber die Art oder den
Grad, sondern uber den Gegenstand der Empfindung; namlich
so:
Darin irren unsere Leidenschaften nicht, daB sie irgendeinen
20 Menschen hassen oder lieben - denn sonst verfiele alle moralische
HaBlichkeit und Schonheit - ; auch darin nicht, daB sie uber et-
was jammern oder frohlocken - denn sonst war' auch die kleinste
Freuden- oder Kummertrane uber Gliick und Ungliickunerlaubt,
und wirdiirften nichts mehr wiinschen, nicht einmal wollen, nicht
einmal die Tugend. - Auch irren die Leidenschaften uber den
Grad dieser Ab- und Zuneigung, dieses Freuens und Betriibens
nicht; denn sobald ihnen die Sinne und die Phantasie den Gegen-
stand mit tausendmal groBeren moralischen oder physischen Rei-
zen oder Flecken vorlegen, als sie andre sehen: so muB doch das
30 Lieben und Hassen nach Verhaltnis des auBernAnlasses zunehmen,
und sobald irgendein auBerer Reiz den geringsten Grad von Liebe
und HaB rechtfertigt: so muB auch der vergroBerte Reiz den ver-
groBerten Grad der Leidenschaft rechtfertigen. Die meisten Griin-
de gegen den Zorn beweisen nur, daB die vermeintliche moralische
HaBlichkeit des Feindes mangle, nicht, daB sie da sei und er doch
zu lieben - die meisten Grunde gegen unsre Liebe beweisen nur,
224 DIE UNSICHTBARE LOGE
daB unsre Liebe weniger den Grad als den Gegenstand verfehle
u.s.w. Nicht bloB ein maBiger, sondern der hochste Grad der
Leidenschaften wiirde zulassig sein, sobald sich ihr Gegenstand
vorfande, z.B. die hochste Liebe gegen das hochste gute Wesen,
der hochste HaB gegen das hochste bdse. Da aber alle Gegen-
stande dieser Erde die BescharTenheit nicht haben, die solche
Seelensturme in uns verdienen kann; da also das GroBte, was uns
zu sich reiBen oder von sich stoBen kann, in andern Welten ste-
hen muB: so sieht man, daB die groBten Bewegungen unsers Ich
nur vielleicht auBerhalb des Korpers ihren vergonnten geraumi- i&
gern Spielraum antrefFen.
Oberhaupt ist Leidenschaft subjektiv und relativ: die namliche
Willensbewegung ist in der starkern Seele unter groBern Wellen
nur ein Wollen und in der schwachern auf der glattern Flache ein
innerer Sturm. Unser ewiges Wollen flieBet immerfort durch uns
und in uns, wie ein Strom, und die Leidenschaften sind nur die
Wasserfalh und Springfluten dieses Stroms; sind wir aber zur
Verdammung derselben blofi durch ihre Seltenheit befugt? Ist
nicht dem kleinen Bach das Flut, was dem Strom nur Welle ist? -
Und wenn wir im Feuer unsre Kalte und in der Kalte unser Feuer 20
schelten: wo haben wir recht? Und gibt die Dauer des Scheltens
das Recht? —
Ich fiihle Einwiirfe und Schwierigkeiten voraus, ja ich weiB es
und fiihle, daB auf dieser umwolkten Regen-Kugel uns nichts ge-
gen die auBern Sturme einbauen und bedecken kann, als das Be-
sanftigen der innern - gleichwohl ftihT ich audi, daB alles Vorige
wahr ist.
Sechsundzwanzigster oder xx. Trinitatis-Sektor
Diner beim Schulmeister
Wenn ein Autor wie ich so viele Wochen hinter seiner Geschichte 50
zuriickgeblieben, so denkt er : mag der Henker den heutigen Post-
Trinitatis auch gar holen - ich will also darin von nichts reden als
vom heutigen Post-Trimtatis, von meiner Schwester, meiner
SECHSUNDZWANZIGSTER SEKTOR 225
Stube und von mir. Wenige Geschichtschreiber werden heute
hinter ihren Dintenfassern einen solchen guten Tag haben wie
ihr ZunftgenoB.
Ich sitze hier in des Schulmeister Wutzens Empor-Stube und
halte seit einem Vierteljahr meinen Arm als Armleuchter zum
Fenster hinaus mit einem langen Licht, um in die zehn deutschen
Kreise hineinzuleuchten. Ich werde in jedem Herbst und Winter
alle meine Sektores wie den heutigen am Morgen um 4 x j 2 Uhr bei
Licht zu machen anfangen; denn wie die erhabne Finsternis vor
10 Mitternacht den Menschen iiber die Erde und ihre Wolken hin-
aushebt: so legt uns die nach Mitternacht wieder in unser Erd-
Nest herein - schon nach 1 2 Uhr nachts fuhF ich neue Lebens-
lust, die so zunimmt, wie das heriibergegossene Morgeniicht die
Finsternis verdunnt und durchsichtig macht. Gerade die feinsten
und unsichtbarsten Fiihlfaden unserer Seele laufen wie Wurzeln
unter der groben Sinnenwelt fort und werden von der entfern-
testen Erschutterung gestoBen. Z.B. wenn der Himmel gegen
Osten licht- und wolkenlos, gegen Westen mit Wolkenschlau-
chen verhangen ist: so kehr' ich mich scherzhafterweise mehr als
20 zehnmal um - steh* ich gegen Osten, so fliegen alle innern Wolken
aus meinem Geiste weg - fahr* ich gegen Westen um, so hangen
sie sich wieder um ihn her — und auf diese Art zwing* ich durch
schnelles Umdrehen die entgegengesetztesten Empfindungen, vor
mir ab- und zuzulaufen.
An logische Ordnung ist in diesem Lust-Sektor gar nicht zu ge-
denken; einige geschichtliche soil zu finden sein. Nur wird man-
cher Gedanke mit tausend Schimmerecken von meiner Licht-
schere erdruckt werden, wenn ich das Licht schneuze, oder in
meiner Tasse ersaufen, wenn ich gestrigen Kaffee daraus trinke.
30 Dem Publikum ist letzter mehr anzuraten : unter alien warmen
Getranken ist kalter Kaffee zwar vom abscheulichsten Geschmack,
aber doch von der geringsten Wirkung. Der schlafende Tag wird
schon wie eine schlafende Schone, in der die Morgentraume glii-
hen, rot und muB bald das Aug* aufschlagen. Sein erstes wird -
poetisch zu reden - sein, daB er meine Schwester weckt und mit
ihr als SchlafgenoB in meine Stube tritt. Ich sollte wie ein mah-
226 DIE UNSICHTBARE LOGE
rischer Bruder ein paar tausend Schwestern haben, so Heb* ich sie
iiberhaupt alle. Wahrlich manchmal will ich mit den stoBigen
Satyrs-BockfuBen gegen das gute weibliche Geschlecht ausschla-
gen und lass' es bleiben, weil ich neben mir die kleinen Kirchen-
schuhe meiner Philippine sehe und mir die schmalen weiblichen
FiiBe hineindenke, welche in so manches Dornengeniste und
manche Gewitterregenlache, die beide leicht durch die dtinnen
weiblichen FuBtapeten dringen, treten miissen. Die teeren Kleider
eines Menschen, zumal der Kinder, floBen mir Wohlwollen und
Trauern ein, weil sie an die Leiden erinnern, die das arme Ein- 10
schiebsel darin schon muB ausgestanden haben ; und ich hatte mich
einmal in Karlsbad leicht mit einer Bohmin ausgesohnet, wenn
sie mich ihre Hauskleidung, ohne daB sie darin war, hatte be-
schauen lassen ;
Diese Punkte stellen verrollte Zeitpunkte vor. Jetzt sind die
Blinden heil, die Lahmen gehen, die Tauben horen - wach ist
namlich alles; unter meinen FiiBen zerhammert der Schulmeister
schon den Sonntagzucker; meine Schwester hat mich schon vier-
mal ausgelacht; der Senior Setzmann hat schon aus seinem Fenster
meinem Haus.herrn die notigsten heutigen Religionedikte zuge- 20
pfiffen; die Uhr ist, wie Hiskias Sonnenuhr, von der Wunder-
kraft des dekretierenden Pfeifens eine Stunde zuriickgegangen,
und ich kann eine langer schreiben; - bin aber dadurch mit mei-
nem Pinsel aus meinem Morgen-Gemalde gekommen. Die Sonne
steht meinem Gesichte gegeniiber und macht mein biographisches
Papier zu einem blanken Mosis-Angesicht ; daher ists mein Gliick,
daB ich ein Federmesser und Ostreich oder Bohmen oder das
Jesuiter-Deutschland nehme - namlich Homannische Karten da-
von - und mit dem Messer diese Lander iiber meinem Fenster
aufnagele und einpfahle; ein solches Land halt allemal die Mot- jo
gensonne so gut ab und wirft so viel Schatten heriiber, als hatt* ich
die Tandelschiirze oder das Pallium eines Fenstervorhangs daran.
Meine Feder fahrt nun im Erdschatten des Globus so fort:
Wutz fuhrt in seinem Hause nicht drei gescheite Stiihle, keine
Fenstervorhange und Hautelisse-Tapeten. Indes mein viel zu
prunkendes Ameublement in Scheerau steht: letz' ich mich hier
SECHSUNDZWANZIGSTER SEKTOR 227
an dem jammerlichsten und sage, ein Fiirst weiset kaum in einer
Kunst-Einsiedelei ein elenderes vor. Sogar den Kalender schrei-
ben wir uns, ich und mein Hausherr, eigenhandig, wie Mitglieder
der Berliner Akademie - aber mit Kreide und an die Stubentiire;
jede Woche geben wir ein Heft oder eine Woche von unserem
Almanach und wischen die Vergangenheit aus. Auf dem vier-
schrotigen Ofen konnen drei Paare tanzen, die er wie die jetzigen
Tragodien trotz der unformlichen Zuriistung und Breite schlecht
erwarmen .wiirde. Es muB beilaufig noch zu Hand- und Taschen-
10 ofen kommen, wenn man einmal aus den Bergwerken statt der
Metalle das Holz, womit man sie jetzt ausfuttert, wird holen
miissen —
Ein Schops wird entsetzlich gepriigelt, namlich sein toter
Schenkel - die zinnernen Patenteller der zwei Wutzischen Kinder
werden abgestaubt — mein Silber-Besteck wird abgeborgt - das
Feuer knackt- die Wutzin rennt - ihre Kinder und Vogel schreien.
— Alle diese Zuriistungen zu einem viel zu groBen Diner, das
heute unten gegeben wird, hor' ich in mein Studierzimmer herauf.
Vielleicht sind solche Zuriistungen dem Range der beiden Gaste,
20 die dasTraktementannehmensollen,angemesseneralsdemStande
der beiden Schulleute, die es geben. Gegenwartigem Geschicht-
schreiber und seiner Schwester diirfen sie namlich ein Essen geben
und selber mit am Tische sitzen. Der Schulmeister hatte viel von
seinem ausgeraumten Ameublement eine Woche lang in meine
Stube einpfarren diirfen, weil die seinige endlich nach langem
Bittschreiben - denn das Konsistorium sieht Reparaturen an der
sichtbaren wie an der unsichtbaren Kirche nicht gern - reformiert,
d. h. repariert, namlich geweiBet wurde. - Daher invitierte er mich
(aus Hofton) zum Dinieren, und ich nahm (ebenfalls aus Hofton)
30 die Karte an.
Ich werde den Sektor erst abends ausschreiben, teils um mir
nicht die EBlust wegzudenken, teils um mir drauBen noch einige
zu erhinken, wo ich noch dazu ein paar Emmerlinge und die
Kirchenleute singen horen kann. Oberhaupt ist der Nachsommer,
der heute mit seinem schonsten himmelblauen Kleide und der
Orden-Sonne darauf auf den Feldern drauBen steht, ein stiller
228 DIE UNSICHTBARE LOGE
Karfreitag der Natur; und wenn wir Menschen hofliche Leute
waren: so gingen wir da ofter ins Freie und begleiteten den ver-
reisenden Sommer hoflich bis an die Tiire. Ich seh' es voraus, ich
wiirde mich heute an der milden Sonne, die ein sanft um uns
schleichender Mond geworden ist, und die im Nachsommer den
weiblichen Artikel verdient, nicht satt sehen konnen, wenn ich
nicht mein Auge nach Scheeraus Berge richten muBte, wo meine
Gufen wohnen und von wannen heute mein Doktor mich be-
suchen wird.
Unter die Erde ist nun der Tag und seine Sonne. Komme gliick- 10
lich heim, geliebter Freund ! Auf den Silber-Grund, den der Mond
auf deinem Weg anlegt, male deine Seek das verlorne Eden der
Jugend, und der schwarze Schatten, den du und dein scheues RoB
auf den Strahlenboden werfen, musse euch nachschwimmen, aber
nicht voraus! -
Warum sind die meisten Einwohner dieses Buchs gerade Fenks
Freunde? - Aus zwei recht verniinftigen Grunden. Erstlich ver-
quickt sich das humoristische Quecksilber, das aus ihm neben der
Warme des Herzens glanzt, mit alien Charakteren am leichtesten.
Zweitens ist er ein moralischer Optimist, Zehn metaphysische Op- 20
ti mis ten wxird' ich fur einen moralischen auszahlen, der nicht ein
Kraut, wie die Raupe, sondern einen ganzen Blumenflor von
Freuden, wie der Mensch, zu gemeBen weiB - der nicht fiinf
Sinnen, sondern tausend hat fiir alles, fur Weiber und Helden,
fur Wissenschaften und Lustpartien, fiir Trauer- und Lustspiele,
fiir Natur und fiir Hofe. — Es gibt eine gewisse hohere Toleranz,
die nicht die Frucht des Westfalischen Friedens noch des Ver-
gleichs von 1705, sondern die eines durch viele Jahre und Besse-
rungen gesichteten Lebens ist - diese Toleranz fmdet an jeder
Meinung das Wahre, an jeder Gattung des Schonen das Schone, 30
an jeder Laune das Komische und halt an Menschen, Volkern und
Buchern die Verschiedenheit und Eigentiimlichkeit der Vorziige
nicht fur die Abwesenheit derselben. Nicht bloB das Beste muB
uns gefallen; auch das Gute und alles. -
Als die Leute aus der kleinen und ich aus der groBen Kirche
zuruck waren, ring man im Wutzischen Hause das Dinieren an.
SECHSUNDZWANZIGSTERSEKTOR 229
Unser Brotherr empfing das Gast-Paar mit seiner gewohnlichen
Freundlichkeit und mit einer ungewohnlichen dazu; denn er hatte
heute aus seiner Kirchenkollekte - er kroch nach dem Gottesdienst
in alle Stiihle und zog alle unter dem Einlegen niedergefallnen
Pfennige magnetisch an sich - eine ansehnliche Silberflotte von
18 Pfennigen mitgebracht. Die Pracht des Mahls erdriickte in
dieser Stube das Vergniigen nicht. Messer und Gabel waren, wie
schon gesagt, von Silber und von mir; aber wer sollte nicht damit
mit Vergniigen an einer Tafel agieren, wo der Braten und die
10 Sauce aus einer - Pfanne gespeiset werden? - Unsere Schau-
gerichte waren vielleicht fiir einen Kurfiirsten zu kostbar : denn sie
bestanden nicht etwa aus Porzellan, Wachs oder aus Alabaster-
Samereicn auf Spiegelplatten und waren nicht etwa bloB wenige
Pfund schwer: sondern die beiden Schaugerichte wogen sechzig
und waren vom namlichen Meister und von der namlichen Materie
wie die Kurfurstenbank, von Fleisch und Blut, namlich Wutzens
Kinder. Ein geistlicher Kurfurst wurde vor Vergniigen keinen
Bissen essen konnen, wenn er, wie wir, neben seiner Riesen-Tafel
ein Zwerg-Tafelchen mit seinen Kleinen darum stehen hatte. Ihr
20 Tisch war nicht viel groBer als eine Heringschussel; sie sahen
aber auf Verhaltnis und speiseten auf dem lilliputischen Tafel-
Servtee, wovon sie seit Weihnachten mehr spielenden als ernst-
haften Gebrauch gemacht hatten. Die Kleinen waren auBer sich,
ihr Fleisch auf Oblaten von Tellern und mit Haarsageri von Mes-
sern zu zerschneiden; - Spiel und Ernst flossen hier wie bei essen-
den Schauspielern ineinander; und am Ende sah ich, daB es bei
mir auch so war und daB mein Vergniigen von erkiinstelter Klein-
heit und Armseligkeit kame.
An der groBen Tafel ging - andere Tafeln kehren es um - das
30 individuelle Gesprach bald ins allgemeine iiber; ich und der Kan-
tor sagten jeden Augenblick der Preufie, der Russe, der Turk und
verstanden (gleich dem Premierminister) unter der Nation den
Regenten derselben. -Ichhatte heute eine solche besondre Freude
an erbarmlichen Sitten, daB ich mir jeden Bissen hineinpredi-
gen HeB und daB ich iiber zwanzig Gesundheiten trank. Frauen-
zimmer von Stande konnen sonst nicht so leicht wie Manner sich
23O DIE UNSICHTBARE LOGE
zu unfrisierten Leuten herunterbiicken, am wenigsten zu solchen
von weiblichem Geschlecht; aber meine Schwester verdienet, daB
ihr Bruder ihr in seinem Buche das Lob der schonsten liebreichsten
Herablassung erteilt. Je weiblicher eine Frau ist, desto uneigen-
niitziger und menschenfreundlicher ist sie; und die Madchen be-
sonders, die das halbe menschliche Geschlecht lieben, lieben das
ganje von Herzen. Z.B. von der Residentin von Bouse weiB man
nicht, schenkt sie Armen oder Mannern mehr. Alte Jungfern sind
geizig und hart. - Mein Doktor und eine Flasche Wein kamen als
Nachtisch. Da er im gegenwartigen Buche alle Wochen lieset: so 10
will ich ihn darin lieber schelten als preisen. Am besten ists, ich
webe hier ein Zwitterding, was ihn bei manchen weder lobt noch
tadelt, ein - seine herzliche Zuneigung gegen das weibliche Ge-
schlecht, die zwischen gefiihlloser Galanterie und Feuer-Liebe
mitten innen steht. Diese namliche Zuneigung stehetunseremGe-
schlechte gut, aber dem weiblichen nicht, und meine Schwester
ist doch von diesem. Die Sache kam bloB von ihrem linken Ohre
her. Das Ohrgehenk hatte sich durch das Ohrlappchen durch-
gerissen; sie hatte aber fuglich bis auf den Montag warten konnen,
wo ihr Bruder das Lappchen ihr, wie einem judischen Knecht, auf 20
die geschickteste Weise wiirde durchlochert haben. Allein heute
sollte es sein, und sein Doktorhut war der Bettschirm ihrer Ab-
sicht. Es hatte gemalet werden sollen, wie der arme Pestilenzia-
rius das Ohrlappchen zwischen den drei Vorderfingern scheuerte
und rieb - wie ein offlzinelles Blatt, an das man riechen will-, um
es geschwollen und unempfindlich zu machen. Nichts ist mir und
dem Medizinalrat gefahrlicher, als wenn wir nur mit zwei, drei
Fingern an ein Frauenzimmer picken und anstreichen - mit dem
ganzen Arm hinanzukommen, ist fiir uns ohne alle Gefahr; so
wie etwa die Nesseln weit mehr brennen, leise bestreift als hart 50
gefasset. Vielleicht ists mit diesem Feuer wie mit dem elektrischen,
das durch die Fingerspitzen mit groBerem Strome in den Men-
schen fahrt als durch eine groBe Flache. - Meine Schwester ging
weiter und brachte einen Apfel; der Doktor muBte mit seinen
Pulsfingern den roten Ohrzipfel an den Apfel pressen und dann
eine Zitternadel oder was es war durch dieses Sinnwerkzeug, das
SECHSUNDZWANZIGSTER SEKTOR 23 1
die Madchen weit seltener als das nackste spitzen, driicken - nun
konnte hinangeschnallet und hineingeknopfet werden, was dazu
paBt. Der Stahl kettete beinahe den Kunstler selber an ihr Ohr.
»Mit nichts strickt eine Schone uns mehr an sich, als wenn sie uns
AnlaB gibt, ihr eine Gefalligkeit zu tun«, sagte der Doktor selber
und erfuhr es selber. Daher klagte der Operateur und Ohren-
Magnetiseur, es sei schwer, eine Schone zu heilen und doch nicht
zu Heben, und seine erste Patientin nab* ihn beinahe zu einem
Patienten gemacht. Gegen den Doktor nab* ich nichts; er sei
10 immer ein Weltbiirger in der Liebe — aber, Schwester, ich wollte,
du warest schon zu Bette, weil ich keine Minute, in der ich nur
drei Schritte auf- und abtue, sicher bin, daB du nicht in meine
Sektoren schielest und Hesest, was ich an dir tadle ! - Ach ich tadle
weniger als ich bedauere deine so niedlich um fremden und eignen
Kummer spielende Laune und dein aus den weichsten Fibern ge-
sponnenes Herz, daB die blanke Krone scheuer Weiblichkeit, die
alle diese Vorziige erst putzt und hebt, in den volkreichen Zim-
mern der Residentin ein wenig schwarzlich angelaufen ist, wie
Silber im sumpfigen Holland, und daB deiner Tugend, der nichts
20 fehlet, die Gestalt der Tugend fehlt! - Ihr Eltern! euere Jungen
machen sich in der Holle kaum schwarz; aber fur euere Tochter
und ihren schneeweiflen Anzug ist kaum der Himmel gescheuert
und sauber genug!
Sie sind selten schlechter als ihre Gesellschaft, aber auch selten
besser. Dieser geistige Wein zieht den Obstgeschmack der Evas-
und Paris-Apfel, die um ihn liegen, ein; er schmeckt alsdann noch
gut, aber nur wie Wein nicht.
Der Doktor gab mir iiber Gustavs Lage viel Licht, das zu seiner
Zeit den Lesern wieder gegeben werden soil. —
30 Eine gewisse Person, die fast alle vierzehn Tage nachlieset, was
ich geschrieben, ist satirisch und fragt mich, auf welchem Bogen,
ob auf dem Bogen Aaa oder Zzz, der fernere Liebehandel zwischen
Paul und Beata bearbeitet werde - sie fragt ferner, obs dem Leser
schon erzahlt ist, daB der kokettierende Paul Verse, Schatten-
risse, StrauBer und Adagios seitdem gemacht, um sein Herz auf
diesen Deserttellern, auf diesen durchbrochnen Fruchttellern, in
232 PIE UNSICHTBARE LOGE
diesen Konfektkorbchen zu bringen und zu prasentieren - diese
fatale mokante Personage fragt endlich, ob es der Welt schon
berichtet ist, daB aber Beata sich nichts ausgebeten als das here
Korbchen und den leeren Desertteller. . . . Im Grund* argert mich
diese Maliz niemal; aber der Doktor Fenk und der Leser haben
offenbar die boshafteste Geschicklichkeit, Herzens-Sachen falsch
zu stellen und zu sehen - Wahrhaftig es war bisher lauter Scherz,
meine vorgegebene Liebe; und wenn sie keiner war: so muBte sie
einer werden, weil ich einen so schonen und so verdienstvollen
Nebenbuhler, als ich, wie es scheint, an Gustav bekommen soil, 10
nicht einmal iiberfliigeln und verdunkeln mcichte, wenn ich auch
konnte oder diirfte, wie doch wohl nicht ist....
. Ende des ersten Teils
ZWEITER TEIL
SlEBENUNDZWANZIGSTER ODER XXI. TrINITATIS-SeKTOR
Gustavs Brief — Furst mit seinem Frisierkamm
Nun ist Gustav im alten Schlosse — sein Schauplatz hob sich
bisher taglich, von der Erdhohle in eine Ritterburg, dann in ein
Kadetten-Philanthropin, endlich in ein FiirstenschloB. Der reiche
Oefel mietete es, weil es an das neue anstieB, wo der Blocksberg
der groBen Welt von Scheerau war, Die Residentin von Bouse
hatte beide von ihrem Bruder geerbt, der hier unter ihren Kiissen
und Tranen verschied. Die Natur hatte ihr alles gegeben, was das
10 eigne Herz erhebt und das fremde gewinnt; aber die Kunst hatte
ihr zu viel gegeben, ihr Stand ihr zu viel genommen — sie hatte
zu viele Talente, um an einem Hofe andre Tugenden zu behalten
als mannliche ; sie vereinigte Freundschaft und Koketterie - Emp-
fmdung und Spott - Achtung der Tugend und Philosophic der
Welt - sich und unsern Fiirsten. Denn dieser war ihr erklarter
Liebhaber, welchem sie ihr Herz mehr aus Ehre als aus Neigung
HeB. Sie war zu etwas Besserem gemacht als zu schimmern; allein
da sie zu nichts Gelegenheit hatte als zum Schimmer: so vergaB
sie, daB es jenes Bessere gebe. Aber wer zu etwas Hoherem ge-
20 boren ist als zur Welt- oder Hofgliickseligkeit: der fuhlt in bittern
Stunden seine versaumte Bestimmung. - Es wird sich hieher eine
neue Ursache anzugeben schicken, die Oefeln aus Scheerau warf :
er sollte und wollte auf furstlichen Befehl fur den Geburttag der
Residentin ein Drama auf der Drehscheibe seines Pultes aus-
kneten. Das Drama sollte Beziehungen haben. Auf dem Lieb-
habertheater zu Oberscheerau - wo der Furst nicht wie auf dem
Kriegtheater Figurant, sondern erster Akteur war und wo er eine
ordentliche Hoftruppe ersetzte und ersparte - sollte es vom Fiir-
sten, von Oefel und einigen andern gespielt werden. Der Furst
30 hatte noch Augen, die Residentin anzublicken, noch eine Zunge,
236 DIE UNSICHTBARE LOGE
sie zu lieben, noch Tage, es ihr zu beweisen, noch ein Theater, ihr
zu huldigen: gleichwohl haBte er sie schon, weil sie zu edel fur ihn
war; denn seine Theaterrolle sollte (wie unten gedruckt werden
soil) mehr ihm als ihr Dienste tun. - Oefel (welcher Ambassadeur
und Hoftheaterdichter und Akteur auf einmal war, weil ein
schlechter Unterschied ist) make in sein Drama Beaten hinein und
wollte ihr durch ihr Abbild schmeicheln und verhoffte, sie werde
mit agieren und ihr Portrat zu ihrer Rolle machen. Alles dies
glaubte er von Gustav auch; aber unten werden wir eben sehen.
Gustav fuhlte im alten Schlosse — indes iiber seine Ohrennerven 10
alle Visitenrader gingen und alle Besuch-Prozessionen um seine
Augen schwarmten — sich toten-allein. Er arbeitete sich in seine,
kunftige Bestimmung hinein. Mehr als funfzig Gesandtschaft-
schreiber werden daher denken, er lernte Briefe und Herzen auf-
machen, Weiber und Berichte dechiffrieren, Amour, Cour und
Spitzbiibereien machen - die funfzig Schreiber irren; sie werden
ferner denken, er lernte klein schreiben, um das Porto zu schwa-
chen, ferner ChifTern und Titel machen, ferner wissen, wessen
Name im orTentlichen Instrument, das an drei Potenzen kommt,
zuerst stehe - und daB jede Potenz in ihrem Instrument zuerst 20
stehe - sie haben recht; aber er tat mehr: er lernte in der Einsam-
keit die Gesellschaft ertragen und lieben. Fern von Menschen
wachsen Grundsdtze; unter ihnen Handlungen. Einsame Untatig-
keit reift auBer der Glasglocke des Museums zur geselligen Tatig-
keit, und unter den Menschen wird man nicht besser, wenn man
nicht schon gut unter sie kommt.
Seine Geschafte gingen in schone Unterbrechungen iiber. Denn
vor seinem Fenster drauBen stand xlie schone und fast kokette
Natur von Paris- Apfel umhangen und mitten in ihr eine Spazier-
gangerin, die die Apfel alle verdiente. Wer kann es sein als - 30
Beata? - Ging sie in den Park: so wars ihm ebenso unmoglich,
ihr nachzuspazieren, als ihr nicht nachzuschauen durchs Fenster,
und seine Augen suchten aus dem Gebiische alle vorbeiblinkende
Bander heraus. Wandelte sie riickwarts mit dem Gesichte gegen
seine Fenster: so trat er nicht bloB von diesen, sondern auch von
den Vorhangen so weit wie mdglieh zuriick, um ungesehen zu
SIEBENUNDZWANZIGSTER SEKTOR 237
sehen. Vielleicht (aber schwerlich) kehrten sich die Rollen um,
wenn er nach ihr sich auf ihre Gange wagte, die fur ihn Himmel-
wege waren. Eine herabgewehte Rose, die er einmal in der dunkel-
sten Nacht unter ihrem Fenster aufhob, war eine Ordenrose fiir
ihn, ihr welker Honigkelch war das Potpourri seiner schonsten
Traume und seines Freudenflors : - so legest du, hohes Schicksal,
fiir den ewigen Menschen seinen Himmel oft unter ein falbes
Rosenblatt, oft auf den Blutenkelch eines Vergifimeinnichts, oft
in ein Stuck Land von 305 000 Quadrat-Meilen. -
10 Wer zu viel verziehen hat: will sich nachher rachen. Gustavs
Freundschaft gegen Amandus war in eine so hohe Flamme auf-
geschlagen, daB sie notwendig Asche auf ihren Stoff herunter-
brennen muBte. Wenn er Beaten nachblickte, blickteer auf Aman-
dus zuriick und tadelte sich so oft, daB er anfangen muBte, sich zu
rechtfertigen. Was vom Aschenberg, worunter seine Liebe
glimmte, abgetragen wurde, wurde dem Aschenberge seiner
Freundschaft zugeschiittet. Gleichwohl wiirde er zu jeder Stunde
fur Amandus alles geopferthaben, was das Volk Freuden nennt;-
denn in der neuen Zeit ei'ner ersten Freundschaft werden Opfer
ao noch warmer gesucht, als in der spatern gebracht, und der Geber ist
begliickter als der Empf anger. O ! die rechte Seele hat nicht bloB die
Kraft, sondern auch die Sehnsucht, aufzuopfern. - Das Leben, das
Gustav jetzo von Friihling und Garten und von Wiinschen der
Liebe umgeben genofi, soil er selber malen in seinem Briefe an
mich. Diesen Brief werden freilich die verwerfen, die vor dem
Natur-Schauspiel als kalte Zuschauer, als entfernte Logen-Pachter
stehen; aber es gibt bessere und seltnere Menschen, die sich fur
hineingerissene Spieler halten und jede Grasspitze fiir beseelt an-
sehen, jedes Kaferchen fur ewig und das unbandige Ganze fiir ein
$0 unendliches schlagendes Adersystem, in welchem jedes Wesen als
ein saugendes und tropfendes Astchen zwischen kleinern und
groBern pulsiert und dessen voiles Herz Gott ist. —
238 . DIE UNSICHTBARE LOGE
Gustavs Brief
»Heute stieg ich zum zweiten Male aus meiner Hohle in die unend-
liche Welt - alle meine Adern fluten noch vom heutigen Nach-
mittage, mein Blut mochte sich mit den Erden um die Sonnen
drehen und mein Herz mit den Sonnen um das funkelnde Ziel,
das neben dem Schopfer steht
Die Nachtluft, die mein Licht umkrummt, kiihlet mich vergeb-
lich ab, wenn ich nicht die brennende Brust vor dem Auge des
Freundes aufdecke und ihm alles sage. Ich nahm nachmittags mein
ReiBzeug, womit ich bisher statt der Landschaften die Festungen, 10
die sie verwiisten, schaffen mussen, und ging ins stille Land hin-
aus. Der Erdball glitt so leise wie der Schwan unter den Blumen-
inseln, an die ich mich lagerte, durch den Ather-Ozean dahin, der
freundliche Himmel buckte sich tiefer zur Erde nieder, es war dem
Herzen, als muBt' es im stillen weiten Blau zerflieBen, als miiBt'
es von fernen ein verhalltes Jauchzen horen, und es sehnte sich
nach arkadischen Landern und nach einem Freund, vor dem es
zerginge Ich setzte mich mit der ReiBfeder auf einen kiinst-
lichen Felsen neben dem See und wollte meine Aussicht zeichnen
— die einander umarmenden Erlenbaume, die das Ende des um- 20
gekriimmten Sees zuhiillten und belaubten - die bunte Reihe der
Blumeninseln, um deren jede schon ein doppeltes Blumenstiick
ihrer geschmuckten Insulanerin gemalet schwamm, namlich das
bunte Blumenbild, das unter dem Wasser zum Spiegel-Himmel
hinabging, und der SchattenriB, der auf dem zitternden Silber-
grunde schwankte - und die lebendige Gondel, der Schwan, der
zu meinen FiiBen sich in hungriger HofFnung drehte; — aber als
die ganze hoch aufgerichtete Natur mir saB und mich mit ihren
Strahlen ergrifF, die von einer Sonne zur andern reichen : so betete
ich an, was ich nachfarben wollte, und sank Gott und der Gottin 30
zu FiiBen....
Ich stand auf mit gelahmter Hand und iibergab mich dem
steigenden Meere, das mich hob. - Ich ging an alle Ecken der
groBen Tafel mit Millionen Gedecken fur riesenhafte Gaste und
fur unsichtbare; denn meine Brust war noch nicht voll, und ich
SIEBENUNDZWANZIGSTER SEKTOR 239
IieB die Wellen, die hineinschlugen, leidend in mir steigen. - Ich
drangte mich in den tiefsten Schatten der Schattenwelt, in welcher
die in einen Stern zergangene Sonne entlegner schimmerte. - Ich
ging im Fichtenwald vor dem Gezank der Kohlmeise und vor dem
einsamen Wustenlaut der Drossel voriiber unter die singende
Lerche hinaus. - Ich ging im Ian gen Abendtal an dem bewohnten
Bach hinauf, und ein entziicktes Wesenchor wandelte mit mir, die
hineingetauchte Sonne und die Mucke mit ihren Schrittschuh-
FiiBen liefen neben mir auf dem Wasser weiter, die groBaugige
10 Wasserlibelle floB auf einem Weidenblatte dahin, ich watete durch
griines aus- und einatmendes Leben, umflogen, umsungen, um-
hiipfet, umkrochen von freudigen Kindern kurzer warmer Augen-
blicke, - Ich stieg auf den Eremitenberg, und meine Brust war
noch nicht von dem Weltstrome voll, dem sie leidend ofFen stand.
Aber dort richtete sich die liegende Riesin der Natur vor
mir auf, in den Armen tausend und tausend saugende Wesen tra-
gend - und als meine Seele vom Gedrange der unzahligen, bald in
Muckengold gefaBter Seelen, bald in Fliigeldecken gepanzerter,
bald mit Zweifalter-Gefieder uberstaubter, bald in Blumenpuppen
20 eingeschlossener Seelen angeruhret wurde in einer unendlichen,
unubersehlichen Umarmung — und als sich vor mir iiber die Erde
legten Geburge und Strome und Fluren und Walder, und als ich
dachte, alles dieses fiillen Herzen, die die Freude und die Liebe
bewegt, und vom groBen Menschenherzen mit vier Hohlungen
bis zum eingeschrumpften Insektenherzen mit einer und bis zum
Wurmschlauch nieder springt ein fortschaffender, ewiger, eine
Zeugung um die andre entztindender Funke der Liebe....
— Ach dann breitete ich meine Arme hinaus in die flatternde
zuckende Luft, die auf der Erde briitete, und alle meine Gedanken
jo riefen : o warest du sie, in deren weitem wogenden SchoB der Erd-
ball ruht, o konntest du wie sie alle Seelen umschliefien, o reich-
ten deine Arme um alles wie ihre, die da beugen das Fiihlhorn
des Kafers und das bebende Gefieder des Lilien-Schmetterlings
und die zahen Walder, die da streicheln mit ihrer Hand das Rau-
penhaar und alle Blumen-Auen und die Meere der Erde, o konntest
du wie sie an jeder Lippe ruhen, die vor Freude brennt, und kuh-
24O DIE UNSICHTBARE LOGE
lend um jeden gequalten Busen schweben, der seufzen will. —
Ach, hat denn der Mensch ein so schmales versperrtes Herz, daB
er vom ganzen Reiche Gottes, das um ihn thront, nichts lieben,
nichts fuhlen kann, als was seine zehn Finger fassen und fuhlen?
Soil er nicht wiinschen, daB alle Menschen und alle Wesen nur
einen Hals, nur einen Busen haben, um sie alle mit einem einzigen
Arm zu umschlieBen, um keines zu vergessen und in gesattigter
Liebe nicht mehr Herzen zu kennen als zwei, das liebende und das
geliebte? - Heute wurd* ich mit der ganzen Schopfung verbunden,
und ich gab alien Wesen mein Herz 10
Ich kehrte mich nach Osten gegen das neue SchloB und gegen
Auenthal. Hinter dem Auenthaler Wald brausete durch einen zer-
brochnen Regen-Schwibbogen ein aufgerichteter Ozean - ich
stand hier einsam in einer weiten Stille - ich wandte mich zur her-
untergegangnen Sonne, ich dachte daran, daB ich sie einmal fur
Gott gehalten, und es fiel heute schwer auf mich, daB ich den,
ders war, bisher so selten gedacht - >0 Du, Du!< rief so nahe an
ihm mein ganzes Wesen - aber alien Sprachen und alien Herzen
und alien Gefuhlen entfallt vor ihm die Zunge, und Beten ist Ver-
stummen, nicht bloB mit den Lippen, auch mit dem Gedan- 20
ken Aber der groBe Geist, der die Schwache des guten Men-
schen kennt, hat ihm Mitbriider herabgesandt, damit der Mensch
sich vor dem Menschen offne und vor ihnen das Gebet, in dem er
verstummte, vollende.
O Freund meiner schonsten Jahre ! der du Dankbarkeit und
Demut in meinem Innersten befestigt hast, diese hab' ich emp-
funden, als ich auf dem Eremitenberg mich einsam iiber das ge-
scharTne Gewurm erhob und fiihlte, was der Mensch fiihlt, aber
nur er auf der Erde - als ich einsam vor dem bis in das Nichts
hinausreichenden groBen Spiegel, an den sich das Insekt mit Fiihl- 30
hornern stoBet, mit Menschenaugen knien konnte, vor dem Spie-
gel, aus dem der unendliche Sonnen-Riese flammt Nein! In
Erdfarben und auf der Leinwand von Tierfellen und auf allem,
was vor mir Hegt, ist bloB das Bild des Ur-Genius; aber im
Menschen ist nicht sein Bild, sondern er selbst —
Die Sonne gliihte noch halb iiber dem Erdball, der sie zer-
SIEBENUNDZWANZIGSTER SEKTOR 241
schnitt; aber ich sah sie durch mein zerrinnendes Auge nicht mehr,
vergangen, verstummt, yerhullt, versunken im treibenden, flam-
menden, reiBenden, uferlosen Meere urn mich....
Die Sonne nahm den entziickten Tag mit hinunter; und jetzo
steht der Ather-Diamant, den die Nacht schwarz einfasset, der
Mond, iiber diesen zugehullten Szenen und strahlet wie andre
Diamanten den entlehnten Schimmer aus O du stille Mitter-
nacht-Sonne ! du schimmerst, und der Mensch ruht, deine Strahlen
besanftigen das irdische.Toben, deine herunterrinnenden Funken
io wiegen wie ein schimmernder Bach den liegenden Menschen ein,
und derSchlaf bedeckt dann wie eine Graberde das ruhende Herz,
das trocknende Auge und das schmerzenlose Angesicht — Leben
Sie wohl, und die weiBe Luna-Scheibe zeige Ihnen alle Paradiese
der vergangnen und alle Paradiese der zukiinftigen Jugend ......
Gustav.«
*
So weit war er, als Oefels Bedienter mit einem Paket an ihn in
seine Stube trat, welches leichter als die kalteste Nachtluft und der
warmste Brief die Bewegungen seiner Seele anhielt und abkiihlte.
Ein Brief vom Doktor lag mit der Nachricht darin, daB die Frau
20 von Roper ihm in MauBenbach gegenwartiges Portrdt mitge-
geben, das ihre Tochter fiir ihr eignes verlornes gehalten, auf
dessen Riicken aber der Name Falkenberg stehe, der alle ubrige
Ahnlichkeiten widerlege. So lieb ihm das Portrat war, so arger-
lich wars ihm, da es nun ein neuer Beweis seiner Vermutung war,
Mutter und Tochter hasseten ihn wegen des Korn-Avertisse-
ments. Die Spinne des Hasses, die bei jedem Menschen iiber eine
Ecke der Herzkammer ihr Gespinste hangt - nur iiberspinnen
groBe Kanker in manchen alle vierKammern mit ihren fiinf Spinn-
warzen -, lief auf ihren Faden hervor, die Amandus erschiittert
3 o hatte, und verlangte Fang; kurz die kalte Farber-Hand beriihrte
sein Herz und macht' es ein wenig kalter gegen seinen Amandus,
dessen seines durch das zuruckgehende Portrat warmer geworden
war. Die gestorte Liebe macht den besten Menschen nicht besser,
bloB die gluckliche.
In sieben Minuten war alles vorbei; denn im geistigen Men-
242 DIE UNSICHTBARE LOGE
schen ist die namliche herrliche Einrichtung wie im physischen, dafi
urn eine bittere, scharfe Idee so lange andre Ideen als mildere
Safte zuflieBen, bis sie ihre Scharfe verdunnt und ersauft haben.
Das Portrat wurde nun die zweite gefundene Rose; es war an-
gehaucht mit Leben und Rosenduft durch die schonsten Augen
und Lippen, die auf ihm gewesen waren.
Jetzo sah er Beata einige Zeit nicht im Garten, aber dafur den
Fiirsten mit und ohne die Residentin. — Gehet beide aus dem
stillen Lande in euer rauschendes! Ihr genieBet doch die schone
Natur nur als eine groBere Landschaft, die in euerem Bilderkabi- 10
nett oder an der Leinwand euerer Operntheater hangt, oder als
eine nur breitere Tafel- und Kamin-Verzierung, wo euch die
Felsen von Bimsstein und die Baume von Moos geformet vor-
kommen, hochstens als den groBten englischen Park, der neuerer
Zeiten in Europa an irgendeinem Hofe anzutreffen ist. - In alien
Sessionzimmern war wegen der Kanikularferien Arbeit- Wind-
stille — im Winter konnte man wegen der Kalte Frostferien er-
lauben und ebensogut einen Winterschlaf der Geschafte als die
Sommer-Sieste derselben in Gebrauch setzen, wie denn auch die
bekannten Tiere beider Extreme wegen aus Scheu vor ihrer Was- 20
serscheu zu Hause bleiben miissen - mithin konnte der Minister
leichter mit dem Fiirsten abkommen, und beide waren langer da.
Ohne mich wiirde der Leser nie erfahren, warum das furstliche
Dasein AnlaB war, daB Beata das stille Land gegen ihr stilles
Zimmer vertauschte. So wars: Unser Fiirst ist zwar ein wenig
hart, ein wenig geizig und weidet seine Herde ofter mit dem
Hirtenstabe als mit der Hirtenflote; aber er wird ebensogern ein
Schafer in einem schonern Sinne und geht gern vom Throne, wo
ihn die Landeskinder anbeten, zu jeder StafTel desselben herunter,
um selber ein schones anzubeten - er kann zwar das Volk, aber 30
keine Schone seufzen horen; er wendet emsiger eine gesellschaft-
liche Verlegenheit als eine Teuerung ab; er bleibet lieber den
Landstanden als seinem Gegenspieler etwas schuldig und bauet
keine abgebrannte Stadt, aber eine eingerissene Frisur willig w ; e-
der auf. Kurz der Landesvater und der Gesellschafter sind in sei-
nen Herzkammern Wandnachbaren, aber Todfeinde. Dieser Ge-
SIEBENUND2WNAZIGSTER SEKTOR 243
sellschafter subdividierte sich wieder in zwei Liebhaber, in den
kurzen und in den langen. Seine lange oder weitergriinende Liebe
besteht in einer kalten verachtenden Galanterie und in dem Ver-
gntigen an der Feinheit, an dem Witze und an der Grazie, womit
er und der geliebte Gegenstand ihre gegenseitigen Siege zu ver-
zieren wissen. Seine kurze Liebe besteht in seinem Vergniigen an
jenen Siegen, insofern sie jene Dekoration nicht haben. Dam it man
dieses unschuldige Pasquill auf einen nicht fiir Satire auf die mei-
sten GroBen halte, so will ich so fortfahren :
10 Lange Liebe hegte er gegen die Residentin, von deren Gunst-
bezeugungen man nicht sagen konnte : das ist die unschuldigste -
die erste - die letzte. Eine solche Immobiliarliebe durchflocht er
zu gleicher Zeit mit hundert kursorischen Sekunden-Enen oder
Liebschaften, und tiber dem schleichenden Monatzeiger der lan-
gen fixen Liebe oder Ehe wirbelte sich der fliegende Terzienweiser
der abbrevierten Ehen unzahligemal um.
Darwider hatte die Residentin nichts - sie konnte auf dieselbe
Weise durchflechten - darwider hatte er nichts.
In diesen kurzen Ehen tun die GroBen vielleicht manches Gute,
20 uber welches Moralisten zu leicht wegsehen, die lieber ihre Druck-
bogen als die Geburtlisten voll haben wollen. Gleich jungen Au-
toren lassen junge GroBe ihre ersten Ebenbilder anonym oder
unter geborgten Namenerscheinen ; und ichkann zu Montesquieus
Bemerkung, daB das Namengeben der Bevolkerung niitze, weil
jeder seinen fortzupflanzen trachte, nichts setzen als meine eigne,
daB die Namenloslgkeit ihr noch besser forthelfe. In der Tat geht
es hierin den erhabensten Personen wie den griechischen Kiinst-
lern, die unter die schonsten Stamen, womit ihre Hand Tempel
und Wege ausschmtickte, ihren Vaternamen nicht setzen durften ;
30 indessen findet der pfiffige Phidias auch seine Nachahmer, der
statt des Namens sein altes Gesicht an der Statue Minervens ein-
hieb.
Der Furst hatte im Sinn, Beaten, die ihm zu viel Unschuld und
zu wenig Koketterie zu haben schien, eine kurze Liebe anzubieten.
Ihr Widerstand machte, daB er auf eine langere dachte. Unter den
Augen der Residentin waren vor ihm alle ihre Sinne gesichert, nur
244 DIE UNSICHTBARE LOGE
das Ohr nicht - im Park keiner. Die Residentin, die wuBte, daB
ihr Geist sich fiir jede Minute in einen neuen Korper umwerfen
konne, indes ihre Nebenbuhlerin nicht mehr hatte als einen, in
welchem noch dazu weiter nichts als Unschuld und Liebe steckte,
diese sah die ganze Sache mit keinen andern Augen an als mit
satirischen. So weit wars, als der.Fiirst in dem Hundtags-Inter-
regnum kam und am andern Morgen statt des Zepters nichts in
der Hand hatte als den Frisierkamm und den Kopf der Residentin.
Er hatte es an seinem Hofe Mode gemacht; jeder Kammerherr bis
auf den Hofdentisten herunter hatte seitdem seine preteuse de 10
tete, um an ihrem Kopfe so viel zu lernen, als er am Kopfe einer
schonern preteuse auszuiiben hatte - Es war ebenso notwendig,
daB man frisierte, als daB man frisiert war.
Ich konnt' es in der Note sagen, daB eine preteuse de tete ein
Madcheri in Paris ist, das an einemTagehundertmal frisieret wird,
weils die Innung daran lernen will - unmoglich kann es unter
ihrer Hirnschale so viele Veranderungen und Versuche geben als
iiber derselben - die Koalition und Einkindschaft der unahnlich-
sten Frisuren ist so groB, Dappieren und Auskammen kommen
hintereinander so schnell, oder Auf bauen und UmreiBen, daB es 20
nur auf dem Kopfe der Gottin der Wahrheit noch arger zugehen
kann, den die Philosophen frisieren und aufsetzen, oder in ganzen
Staatkorpern, an denen die Regenten sich iiben.
Am namlichen Morgen, wo unserer die Regentin coiffierte,
sagte er der traumerischen Beata, am andern Tage komm* er mit
dem Friseur zu ihr. Die Residentin sagte nichts als: »Die Manner
konnen alles, aber das Leichte selten; sie wirren leichter zehn
Prozesse als zehn Haare ein,« Beata konnte nicht reden - nachts
konnte sie nicht schlafen. Ihr ganzes Innere entsetzte sich vor des
Fursten Frostgesicht und stechendem Feuerblick, der (so wenig 50
sie es deutlich dachte) die Prdliminarsiege im neuen Schlosse so
abzukurzen brannte, als war' er im Palais royal. Am andern Mor-
gen hatte sich ihr Wunsch, krank zu werden, beinahe in die Ober-
zeugung, es zu sein, verwandelt, Sie sah mit lebenssatter Leerheit
zum Fenster in das stille Land hinaus, in dem zwei Kinder des
Hofgartners eine bunte Glaskugel herumkegelten, als der Kana-
SIEBENUNDZWANZIGSTER SEKTOR 245
rienvogel, der auf den Achseln des Fursten wohnte und der ihn
wie eine Mucke umflog, von seinem Kopf, der durch sechs Fenster
von ihr geschieden war, auf ihren geflattert kam. Sie zog den Kopf
mit dem Vogel hinein - aber auch mit dem Inhaber des Tiers, der
sogleich ohne Bedenken kam und sagte: »Bei Ihnen hat man das
Schicksal, zu verlieren - aber meinem Vogel konnen Sie die Frei-
heit nicht nehmen.« Leuten seiner Art entflieBet dies alles ohne
Akzent; sie reden mit gleichem Tone vom Sternen- und vom
Kutschen-Himmel und von der Bewegung beider.
10 Ohne Umstande wollt* er ihr den Pudermantel umtun ; sie nahm
ihn aber aus andern Riicksichten selber um und sagte, sie ware
schon fiir den ganzen Tag aufgesetzt bis aufs Pudern. Allein sie
mochte ihren Weigerungen immerhin die schonsten Gestalten
umgeben, die ihr sein Stand und die von ihrer Mutter anerzogene
Hochachtung gegen sein Geschlecht befahlen : am Ende sah sie,
sein Widerlegen sei nicht viel besser als sein Frisieren. Als er das
letzte anfing und so nahe vor ihr stand, sah sie wieder das Gegen-
teil. Jedes Haar wurd* an ihr zu einem Fiihlfaden, und ihr war,
als beriihrte er ihre wunden Nerven, als ginge mit ihm eine flam-
ao meride Holle um sie. Auf einmal quoll ihre Bangigkeit, nach den
Gesetzen der weiblichen Natur, von der mittlern Stufe zur hoch-
sten auf- ich mochte wissen, obs von seinen eigenniitzigen Stel-
lungen kam, die ihm nichts halfen, oder von einem Kusse, als der
Einnahme der Benefizkomodie, die er zu seinem Besten auffiihrte,
oder yon ihrem Blick auf die Pyramide des Eremkenbergs, der
ihre zagende Brust mit dem Bilde und Ebenbild ihres Bruders uber-
fiillte - genug sie sprang fieberhaft auf, und nach den Worten :
»sie hatre so gewiB versprochen, der Residentin den Hut aufsetzen
zu helfen, und ware noch hier !« erwartete sie gewiB, dafl ihn dieser
30 demiitig-stolze Vorwurf forttriebe. Er war nicht fortzutreiben.
Dieses MiBlingen zerriB ihre zarten Krafte, und sie lehnte sich
wankend mit dem Arme und frisierten Kopfe an die Tapete. Er,
vielleicht gelangweilt oder froh, sie an seine Nachbarschaft ge-
wohnt zu haben, nahm seinen Vogel und sie und fiihrte sie selber
zur Residentin; hier holte er mit ihr das Belachen der Benefiz-
komodie nach und so fort.
246 DIE UNSICHTBARE LOGE
Indessen hatten sich dennoch die Qualen des auBern Kopfs in
die Migrane des innern aufgeloset; sie blieb von der Tafel und -
solang' er dasmal da war - auch aus dem Parke.
Welches Ietzte zu erweisen nicht sowohl als zu erklaren war.
ACHTUNDZWANZIGSTER ODER SlMON JuDA-SeKTOR
Gemalde - Residentin
Vorgestern (den 26,Oktober) war dein Namentag, Amandus!
Hast du wohl in deinem Leben einen mit freudigen Augen ge-
feiert? Hast du je am Ende eines Jahrs gesagt : moge das neue eben-
so sein? - Ich will nicht darauf antworten, urn nicht trauriger zu 10
werden....
Gustav sah nichts mehr im Garten, als was er nicht suchte, den
Fiirsten und dergleichen; er trug unnotiges, d.h. verliebtes Be-
denken, sich bei jemand iiber Beaten s Unsichtbarkeit zu erkundi-
gen - bei den zwei Gartners-Kindern ausgenommen, die nichts
wuBten, als daB Beata, wie er, noch immer mit ihnen tandle und
sie beschenke. Vielleicht gab sie ihnen, weil er ihnen gab; denn er
gab ihnen, weil sie es tat. Die einzigen Reliquien von ihr, ihre
Spazierwege, zogen ihn desto ofter an sich. O ware doch der Kies
weicher oder das Gras langer gewesen, damit beide ihm den 20
matten AbriB einer Spur, daB sie dagewesen, aufgehoben hatten;
so wiirde dieser Dornengarten seiner Unsichtbaren seinen Wun-
schen noch groBere Fliigel, und seiner Wehmut groBere Seufzer
gegeben haben. Denn ich muB es nur einmal dem Leser und mir
gestehen, daB er jetzt in jenem schwarmerischen, sehnenden,
traumenden Zustand war, der vor der erklarten Liebe ist. Dieser
Traumfior muB uber ihm gelegen haben, da er einmal statt des
Schlangenbachs im Abendtal^ den er zeichnen wollte, die schone
Statue der Venus, die aus diesen Wellen gezogen schien, abge-
rissen hatte; und zweitens, da er nicht sah, wer ihn sah - die Re- 30
sidentin. Er kam ihr vor wie ein schones Kind, das fiinf FuB hoch
gewachsen ist; er konnte mit alien seinen innern Vorziigen noch
ACHTUNDZWANZIGSTER SEKTOR 247
nicht imponieren, well auf seinem Gesicht noch zu viel Wohl-
wollen und zu wenig Welt geschrieben war. Mit jenerscherzhaften
Koketten-Freimiitigkeit, die die erstgeborne Tochter der Koket-
ten-Geringschatzung des mannlichen Geschlechts ist, sagte sie :
»Ich geb* Ihnen fur die Zeichnung das Originak und nahm die erste
und besah sie mit schoner (iiber etwas anders) denkenden Be-
wunderung. Oefel, dem ers erzahlte, schalt ihn, daB er nicht fein
gesagt hatte: » Welches Originalh Denn er hatte zur lebendigen
Venus nichts gesagt.
io Er war es auch nicht imstande; denn sie stand vor ihm mit
alien Reizen, die einer Juno bleiben, wenn man ihr die holde
Farbe der ersten Unschuld nimmt, mit ihrem Pliimagen-Walde,
den ihr in Unterscheerau hundert nachtragen, well sie mit wenigen
meiner Leserinnen, die auch mehr Federn aufset^en^ als sie in
ihrem Leben Federn schliefien werden, so viel herausgebracht
haben, dafl jede Juno eine Gottin und jede Gottin eine Juno sein
und daB man Damenkopfe und Klaviere stets bekielen miisse.
Sie fragte ihn nach dem Namen seines Zeichenmeisters (des
Genius); seinen eignen sagte sie ihm selbst. Sie konnte Achtung
20 sich erwerben, bei alien ihren Fehltritten, und ihre Siinden und
der Teufel schienen ihr nur als Kammermohren nachzutreten; ihr
Gesicht wie ihr Benehmen trug das innere BewuBtsein ihrer nach-
gebliebnen Tugenden und ihrer Talente. Gleichwohl merkte sie
an der scheuen Ehrfurcht, die Gustav weniger ihrem Stande und
Werte als ihrem Geschlecht erwies, daB er wenig Welthabe. Sie
verlieB alle Umwege und ging ihn geradezu um eine Abzeichnung
des ganzen Parks fur ihren Bruder in Sachsen an. Ich nenne das
Bitte, was sie eigentlich allemal im scherzhaften Tone einer Kabi-
nettordre an Manner komponierte — und man konnte ihren weib-
30 lichen Ukasen nichts entgegensetzen als mannliche.
Eine Frau trage dir nur einmal ein Geschaft auf: so bist du mit
Leib und Seele ihr; alle deine sauern Tritte, alle deine Miihwal-
tungen fiir sie legen sich an ihrem Bilde, das du an die Beinwande
deines Kopfes ausgebreitet, als Reize an. Eine retten - rachen -
lehren - schiitzen ist fast nicht viel besser (bloB ein wenig) als sie
schon lieben. Gustav horte nie eine willkommnere Bitte. Den
248 DIE UNSICHTBARE LOGE
Park ri6 er in kurzem ab, und er konnte den Vormittag kaum er-
warten, an dem er ihn iiber reichen durfte. Wir wissen alle, was
er in der Residentin Zimmer noch auBer der Residentin zu er-
blicken suchte - aber alles, was er auBer ihr da fand, war die kleine
Elevin (Laura) der abwesenden Beata am Silbermannischen Kla-
vier.
Die Residentin heftete einen langen Blick in die Zeichnung.
»Haben Sie« (sagte sie) »Stiicke von unserem Hofmaler gesehen?
Sie sollten sein Schuler werden und er Ihrer - er hat noch kein
schones Portrat gemalt und noch keine schlechte Landschaft - 10
Sie machen einen schonern Fehler und geben dem Bewohner,
was Sie der Landschaft nehmen - in Ihrer Zeichnung sind die
Statuen schoner als der Garten — behalten Sie Ihren Fehler und
verschonern Sie Menschen« und sah ihn an. Meines geringen ar-
tistischen Erachtens - denn man lieB noch keines aller meiner
Stiicke als Akzessist in eine Bildergalerie, auch suche ich mit mehr
Ehre solche Ausstellungen lieber offentlich zu rezensieren als zu
bereichern - ist gerade das Gegenteil wahr, und mein Held macht
(gleich seinem Biographen) weit bessere Landschaften als Por-
trate. - »Versuchen Sie es«, fuhr sie fort, »mit einem lebendigen 20
Originak - er schien verlegen iiber die Absicht ihres Rats -
»nehmen Sie eines, das Ihnen so lange sitzt, als der Maler selber
sitzt.« - Oefels Eitelkeit mit Gustavs Voreiligkeit hatten hier eine
dumme Hoflichkeit zusammenbringen konnen — »Hier ! das darin
mem' ich« - und sie wies auf einen Spiegel; jetzt wollt* er doch
mit der palingenesierten Hoflichkeit herausfahren, ihre Gestalt sei
iiber seinem Pinsel, als sie zum Gluck dazufiigte: »Malen Sie sich
und zeigen Sie mirs.« - Ober eine zufallig verschluckte Sottise
wird man ebenso rot wie uber eine herausgestoBene - du schoner,
rotgliihender Gustav! .30
Daher schreib' ich hier fur Kinder, die noch nicht auf Winter-
ballen getanzt, diesen Titel aus der Kleiderordnung heraus : Leu-
ten, die euch eine Erklarung geben woHen, eine in den Mund zu
legen, ist ebenso unhoflich als miBlich.
»Ich will Ihnen nur zeigen warum«, sagte sie und ging mit ihrer
Hand den halben Weg zu seiner und wieder zuriick und nahm
ACHTUNDZWANZIGSTER SEKTOR 249
ihn mit durch ihr Lesekabinett, durch ihr Biicherzimmer in ihr
Bilderkabinett. Wenn sie ging: konnte man selber kaum gehen;
weil man stehen wollte, urn ihr nachzusehen. Bilder waren neben
ihr noch schwerer anzuschauen. Sie wies ihm im Kabinett eine
bunte Kette Abbilder, welche die beruhmtesten Maler von sich mit
eigner Hand gemalet hatten und welche die Residentin aus der
Galerie zu Flprenz kopieren lassen. »Sehen Sie, wenn Sie ein be-
ruhmter Maler wurden - und das miissen Sie werden -, so hatt*
ich Ihr Portrat noch nicht in meiner Sammlung.« Auf dem Fenster
10 lag der steilrechte weibliche Sonnenschirm, ein griiner Spazier-
facher, den er vor einem gesessenen Gericht fur Beatens ihren
eidlich erklaret hatte - Einige Heuwagen von Wouvermans Gras,
einige Zentner von Salvatore Rosas Felsen und eine Quadratmeile
von Everdingens Griinden hatt* er hingeschenkt fur den bloBen
Facher.
Aber das ihm abgedrungne Versprechen, sich selber zu malen,
wurde einem Natursohne wie er, welchem die Kunst noch keine
Eitelkeit gegeben, zu erfiillen auBerst schwer. Hundert jetzige
Junglinge zeigen mehr Kraft, sich in einer Gesellschaft vor dem
«o Spiegel zu besehen, als er hatte, es in der Einsamkeit zu tun. Er
furchtete ordentlich, er begehe in einem fort die Siinde der Eitel-
keit.
Auf diese Weise wird mein Held, der sich aus dem Spiegel zu
holen sucht, von drei Zekhenmeistern auf einmal besehen und ge-
malet: von dem Lebensbeschreiber oder mir - vom Romancier
oder Herrn von Oefel,der in seinen Roman einKapitel setzt, wor-
in er von Gustavs Liebe gegen die Bouse anonymisch handelt -
und vom Maler und Helden selber. So muB er denn wohl wohl
getroffen werden.
30 Von Oefels Roman »GroBsultan« erscheinet in der Hofbuch-
handlung ktinftige Messe nichts als das erste Bandchen; und es
wird dem minorennen Publikum, das unsre meisten Romane Heset
und macht, angenehm zu horen sein, daB ich in den Oefelschen
GroBsultan ein wenig geblkkt und daB darin die meisten Charak-
tere nicht aus der elenden wirklichen Welt, die man ja ohnehin alle
Wochen um sich hat und so gut kennt wie sich selber, sondern
2$0 DIE UNSICHTBARE LOGE
meistens aus der Luft gegrifFen sind, diesem Zeughaus und dieser
Baumschule des denkenden Romanmachers; denn wenn (nach
dem System der Dissemination) die Keime des wirklichen Men-
schen neben dem Samenstaub derBlumen in der Luft herum-
flattern und aus ihr, als dem Repositorium der Nachwelt, von den
Vatern miissen niedergeschlagen und eingeschluckt werden : so
miissen Autoren noch vielmehr die Zeichnungen von Menschen
aus der Luft, wo alle epikurische Abblatterungen wirklicher Dinge
fliegen, sich holen und auf das Papier Schmieden, damit der Leser
nicht brumme. 10
Einige Tage war die von Bouse nicht zu sprechen, als das Ori-
ginal seine Kopie zu ihr tragen wollte. Endlich schickte sie nach
beiden. Sein Gesicht wurde dem gemalten sehr unahnlich, als sein
Blick bei dem Eintritt auf seine physiognomische Schwester fiel,
die mit der kleinen Bouse am Klaviere sang, auf Beata. Wir armen
Teufel, die wir nicht an Stammbaumen, sondern von Stamm-
gebiisch herauswuchsen, werden von vier Wanden so nahe an-
einander geriickt, daB wir uns warm machen; hingegen die velou-
tierten Wande der GroBen halten ihre Insassen so sehr als Stadt-
mauern auseinander, und es ist darin wie in Wirtzimmern, wo *
unser Interesse nur einige vom ganzen Haufen abloset. Beata fuhr
also fort; und erflng an: fur ihn wars so viel, als sah' er sie durch
das Fenster im Garten. Sein Portrat fand die giinstigste Rezen-
sentin. Sie flog damit durch einige Zimmer hindurch. Gustav
konnte nun seine Augen dahin tun, wo seine- Ohren langst waren :
sein einziger Wunsch war, die Elevin ware auBerordentlich dumm
und sange alles falsch, bloB damit die reizende Diskantistin ihr
ofter vorsange. Es war jenes gottliche „Idolo del mio cuore" von
Rust y bei dem mir und meinen Bekannten allemal ist, als wiirden
wir vom lauen Himmel Italiens eingesogen und von den Wellen 30
der Tone aufgeloset und als ein Hauch von der Donna eingeatmet,
die unter dem Sternen-Himmel mit uns in einer Gondel fahrt....
Durch solche verderbliche Phantasien bring' ich mich im Grunde
um alien wahren Stoizismus und werde noch vor dem dreiBigsten
Jahre achtzehn Jahre alt. -
Um so leichter kann ich mir denken, wie es dem jungen Gustav
ACHTUNDZWANZIGSTER SEKTOR 25 I
war, der Augen und Ohren so nahe an der magnetischen Sonne
hatte: wahrhaftig tausendmal Iieber will ich (ich weiB recht gut,
was ich wage) mit der Schonsten im Furstentum Scheerau ganz
durch letztes fahren und sie nicht nur in, sondern auch (was weit
schadlicher ist) aus dem Wagen heben; - noch mehr: Iieber will
ich ihr das Beste, was wir aus dem poetischen und romantischen
Fache haben, geriihrt vorlesen - ja Iieber will ich mich mit ihr aus
einem Redoutensaale in den andern tanzen und sie, wenn wir
sitzen, fragen, ob sie heiter ist - und endlich (starker kann ichs
[o nicht ausdriicken) Iieber will ich den Doktorhut auftun und ihre
matte Hand an den AderlaBstock mit meiner anschlieBen, indes
sie, um nicht den Blutbogen iiber dem Schnee-Arm zu erbliciken,
mir in einem fort erblassend in das Auge schauet — Iieber, ver-
sprech' ich, will ich (Wunden hoi' ich mir freilich mehre und wei-
tere als das AderlaBmannchen im Kalender) alles das tun, als die
Schonste singen horen; dann war' ich leek und weg; wer wollte
mir helfen, wer wollte meine Notschiisse horen, wenn sie in der
ruhigsten Stellung den rechten Schnee-Arm weich iiber irgend
etwas Schwarzes hinschneiete, die Knospe der Rosen-Lippen halb
*o voneinander schlosse, die tauenden Augen auf ihre - Gedanken
senkte und darein verhullete, wenn der weiche Dunen-Busen 1
wogend wie ein weiBes Rosenblatt auf den Atem-Wellen lage und
mit ihnen auf- und niederflosse, wenn ihre Seele, sonst in den
dreifachen Oberzug der Worte, des Korpers und der Kleider ge-
schlagen, sich aus alien Hullen wande und in die Wellen der Tone
stiege und im Meer des Sehnens untersanke....? Ich sprang'
nach.
Gustav war noch im Nachspringen begriffen, als die Residentin
mit iwei Portraten wiederkam. »Welches ist ahnlicher?« sagte sie
30 zu Beata und hielt ihr beide entgegen und heftete ihr Auge statt
auf die drei Gesichter, die zu vergleichen waren, blofi auf das,
welches verglich. Das mitkommende war namlich das echte
1 Denn bekanntlich ist die mannliche Brust viel harter und unbiegsamer
und dem ahnlich, was zuweilen von ihr umschlossen wird. - Sonderbar ists,
daB die Eltern ihre Tochter Dinge mit allem Gefuhle singen lassen, die sie
ihnen nicht erlaubten vorzulesen.
252 DIE UNSICHTBARE LOGE
briiderliche und verlorne, urn das Beata an meine Philippine ge-
schrieben hatte. »0 mein Bruder !« sagte sie mit zu viel Bewegung
und Akzent (welches zu vergeben ist, da sie erst vom Klavier her-
kam); unter dem schnellen Ergreifen erschrak sie so lange, bis sie
mit einem ungezwungnen Blick iiber den Riicken des Bildes her-
untergeglitscht war und keinen Namen darauf gefunden hatte.
Von solchen Erdstaubchen hangt das Pochen des menschlichen
Herzens oft ab : den Zentnerdruck der ganzenLebens-Atmosphare
tragt und hebt es, allein unter dem schwiilen Atem einer gesell-
schaftlichen Verlegenheit fallt es kraftlos zusammen. Wer nicht 10
hat, wohin er sein Haupt hinlegt, leidet oft kleinere Pein, als der
nicht hat, wo er seine - Hand hinlege.
»Ich dachte, Ihr Bruder ware ein weitlauftiger Verwandter von
Ihnen«, sagte die Residentin vielleicht boshaft-doppelsinnig, um
sie in die Wahl irgendeines Sinnes zu verstricken. Allerdings
standen der Residentin alle Worte, Ideen und Glieder so behend
zu Gebote, daB die Kraft in Beatens und Gustavs Verstand und
Tugend kaum, wie sonst in der Mechanik, zureichte, die Ge-
schwindigkeit zu ersetzen. Aber Beata erzahlte standhaft, ohne
Entschuldigung, ohne Obergange alles von diesen Bildern, was 20
die Leser aus meinem Munde wissen. Gustav hatte eine solche Er-
zahlung nicht liefern konnen. Die Nachricht, wie es in der Resi-
dentin Hande gekommen, vergaB die Residentin zu geben, weil
sie hundert Antworten dazu wuBte; Beata vergaB sie zu verlan-
gen, weil sie das eben merkte.
»Fiir Ihr Gesicht« - sagte sie im lustigsten Tone, in dem sie
ohne Bedenken das Gute von ihren Reizen sagte, das andre im
ernsthaften davon sprachen - »konnt' ich Ihnen keines geben als
mein eignes; das muB ich aber meinem Bruder in Sachsen samt
dem Garten schicken - malen konnen Sie es mit zum Park, damit 30
beide Stticke einen Meister hatten.« Dem scherzhaften Tone ist
weit schwerer etwas abzuschlagen als dem ernsthaften - hochstens
nur wieder im lustigen ; aber zu diesem waren in Gustav alle Saiten
abgerissen. Beata hatte die Anspielung auf den Park nicht ver-
standen; Bouse brachte die ganze Landschaftzeichnung und fragte
sie, was ihr am meisten gefiele. Diese war fur das Schattenreich
NEUNUNDZWANZIGSTER SEKTOR 253
und Abendtal (warum lieB sie. den Eremitenberg aus?). »Aber
die Menschen im Garten?« - fuhr sie fort (die arme Inquisitin
heftete ihren stillen Blick fester aufs Abendtal); - »besonders
die schone Venus hier im'Abendtal?«-Sie muBte endlich reden
. und sagte unbefangen: »Der Bildhauer wird sich nicht uber den
Zeichner zu beschweren haben, aber vielleicht der Maler uber den
Bildhauer; vielleicht hat auch bloB der Frost diese Venus ein
wenig verdorben.« Die Residentin machte durch ihr Lachen und
ihr witiiges Anblicken Gustavs ein Bonmot daraus, sie ein wenig
10 rot, ihn flammendrot, sie durch letztes wieder roter und vollends
durch die Antwort: »So wiirde mein Bruder auch denken, wenn
er die Venus so bekame; Sie tun mir aber den Gefallen, meine
Liebe, und sitzen unserem Herrn Maler mit, so kommt in unsern
Park eine schonere Venus. Es ist mein Ernst. Die zwei nachsten
Morgen geben Sie unsern Gesichtern, Herr von Falkenberg!« Die
Gute schwieg; Gustav, der schon eingewilligt hatte, mit seinem
Pinsel Bousens Antlitz zu verdoppeln, ware bej einem Haare mit
der Anmerkung losgebrochen, Beaten ihres vermog' er nicht mit
seinem nachzudrucken. Zum Gluck fiel ihm ein, daB sie sich zur
20 Tafel ankleiden wiirde — (Am Sonntag uber acht Tage muB ich
meinen Sektor mit »Denn« anfangen — ).
NEUNUNDZWANZIGSTER ODER XXII. TrINITATIS-SeKTOR
Die Ministerin und ihre Ohnmachten - und so weiter,
Denn er war in jenem griinen Gewolbe, das Scheeraus groBte
Schonheiten umfing, in Bousens Zimmer, nur vormittags; nach-
mittags und spater rauschten durch dasselbe die Strome des Ver-
gnugens, aus den Freudenkelchen von Freuden-Najaden ausge-
schiittet. Der halbe Hofstaat fuhr aus Scheerau her. Bekanntlich
hat dieser, indes das Volk nur Sahbate hat, lauter Sabbatjahre^ und
50 die nahern Diener des Fiirsten suchen sich von den Dienern
des Staates dadurch auszuzeichnen, daB sie gar nichts arbeiten;
so wurden auch schon in den alten Zeiten den Gottern nur Tiere,
254 DIE UNSICHTBARE LOGE
die noch nichts gearbeitet hatten, auf den Altar gelegt. Ich weiB es
recht gut, daB mehr als einer der paralytischen groBen Welt Ar-
beit zumutet, die namlich, sich und andre in einem fort zu amii-
sieren; diese ist aber so herkulisch schwer und nutzt alle Krafte-so
sehr ab, daB es genug ist, wenn sie samtlich nach einer Fete mor-
gens bei dem Auseinanderfahren oder am Tage darauf sich ver-
stellen und sagen: »Bei alledem wars heute ein delizioser Abend
und uberhaupt alles so brillant!« GroBe Quartanten-Theologen
haben langst bewiesen, daB Adam vor dem Falle kein Ver-
gniigen aus dem Essen und andern Vergnugungen geschopfet 10
habe — unsre GroBen sind vor ihrem Falle ebenso schlimm daran
und verrichten alles das in ihrer Unschuld, ohne den geringsten
SpaB dabei zu haben. Ich wollt', ich konnte dem Hofstaat
helfen.
Ein Mensch, der eine festgesetzte Arbeitstunde (und ware sie
nur 30 Minuten lang) hat, siehet sich fur emsiger an als einer, der
gerade heute seinem i2sturtdigen Pensum 30 Minuten abge-
brochen. Oefel warf sich selber seine ubertriebene Anspannung
vor und sagte, er wiifite sich nicht zu entschuldigen, daB er jeden
Morgen eine voile Stunde schreibe am »GroBsultan«. Erst darnach 20
waren die ernsthaften Geschafte des Tages zu Ende; er HeB sich
nun zum ersten Male frisieren und einstauben, um als Tagschmet-
terling gegen alle Toilettenspiegel anzuflattern* auf den Blumen-
kopf der Defaillante (so hieB noch die Ministerin) HeB er sich
nieder. Alsdann HeB er sich zum %weiten Mat frisieren und be-
fliigeln, um als bestaubter Dammerung- und Nachtschmetterling
zwischen den Spielmarken und Schaugerichten und ihren Eben-
bildern herumzusausen. Ich wurde auf dieses Gleichnis nicht ge-
kommen sein, wenn mich nicht sein gehorntes und in eine Kapsel
zusammenlaufendes Abendhaar auf die Raupen der Nacht- 30
schmetterlinge gefuhret hatte, denen auch hinten ein Horn oder
Zopf ansitzt - den Tagraupen sitzt nichts an, so wie sein abbre- ^
viertes aufgestecktes Morgenhaar es verlangte, damit sie diesem
glichen.
Da ich die Ministerin die Defaillante genannt, und da man ihr
uberhaupt die Einfalt zutrauen konnte, als ob sie dem Legation-
NEUNUNDZWANZIGSTER SEKTOR 255
rat treuerware als er ihr, so will ich alles sagen und fiir siereden.
Die Eitelkeit, die ihn wie eine eingeschrankte Monarchin be-
herrschte, regierte wie eine uneingeschrankte uber sie - sie hatte
und machte kalienische Verse, Epigrammen uhd alle schone
Kiinste - und es ist stadtkundig, dafi sie, weil sie aufgehort hatte,
zur schonen Natur zu gehoren, sich unter die Werke der schonen
Kunste warf und sich aus einem Modell durch Schminke in ein
Gematde veredelte, durch Pantomime in eine Aktrice, durch Ohn-
machten in eine Statue.
10 Das letzte ist der Kardinalpunkt - sie starb wochentlich und
ofter, wie jede wahre -Christin, nicht ihrer Keuschheit wegen, son-
dern sogar vor ihrer Keuschheit, ich meine ein paar Minuten -
sie und ihre Tugend fielen hintereinander in Ohnmacht. Wenn
ich uber so etwas nicht weitlaufig bin : so bin ich nicht wert, eine
Feder zu schneiden, und der Henker soil meine Produkte holen. -
Die Tugend also war bei der Ministerin so verdammt schlimm
daran wie bei einem Kind die junge Lieblingkatze. Ich will von
Tagzeiten gar nicht reden, sondern nur von Wochentagen: ich
will setzen, an jedem Tage hatte ein andrer Antichrist und Erb-
20 feind ihrer Tugend statt der Visitenkarte seinen Leib geschickt:
so hatt' es etwa so gehen konnen: am Montag war ihre Tugend
im strahlenlosen Neumond fiir Herrn v. A. - am Dienstag im
Vollmond fiir Herrn v. B., der sagte: »Zwischen ihr und einer
Devote ist kein Unterschied als das Alter« - am Mittwoch im
letzten Viertel fiir Herrn v. C, der sagt: »Je la touche deja«,nam-
lich ihre ame - am Donnerstag im ersten Viertel fiir Herrn v.D.,
der sagt : »Peut-etre que« — und so fort mit den iibrigen Feinden
der Woche; denn jeder Gegner sah, wie seinen eignen Regen-
bogen, so an ihr seine eigne Tugend. Ehre und Tugend waren bei
30 ihr keine leeren Worter, sondern hieBen (ganz gegeii die Kan-
tische Schule) der Zeit-Zwischenraum iwiscken ihrem Nein und
ikremja y oft blofi der Ort-Zwischenraum. Ich sagte oben, sie hatte
immer eine Ohnmacht, wenn der Montag ihrer Tugend war. Es
lasset sich aber erklaren : ihr Korper und ihre Tugend sind an einem
Tag und von einer Mutter geboren und wahre Zwillinge,wie die Ge-
briider Kastor und Pollux - nun ist der erste, wie Kastor, mensch-
2^6 DIE UNSICHTBARE LOGE
lich und sterblich, und die andre, wie Pollux, gottlich und un-
sterblich - wie nun jene mythologische Briiderschaft es pfiffig
machte und Sterblichkeit und Unsterblichkeit gegeneinander hal-
bierten, um miteinander in Gesellschaft eine Zeitlang tot und eine
Zeitlang lebendig zu sein : so macht es ihr Korper und ihre Tugend
ebenso listig, beide sterben allezeit miteinander, um nachher mit-
einander wieder zu leben. - Das artistische Sterben sokherDamen
lasset sich noch von einer andern Seite anschauen: eine solche
Frau kann iiber die Starke und die Proben ihrer Tugend eine
Freucte haben, die bis zur Ohnmacht gehen kann; ferner iiber die i<
Leiden und Niederlagen derselben eine Betrubnis^ die auch bis zur
Ohnmacht reichen kann: nun denke man sich, ob eine Frau beim
vereinigten Anfall von zwei Gemutbewegungen, wovon jede
alleiri schon toten kann, 1 noch aufrecht zu verbleiben vermoge. -
BekanntHch stirbt die Ehre der Damen von Welt so wenig wie der
Konig von Frankreich, und es ist das eine bekannte Fiktion;
wenigstens ist dieser Ehre der Tod, wie den Frommen, ein Schlaf,
der iiber 1 2 Stunden nicht dauert. Ich kenne an unserem Hofe eine
Art Ehre oder Tugend, die gleich einem Polypen an nichts stirbt;
sie kann, wie die alten Gotter, verwundet, aber nicht umgebracht a=
werden — gleich Hornschrotern zappelt sie an der Nadel und ohne
alle Nahrung fort - Naturforscher von Stand tun oft einer solchen
Tugend, wie Fontana den AufguBtierchen, tausend Martern an,
an denen biirgerliche weibliche Tugenden sogleich verscheiden :
nichts! kein Gedanke von Sterben, — Es ist eine wohltatige An-
ordnung der Natur, dafi gerade in den hohern Damen die Tugend
eine solche achilleische Lebens- oder Wiedererzeugkraft hat, da-
mit sie erstlich leichter die einfachen und doppelten Bruche,
Knochensplitterungen und Gliederabnehmungen und iiberhaupt
das Schlachtfeld jenes Standes ausdauere - zweitens dam it jene y.
Damen (im Vertrauen auf die Unsterblichkeit und lange Lebens-
linie ihrer Tugend) ihren Freuden, deren physische Grenzen ohne-
hin so enge sind, wenigstens keine moralischen zu setzen brauchen.
Ich komme wieder zu den tugendhaften Ohnmachten oder
erotischen Sterben der Ministerin zuriick; ich will mich aber nicht
dabei aufhalten, dafi ich etwa sagte, wie die alte Philosophic die
NEUNUNDZWANZIGSTER SEKTOR t$J
Runst sterben zu lernen sei, so sei es auch die franzosische Hof-
Philosophie, nur aber angenehmer - oder daB ich witzigerweise
sagte : qui (quae) scit mori, cogi nequit - oder daB ich Senekas
Ausspruch uber Kato auf die Ministerin zdge:.majori animo re-
petitur mors quam initur; sondern ich erzahle bloB, warum sie
ij berall in Oberscheerau die DeYaillante heiBet - bloB darum, weil
ein gewisser Herr auf die Frage, wie sie einen wichtigen ProzeB
trotz dem versaumten Praklusiontermin doch gewonnen hatte,
doppelsinnig erwiderte: en deTaillant . . . .
io Ich komme zuriick.... Aber ich ware ein gliicklicher Mann,
wenn die Zeit sich niedersetzte und mich heranlieBe; so aber setz'
ich ihr, in einer Entfernung von mehren Monaten, nach; die
Avantiiren-Fracht wird taglich schwerer; ich muB Papier zu einer
.doppelten Geschichte — zu der jetzt geschriebnen und zu der jetzt
vorfallenden - haben, ich angstige mich ab, und am Ende werd'
ich mit Mtihe gelesen! - 1st mir aber zu helfen? --
Amandus lag damals auf dem hartesten Bette von der Welt -
die Dornen- und Stein-Matrazen der alten Monche fiihlen sich da-
gegen wie Eiderdunen an -, auf dem Krankenbette; sein odes
20 Auge ruhte oft auf der Stubentiire, ob sie kein Gustav offne, ob
nicht der Tod in der Gestalt einer Freude, einer Aussohnung ein-
trete und die Blume seines Lebens miteinem Liebe-Druck gelinde
niederlege; - aber Gustav lag von seiner Seite auf einem Zauber-
bette, an das ihn ein besserer Gott als Vulkan mit unsichtbaren
Kettchen heftete; kaum regen konnt* er sich unter seinem Draht-
geflecht.
Am Morgen, wo er sich vorbereitete, der Residentin das Por-
trat und die Visite zu machen, ziindete Oefel urn ihn eine Menge
Raketen des Witzes an und gestand ihm mit der Zufriedenheit,
3° mit welcher ein Belletrist stets die Armut an leiblichen Giitern
und die schwerere an geistigen, an Verstand etc., ertragt, so viel
geradezu, er habe an Gustav die Neigung zur - Residentin viel-
leicht eher entdeckt als beide Interessenten selbst. Jede Gusta-
vische Verneinung war ein neues Blatt in seinen Lorbeerkranz.
»Ich will aufrichtiger sein«, sagt' er; »ich will mein eigner Ver-
rater werden, weil ich keinen fremden habe. Im Zimmer, wo Sie
258 DIE UNSICHTBARE LOGE
einen Altar haben, steht einer fur mich; es ist ein Pantheon 1 ; Sie
knien mehr vor einem Gott als einer Gottin - ich aber finde da
meine Venus (Beata). Ihr mangelt zu einer Mediceischen nichts
als die - Stellung-, ich weiB aber nicht, welche Hand ich ihr dann
in dieser Stellung kussen wiirde.« . . . Vor Gustavs reiner Seele
flog zum Gliick dieser Klumpe von boue de Paris vorbei, in die an
Hofen sogar gute Menschen ohne Bedenken treten; selber Schrift-
stellern aus dieser Zone hangt dieser Schmutz noch an.
Ihm gefiel an Beaten (und an jedem Madchen) nichts als dieses,
daB er, wie er dachte, ihr gefalle; er wiirde die fiinfhundert 10
Millionen Weiber auf der Erde alle Heben, wenn er ihnen alien
gefiele, er wieder keine einzige, wenn er keiner einzigen. Er er-
zahlte jetzt dem Gustav, durch welches Fenster er im Winterhaus
von Beatens Herzen ihre Liebe zu ihm habe bliihen sehen. AuBer
einem gewissen Tropf, den ich in Leipzig gekannt, und auBer einer
Katze, die neun Leben hat, hatte keinMensch mehre Leben als er —
er biiBte eines ein : sogleich hatt* er wieder ein frisches, ich meine,
er hatte mehr Ohnmachten als ein andrer Einfalle. Einen solchen
Vexier-Selbstmord konnt' er begehen, wenn er wollte und wenn
er ihn in seinen Dramen so notig hatte als ein riihrender Theater- *o
dichter; am haufigsten aber taten er und der Tropf in Leipzig
sich diesen Tod in efflgie an, wenn sie unter einem Bundel Frauen-
zimmer das herauszuvisitieren hatten, das in sie am verliebtesten
war. Denn sie unterschieden, sagten die beiden Tr.opfe, sich samt-
lich voneinander nicht im Dasein, sondern im Grade der Liebe
gegen beide Ohnmachtige. Der grofite Schrecken uber den pan-
tomimischen Schlagflufi ist, sagte das ohnmachtige Paar, das
Notariatsiegel der groBten Liebe. Da also Oefel vor drei Wochen
Beaten seinen Sondier-Tod vormachte: so zitterte unter alien
Schal-Fichus, die da waren, kein so zartes und mitleidiges Herz 30
als ihres, das weder fremden Betrug noch eigne Harte kannte.
Gleichgiiltig legte sich Oefel in den optischen Tod; verliebt stand
er wieder auf, und er hatte mit seiner scheinbaren Ohnmacht bei-
nahe eine wahre gewirkt. »Ich konnte sie nur seitdem nicht da-
1 Im romischen Pantheon standen nur iwei Gotter, der Mars und die Ve-
nus.
NEUNUNDZWANZIGSTER SEKTOR 259
ruber sprechen«, sagt' er. Gustav kampfte mit einem groBen
Seufzer nicht iiber Oefels gefuhllose Eitelkeit, sondern iiber sich
selbst und iiber Oefels Gliick. »0 Beata, in dieser Brust« - redete
sie sein Innerstes an - »hattest du ein verschwiegneres und auf-
richtigeres Herz gefunden, als das ist, das du ihm vorziehest - es
wiirde sein Gliick verborgen haben, wie jetzt seine Seufzer - es
ware dir ewig treu geblieben - ach es wird dir doch treu bleiben!«
- Dennoch empfand er das Ekelhafte in Oefels Eitelkeit nicht
ganz, weil ein Freund sich unserem Ich so sehr inokuliert und da-
10 mit verwachset, dafi wir seine Eitelkeit so Ieicht wie unsre eigne
und aus gleichen Griinden iibersehen.
Da es meinem Gustav im Buche wie im Leben gehen kann, so
hatt* ich folgende Anmerkung noch eher machen sollen: niemand
war leichter zu verkennen als er - alle Strahlen seiner Seele brach
die Wolkenhiille milder Demut, ja seitdem Oefel ihm Stolz auf
dem Gesichte vorgeworfen, sucht* er gerade so demiitig auszu-
sehen, als er war - sein AuBeres war still, einfach, voll Liebe, ohne
Anspriiche; aber auch ohne durchbrechenden Witz und Humor —
Phantasie und Verstand arbeiteten in ihm, wie in einem einsamen
zo Tempel, Altarblatter mit groBen MaBen und lieBen mithin nicht,
wie andre, Dosenstiicke und Medallions von der Zunge purzeln -
er war, was Descartes von der Erde glaubt, eine inkrustierte
Sonne, aber unter den phosphoreszierenden Lichtern des Hofes
ein dunkler Erdkorper - er war das auBere Gegenteil von Otto-
mar, der mit seiner Sonne seine Kruste durchgebrannt hatte und
nun vor den Leuten stand blitzend, knisternd, gliihend, anreiBend,
einaschernd und ausbriitend - Gustavs Seele war ein gemaBigtes
Land ohne Stiirme, voll Sonnenschein ohne Sonnenhitze, ganz
mit Griin und Knospen iiberzogen, ein magisches Italien im Herbst ;
jo Ottomars seine aber war ein Polarland, das sengende Iange Tage,
lange Eis-Nachte, Orkane, Eis-Berge und Tempische Taler-Fiille
durchstrichen. —
Der Gustavischen Bescheidenheit kam also nichts natiirlicher
vor, als daB Beata einen, der seinen Geist und Korper so gut zu
zeigen wuBte, iiber ihn stellte, der beides nicht konnte und der da-
zu einmal ihren Vater halb tot geargert hatte. Sein Blut ging mit-
260 DIE UNSICHTBARE LOGE
hin langsam traurig, da er zur Residentin schlich. Es war ihm, als
konnt' er heute sie als seine Freundin ansehen - das tat er wirk-
lich halb, als sie ihm noch dazu ein ebenso trauriges Air und Ge-
sicht entgegentrug, dem ahnlich, in dem eine Frau eine Woche
nach dem Verlust ihres Geliebten mit leeren Augen und erkalteten
Wangen am meisten riihrt. Es sei, sagte sie, der Sterbetag ihres
jiingsten Bruders, den sie und der sie am meisten geliebt. Sie lie 6
sich in Trauerkleidung malen. Nichts wirkt starker als der Lustige,
der einmal in die Halbtone des Kummers fallt. Gustav hatte iiber-
haupt zu viel Zuneigung fur Menschen, in deren Ohren das i
Trauergelaute irgendeines Verlustes widertonte; ein Ungliick-
licher war ihm ein Tugendhafter. Die Residentin sagte ihm, sie
hofFe, er werde den heutigen Kummer aus ihrem wirklichen Ge-
sichte wegmalen und ihn bloB ins gemalte bannen — sie habe des-
wegen diese Zerstf euung auf heute verlegt - morgen sei ihr ge-
wiB besser - sie spielte nachlassig mit der bloBen rechten Hand
einige Tanze, aber nur ein paar Takte und mit vergeblichem
Kampfe gegen ihren Triibsinn - er sollte ihr etwas erzahlen, eh*
er anfinge, damit er nicht einem Gesicht, das sie nur ein paar Tage
im Jahr truge, ein ewiges Leben in seinen Farben gabe. Aber er 20
hatte noch am Hofe weder StofF noch Manier zu erzahlen ge-
wonnen — endlich fiel sie auf seine unterirdische Erziehung. BloB
ihrem heutigen Gesichte war er so etwas in dem Wolkenbruch
von HerzergieBung, den er seit Amandus' Groll entbehret hatte,
zu erzahlen fahig. Da er fertig war, sagte sie: »Zeichnen Sie nur;
Sie hatten mir etwas anders erzahlen sollen.«
Sie nahm ihre kleine Laura auf den SchoB - dem Fursten, der
ein leidenschaftlicher Tiermaler ist, muBte sie statt mit der Kleinen
mit einem Seidenpudel sitzen - welche Gruppe fallt aber jetzt sein
Auge, sein Herz und seine Zeichenfeder an, um diese drei Dinge 30
zu verrucken ! Sie zittern wenigstens alle, indem die Mutter die
Handchen der Laura in eine malerische und kindliche Umschlin-
gung legt - indem sie schweigend, traurend, mit den Lippen-
wellen gegen den Kummer des Auges streitend, ihm denkend in
das seine blickt und mit der nachsten Hand das Haar der Kleinen
spielend krummt Wahrhaftig zehnmal dacht' er: wenn ein
NEUNUNDZWANZIGSTER SEKTOR 26l
Engel einen Korper umtun wollte, der menschliche ware nicht zu
schlecht dazu, und er konnte in dieser Reise-Unifcrm in jeder
Sonne erscheinen!
Seine Zeichnung wurde so trefFend, daB der Residentin viel-
leicht ein paar Unahnlichkeiten lieber gewesen waren - sie hatten
groBere Ahnlichkeit ihres zweiten Bildes in ihm angesagt. Sie kam
' jetzt durch sanfte, nicht wie sonst scherzhaft-springende Ober-
gange von seinem Maler-Lohn und von den Nachteilen seiner Er-
ziehung auf die Vorbereitungen zu seiner Legationrolle - sie
10 deckte ihm, aber mit langsamer vertraulicher Hand, seinen Mangel
an Welt auf- sie bot ihm ihren Zutritt zu sich an und Iud ihn zum
Souper auf morgen ein. - »Aber vormittags«, setzte sie lachelnd
hinzn, »kommen Sie nicht schon; Beata will durchaus nicht ge-
malet sein.«
Der Leser hat im ganzen Buche noch nicht drei Worte
reden oder schreiben diirfen: jetzt will ich ihn ans Sprachgitter
oder ins Parloir lassen und seine Fragen nachschreiben. »Was hat
denn« - fragt er - »die Residentin vor? Will sie aus Gustav ein ge-
zahntes Kammrad schnitzen, das sie in irgendeine unbekannte
jo Maschine setzet? - Oder bauet sie den Jagerschirm und zwirnt
die Prallnetze, urn ihn zu fallen und zu fangen? - Wird sie wie jede
Kokette dem ahnlich, der ihr nicht ahnlich werden will, wie nach
Platner der Mensch das, was er empfindet, so sehr wird, daB er
sich mit der Blume buckt, und mit den Felsen hebt?«
— Der Leser bemerke, daB der Leser selber hier Witz hat, und
gehe weiter! —
»Oder« (geht er also weiter) »geht die Residentin nicht so weit,
sondern will sie aus Edelmut, woriiber man oft die optischen
Kunststucke ihrer Koketterie verzeiht, den schonsten uneigen-
50 nutzigsten Jiingling aus den schonsten uneigenniitzigsten Griin-
denaufsuchen und ausbilden?-Oder konnens nicht auch alles bloBe
Zufalle sein - und nichts leuchtet mir so ein -, an welche sie, als
Rennerin durch Lusthaine, die flatternde Schlinge eines halben
Planes fliehend befestigt, ohne in ihrem Leben am andern Tag
nach dem strangulierten Fang der Dohnenschnait im mindesten
zu sehen? - Oder irr' ich ganzlich, lieber Autor, und ist vielleicht
262 DIE UNSICHTBARE LOGE
von alien diesen Moglichkeiten keine wahr?« - Oder, lieber Leser,
sind sie alle auf einmal wahr, und du erratest darum eine Launen-
hafte nicht, weil du ihr weniger Widerspriiche als Reize zutrauest?
— Der Leser bestarket mich in meiner Bemerkung, daB Personen,
die niemals die Gelegenheit haben konnten, der groBen Welt
tagliche Klavierstunden zu geben (wie z.B. leider der sonst treff-
liche Leser), zwar alle mogliche Falle irgendeines Charakters vor-
zurechnen, aber nicht den wirklichen auszuheben vermogend sind.—
Obrigens verlasse sich der Leser auf mich (der ich schwerlich ohne
Grund Vorziige verkleinern wiirde, die mir selber ansitzen), iib- 10
rigens hat er die Armut an gewissen konventioncllen Grazien, an
gewissen leichten modischen und giftigen Reizen, die ein Hof nie
versagt, weit weniger zu bedauern, als andre Hof linge - der Autor
wiinschte, nicht darunter zu gehoren - ihren Reichtum an der-
gleichen GiftnSpezies wirklich zu beklagen haben; denn auf diese
Art blieb er ein ehrlicher und gesunder Mann, der Herr Leser;
aber wer ihn kennt, wiirde der Burge gewesen sein, daB er, falls
alle Bander und Ziigel der groBen Welt an ihm gezuckt und ge-
zogen hatten, auBer seiner Ehrlichkeit auch seine Unahnlichkeit
mit den Leuten von Ton behalten hatte, die die MiBhandlung des ao
schonsten Geschlechts mit verlorner Stimme und verlornen Wa-
den biiBen, wie (nach den altesten Theologen) die Weiber-Ver-
sucherin, die Schlange, die vorher reden und gehen konnte, durch
die aktive Verfuhrung Sprache und Beine verscherzte?...
Dreissigster oder xxiii.Trinitatis-Sektor
Souper und Viehglocken
Heut* arbek' ich im Hemd wie ein Hammerschmied, so abscheu-
lich lang und schwer ist der dreiBigste Sektor. - Da Gustav von
Oefel erfuhr, daB ein kleines Souper bei der Residentin so viel
heiBe wie bei uns das groBte, so teilte er in seinem Kopf, eh' er es 30
zieren half, Personen und Rollen aus, und sich die langste: - den
einzigen Fehler beging er allemal, daB, wenn er endlich auf die
DREISSIGSTER SEKTOR 263
Buhne kam und spielen sollte, er nicht spielte. Eh' er in eine groBe
Gesellschaft ging, wuBt' er Wort fur Wort, was er sagen wollte;
kam er wieder heraus, so wuBt' er (in der Kulisse) auch, was er
hatte sagen sollen - aber gesagt hatt' er darin weiter nichts. Es
kam nicht von Menschenfurcht; denn es war ihm fast Ieichter,
etwas Kiihnes als etwas Witziges zu sagen; sondern davon kams,
daB er das Gegenteil einer Frau war. Eine Frau lebt mehr auBer
als in sich, ihre fuhlende Schnecken-Seele legt sich fast aufien um
ihre bunte Korper-Konchylie an, sie zieht ihre Fuhlfaden und
10 Fiihlhorner nie in sich zuriick, sondern betastet damit jedes Luft-
chen und krumrnt sie um jedes Blattchen - mit drei Worten: das
Geftihl, das der Arzt Stahl der Seele von der ganzen Beschaffen-
heit ihres Korpers zuschreibt, ist bei ihr so lebendig, da sie in
einem fort fiihlt, wie sie sitzt und steht, wie das leichteste Band
auf liegt, welchen Zirkelbogen die gekrummte Hutfeder beschreibt
- mit zwei Worten: ihre Seele fiihlt nicht nur den Tonus aller
empfindlichen Teile des Korpers, sondern auch den der unemp-
findlichen, der Haare und der Kleider - mit einem Worte: ihre
innere Welt ist nur ein Weltteil, ein Abdruck der auBern.
20 Bei Gustav aber nicht; seine innere Welt steht weit abgerissen
neben der auBern, er kann von keiner in die andre, die auBere ist
nur der Trabant und Nebenplanet der innern. Seiner Seele - in
den Gehirn-Weltglobus, den der Hut bedeckt, eingesperret -
verbauen die bunten eignen Gewachse, auf denen sie sich wiegt
und vergisset, die Aussicht auf die Gegenstande jenseits ihres
Korpers, die nur diinne Schatten auf ihre Gedanken-Auen werfen;
sie steht also die auBere Welt nur dann, wenn sie sich ihrer erinnert;
dann ist diese in die innere versetzt und verwandelt. Kurz Gustav
beobachtet nur das, -was er denkt, nicht was er empfindet. Daher
30 weiB er niemals seine Ideen und Worte mit den voriiberschieBen-
den Ideen und Worten andrer Leute zu amalgamieren. Der Hof-
mann schraubt auf und zu, und die Kaskaden seines Witzes sprin-
gen und schimmern - Gustav hingegen wirft erst den Eimer in
den Ziehbrunnen und will darin den Trunk mit der Zeit heraus-
driicken. - Eine feinere Ursache geb' ich unten an.
Oefel riihmte ihm am Morgen dieses wichtigen Souper so viel
264 DIE UNSICHTBARE LOGE
von Beaten vor, er wiirde heute ihr coeur so sehr im Gleichge-
wichte mit dem esprit der Residentin sehen, - daB er alles Sehen
verwiinschte und einen zweiten Grund bekam, sein schweres Herz
ins stille Land zu tragen. Sein erster war: er schickte sich allemal
zu einer groBen Gesellschaft dadurch an, daB er vorher in die
groBte ging - unter den groBen blauen Himmel. Hier unter ko-
lossalischen Sternen, an der Brust der Unendlichkeit, lernt man
sich erheben iiber metallene Sterne neben das Knopf loch genaht;
von der Betrachtung der Erde bringt man Gedanken mit, durch
die man die Erdstaubchen, die man Menschen nennt, kaum wir- 10
beln sieht - und die farbigen Gold-Insekten, womit sich das Ge-
wachsreich musivisch stickt, werden von der Gold- und Juwelen-
stickerei der Hofpracht nicht ubertroffen, nur nachgeahmt. -
Gegenwartiger Verfasser stattete allemal dem groBen Erd- und
Himmelzirkel einen Besuch vor und einen nach dem Besuche ab,
den er einem kleinern Cercle machte, damit der groBe die Ein-
driicke des kleinen verhutete und verloschte.
Ich werde rot, wenn ich mir denke, wie unbehiilf lich sich mein
Gustav durch zwei Vorzimmer in einen Salon mag haben fuhren
lassen, wo wenigstens schon an sieben Spieltischen Streiter saBen. 20
Feinheit der Denkart ist Anlage, Feinheit des Ausdrucks ist eihe
Frucht, wozu nicht gerade Hofgartner notig sind; aber Feinheit
des auBern Anstands ist nirgends zu holen als da, wo sie alles gilt—
in der grofien Welt voll Mikrokosmen. Sollt* ich von letzterer
Feinheit mehr aufzuweisen haben, als man gewohnlich bei meinem
Advozier-Stand sucht: so bin ich nie soeitel,sieausetwasanderem
abzuleiten als aus meinem Leben -am Scheerauer Hof. - Die Resi-
dentin (Beata ohnehin nicht) spielte selten, und mit Recht; eine
Frau, die mit ihrem Gesichte andre Herzen gewinnen kann als
lackierte auf der Karte und die den Mannern einen andern Kopf 30
nehmen kann als den auf Metalle gedriickten, tut tibel, wenn sie
sich mit dem Kleinern begnugt, sie miiBte denn mit den schonsten
Fingern tailiieren und coupieren konnen, die ich noch in weib-
lichen Handschuhen und Ringen gesehen. Vor dem funfzigsten
Jahfe sollte keine spielen und nach ihm nur die, die der Mann und
die Tochter verspielen sollte. - Hingegen der poetische Gladiator,
DREISSIGSTER SEKTOR 265
Herr von Oefel, diente unter der Armee, die (nach dem Mode-
journal) in jeder Winternacht 12000 Mann stark ist in den vor-
dern deutschen Reichskreisen - namlich mit und gegen L'hombre-
Spieler. Die Residentin war eine brillante Sonne, der immer Beata
als Abends tern nachzog. Sanfter holder Hesperus am Himmel! du
wirfst deine Strahlen-Silberflitter auf unser Erden-Laub und
schlieBest leise unser Herz fiir Reize auf, die so sanft wie deine
sind! Alle Sommerabende, die mein Auge in Traumen und Er-
innerungen auf deinen fiber mich erhohten Unschuld-Auen ver-
, lebte, belohn* ich dir, versilberter schonster Tautropfe in der
blauen Ather-Glockenblume des Himmels, indem ich dich zu
einem Bilde der schonen Beata mache ! - O konnt* ich doch ihre
Heiligengestalt aus memem Herzen heben und hieher auf meine
Blatter legen, damit es der Leser sahe, nicht bloB begriffe, wie von
der junonischen Bouse, aus der alle weibliche Reize brechen,
selber seltene Uneigenniitzigkeit, doch aber Unschuld und weib-
liche bescheidne Zuruckge^ogenheh nicht, wie von ihr alle diese
holzernen Strahlen abfallen, wenn sich neben ihr mehr verhiillt als
zeigt Beata, welche iiber die heftigsten weiblichen Wiinsche den
, innern Sieg erhalt und doch weder Sieg noch Kampf verrat - die,
ohne Bousens Trauer-Hiilse und Trauerspielen, ein erweichtes
Herz dir gibt und deinen Blick unwiderstehlich beherrschet - und
mit der du im Mondschein gehen kannst, ohne sie oder den Nacht-
himmel auf der Erde minder zu genieBen ! - Gustav fiihlte noch
mehr als ich; und ich fuhle in meinen biographischen Stunden
wieder mehr als sonst in meinen musikalischen. —
Bei Gelegenheit! wenn sie essen: werd* ich auch die iibrigen
Gaste abfarben. Unter dem gesellschaftlichen Tumult, der sowohl
Gustavs Sinnen als Ideen betaubte, fiel freilich nur Beatens halbes
Sonnenbild in seine ISeele. Aber nachher freilich! - Vorher aber
o
lagen beide mit der Residentin unter dem Fensterbogen, die iro-
nisch Gustaven vor Beaten entschuldigte, daB er heute nicht mit
dem Pinsel gekommen - eine Menge zufalliger Zwischenredner
zu geschweigen. Die Residentin wurde ihnen entrissen; die nahe
und einsame Stellung notigte beide zum Sprechen und Beaten
zum Bleiben. Gustav, der schon vor der Assemblee im Kopfe
266 DIE UNSICHTBARE LOGE
hatte, was er sagen wollte, sagte nichts. Aber Beata endigte das
vorige Gesprach iiber das Abzeichnen und sagte : »Wenn Sie mich
nicht schon entschuldigt haben, so kann ich mich nicht entschul-
digen.« Ein andrer von mehr Wendung hatte geradezu Nein ge-
sagt und so im Scherze, der keine Verlegenheit zulieB, die Faden
der Vogelspinne um das arme Kolibri herumgewunden. - Gustav
hatte zu starke Gefiihle, um hier zu scherzen. An einer Menge
schwerer Materien, wovon euch alle Handhaben abbrechen, halt
bloB die des Scherzes fest, und ihr konnt sie damit regieren; be-
sonders wenn ihr mit Madchen unter Fensterbogen sprecht. 10
Gustav suchte Iangst Gelegenheit, Beaten andre Teile seiner
Seele zu zeigen, als damals in der Korn-Sache zum Vorschein ge-
kommen; jetzo hatt' er die Gelegenheit, obwohl keine Mittel ge-
habt, wenn nicht der Park mit dem Abend-Schmuck sich vor das
Fenster gelagert hatte. Aber Natur-Schonheit war die einzige
Sache, woriiber er mit andern Schonheiten begeisternd und be-
geistert sprechen konnte; - und er konnte am frischesten alle
Weltreize in einen Morgen zusammendrangen, wenn er seinen
Eintritt aus der Erde hinauf in das hohe Weltgebaude beschrieb.
Auf jedes Wort und Bild, das er sagte, oder sie zuriickgab, war 20
eine Seele gepragt, die sie einander zugetrauet hatten. Plotzlich
schwieg er mit weiten glanzenden Augen - ihm war, als gehe in
seiner Seele ein Zauber-Mond auf und scheine iiber ein weites
dammerndes Land und ein Engel seiner Kindheit steh* im Bluten-
lande und nehm' ihn in seine Arme und driick' ihn so an sich, daB
das Herz an ihm zerflosse .... Und worauf ruhte dieses innere
Landschaftstuck? - Worauf das beriihmte StraBburger Uhrwerk
ruht - auf einem Tierhals: dieses liegt namlich auf einem Pega-
sus-Nacken; seines trugen die Halse des zufallig vor dem Schlosse
heimgehenden Weideviehs, an denen solche Glocken hingen, die 30
denen der Herde Reginens ahnlich klangen und die mithin die ganze
Jugendszene mit ihren Tonen wieder in seine Seele setzten
In einer solchen Stimmung hatt' er in einer National- Versamm-
lung geredet; auch machte der Tumult, der beide einfaBte, sie ein-
samer und vertraulicher : kurz er erzahke ihr mit Feuer und histo-
rischen Auslassungen seine Schaferei mit einem Lamm auf dem
DREISSIGSTER SEKTOR 267
Berg. - Dieses Schwarmen steckte sie (wie jedes alle Weiber) so
sehr an, daB sie anfing - zu schweigen.
Die Not zwang beide, jetzt einen auBern Gegenstand (wie ein
Schwert im fiirstlichen Bett) zwischen ihre zusammenflieBenden
Seelen zu bringen - sie sahen auf die beiden Gartners-Kinder
unten hinab, und zwar so begierig, daB sie nichts sahen. Der Junge
sagte : »Mich hat das Fraulein (Beata) so lieb« und streckte beide
Arme auseinander - das Madchen sagte: »Mich hat der Herr
(Gustav) so groB lieb, wie das SchloB« - »und mich<<, replizierte
10 er, »so groB wie den Garten« - »und mich«, exzipierte das Mad-
chen, »so groB wie die ganze Welt.« Dariiber konnten die Fliigel
des Jungen nicht hinaus, und hatten seine Schwanzfedern uber
den Katheder-Horst hinausgestochen. Jedes zahlte dem andern
die Liebepfander, die es von den oben uber gegenseitiges Lob er-
freueten Zuhorern erhalten hatte, und sagte bei jedem Stuck:
»Hast du das g'kriegt?« —
Mit jenem hastigen Sprung der Kinder zu einem neuen Spiel
sagte das Madchen: »Jetzo muBt du der Herr (Gustav) sein; und
ich will das Fraulein (Beata) sein. Jetzo will ich dich liebhaben,
20 nachher muBt du mich.« Sie strich ihm sanft die Backen und dann
die Augenbraunen und endltch die Arme und manipulierfe den
Herrn. »Jetzo mich!« sagte sie mit schnell herunterhangenden
Af men. Der Junge warf seine Arme so eng urn ihren Hals, daB
die zwei Ellenbogen sich durchschnitten und schurzten und als
iiberflussige Bandschleifen uber den Liebeknoten hinausragten;
er kiiBte sie derb. Plotzlich fand ihre kritische Feile einen ver-
dammten Anachronismus an diesem historischen Schauspiele,
und sie sagte fragend: »Ja, der Herr und das Fraulein haben sich
ja nicht lieb?« ^
30 Das warzu viel fur die Frontloge oben, die zugleich das Audi-
torium und das Original der kleinen Spieler war, und die Kop'te
derselben zu werden in Gefahr geriet. Gustav hielt das Augenlid
gewaltsam offen, damit es das Wasser, worin sein Auge stand, zu
keiner sichtbaren auf die Wange fallenden Trane vereinigte - und
die geriihrte Beata lieB, ohne oder mit Absicht, ihre Rose abge-
knickt zu Boden zittern : er biickte sich nach ihr lange und lieB
268 DIE UNSICHTBARE LOGE
seine Trane verborgen wegsinken; aber da er ihr die Rose gab
und beide furchtsam die gesenkten Augen auf der Blume ver-
steckten und hefteten und da sie ein herspringender Tropf unter-
brach: so standen plotzlich ihre aufgeschlagnen Augen einander
wie der aufgehende Vollmond der untergehenden Sonne gegen-
iiber und sanken ineinander, und in einem Augenblick unaus-
sprechlicher Zartlichkeit sahen ihre Seelen, daB sie einander -
suchten.
Der springende Tropf war Oefel, der Beatens Arm haben
wollte, sie in den Speisesaal zu fiihren. Jetzt, Leser, trag' ich dir 10
statt lebendiger Rosen (wie unser Seelen-Paar ist) lauter in Butter
gesottene Rosen auf. Sechs- oder siebenundzwanzig Gedecke,
glaub' ich, waren. Ich will hier statt eines Kuchenzettels einen
Passagierzettel der Gaste verfertigen. Erstlich waren am Tische
und im Schlosse zwei keusche Menschen - Beata und Gustav;
welches ein Beweis ist, daB schone Seelen an alien Orten wachsen,
sogar an den hochsteni so lieB der Kaiser Joseph jahrlich einige
Nachtigallen in den Augarten werfen, damit man da was horte.
Nro. 2 war der Furst, der in seinem kurzen Leben mehr Weiber
in der Nahe gesehen als der Ochs Apis, dessen Leben doch so lang 20
war wie das agyptische Alphabet. Er war an dieser Tafel, was er
auf seinen Reisen an mancher table d'hote nicht zu sein vermochte,
der Bruder Redner und der Hauptwind unter 63 andern Neben-
winden. Seine Krone hatten samtliche Damen auf.
.Nro. 3 war sein apanag'ierter Bruder, den der gekronte haBte,
nicht weil er zu viel Volkliebe hatte und verdiente, sondern weil er
einmal todkrank war und nicht starb, sondern von der Apanage
fortlebte. Das Gerippe dieses Bruders wurde den Fursten, wie ein
jedes Gerippe Agypter und Griechen, zu einem freudigern GenuB
des Gastmahls uberredet haben. 30
Nro. 4 war ein Michaelisritter aus Spaa (Herr v. D.), dessen
Ordenstern in Scheerau noch Strahlen abschickte, nachdem er in
Paris Iangst vernichtet war. So sagt Euler, daB ein Fixstern am
Himmel noch wegen seiner Entfernung sein Schimmern fort-
setzen kann, ob er gleich Iangst eingeaschert worden.
Nro. 5 war Cagliostro, der unter so vielen pointierenden Kopfen
DREISSIGSTER SEKTOR 269
das Schicksal der Arzte und Gespenster und Advokaten hatte,
daB seine offentlichen Spotter zugleich seine geheimen Jiinger und
KHenten sind.
Nro. 6 war mein Gerichtherr von Roper, der, weil er mit dem
Fiirsten etwas zu sprechen hatte, dageblieben war. Er war der
einzige im ganzen EBkonvent, der zweierlei tat: erstlich da8 er
alle Weinsortiments des Bousischen Wein-Inventariums sich
reichen lieB, urn von alien Weingutern der Residentin denjenigen
deutlichen oder doch klaren Begriff in seinen Magen zu bringen,
10 worauf die altern Logiken so sehr dringen - iweitens daB er einen
so groBen Wert auf das frikassierte, marinierte etc. Essen legte,
als wenn ers gabe und nicht bekame, und immer hoflicher und
gebiickter wurde, je satter und voller er wurde, gleich einer Wurst,
die sich krummt, wenn man sie fiillet.
Nro.7, 8, 9 waren zwei grobe Regierungrate** und eingrober
Kammerprasident*, wovon die zwei ersten den ganzen Hof ver-
achteten, weil er keine andern Pandekten im Kopfe hatte als tite-
rarische^und der dritte, weil er sich es ausmalte, wie viel Pensionen
und Gagen der ganze Hof ohne die Kammer, d.h. ohne ihn wohl
20 hatte, und samtliche drei, weil sie glaubten, sie hielten den Thron,
ob sie gleich nichts hatten tragen konnen als in Salomons Tempel
das - eherne Meer.
Nro. 10 war die Residentin, die sich nach dem Tone eines jeden
stimmte und doch durch ihren eignen sich von alien Weibern
unterschied - gleich dem Konig Mithridates redete sie die Sprachen
aller ihrer Untertanen.
Nro. 11,12 war eine durchreisende Abtissin und eine verwit-
tibte Fiirstin von**, die ihrem Stande gemaB einsilbig und hau-
tain waren.
30 Nro. 13 war die Defaillante, deren groBte Reize und Anzieh^-
kraft in den kleinen FuBen angebracht waren, wie in den zwei
FiiBen eines armierten Magneten. Der Kopf, ihr zweiter Pol,
stieB ab, was der untere zog.
Nro. 00000 gehen mich nichts an ; es waren alte, in den Schmink-
salpeter eingepokelte Damen-Gesichter, denen aus dem SchifF-
bruch ihres untergesunknen Lebens nichts geblieben war als ein
XJO DIE UNSICHTBARE LOGE
hartes Brett, auf dem sie noch sitzen und herumfahren, namlich
der Spieltisch.
Nro.ooooo gehen mich auch nichts an; es waren eine Garbe
Hofdamen, verschnittene Spaliergewachse an den Tapeten, oder
vielmehr Einfassunggewachse um fruchtbare Beete - sie hatten
Witz, Schonheit, Geschmack und Betragen, und wenn man zur
Fliigeltur hinaus war, hatte mans schon wieder vergessen.
Nro. oooo war eine Kompagnie Hof leute, mit roten und blauen
Ordenbandern durchschnitten, welche an ihnen wie die rote und
blaue Farbe des Spiritus in Thermometern stehen, damit man ihr 10
Steigen besser sehen kbnne - die gleich dem Silber glan\ten und
alles, was sie beriihrten, schwar^ machten - die keinen hohern und
breitern Himmel sich denken konnten als den Thronhimmel und
keinen groBern Tag im Jahr als einen Courtag - die in ihrem Le-
ben weder Vater waren, noch Kinder, noch Ehegatten, noch Brii-
der, sondern bloB Hofleute — die Verstand hatten ohne Grund-
satze, Kenntnisse ohne Glauben daran,Leidenschaften ohne Krafte,
satirisches Gefuhl der Torheiten ohne HaB derselben, GefalHg-
keit ohne Liebe und Freimutigkeit zum SpaB - deren Echtheit
man wie die des Smaragds daran priift, daB sie wie er kalt bleiben, 20
wenn man sie mit dem Munde erwarmen will - und die, die Wahr-
heit zu sagen, der Satan schildern mag und nicht ich....
Oefel war zwischen Beata und die Ohnmachtige eingemauert;
Gustav wars ihnen gegeniiber zwischen zwei kleine witzige Dam-
chen : aber er vergaB die Nachbarschaft seiner Arme iiber die sei-
ner Augen. Aus Oefels Gliedern schossen Witzfunken, als wenn
ihn die Seide, die ihn umlag, elektrisieren halfe. Die Ohnmachtige
war ihrer Lehnherrschaft uber ihn so gewiB, daB sie es fur keinen
Lehnfehler ansah, wenn ihr Lehnmann Beaten, seiner Teller-
Nachbarin, die schonsten Dinge sagte; »Er wird sich« (dachte sie) 30
»argern genug, daB er aus Hoflichkeit nicht anders kann.« Dem
Herrn von Oefel war am Ende nie um etwas anders zu tun als um
den Herrn von Oefel; er lobte, nicht um seine Achtung, sondern
um seinen Witz und Geschmack auszukramen; er unterdriickte
weder Schmeicheleien noch Satiren, wenn sie gut und ungegrun-
det waren; er tadelte die Weiber, weil er beweisen wollte, er er-
DREISSIGSTER SEKTOR 27I
riete sie, und weil er das fur schwer hielt; und ich halte ihn fur
einen Narren.
Drei Bergbohrer setzte er gewohnlich an einem Madchenherzen
an, um eine Liicke darein zu bringen, in die er das SchieBpulver
legte, womit er die vererzte Liebeader aus dem Madchen hervor-
sprengen wollte. Seine erste Miniergrube, die er heute wie allemal
im weiblichen Herzen lud, war bei Beaten, daB er mit ihr lange
von ihrem Anzug sprach - es ist ihnen, behauptete er, einerlei, ob
man von ihren Gliedern oder ihren Kleidern redet; aber ich be-
10 haupte, die HaBliche tragt ihren Anzug als ihre Frucht, die Ko-
kette als die bloBe Gartenleiter oder den Obstbrecher und die Gute
als das Laub def Frucht. Beata trug ihn wie Eva als Laubwerk.
Zweitens stellte er urn Beaten die Schlag- und Garnwande der
Metaphern, um sie darin zu jagen - er behauptete, wie die Mad-
chen das singen, was sie nie sagen wiirden (gleich denen, die zu
stammeln aufhoren, wenn sie zu singen anfangen), so lassen sie
in Bildern und Allegorien alle die Gestandnisse ihres Innern aus
sich winden, die man ihnen mit eigentlichen Worten nie abfochte,
ob es gleich einerlei ware - ich hingegen behaupte, diese taugen
20 nichts und die, die so viel taugen als Beata, konnen nicht mit
Worten gefangen werden, weil ihre Gedanken nie schlimmer sind
als ihre Worte. Freilich aus einem Zimmer (oder Herzen), wo es
innen brennt und raucht, lodert die Flamme aus der ersten OfT-
nung heraus, die du aufmachst.
Seine dritte Behauptung und List war, Manner fuhlten den
Wert des Einfachen und das Erhabene der Aufrkhtigkeit und der
geraden Versicherung »ich habe dich lieb«, aber Madchen wollten
tournure und Feinheit und Umschweife in diese Versicherung,
die turkische Briefstellerei durch gewachsene Blumen war* ihnen
30 lieber als die mit poetischen, eine tatige Schmeichelei lieber als
eine wortliche - ich aber behaupte, daB er recht hat. Daher HeB
er z.B. seine Repetieruhr vor der Ohnmachtigen allemal die
Stunde ihres letzten Rendezvous repetieren, und er geflel ihr un-
endlich; daher sah er eine allemal, wenns zu machen und zu mer-
ken war, schielend hinter dem Riicken im Spiegel an - daher
steckt* er gegen Beaten voll Teufeleien, die ich fast alle nennen
272 DIE UNSICHTBARE LOGE
sollte. Zwei nenn* ich auch. Er erinnerte sich erstlich, daB er sich
zu vergessen und auf ihre Hand die seinige im Feuer des Redens
zu legen habe; darauf stellt* er sich, als besann' er sich, als nahm'
er seiner Hand ein Lot urns andre in der Absicht, sie unvermerkt
wegzuheben, sobald sie mehr nicht woge als ein Fingerglied -
»So handelt« (sagt' er zu sich) »feinere Delikatesse immer; und ich
werd' es sehen, was sie verfangt.« Seine zweite Teufelei war, daB
er in der Spiegelplatte, woran er saB, ihr Gesicht (seinem eignen
gab er statt des Preises nur das Akzessit) anschielte und bewun-
derte, da er doch das Original naher hatte. Eine Schaferin von
Porzellan trieb Schafchen uber den Spiegel : »Ich habe noch keine
schonere Schaferin unter Glas gesehen«, sagt* er doppelsinnig;
»aber ich ein schoneres Schaf«, sagte die Defaillante und meinte
ihn.
Diese Spiegelplatte kam mit ihrer Schaferin, die uber ein ura-
blumtes Ufer in das glaserne Wasser sah, und mit ihrem Lamm
und Schafer fast dem Gustavischen Kindheitspiele nahe. Beatens
Auge verlor sich unwillkurlich zwischen diese Blumen und nahm
ihr Ohr mit sich, in welches der Legationrat vergeblich mit seinem
krieglistigen Witze einzubrechen trachtete. Gustavs Augen such-
ten und mieden nur - Augen, nicht Szenen ; aus dem gesellschaft-
lichen Gewiihl, unter dem seine innern Flugel erlagen, konnt' er
nur durch einen Springstab von auBen in die Hohe. Denn die aus-
genommen, die ihm ahnlich war, ritzten und beizten die andern
alle, die es nicht waren, sein Inneres so sehr mit ihren Tischreden,
daB er nie in grofierer Beklemmung war als heute. Ich will das
fliegende Tischgesprach, das die Tugend betraf, in Gedanken-
strichen abgemarket hersetzen, weil mehre Kopfe daran sprachen,
wie am Bauern-Tischgebet die ganze Familie antiphonierend
betet.
»Man hat keine Tugend, sondern nur Tugenden - Die Weiber
haben sie, die Manner bekriegen sie - Tugend ist nichts als eine
ungewohnliche Hoflichkeit - Tugend ist un peu de pavilion joint
a beaucoup de culasse 1 ; mais le moyen de n'etre que Tun ou que
1 Bekanntlich heiBet an einer Doublette der in der Fassung versteckte
Kiesel oder Bergkristall culasse, und der darauf bluhende Demant pavilion.
30
DREISSIGSTER SEKTOR 273
l'autre ? - Sie ist, wie die Schonheit, uberall anders ; die Kopfe sind
hier spitz, dort breit; so ists mit den Herzen, die darunter sind —
Schonheit und Tugend zanken und lieben sich wie ein Paar
Schwestern, und doch geben sie einander ihren Putz (bezog sich)
- Man denkt nie so gern an die Tugend, als wenn man die Rosen-
madchen in Salency sieht — Sie wird auch an andern Orten ge~
kront (bezog sich wieder) u.s.w.«
Kurz jeder Ton und Blick envies nicht, sondern setzte es scrion
voraus, daB Tugend nichts ware - als der Okonomus des Magens,
10 die Konviktoristin der Sinne, die Offiziantin und Tochter des
Korpers. Der Liebe gings wie der Tugend. »Die Julie des Jean
Jaques« (sagte einer) »ist wie tausend Julien oder wie Jean Jaques
selber: sie beginnt mit Schwarmen, endigt mit Beten - aber das
Fallen ist zwischen beiden.«
Niemand, als wer einmal in Gustavs Lage war, wer einmal das
verheerende Bestiirmen seiner tiefsten Oberzeugung von der Mog-
lichkeit und Gottlichkeit der Tugend in einem Kreise witziger
und entscheidender Leute von Stande erlitt; wen unter solchen
Erschiitterungen, deren jede ein RiB in die Seele ist, sein eignes
20 Unvermogen krankte, solche Tugend- und Heiligen-Sturmer zu
beschamen, geschweige zu bekehren; wen unter diesen Herodes-
Beschimpfungen seiner Heitandin nicht einmal der Stolz auf-
richtete, der zwar gern mit uns auf unserm besondern Zimmer
isset, aber an der table d'hote aus unserem Innern eilt bloB
also wer in solchen Lagen keuchte, kann sich Gustavs Alpdriicken
in der seinigen denken.
Selbst Beatens Angesicht, das die Partei der Tugend und der
Liebe nahm, konnt* ihn nicht gegen jene persiflierenden Frost-
gesichter decken, aus denen, wie aus Gletscher-Spalten bei wech-
30 selnder Witterung, schneidende Winde bliesen und die das Herz
lerphitosophierten und das Gefuhl des eignen Werts zerrissen. In
Gustavs Alter machen die Gustave zwei grundfalsche Schlusse -
sie suchen erstlich unter jeder tugendhaften Zunge ein tugend-
haftes Herz, zweitens aber auch unter jeder schlimmen ein schlim-
mes.
Gustav wurde wenig darnach gefragt haben, daB er nicht viel
274 DIE UNSICHTBARE LOGE
antworten, geschweige fragen konnte, waren ihm nicht zwei
Ohren gegeniiber gesessen, die etwas Bessers wert waren, als was
sie zu horen bekamen. Er glitschte allemal neben der rechten Taste
hinaus und griff Konsonanzen, wo Dissonanzen in der Partitur
geschrieben standen, und umgekehrt. Bald erstaunte er iiber die
fremden freimutigen Lizenzen, bald erstaunten seine Nachbarn
iiber seine; und Witz war' ihm leichter gewesen, als einen Ton zu
treffen, der ihm bald zu kiihn, bald zu feig vorkam. - Das wars aber
nicht eigentlich: sondern sein wichtiger Fehler, der wie ein FuB-
block seine FiiBe hielt, war, 10
daB er logisch richtig dachte. -
Den Fehler haben viele; und ich selber muBte mich viele Vor-
mittage iiben und mit der Seele voltigieren, eh' ich einigermaBen
unzusammenhangend und hiipfend denken konnte nur wie ein
halber Narr. Ich hatt* es am Ende doch zu nichts gebracht, wenn
ich mich nicht zu Weibern in die Schule und auf die Schulbank
gesetzet hatte. Diese denken weit weniger logisch, und wer bei
ihnen den guten Ton nicht erlernt, aus dem ist nichts zu machen -
als ein deutscher Metaphysiker. Antworten sie wohl jemals Ja
oder Nein, statt dessen, was nicht zur Sache gehoret? Drucken sie zo
sich iiber das Wichtigste bedachtsam und mit prozessualischeh
Weitlauftigkeiten aus oder iiber das Frivolste frivol? Horen und
iiben sie Persiflieren ungern, oder legen sie - Ballkoniginnen und
Gouvernanten der bureaux d'esprit freilich ausgenommen — wohl
je den geringsten Akzent, Accent und Wert auf ihre Tisch-,
Nachttisch-, Spiegel- und andre Reden? Oder legen sie einen auf
Wahrheiten? Zum Gliick nimmt diese Feinheit des Tons, die das
Fakultatsiegel und der HandwerkgruB der Weiber ist, mit der
Feinheit der Stoffe zu, die eine umhat. Ein paar kleine deutsche
Stadte, etwa Unterscheerau u. a., miissen sich mir nicht entgegen- 3 o
werfen, wo freilich die dasigen Weiber, die sich lieber Damen
nennen horen, mit nichts Laute von sich geben als mit dem arti-
kulierten Facher und Schlepprock, den Insekten gleich, deren
Stimme nicht aus dem Munde, sondern aus dem schwirrenden
Flugwerk und Bauchtrommelfell hervorsauset.
Viele muten mir zu, diese Ahnlichkeit des weiblichen und des
DREISSIGSTER SEKTOR 275
Hoftons gar hinaus zu beweisen : ich habe ja die Feder in der Hand
und brauche bloB einzutunken. Ein Sopranist im guten Ton (ich
werde des Wohlklangs wegen »Hof- und guter Ton« abwechselnd
gebrauchen) wird stets den Bliti der Wahrheit durch Pointen so
zuzuleiten und zu entkraften wissen, wie den elektrischen durch
Spitien. Der wirkliche Sopranist schneidet aus dem ewigen Zirkel
der Wahrheit bunte Segmente und Bogen aus, die auf nichts han-
gen und ruhen, wie die farbigen herausgeschnittenen Fragmente
des Regenbogens. Er ists, von dem man fordert, daB er wie
10 Spiegelquecksilber alles, was vor ihm voruberrennt, fremde Cha-
raktere und eigne Meinungen, abfarbend abschatte und alles
AuBere zeige und alles Innere berge. Wird es fur einen Weltmann
genug sein - es reiche immer fur einen Gelehrten zu -, wenn er
ein Feld ist, das satirische Dornen umstecken, und miassen diese
nicht vielmehr statt des Raines alle Furchen erfiillen und mehr die
Frucht als der Zaun des Ackers sein? Und wer anders als er und
die Schwefelleber - die sich aber nur auf Metalle einschrankt -
muB alle Heilige und alle Teufel schwari zu prazipitieren wissen?
- Allein Leute, die so hohe Forderungen zu machen wagen, be-
20 denken nicht immer, daB nur ein Latitudinarier und IndifFerentist
aller Wahrheiten sie befriedigen konne, d. h. ein Mann, der ganz-
lich sich uber den Katheder-Eilander erhebt, welcher vielleicht
jahrelang die namlichen Meinungen und Hosen behalt. Nichts
verengert den Tanzplatz des Witzes so sehr, als wenn eigne Mei-
nungen und Wahrheitliebe darin als feste dicke Saulen stehen. - -
Dieses sind eben die Mittel, wodurch Weltleute sbwohl andre
als sich selber im feinsten lacherlichen Lichte darzustellen wissen.
Der Hofmann kann allerdings den deutschen Komodienstellern
vorwerfen, daB sie das attische Salz und das feine Komische, das
30 er stets an seiner Person zu haben weiB, unter ihren Schwielen-
Handen meistens verfliegen lassen. Er, der Hofmann, macht sich
stets auf eine feine, nie niedrige Weise lacherlich und wiirzet mit
einem echten hohen Komischen, das seinem hohen Stande anpaBt,
seine Person leicht; aber er kann fragen: »Studieren mich die
deutschen Tropfe, oder salzet Terenz, den sie studieren, seine
Charaktere so delikat wie ich meinen eigenen?«...
276 DIE UNSICHTBARE LOGE
Ich denke, durch meine Verirrungen nab' ich den Umstand in
meiner Geschichte zureichend motiviert, daB Gustav am Ende,
weil er niederlag unter. so schnell witzigen Damen und unter dem
zu bescheidnen Gefuhle fremder Talente und etwa, weil von ihm
die Residentin durch ihre Gesellschaft und Beata durch ihren Herrn
Vater abgezogen wurde — sich gar fortmachte. Aber drauBen
richtete sich unter dem kiihlenden Nachttau die hangende Blume
erfrischt wieder auf; im stillen Lande ging er vor dem viereckigen
Schimmer, den die Wandleuchter ins Gras herunter warfen, ohne
Sehnen voriiber und drehte sich rund umher, um alle Wande des 10
weiten schwarzgemalten Ballhauses, wo das Schicksal den Sonnen-
Ball in groBe und den Erdball in kleine Kreise wirft, ins Auge zu
nehmen. Als er hier den groBen Schattenrifi des Tages, die Nacht,
wie den einer weggegangnen Freundin, kiihlend und trostend an
seinem Busen hatte: so dachte er, aber ohne Stolz: »0 zu dir,
groBe Natur, will ich allzeit kommen, wenn ich mich unter den
Menschen betriibe; du bist meine alteste Freundin und meine
treueste, und du sollst mich trosten, bis ich aus deinen Armen vor
deine FiiBe falle und keinen Trost mehr brauche.«....
»K6nnen Sie mich nicht berichten, wo hier der junge Herr von 2c
Falkenberg logiert?« redete ein Nachtbote ihn an. Er iiberbrachte
ihm einen Brief, den er eilig im Fixsternlicht der fernen Wand-
leuchter durchlief. Aber sie schienen heute lauter triibe Auftritte
beleuchten zu sollen. Amandus hatte ihm darin auf dem Deck-
bette seines Krankenlagers so geschrieben :
ElNUNDDREISSIGSTER ODER XXIHI.TRINITATIS-SEKTOR
Das Krankenlager - die Mondfinsternis - die Pyramide
»Wenn du wieder mein Freund geworden bist : so gehe zu deinem,
der bald sterben wird. Sonne dich aus mit mir 3 eh* ich in das ewig
stille Land ziehe, wie wir das letztemal taten, eh* wir in das irdische 3<
stille Land hinausgingen. Ach unaussprechlich Geliebter ! ich habe
dich zwar oft beleidigt, aber allezeit geliebt! O komm, lasse nicht
EINUNDDREISSIGSTER SEKTOR 277
den kurzen Atem meiner brechenden Brust, der auf dieser Erde
aus Iauter unerfullten Seufzern bestand, mit dem letzten vergeb-
lichen Seufzer nach dir versiegen. Du sahest mich das erste Mai,
als meine Augen blind waren; sieh mich zum letzten Male, wenn
sie es wieder werden !« -
Dieses Blatt riB ihn in dieser Stunde, wo ihm die Liebe eines
Menschen so wohl tat, aus dem Schlosse fort, aber die Stellen des
Herzens, an denen es ihn anfaBte, bluteten. Ein solcher Gangdurch
die Nacht beugt die Seele nieder, und seinen Freund sah er auf
10 diesem kurzen Wege mehr als zehnmal sterben. Bei jedem Vogel,
den sie aus dem Bette jagten, dacht* er: wie wirst du im Finstern
dein Astchen wiederfinden? - bei jedem zerflieBenden Licht, das
weit von ihm durch die Nacht wandelte, dacht* er: welchen Seuf-
zern, welchen sauern Schritten wird es jetzt den langweiligen Steig
beleuchten? und es war ihm, als sah' er das menschliche Leben
gehen. Es machte ihn nicht frohlicher, als er einige Sonnenwagen,
von einem Sonnenhof aus Fackeln umlegt, die unnutzen Gaste des
Souper, das sie wie er verlieBen, so fliegend heimrollen sah, als
fiihren sie einem sterbenden Freunde entgegen. Endlich wickelte
10 sich die schlummernde Stadt aus den Schatten heraus; das Pharus-
licht des Turmers und einige weit auseinander gesaete Lichter, die
wahrscheinlich die lange Nachteines Kranken triibe und ungeputzt
abmaBen, flelen auf den Trauer-Grund seines Innern.
Leise pochte er am Krankenhause, leise wurde aufgemacht, leise
stieg er hinauf; bloB die Uhr larmte wie ein Trauergelaute ins
stumme Trauerhaus, mit ihren zwolf Schlagen, die er da so oft
gehort. - Ach im Bett litt eine Gestalt, der man alles verzeihen
will und die man noch ein wenig zu lieben und zu erfreuen eilt, eh'
sie sich nicht mehr regt. Nicht das schmutzige eingedorrte Kran-
jo kengesicht, nicht die von Fiebern weggebeizte Lebensfarbe, nicht
die Runzeln der Lippe waren es an Amandus (oder sind es an an-
dern Kranken) * was Gustavs Herz und Hoffnungen zerschnitt,
sondern das schwer gedrehte, aufflackernde, wilde und doch aus-
gebrannte verglasete Krankenauge, in das alle Leiden der vorigen
Nachte und die Nahe der letzten so leserlich geschrieben waren,
Amandus streckte ihm seine Totenhand weit heraus entgegen,
278 DIE UNSICHTBARE LOGE
als ob es moglich ware, daB jemand anders als er sich noch an die
fremde schwarze Farber- oder Totenhand erinnerte, die er ihm
neulich gereicht. Fiir ihn war die Wiedervereinigung siiBer als
fur Gustav, der hinter ihr die lange Trennung warten sah.
Der Morgen und die Freude hielten den Vorhang seines Lebens
ein wenig im Niederfallen auf. Gustav trat als Krankenwarter an
die Stelle der Krankenwarterin, erstlich weil diese alles so gut
* und mit so vielen Umstanden und Randnoten zu machen wuBte,
daB sie noch in seine letzten Minuten Galle schuttete, zweitens
weil es ja in der Stunde, wo die ganze Natur in Gesellschaft des z
Todes mit harten Griffen dem Menschen alien Putz und alle Klei-
dungstiicke abzieht, die sie ihm geliehen, fiir die ohnmachtigen
Freunde, die diese unerbittliche Hand nicht halten konnen, noch
der einzige Trost ist, unter dem Entkleiden, Erfrieren und Ein-
schlafen des Bekannten durch Lacheln, durch unbedingte Ge-
falligkeit gegen alle seine Launen, durch Erfullung seines Eigen-
sinns stille zu sein. - Auf solche Herz- und Liebedienste gegen
arme Sterbende schauet man nach vielen Jahren mit mehr Zu-
friedenheit zurtick als auf die gegen alle Gesunde auf einmal —
und doch sind beide nur urn ein paar Stunden verschieden; denn 2
du steigest nicht oft in deinem Bette aus und ein, so bleibst du
darin Hegen....
Lieber Tod ! ich denke jetzt an mich. Wenn du einmal in meine
Stube trittst; so erweise mir den Gefallen:und schiefie mich an
meinem Secretaire oder Schreibtische Knall und Fall tot; wirf
mich, lieber Tod, nicht hinter die Vorhange aufs Krankenbette
und suche mit deinem Trennmesser langsam jede Ader, um sie
vom Leben loszutrennen, so daB ich dir ganze lange Nachte ins
zergliedernde Gesicht sehen muB oder daB unter deinem langen
Seidenzupfen meines Seelenkleides alles herlauft und gesund zu- 5
schaut, der Rktmeister, der Pestilenziarius und meine gute Schwe-
ster. - Reitet dich aber der Henker, daB du keine Vernunft an-
nimmst: so, lieber Tod - da keine Holle ewig dauert - scher' ich
mich auch nichts darum, um die letzte Schererei nach tausend
Scherereien.
Der Doktor Fenk hatt* in seinem Gesicht nicht die Angstlich-
EINUNDDREISSIGSTER SEKTOR 279
keit vor einem kommenden Verlust, sondern das Trauern xiber
einen dagewesenen; er hielt seinen Sohn fur ein zerschlagenes
Porzellan-GefaB, dessen Scherben man noch in der alten Zusam-
mensetzung auf den Putzschrank stellt und das von dessen klein-
ster Erschutterung auseinanderfallt. Er verbot ihm daher nichts
mehr. Er nahm sogar einige mannliche Patienten an, »weil er zu
Hause einen hatte und sich den Gedanken an ihn wegkurieren
wollte«. Der Kranke selber horte schon den Abendwind seines
Lebens wehen. Vor einigen Wochen glaubte er zwar noch, im
Friihlinge konnt* er den Scheerauer Gesundbrunnen in Lilienbad
trinken, und dann wurd* es schon anders mit ihm werden. (Armer
Kranker! es ist eher anders mit dir geworden.) Allein ein gewisses
Fieberbild, das er nicht entdeckte, sprach ihm sein krankes Leben
ab ; und sein Aberglaube an diesen Traum war so fest, daB er seit-
dem seine Blumenstocke nicht mehr begoB, seine Vogel weggab
und alle Wiinsche ausloschte, bloB den Wunsch nach Gustav
nicht.
Es war am andern Tage gerade Markttag. Dieses Getose hatte
fur seine der Todesstille geweihten Ohren zu viel Leben; und
» Gustav muBte sich an sein Bette setzen, damit er unter dem Spre-
chen und Horen nicht auf den Markt hinunterhorchte. Gustav er-
schrak, als er endlich lebhaft fragte : »ob er Beaten noch liebe.« Er
wjch dem Ja aus; aber Amandus raffte das wenige Leben, das noch
in seinen Nerven warmte, zusammen und sagte, wiewohl in langen
Pausen zwischen jedem Satze : »Ach, nimm ihr dein Herz nicht -
o ! wenn du sie kenntest wie ich - ich war oft bei ihrem Vater -
ich sah, wie sie mit stummer Geduld seine Hitze trug - wie sie die
Fehler ihrer Mutter auf sich nahm - voll Giite, voll Sanftmut, voll
Demut, voll Verstand - so ist sie - ach ohne ihr Bild war* in mei-
> nem Leben wenig Freude gewesen - gib mir die Hand, daB du sie
mehr liebest wie mich.« Er nahm sie selber; aber den Freund
schmerzte das Nehmen.
Plotzlich drangte sich in seine eingesunkenen Wangen-Adern
vielleicht die letzte Schamrote, die oft wie Morgenrote vor einer
guten Tat voreilt: er verlangte seinen Vater her. An diesen tat er
mit so viel Feuer, mit so viel Sehrisucht in Aug' und Lippe die
280 DIE UNSICHTBARE LOGE
Bitte, Beaten herzuholen, die ja einem Sterbenden nicht die
letzte Bitte versagen konne, daB sein Vater es auch nicht konnte;
sondern versprach (trotz dem Gefuhle der Unschicklichkeit), zu
ihrer Mutter zu fahren und durch diese jene herzubereden und
beide zu bringen. - Fenk wuBte, daB in seiner ganzen Krankheit
kein Abschlagen etwas verfing - daB er, wenn er ihn am letzten
vergeblichen Wunsche gestorben sahe, den Gedanken nicht tragen
konne, dem Leichnam die Todesminuten, dieer noch ausschliirfte,
verbittert zu haben — und daB Mutter und Tochter zu gut waren,
um nicht gegen seinen Sohn zu handeln wie er: kurz er fuhr. i
Als der Vater hinaus war, sah der Kranke unsern und seinen
Freund mit einem solchen Strom von lachelnd versprechender
Liebe an, daB Gustav von der treuen muden Seele, deren Scheiden
so nahe war, den langsten Abschied dieses Lebens nehmen wollte:
»Meine Lippen«, dacht' er, »sollen nur noch einmal gedriickt auf
seinen Hegen und meine Brust auf seiner - nur noch einmal will
ich den warmen Leichnam umschlieBen, da noch eine Seele darin
mein Umfassen fuhlt - nur noch einmal will ich seinem weg-
ziehenden Geiste, da ich ihn noch erreiche, nachrufen, wie ich ihn
geliebt habe und lieben werde.« Unter diesen Wiinschen heiligte 20
das schonste Weihwasser des Menschen sein Auge. Aber er unter-
HeB dennoch alles, weil er besorgte, unter diesem Sturm des letzten
Liebens lie Ben die gerissenen Bande des Korpers die bewegte
Seele los und an seinem Munde sturbe der Schwache....
Diese Zartlichkeit, die sich selbst aufopfert und nicht aus der
Nonnenzelle des Herzens tritt, gefallt mir mehr als ein belletristi-
scher und theatralischer Final-Orkan, wo man empfindet, um es
zu weisen, um eine Tranen- und Dinten-Fistel zu haben wie andre,
um von seinen Empfindungen, wie vom Schnupftuch, womitman
sie trocknet, einen Zipfel aus der Tasche herauszuhenken. $c
Der Doktor, von dem man in MauBenbach noch kein betriibtes
Gesicht gesehen, gewann schon durch seine tiberflorte Heiterkeit
seine traurige Bitte. Mein Gerichtherr, der sein angebornes Mit-
leid allez&t gewaltsam dammte, weil es gleich einem Papagei sein
Geld wegtrug, iiberlieB alles dem fremden wohltatigen Tranen-
strom hier desto williger, weil er ihm nichts davonfuhrte als - auf
EINUNDDREISSIGSTER SEKTOR 28 1
eine Stunde Frau und Tochter. Der schlimmere Mensch hat eine
groBere Freude iiber eine sich abgerungene gute Tat als der bes-
sere. Roper schrieb selber an die Tochter seinen Befehl, mitzu-
fahren, und brachte die besten Griinde dafur aus der natiirlichen
und der theologischen Moral kurz bei. Aber der beste Grund,
welchen der Doktor Beaten ins neue SchloB mitbrachte, war ihre
Mutter : ohne sie hatte sie ihre scheuen, politischen und weiblichen
Besorgnisse schwerlich iiberwaltigt.
Sie kamen unter Gebeten in dem Sterbezimmer an, dieser Sa-
10 kristei eines unbekannten Tempels, der nicht auf dieser Erde steht.
Ich fahre fort, obgleich hier so manches meinem Herzen und mei-
ner Sprache zu groB wird .... Als der Kranke die Geliebte seines
sterbenden Herzens sah: so schimmerten seine untergegangnen
Jugendtage mit ihren goldnen Hoffnungen tief unter dem Hori-
zont hinauf wie das Abendrot der Juniussonne gegen Mitternacht,
er driickte dem schonen Leben noch einmal die Hand, vom Hauch
der letzten Freude glimmten noch einmal seine blassen Wangen
an, und der Engel der Freude lieB ihn am Seile der Liebe langsam
ins Grab hinab. - Ein Sterbender sieht die Menschen und ihr Tun
20 schon in einer tiefen Entfernung verkleinert; ihm sind unsre
kleinen Hoflichkeitregeln wenig mehr - alles ist ihm ja nichts
mehr. Er bat, ihn mit Gustav und Beata allein zu lassen; seine
Seele hielt noch den sich niederbeugenden Korper; mit einer ab-
gebrochnen, aber genesenen Stimme redete er das bebende Mad-
chen an : » Beata, ich werde sterben, vielleicht heute Nacht - in
meinen schonern Tagen nab* ich dich geliebt, du hast es nicht
gewuBt - ich gehe mit meiner Liebe in die Ewigkeit - O Gute!
reiche mir deine Hand« (sie tats) »und weine nicht, sondern spreche,
ich habe dich so lange nicht gesehen und nicht gehort - Aber
30 weinet ihr beide nur; euere Tranen machen mich nicht mehr
weich, in meine heiBen Augen kamen, solang ich liege, keine - o
weinet sehr bei mir : wenn man traumt, man wein' auf einen Toten,
so bedeutet es Gewinn. — Ja, ihr zwei schonen Seelen, ihr findet
niemand, der euch gleichen, der euere Liebe verdienen kann, ihr
seid allein - O Beata, auch Gustav liebet dich und sagt es nicht -
Wenn du dein schones Herz noch hast, so gib es ihm, auf der
282 DIE UNSICHTBARE LOGE
ganzen Erde verdient nur ers, gib es ihm - du machest ihn und
mich gliicklich, aber gib mir kein Zeichen, wenn du ihn nicht
lieben kannst.« Jetzt ergriff er noch die Hand Gustavs, dessen
Gefiihle gegeneinander wehende Sturme waren, und sagte mit
aufgerichteten Augen der begluckenden Tugend: »Du unend-
liches giitiges Wesen! das mich zu sich nimmt, schenke diesen
zwei Herzen alle schone Tage, die mir vielleicht hier beschieden
waren — ja nimm sie aus meinem kunfrigen Leben, wenn ich etwa
in diesem keine mehr zu erwarten hatte.« Hier zog der fallende
Korper die fliegende Seele zuriick; ein Tropfen in seinem Auge u
verkiindigte die schwere Erinnerungan seine zertriimmerten Tage ;
drei Herzen bewegten sich heftig; drei Zungen erstarrten; diese
Minute war zu erhaben fur den Gedanken der Liebe - bloB die
Gefiihle der Freundschaft und der andern Welt waren groB genug
fur die groBe Minute....
Ich bin jetzt nicht imstande, von den Folgen der letzten und
von jemand anders zu reden als vom Sterbenden. Seine zuriick-
gespannten Nerven bebten in einem entkraftenden Schlummer
fort. Die erschopfte, betaubte Beata ging mit ihrer Mutter ab.
Gustav sah nichts mehr, kaum jene. Der Vater hatte keinen Trost 2 <
und keinen Troster.
Der Fieberschlummer wahrte fort bis nach Mitternacht. Eine
totale Mondflnsternis hob den Himmel und zog das erschrockne
Auge des Menschen empor. Gustav sah, bewegt und gequalt, naB
zu dem weltenhohen Erdschatten hinauf, der am Monde wie an
einem Silhouettenbrette lag. Er verlieB die Erde, sie wurd' ihm
selber ein Schatten: »Ach!« dacht/ er, »in dieser hohen fliegenden
Schatten-Pyramide werden jetzt tausend roteAugen, wunde Hande
und trostlose Herzen stehen und werden eingegraben, damit
der Tote noch finstrer liege als der Lebendige. - Aber riickt denn 3 <
nicht dieser Schatten-Polyphem (mit einem Mondauge) taglich um
diese Erde herum, und wir bemerken ihn-nur dann, wenn er sich
auf unserem Mond anlegt. . . . Und so denken wir, der Tod komme
nicht eher auf die Erde, als bis er unsern Garten abmahet .... und
doch ist nicht ein Jahrhundert, sondern jede Sekunde seine Sense.«
Auf diese Art betrubte und trostete er sich unter dem beflorten
EINUNDDREISSIGSTER SEKTOR 283
Mond - Amandus wachte angstlich auf; beide waren allein; der
Mond ruhte mit seinem Schimmer auf seinem kranken Auge;
»Wer hat denn den Mond zerschnitten,« (sagt* er sterbheiB), »er
ist tot bis auf ein Schnitzchen.« Auf einmal wurden die Stuben-
decke und die entgegengesetzten Hauser flammend rot, weil die
Leichenfackeln mit einem Edelmann, der auf sein Erbbegrabnis
gefahren wurde, durch die stumme Gasse zogen. »Es brennt, es
brennt«, rief der Sterbende und suchte aus dem Bette zu eilen.
Gustav wollt' ihm verbergen, wie ahnlich ihm der sei, der unten
o zum letzten Male iiber die Gasse ging; aber Amandus, angstlich
als wenn ihn der Tod erdriickte, wankte iiber das halbe Zimmer
in Gustavs Arme eh' er die Leiche sah, legte ihn ein Nerven-
schlag tot in diese Arme —
Gustav trug, so kalt wie der Tote, den Eingeschlafnen aufs ver-
lassene Lager - ohne Trane, ohne Laut, ohne Gedanken setzte er
sich ins verhiillte Mondlicht und ins herflimmernde Leichenlicht -
der starre Freund ohne Bewegung lag ihm gegeniiber - Amandus
war eher als die Mondkugel aus dem Erdsckatten geflogen -
Gustav sah nicht auf den Toten, sondern auf den Mond (in der
o dichtesten Trauerstunde sieht man vom Gegenstande weg auf den
kleinsten hin): »Streife nur hin,« dacht* er, »Schatten der Kugel
aus Staub, du liegst noch iiber mir .... aber ihn erreicht deine
Spitze nicht .... alle Sonnen liegen nackt vor ihm . . . . o Eitelkeit,
o Dunst, o Schatten, wo ich noch bin.« ... Plotzlich schlug die
Flotenuhrein Uhrund spielteeinMorgenlieddesewigenMorgens>
so aufrichtend, so heriibertonend aus Auen iiber dem Mond, so
schmerzenstillend, daB die Tranen, unter denen sein Herz ertrank,
den Schmerzendamm umbrachen und sanftern,wenigertodlichen
Empfindungen ein Bette He Ben . . . . Es war ihm, als lage sein Kor-
o per auch ausgeleert neben dem kalten und seine Seele rloge auf der
breiten, durch alle Sonnen gehendenLichtstraBe der vorausgeeil-
ten nach er sah sie vorausziehen — er sah durch den Dunst
der paar Jahre, die zwischen ihr und ihm selber lagen, deutlich
hindurch —
Und mit seiner Seele im Gesicht trat er aus dem Totenzimmer
in das Zimmer des Vaters und sagte mit irdischer Wehmut im
284 DIE UNSICHTBAHE LOGE
Auge und himmlischer Heiterkeit im Angesicht:»Unser Freund
hat unter der Mondfinsternis ausgekampft und ist dort.«
- Ach sein Leben in seinem wurmstichigen Korper war ja eine
wahre totale Mondfinsternis; sein Austritt aus dem Leben war der
Austritt aus dem Erdschatten und sein Verweilen im Schatten nur
kurz.
Gustav war durch kein Zureden im Trauerhause zu erhalten.
Wenn dem Herzen der Korper zu enge ist : so wird es ihm auch die
Stube. Er ging nach Marienhof. Unter dem blauen Gewolbe, an
dem kristallisierte Sonnentropfen hangen, und unter dem kamp- ic
fenden Monde, der wie er von seiner Beschattung rot gliihte, be-
gegneten ihm Gedanken, die tiber die menschlichen Farben er-
haben sind so wie uber die Erde. Wer in solchen Stunden nicht
die Kahlheit dieses Lebens und das Bedurfnis eines zweiten so le-
bendig funk, daB das Bedurfnis feste Hoffnung wird: mit diesem
streite keiner uber das Hochste unsers tiefen Lebens.
Unter dem Getummel des Sterbetages, der ihn sonst in eine
ganz dunkle Einsamkeit fortgetrieben hatte, ging er doch nach
Marienhof; der Verstorbene hatte ihn gebeten, es zu machen, daB
er sein Winterlager fur seine Gebeine auf dem Eremitenberg be- 2c
kame, den er so oft bestiegen hatte und dessen Erscheinungen uns
bekannt sind. Gustav hofft' es leicht von der Residentin auszu-
wirken, da sie ohnehin selten und nur gewisse Partien des stillen
Landes betrat. Oefel sagte aber - am Morgen, wo er ihn bei seiner
Bitte zu Rat zog, - gerade umgekehrt, wenn ihr um den Park und
dessen bauliche Wtirden zu tun ware : so miiBte sie da etwas recht
gern begraben lassen, weil es den besten englischen Garten an
Toten und wahren Mausoleen so sehr fehlte, daB sie bloB nach-
gemachte Vexier-Mausoleen hatten. Oefel erbot sich, einige Ver-
zierungen in einem Geschmacke, daB sie der Hof goutierte, fur 3 c
das Grabmal zu entwerfen. Gustav war bloB heute zu weich, ihn
heute zum ersten Male zu verachten. Wie ganz anders horte die
Residentin seiner Bitte und gedrangten Stimme zu, ob er gleich
kein Zeichen seines Schmerzes zu geben arbeitete! Wie teil-
nehmend - mit einer Miene, als legte sie leise eine Rose in des
Toten Hand *- schenkte sie dem letzten das Stuckchen Erde zum
EINUNDDREISSIGSTER SEKTOR 285
Ankerplatz! Wie schon begleiteten ihre vollen Augen dieses Ge-
schenk mit dem Geschenk aus ihrem weichen Herzen ! Und als der
fremde Kummer seinem eignen den Sieg wiedergab : mit welchem
schonen Trost - nie ist die weibliche Stimme schoner als im Tro-
sten - bestritt sie ihn! - Er fuhlte hier den Unterschied zwischen
Freundschaft und Liebe lebendig; und er gab ihr die erste ganz.
Er war froh, den Gegenstand der let^ten nicht da zu finden, weil
er die Verlegenheit der ersten Blicke scheuete. Beata lag krank.
Er sperrte sich ein; er machte seine Brust jenem Schmerze auf,
10 der nicht wohltatige blutende Wunden in sie schneidet, sondern
ihr dumpfe Schlage gibt, jenem namlich, der in dem Zwischen-
raum zwischen dem Todes- und dem Begrabnistage bei uns ist.
Der letzte war am Sonntage, wo ich meinen Sektor betrubt bloB
mit Ottomars Briefe ausfullte und wo ich so traurig schloB. Ich
tats gerade in der Stunde, wo der Entschlafne aus dem kleinen
Sterbebette ins groBe Bette aller Menschen getragen wurde, wie
die Mutter die auf Banken entschlummerten Kinder in die groBere
Ruhestatte legt. Sonntags floh Gustav aus dem Schlosse, wo die
larmenden Staatswagen und Bedienten gleichsam uber sein Herz
10 gingen,miteingehulltenSinnenhinauSiErfuhltezum ersten Male,
daB er auf der Erde nicht einheimisch sei, das Sonnenlicht schien
ihm das in unsere Nacht gewebte Dammerlicht eines groBern
Monds zu sein. Ob er gleich jetzo seinem weggeruckten Freunde
sich auf dieser Erde weder nahern noch entziehen konnte : so sagte
sein Schmerz doch, es wurde ihm, wenn er auch nicht den Leich-
nam, nicht den Sarg, sondern nur das Grabes-Beet umfaBte, das
auf diesen Samen einer schonern Erde driickte, es wiirde ihm Tro-
stung werden ; und er stellte sich daher auf einen entfernten Hiigel,
um zu sehen, ob noch Leute auf dem Eremitenberge waren.
10 Sein Auge begegnete gerade dem groBten Jammer, den es an
diesem Abend fur ihn hienieden gab : der durch den Abend hin-
durch blinkende weiBe Sarg wurde herausgehoben - eine ent-
zweifallende Rose, eine durchlocherte Puppe, ein sich ausspannen-
der Schmetterling, der jene als Wurmchen zernagt hatte, waren
auf die Sargpuppe gemalet und kamen mit ihren beiden Urbildern
unter die Erde ~ der kinderlose Vater stutzte sich mit Hand und
286 DIE UNSICHTBARE LOGE
Kopf an die Pyramide und horte hinter seinen verhiillten Augen
jede Erdscholle wie den Flug eines niederbohrenden Pfeiles - der
kalte Nachtwind kam vora Totenberg zu Gustav heruber - Zug-
vogel eilten wie schwarze Punkte uber sein Haupt davon, und der
Naturtrieb, nicht die Landerkunde fuhrte sie durch kalte Wolken
und Ndchte zu einer warmern Sonne - der Mond arbeitete sich
aus einem Blutmeere von Diinsten ohne Strahlen herauf — endlich
verlieBen die Lebendigen den Berg und den Toten - bloB Gustav
blieb auf dem andern Hiigel bei ihm, die Nacht ruhteschwer hin-
gestreckt um beide — Genug! 10
Schenkt mir diese Totengraberszene! Ihr wisset nicht, welche
herbstliche Erinnerungen dabei mein Blut so leichen-langsam
machen wie meine Feder: ach in diese Geschichte schreib* ich
ohnehin ein Blatt, ein Trauerblatt, dessen breiter schwarzer Rand
kaum den Ziigen und Klagen mit Tranen eine weiBe enge Stelle
lasset — ich schenk' euch diese Szene auch ; denn ich weiB auch nicht,
Leser mit dem schonern Herzen, wen ihr schon verloren habt, ich
weiB nicht, welche Hebe dahingegangne Gestalt, deren Grab
schon so eingesunken ist als sie selber, ich gleich einem Traume
wieder auf ihrer Grabplatte in die Hohe richte und eueren tranen- *o
den Augen von neuem zeige, und an wie viel Tote ein einziges
Grab erinnere!
Verschwundner Amandus! in dem. groBen breiten Heer, wel-
ches das Leben dem feindlichen Tod von Jahrhundert zu Jahr-
hundert entgegenschickt, gingest du wenige Schritte mit, er ver-
wundete dich oft und bald; deine Kriegkameraden legten Erde
auf deine groBen Wunden und auf dein Angesicht - sie kampfen
fort j sie werden dich von Jahr zu Jahr unter ihrem Kriege mehr
vergessen - in ihre Augen werden Tranen kommen, aber um dich
keine mehr, sondern um Tote, die erst begraben werden - und 30
wenn deine Lilien-Mumie sich auseinander gebrockelt hat, so
denkt man nicht mehr an dich; bloB der Traum lieset noch deine
in denErdball gemengte Pastell-Gestalt zusammen und schmiicket
mit ihr im graugewordnen Kopfe deines Gustavs seine hinter dem
Leben ruhenden Jugend-Auen,die wiederVenusstern am Himmel
des Leben-Morgens der Morgenstern und am Himmel des Leben-
EINUNDDRE1SSIGSTER SEKTOR
287
Abends der Abendstern sind und flimmern und zittern und die
Sonne ersetzen — Ich mag nicht zu deiner Seelen-Scheide, zum
Leichnam, sagen: Amandus! liege sanft. Du lagst in ihr nicht
sanftj o noch jetzo dauert mich dein unsterblkhes Ich, daB es
mehr in seinem knappen Nervengebaude als im weiten Weltge-
baude leben muBte, daB es den edeln Blick nicht zu Sohnenkugeln
auf heben, sondern auf seine qualenden Blutkiigelchen einkriim-
men und fur die groBe Harmonie des Makrokosmus seltner Wal-
lungen fuhlen als fiir die MiBlaute seines Mikrokosmus! - Die
10 Kette der Notwendigkeit schnitt tief in dich em, nicht bloB ihr
Zug, auch ihr Druck fuhrte dich Narben zu. . . . So jammerlich ist
der Lebendige! Wie konnen von ihm die Toten ein Andenken
verlangen, da er schon, indern er dariiber redet, ermattet
Als nun Gustav zu Hause war, setzte er einen Brief an den
Doktor auf; der ringende Kummer, worin dieser sich an die Py-
ramide gelehnt und gehalten hatte, bewegte ihn unaussprechlich;
und er fiel im Briefe ihm an diese zersplitterte wunde Brust und
mehrte ihre Schmerzen durch seinen Liebedruck, indem er ihn
bat, ihn zum Sohne anzunehmen und sein vaterlicher Freund zu
20 werden.
Mit der hohen Flut der Traurigkeit entschuldige man es, daB
Gustav, der bisher immer die Paroxysmen seiner Empfindungen
zum Besten des andern versteckte, sie hier auf Kosten eines andern
hervorbrechen lieB. Sein Schmerz ging so weit, daB er vom Vater
den Alltagrock und Hut des Seligen statt seines Kniestikkes be-
gehrte; er fiihlte wie ich, daB Alltagkleider die besten Schatten-
risse, Gipsabgiisse und Pasten eines Menschen sind, den man lieb
gehabt und der aus ihnen und dem Korper heraus ist. - Die Ant-
wort des Doktors lautet so :
30 »Ich habe mich oft an die Polster meines medizinischen Wagens
gelehnt und mir vorgestellt und vorgenommen, wenn ich einmal
graue Augenbraunen und Kopfhaare oder gar keine mehr habe -
wenn mir alle Jahrzeiten immer kurzer und alle Nachte darin im-
mer langer vorkommen, welches vor der Annaherung der lang-
sten vorausgeht - wenn ich dann in den ersten Friihlingtagen ins
288 DIE UNSICHTBARE LOGE
stille Land hinausgehe, urn meinen kalten interpolierten Korper
zu sonnen - wenn ich dann auBen die klebenden treibenden Knos-
pen sehe, unter denen ein ganzer Sommer steckt, und in mir innen
das ewige Abblattern und Umbeugen, das kein Erdenfruhling
heilt - wenn ich mich dann doch an meine eigne Jugend erinnere,
an meine Spazier-Gallopaden um Scheerau, an die in Pavia und an
die Leute, die mit mir gingen - wenn ich mich dann naturlicherr
weise nach denen umsehe, die mir vom gefallnen Tempel meiner
Jugend noch als hohe Ruinen stehen geblieben — und wenn mich
dann, weil ich mich umdrehe, um zu schauen, ob keiner aus Wal- to
dern, uber Wiesen, von Bergen an einem so schonen Tage zu mir
gegangen kommt, der Gedanke wie Herzklopfen anfallt, daB nach
alien vier Welt-Ecken, wohin ich mich gedrehet, Gottesacker und
Kirchen liegen, in denen die, die mich jetzo trosten und begleiten
sollen, unter der undurchsichtigen Erdrinde und ihrem Blumen-
werk mit geraden Armen versteckt und gefangen liegen, und daB
bloB ich allein auBen geblieben und den Herbst in meiner Brust
hier im Fruhling herumtrage : so werd* ich gar nicht ins stille Land
gehen, sondern einsam nach Hause gehen und mich einschlieBen
und meinen Kopf auf den Arm mit den Augen legen und wiin- *o
schen, daB mir das Herz breche, so gut wie meinen Bekannten;
ich werde sagen, ich wollt',jes ware vorbei. Dann, geliebter Sohn,
geliebter Freund (der du als der jiingste meiner Freunde mich
schon iiberleben wirst), wird deine Gestalt vor meine satten mii-
den Augen treten, dann werde ich sie auswischen und mich an
alles erinnern, und deine Hand wird mich doch ins stille Land
hinausfuhren, ich werde den Fruhling der Erde so lange genieBen,
als ich ihn besehen kann, und ich werde dir mit driickender Hand
ins Gesicht sagen : es tut mir heute recht wohl, daB ich dich vor
vielen Jahren zum Sohne angenommen.... $c
Morgen will ich kommen, um meinen Freund zu einer Reise
auf die nachsten Tage mitzunehmen, damit wir den vergangnen
aus dem Wege gehen.« - Am andern Morgen geschahs.
ZWEIUNDDREISSIGSTER SEKTOR 289
ZWEIUNDDREISSIGSTER ODER 1 6. NoVEMBER-SEKTOR
Schwindsucht - Leichenrede in der Kirche des stillen Landes - Ottomar
Es ware mir vielleicht auch besser, ich suchte beiden wenigei mit
der Feder nachzukommen als zu FuB. Die Lesewelt kann jetzt an
meinen Sachen kosten und naschen, indes ich der Ostermesse ent-
gegenhuste, weil ich mir an jenen Sachen und am Schreibtisch,
woran ich mich niederkriimme, eine hiibsche vollstandige Hektik
in die zwei Lungenfliigel geschrieben. Das samtliche Publikum
sagt nicht »hab Dank« zu mir, dafi ich mich um meinen gesunden
1 Atem und um meine sedes gedacht und empfunden: es ist fast
alles an mir iu, und es kann wegen der doppelten Sperrordnung
nach entgegengesetzten Richtungen wenig durch mich passieren.
Ich wandele daher hinter den Pflugscharen aller Auenthaler, um
den Broden der Furchen - wie die besten britis.chen Hektiker tun 1
-einzuziehen als Mittel gegen meine Luftsperre und andere Sperre.
Gleichwohl wiirde mich das einfaltige Publikum, in dessen Dienst
ich mich so elend gemacht, auslachen, wenn es mich den Pflug-
Ochsen wie eine Krahe nachschreiten sahe. Ist das Rechtschaffen-
heit? - MuB ich nicht ohnehin alle Nacht zwischen den Armen
I ao von zwei Pudeln schlafen, die ich mit meiner Lungensucht an-
stecken will, wie ein Ehemann von Stande? Bin ich aber dann,
wenn ich die zwei Beischlafer durch Nacht- und Morgengabe mit
meinem Obel dotiert habe, des Malums selber los, oder sagt nicht
vielmehr Herr Nadan de la Richebaudiere, neue Hunde 0106^ ich
kaufen und infizieren, weil eine halbe Hunde-Menagerie zum Aus-
lader eines einzigen Menschen notig ist? So kann ich mein Hono-
rar bloB in Hunden vertun. Ich will den Schaden sogar verschmer-
zen, den meine Rechtschaffenheit dabei leidet, weil ich mich gegen
die armen einsaugenden Hunde, deren Lungenfliigel ich lahmen
1 Die drei Kuren, die ich oben im Texte gegen meine Lungensucht ge-
brauche, hab* ich von drei Volkern: das Nachspazieren in frisch gepflugten
Furchen ratendieEnglander- dasStarken durch eineHunde-Schlafgenossen-
schaft rat ein Franzos (de la Richebaudiere) -das Atmen der Luft in Vieh-
stallen wird schwedischen Hektikern vorgeschrieben.
29° DIE UNSICHTBARE LOGE
und beschneiden will, so freundlich wie GroBe gegen die Opfer
ihrer Rettung stellen muB.
Inzwischen ist doch das noch das verdrufilichste Skandal, daB
ich gegenwartig im - Viehstall schreibe; denn dieser soil auch
(nach neuern schwedischen Buchern) eine Apotheke und einen
Seehafen gegen kurzen Atem abgeben. Meiner wollte sich indes
noch nicht verlangern, ob ich gleich schon drei Trinitatis hier
sitze und drei lange Sektores (gleichsam Josephs-Kinder) am Ge-
burtorte viel diimmerer Wesen in die Welt setze. Man muB selber
an einem solchen Orte der Hektik wegen im juristischen oder t
asthetischen Fache (weil ich beides Belletrist und Rechtskonsulent
bin) gearbeitet haben, um aus Erfahrung zu wissen: daB da oft
die ertragHchsten Einfalle viel starkere Stimmen als die der litera-
rischen und juristischen Richter gegen sich haben und dadurch
zum Henker gehen.
Wahrend Fenk und Gustav mehr Traungkeit als Geld ver-
reiseten, ob sie gleich nicht so lange ausblieben wie alle meine in-
rotulierten Akten: so ging auch Oefel weiter, namlich in seinem
romantischen GroBsultan, und tockierte mit dem groBten Ver-
gniigen den Kummer seines Freundes hinein. Oefel dankte Gott i
fur jedes Ungliick, das in einen Vers ging, und er wunschte zum
Flor der schonen Wissenschaften, Pest, Hun gemot und andre
GraBlichkeiten waren ofter in der Natur, damit der Dichter nach
diesen Modellen arbeiten und groBere Illusion daraus erzielen
konnte, wie schon den Malern, welche gekopfte Leute oder auf-
gesprengte Schiffe malen wollten, mit den Urbildern dazu bei-
gesprungen wurde. So aber muBt' er oft aus Mangel an Akade-
mien selber seine sein und war einmal einen ganzen Tag genotigt,
tugendhafte Regungen zu haben, weil dergleichen in seinem Werk
zu schildern waren - ja oft muBt' er eines einzigen Kapitels wegen ;
mehre Male ins B- gehen, welches ihn verdroB.
Es geht andern Leuten auch so: der Gegenstand der Wissen-
schaft bleibt kein Gegenstand der Empfindung mehr. Die Inju-
rien, bei denen der Mann von Ehre flutet und kocht, sind dem
Juristen ein Beleg, eine Glosse, eine Illustration zu dem Pandek-
ten-Titel von den Injurien. Der Hospital-Arzt repetiert am Bette
ZWEIUNDDREISSIGSTER SEKTOR
291
des Kranken, iiber welchen die Fieberflammen zusammenschla-
gen, ruhig die wenigen Abschnitte aus seiner Klinik, die herpassen.
Der Offizier, der auf dem Schlachtfeld — dem Fleischhacker-
StockderMenschheit-iiberdiezerbrochnenMenschenwegschrei-
tet, denkt bloB an die Evolutionen und Viertel-Schwenkungen
seiner Kadettenschule, die norig waren, ganze Generationen in
physiognomische Fragmente auszuschneiden.Der Bataillenmaler,
der hinter ihm geht, denkt und sieht zwar auf die zerlegten Men-
schen und auf jede daliegende Wunde; aber er will alles fur die
> Diisseldorfer Galerie nachkopieren, und das reine Menschen-Ge-
fuhl dieses Jammers weckt er erst durch sein Schlachtstiick bei
andern und wohl auch bei - sich. - So zieht jede Erkenntnis eine
Stein-Kruste iiber unser Herz, die philosophische nicht allein. -
Beata opferte fast ihre Augen dem Anteil auf, den sie an nie-
mand anderem (wie sie dachte) nahm als an dem Hingeschiednen.
Ihre schweren Blicke waren oft nach dem Eremitenberg gerichtet ;
abends besuchte sie ihn selbst und brachte dem Schlafenden das
Letzte, was die Freundschaft dann noch zu geben hat, im Ober-
maB. So dringen also die Griffe des Ungliicks in weiche Herzen
1 20 am tiefsten; so sind die Tranen, die der Mensch vergieBet, desto
groBer und schneller, je weniger ihm die Erde geben kann und je
hoher er von ihr stent, wie die Wolke, die hoker als andre von der
Erde sich entfernt, die grofiten Tropfen wirft. Nichts richtete
Beaten auf als die Ve^dopplung des Almosens, das sie gewissen
Armen wochentlich oder nach jeder Freude gab ; und der einsame
Umgang mit der Residentin/mit ihrer Laura und den beiden
Gartners-Kindern.
Die zwei Reisenden waren besser daran. Da der Doktor Fenk
die Arzte des Landes ex officio visitierte, weiche Arzneien mach-
I30 ten, nebst den Apothekern, die Repressalien gebrauchten und Re-
lepte machten : so argerte er sich zum Gliick so oft, daB er keine
rechte Stunde hatte, sich zu betriiben; auf diese Weise brachten
Landphyski, die immer auf dem Lande waren (es miiBten denn
gerade Seuchen grassieret haben), und Hebammen,dieinderNot-
taufe die Wiedergeburt junger Nichtchristen noch besser besor-
gen als deren Geburt, und weiche Pharao hatte haben sollen, diese
292 DIE UNSICHTBARE LOGE
brachten den bekiimmerten Pestilenziarius wieder etwas auf die
Beine. Zorn ist ein so herrliches Abfuhrmittel der Betriibnis, daB
Gerichtpersonen, die bei Witwen und Waisen versiegeln und in-
ventieren, diese nicht genug argern konnen ; daher Iegier* ich kiinf-
tig meinen Erben, die mein Tod zu sehr krankt, nichts testamenta-
risch als das Mittel dagegen, Erbosung uber den Seligen.
Beide kehrten endlich unter entgegengesetztem Herzklopfen
wieder zuriick, und ihr Weg fuhrte sie vor Ruhestatt, dem Ritter-
sitze Ottomars, und neben dem verwaiseten Tempel des Parks
vorbei. Der Tempel war aber erleuchtet; es war weit in die Nacht; i<
um den Tempel hing ein summender Bienenschwarm von Jagd-
kleidern, in denen der halbe Hof steckte. Fenk und Gustav drang-
ten sich also durch immer groBere Herren und Pferde hindurch,
gingen wie Kometen vor einem Stern nach dem andern vorbei und
in die Kirche hinein : darin waren ein oder zwei unerwarteteDinge
- der Fiirst und ein Toter; denn das hinten am Altar fechtende
Ding war kein unerwartetes, sondern der Pastor. Gustav und
Fenk hatten sich in den Beichtstuhl gestopft. Gustav konnte sein
Auge kaum vom Fursten reiBen, der mit jenemedeln gleichgiilti-
gen Gesicht, das Leuten von Ton oder aus groBen Stadten und 2 <
Leichenbittern selten mangelt, uber den Toten wegstreifte — der
Furst hatte jenes Herz der GroBen, das ein Petrefakt im guten
Sinne und unter ihren festen Tellen der erste ist und das recht
schon verrat, daB sie sich an die Unsterbliehkeit der Seele halten
und daB sie, wenn sie einen von den Ihrigen begraben lassen,
nicht zu Hause sind. *
Auf einmal Iegte sich der Doktor auf das Pult des Beichtstuhls
nieder und bedeckte das Gesicht; er stand wieder auf und sah mit
einem Auge, das er nicht abtrocknen konnte, nach dem aufge-
deckten Leichnam hin und suchte vergeblich zu sehen. Gustav 3
schauete auch hin, und die Gestalt war ihm bekannt, aber kein
Name, um welchen er vergeblich den sprachlosen Doktor fragte
— endlich nennte der Leichenredner den Namen. Ich brauch* es
nicht erst in Doppelfraktur zu sagen, daB der Tote, auf dem
jetzo so viele harte Augen und ein Paar trostlose ruhten, so aus-
sah wie der Schauspieler Reinecke, dessen edle Bildung nun auch
ZWEIUNDDREISSIGSTER SEKTOR
*93
der schwere Grabstein auseinanderdruckt- ich hab' es nicht notig,
dem Pastor den Namen Ottomar nachzusprechen. Der arme Dok-
tor schien seit einiger Zeit bestimmt zu sein, daB der Schmerz
seine Nerven zu einem Nerven-Prdparat herauslosete und sich
daran iibte. Sonderbar wars, daB Gustav nicht am gestorbenen,
sondern bloB am traurenden Freunde Anteil nahm.
Der gute Medizinalrat kntillte das Gesangbuch, das unter seiner
Hand lag, gewaltsam zusammen; er horte nicht das Abreiten des
Fiirsten, der nur drei Minuten dagewesen, um sich den Toten-
> schein zu holen, aber jedes Wort des Pastors vernahm er, um von
der neuesten Krankheitgeschichte seines Freundes etwas zu er-
fahren; allein er erfuhr nichts als seine Todesart (hitziges Fieber).
Endlich war alles vorbei, *und er ging stumm und zwischen die
Trauerkerzen hineinstarrend auf die Bahre zu, schob, ohne Blick
und Laut, was ihn hindern konnte, weg mit der linken Hand und
zuckte hin nach des Schlafers seiner mit der rechten. Als er end-
lich die Hand, welche Alpen und Jahre von seiner abgerissen hat-
ten, wieder damit umschlossen hielt, ohne doch dem naherzu sein,
nach dem er sich so lange gesehnet, und ohne die Freude*des
■ Wiederfindens : so war sein Schmerz noch dicht, dunkel und warf
sich schwer iiber seine ganze Seele her, ohne eine Gestalt zu haben*
- Aber als er in jener Hand zwei Warzen wiederfand, die er sonst
bei ihrem Druck so oft gefuhlet hatte: so nahm def Schmerz die
Schleiergestalt der Vergangenheit an ; Mailand ging mit den Blii-
ten seiner Weinberge und mit den Gipfeln seiner Kastanien und
mit den schonen Tagen unter beiden voruber und sah traurig die
zwei Menschen an, die nichts mehr hatten - Hier war' er mit den
zwei gieBenden Aiigen auf die zwei ewig trocknen gefallen, wenn
nicht der Leichenmarschall gesagt hatte: »Das tut man nicht gern,
I30 es ist nicht gut.« BloB eine Locke gab ihm das Grab vom ganzen
geraubten Freunde zuriick, eine Locke, die fur das Auge so wenig
und fiir den fiihlenden Finger so viel ist Er schlichtete die Hand,
die den letzten Brief so traurig geschlossen, sanft wieder iiber die
unberiihrte und verlieB seinen Ottomar auf lange.
Er hatte nicht bemerkt, daB des Verstorbnen Spitzhund und
zwei tonsurierte fremde Menschen da waren, wo von der eine sechs
294 DIE UNSICHTBARE LOGE
Finger hatte. - AuBer der Kirche auf dem Wege, dessen eine
Richtung nach dem Ottomarschen SchloB und dessen andre urn
den Eremitenberg lief, sahen Gustav und Fenk einander mit einer
stummen trostlosen Frage an - sie antworteten einander durch
den Abschied. Der Doktor kehrte um und setzte seine Reise fort
- Gustav ging in den Park und dachte unten am FuBe des Ere-
mitenberges dem Schicksale — nicht seines Freundes noch seinem
eignen, sondern dem — aller Menschen nach
Und wann schreib* ich dies? Heute, am i6.November, wo der
Namentag des eingesargten Ottomars ist. -
Dreiunddreissigster oder xxv.Trinitatis-Sektor
Grofie Aloe-Bliiten der Liebe: oder das Grab - der Traum - die Orgel
nebst meinem SchlagfluB, Peizstiefel und Eis-Liripipium
In Gustav riickten die hochsten Lichter aus des Freundes Bild
langsam in das der Geliebten iiber. Jetzt trat erst ihr Gesicht, das
am Totenbette ewige Strahlen in ihn geworfen hatte, aus dem
Zypressen-Schatten vor. Die einsame Pyramide stand erhaben
als Wach-Engel neben dem Begrabnen. Er trug sich hinauf, mit
Schmerzen , aber mit sanftern ; er hatte nun doch den unbeschreib-
lich suBen Trost, den Menschen in der Erde nie gekrankt, und z .
ihm oft verziehen zu haben; er wunschte, Amandus hatte seine
Verzeihung noch ofter veranlasset; sogar dies deckte seinen wun-
den Busen mit warmem Troste zu, daB er jetzt ihn so liebe, so be-
trauere, ungesehen, unbelohnet.
Oben trat er noch in einige Leidens-Dornen, woruber man laut
aufschreiet; aber bald flogen seine Augen sehnend auf der Licht-
Briicke, die von einer Lampe aus Beatens Zimmer iiber den Gar-
ten zum Berg hiniiberlief, gleich andern Phalanen ihren hellen
Fenstern nach. Er sah nichts als bald das Licht, bald einen Kopf,
der es verbauete ; aber diesen Kopf schmiickte er im seinigen scho- $
ner aus als irgendeine Frau den ihrigen. Er legte und lehnte sich,
halb kniend und halb stehend, mit dem Blick gegen den langen
DREIUNDDREISSIGSTER SEKTOR
2 95
Lichtstrom zugewandt, an das Postement der Pyramide an. Mii-
digkeit und schlaflose Nachte hatten seine Tranen-Driisen mit
jenen driickenden und doch reizenden Tranen gefullet, die oft
ohne AnlaB und so bitter und so suB kurz vor Krankheiten oder
nach Ermattungen ausstromen. - Dieselben Ursachen breiteten
zwischen ihn und die auBere Welt gleichsam einen dunkeln Nebel-
tag oder Heerrauch; seine innere Welt hingegen wurde aus einer
Federieichnung ohne seine Anstrengungein gleiBendes Olgematde,
dann ein musivisches, endlich eines in erhobner Arbeit — Welten
10 und Szenen bewegten sich vor ihm auf und ab — endlich schloB
der Traum die ganze nachtliche Au Ben welt mit seinen Augen-
lidern zu und machte hinter ihnen eine neu geschaffne paradiesi-
sche auf; gleich einem Toten lag sein schlummernder Korper
neben einem Grabmal und sein Geist in einer iiber den ganzen
Abgrund hinuberreichenden Himmel-Au. Ich werde den Traum
und sein Ende sogleich erzahlen, wenn ich dem Leser die Person
gezeigt habe, die den Traum zugleich verlangerte und endigte.
Namlich Beata - kam. Sie konnte weder seine Wiederkunft
noch seine letzte Station wissen. Die Nahe des Ottomarschen
20 Leichenbegangnisses, die Entfernung Gustavs, dessen Bild seit
dem letzten Auf tritt tief in und gleichsam durch ihr Herz gepresset
war, und die Entfernung des Sommers, der sein buntes bliihendes
Gemalde taglich um einige Zoll wieder zusammenrollte, alles das
hatte sich in Beatens Brust zu einem driickenden Seufzer gesam-
meltjdendaslaute JagdschloB mit seinen Dunstkreiseneinklemmte
und mit dem sie reinere Atherkreise suchte, um ihn an einem
Grabe auszuhauchen und aus ihm den Stoffzu neuen einzuatmen.
— Schwarmerisches Herz! du treibest mit deinen fieberhaften
Schlagen freilich dein Blut zu reiBend um und spiilest mit deinen
1 3 o Giissen Ufer, Blumen und Leben fort; aber dein Fehler ist doch
schoner, als wenn du mit phlegmatischem Getriebe aus dem
stehenden Wasser des Blutes bloBen Fett-Schlamm anlegtest!
Die Nachtwandlerin fuhr zusammen, da sie den schonen Schla-
fer sah; sie hatte im ganzen Garten, den sie in diesen stillen Minu-
ten durchstrichen hatte, niemand vermutet und gefunden. Er lag
auf einem Knie sanft zusammengesunken; sein blasses Gesicht
296 DIE UNSICHTBARE LOGE
wurde von einem schonen Traum, vom aufgehenden Monde und
von Beatens Auge angestrahlt. Ihr fiel nicht ein, daB er sich viel-
leicht nur schlafend stelle; sie zitterte also um einen halben Schritt
naher, um erstlich gewiB zu sein, wers ware, und um zweitens mit
vollem Auge auf der Gestalt zu ruhen, vor der sie bisher nur vor-
iiberstreichen durfte. Unter dem Anschauen wuBte sie nicht recht,
wann sie es eigentlich endigen sollte. Endlich wandte sie ihrem
Paradiese den Riicken, nachdem sie noch einmal ganz an ihn ge-
treten war; aber unter dem tragen Riickwartsgehen fiel ihr {ohne
Schrecken) ein: »Er wird doch nicht gar tot sein?« Sie kehrte also ic
wieder um und behorchte seine wachsenden Atemzuge. Neben
ihm lagenzwei spitze Steinchen, so groB wie mein DintenfaB;
sie buckte sich \weimal neben ihm nieder (sie wollt' es nicht auf
einmal oder auch mit dem FuBe tun), um sie wegzunehmen, da-
mit er nicht in ihre Spitzen hineinfiele. . . .
Wahrhaftig ein Alphabet oder 23 Bogen solk* ich mit diesem
Auftritt vollzumachen haben; zum Gliick geht er erst recht an,
wenn er erwacht, und der Leser ist heute der gliicklichste Mann —
Sie war nun schon wie ein Veteran vertrauter mit der Gefahr
und war so gewiB, er wiirde nicht erwachen, daB sie aufhorte, es «
zu befurchten, und beinahe anfing, es zu wiinschen. Denn es fiel
ihr ein: »die Nachtluft konnt* ihm schadlich sein.« - Es fiel ihr
ferner ein, wie beide Freunde so erhaben nebeneinander ruhten;
und ihr blaues Auge befreiete sich von einem Tautropfen, von
welchem ich nicht weiB, ging er fur das auBer der Erde pochende
oder fur das in ihr stillstehende Herz herab. Endlich machte sie
ernsthafte Anstalten abzugehen, um iiberhaupt in der Entfernung
ihn durch ein Gerausch zu wecken und um ihren Riihrungen ohne
Furcht seines Erwachens nachzuhangen. Sie wollte bloB noch
bei ihm vorbeigehen (denn 4*/, Schritte stand sie ab), weil sie auf y
der andern Seite des Berges hinunter mufite (sie hatte denn um-
kehren wotlen). Sein Lacheln verkiindigte immer groBere Ent-
ziickungen, und sie war freilich begierig, wie es noch auf seinem
Gesichte ablaufen wiirde, aber sie muBte den lachelnden Traumer
verlassen. Da sie also zwei zogernde Schritte sich ihm genahert
hatte, um sich mehre von ihm zu entfernen : so fing auf einmal die
DREIUNDDREISSIGSTER SEKTOR
297
Orgel der einsamen Kirche von Ruhestatt, wo heute Ottomar be-
graben worden, mitten in der Nacht so ernst und klagend zu gehen
an, als wenn der Tod sie spielte; und Gustavs Angesicht wurde
plotzlich vom Widerschein eines innern Elysiums verklart; und
er richtete sich mit zugeschloBnen Augen auf, erhaschte schnell
die Hand der erstarrenden Beata und sagte schlaftrunken zu ihr:
»0 nimm mich ganz, gluckliche Seele, nun hab* ich dich, geliebte
Beata, auch ich bin tot.«
Der Traum, der mit diesen Worten ausging, war der gewesen :
10 Er sank in eine unabsehliche Aue nieder,die iiber schone, aneinan-
der gestellte Erden hinuberlief. Ein Regenbogen von Sonnen, die
wie zu einer Perlenschnur aneinander gereihet waren, faBte die
Erden ein und drehte sich urn sie. Der Sonnenkreis sank unter-
gehend dem Horizonte zu und auf dem Rande der grofien runden
Flur stand ein Brillanten-Gurtel von tausend roten Sonnen und
der liebende Himmel hatte tausend milde Augen aufgetan. - Haine
und Alleen von Riesen-Blumen, die so hoch wie Baume waren,
durchzogen im durchsichtigen Zickzack die Aue; die hochstam-
mige Rose bewarf diese mit einem goldroten Schatten, die Hya-
20 zinthe mit einem blauen, und die zusammenrinnenden Schatten
von alien bereiften sie mit Silberfarbe. Ein magischer Abend-
schimmer wallete wie ein freudiges Erroten zwischen den Schat-
tenufern und durch die Blumenstamme iiber die Flur, und Gustav
fuhlte, das sei der Abend der Ewigkeit und die Wonne der Ewig-
keit. - Begliickte Seelen tauchten sich, weit von ihm und naher
den weggleitenden Sonnen, in die zusammengehenden Abend-
strahlen und ein gedampftes Jauchzen stand verhallend wie eine
Abendglocke iiber dem himmlischen Arkadien; - nur Gustav lag
verlassen im Silberschatten der Blumen und sehnte sich unend-
jo lich, aber keine jauchzende Seele kam heriiber. Endlich dufteten
in der Luft zwei Leiber in eine diinne Abendwolke auseinander
und das fallende Gewolk entbloBte zwei Geister, Beata und Aman-
dus - dieser wollte jene in Gustavs Arme fuhren, aber er konnte
nicht in den Silberschatten hinein - Gustav wollte ihr in die ihrigen
entgegen fallen, aber er konnte nicht aus dem Silberschatten hin-
aus. - »Ach, du bist nur noch nicht gestorben,« rief Amandus*
298 DIE UNSICHTBARE LOGE
Seele, »aber wenn die Ietzte Sonne hinunter ist: so wird dein
Silberschatten iiber alles flieBen und deine Erde von dir flattern
und du wirst an deine Freundin sinken« - eine Sonne urn die
andre zerging — Beata breitete ihre Arme hernieder — die Ietzte
Sonne versank - ein Orgelton, der Welten und ihre Sarge zer-
zittern konnte, klang wie ein fliegender Himmel heriiber und
losete durch sein weites Beben die Faser-Hiille von ihm ab und
iiber den ausgebreiteten Silberschatten wehte ein Entzucken und
hob ihn empor und er nahm — die wahre Hand von Beata und
sagte, indem er wachte und traumte und nicht sah, die Worte zu 10
ihr: »0 nimm mich ganz, gliickliche Seele, nun nab' ich dich, ge-
liebte Beata, auch ich bin tot.« Ihre Hand hielt er so fest wie der
Gute die Tugend. Ihr versuchtes Loswinden zog ihn endlich aus
seinem Eden und Traum; seine gliicklichen Augen gingen auf und
vertauschten die Himmel; vor ihnen stand erhaben der weiBe,
vom Monde iiberschwemmte Grund und die Aue des Parks und
die tausend zu Sternen verkleinerten Sonnen und die geliebte
Seele, die er vor dem Untergange aller Sonnen nicht erreichen
konnte. - Gustav muBte denken, der Traum sei aus seinem
Schlafe ins Leben iibergezogen und er habe nicht geschlafen; 20
sein Geist konnte die groBen steilen Ideen vor ihm nicht be-
wegen und nicht vereinigen. »In welcher Welt sind wir?« fragte
er Beata, aber in einem erhabnen Tone, der beinahe die Frage be-
antwortete. Seine Hand war mit ihrer ziehenden fest verwachsen.
»Sie sind noch im Traume«, sagte sie sanft und bebend. Dieses Sie
und die Stimme stieB auf einmal seinen Traum in den Hinter-
grund aus der Gegenwart zuriick; aber der Traum hatte ihm die
Gestalt, die an seiner Hand kampfte, Heber und vertrauter ge-
macht und die getraumte Unterredung wirkte in ihm wie eine
wahre und sein Geist war noch eine erhaben-fortbebende Saite, in 30
die ein Engel seine Entziickung gerissen - und da jetzt driiben im
oden Tempel die Orgel durch neues Ertonen die Szene iiber den
irdischen Boden erhob, wo beide Seelen noch waren; da Beatens
Stellung schwankte, ihre Lippe zitterte, ihr Auge brach; - so war
ihm wieder, als wiirde der Traum wahr, als zogen die groBen
Tone ihn und sie aus der Erde weg ins Land der Umarmung hin-
DREIUNDDREISSIGSTER SEKTOR
299
auf, sein Wesen kam an alle seine Grenzen - »Beata«, sagt' er zu
der schonen, an bekampfenden Empfindungen dahinsterbenden
Gestalt,»Beata, wir sterben jetzt - und wenn wir tot sind, so sag'
ich dir meine Liebe und umarme dich — der Tote neben uns ist mir
im Traum erschienen und hat mir wieder deine Hand gegeben.<<
...Sie suchte auf das Grab desselben aufzusinken — aber er hielt
den fallenden Engel in seinen Armen auf- er lieB ihr entschlum-
mertes Haupt unter seines fallen und unter ihrem stockenden
Herzen gliihten die Schlage des seinigen - es war eine erhabne
10 Minute, als er, die Arme um eine schlummernde Seligkeit gelegt,
einsam ansah die auf der Erde schlafende Nacht, einsam anhorte
die allein redende Orgel, einsam wachte im Kreise des Schlafs. . . .
Die erhabne Minute verging, die seligste fing an: Beata erhob
ihr Haupt und zeigte Gustav und dem Himmel auf dem zuriick-
gebognen Angesicht das irre iiberweinte Auge, die erschopfte
Seele, die verklarten Zuge und alles, was die Liebe und die Tu-
gend und die Schonheit in einen Himmel dieser Erde drangen
konnen. — Da kam der uberirdische durch tausend Himmel auf
die Erde fallende Augenblick hier unten an, der Augenblick, wo
20 das menschliche Herz sich zur hochsten Liebe erhebt und fiir zwei
Seelen und zwei Welten schlagt - der Augenblick vereinigte auf
ewig die Lippen, auf denen alle Erdenworte erloschen, die Her-
zen, die mit der schweren Wonne kampften, die verwandten
Seelen, die wie zwei hohe Flammen ineinanderschlugen. . . .
- Begehrt kein Landschaftstiick der bluhenden Welten von
mir, uber welche sie in jenem Augenblicke hinzogen, den kaum
die Empflndung, geschweige die Sprache fasset. Ich konnte eben-
sogut einen SchattenriB von der Sonne geben. - Nach jenem
Augenblicke suchte Beata, deren Korper schon unter einer groBen
30 Trane wie ein Bliimchen unter einem Gewktertropfen umsank,
sich aufs Grab zu setzen; sie bog ihn sanft mit der einen Hand von
sich, indem sie ihm die andre lieB. Hier schloB er seine weite Seele
auf und sagte ihr alles, seine Geschichte und seinen Traum und
seine Kampfe. Nie war ein Mensch aufrichtiger in der Stunde sei-
nes Gliicks als er; nie war die Liebe bidder nach der Minute der
Umarmung als hier. Bei Beaten schwamm, wie allemal, das
300 DIE UNSICHTBARE LOGE
Freudenol diinn auf dem Tranenwasser; ein vor ihr stehendes
Leiden sah sie mit trocknen festen Blicken an, aber kein erinnertes
und keine vor ihr stehende Freude. Sie hatte jetzo kaum den Mut
zu reden, kaum den Mut, sich zu erinnern, kaum den Mut, ent-
ziickt zu sein. Zu ihm hob sie das scheue Auge nur hinauf, wenn
der Mond, der iiber eine durchbrochne Treppe von Wolken stieg,
hinter einem weiBen Wolkchen verschattet stand. Aber als eine
dickere Wolke den Mond-Torso begrub: so endigten beide den
schonsten Tag ihres Lebens, und unter ihrer Trennung fuhlten
sie, daB es fur sie keine andre gebe. — u
Im einsamen Zimmer konnte Beata nicht denken, nicht empfin-
den, nicht sich erinnern; sie erfuhr, was Freudentranen sind; sie
lieB sie stromen, und als sie sie endlich stillen wollte, konnte sie
nicht, und als der Schlaf kam, ihre Augen zu verschlieBen, lagen
sie schon unter himmlischen Tropfen bedeckt. —
Thr unschuldigen Seelen, zu euch kann ich besser wie zu Ver-
storbnen sagen: schlaft sanft! Gemeiniglich gefallen uns, namlich
mir und dem Leser, die Bravour- und Force-Rollen der Roma-
nen-Liebhaber schlecht, weil entweder die eine Person nicht wiir-
dig ist, solche Lichtwolkenbruche der Freude zu gemeBen, oder zc
die andere, sie zu veranlassen; hier aber haben wir beide gegen
nichts etwas. . . . Wollte nur der Himmel, ihr Liebenden, euer lah-
mer Lebensbeschreiber konnte seine Feder zu einem Blanchards-
Fliigel machen und euch damit aus den Grubenzimmerungen und
Grubenwettern des Hofes in irgendeine freie Pappelinsel tragen,
sie sei im Slid- oder im Mktelmeer! - Da ichs nicht kann, so denk*
ich mirs doch; und sooft ich nach Auenthal oder Scheerau gehe,
so zeichne ich mir es aus, wie viel ich euch schenkte, wenn ihr in
jenem Pappel- und Rosental, das ich in Wasser gefasset hatte,
ohne den deutschen Winter, unter ewigen Bliiten, ohne die 30
Schneide-Gesichter der moralischen Febrikanten, ohne ein ge-
fahrlicheres Murmeln als das der Bache, ohne festere Verstrickun-
gen als die in verwachsenen Blumen und ohne den EinfluB harterer
Sterne als der friedlichen am Himmel, in schuldloser Wonne und
Ruhe Atem holen diirftet - nicht zwar immerfort, aber doch die
paar Blumenmonate eurer ersten Liebe hindurch.
DREIUNDDREISSIGSTER SEKTOR
3OI
Das ist aber unmenschlich schwer, und ich bin am wenigsten
der Mann dazu. Ein solches Gliickist schwer zu steigern und eben
darum schwer zu halten. Werde lieber hier ein Wort vom Gliicke
eines schreibseligen Kranklings vorzubringen erlaubt, der doch
auch eines haben will und der eben der Beschreiber der vorigen
Seligkeit selber ist, ich meine namlich ein Wort von meiner kran-
ken Personlichkeit. Vom Kuhstall bin ich wieder herauf und von
der Lungensucht glucklich genesen ; nur der SchlagfluB setzet mir
seitdem mit Symptomen zu und will mich erschlagen wie einen
10 Maulwurf, gerade indem ich, wie letzter seinen Hiigel, so den
babylonischen Turm meines gelehrten Ruhmsaufwerfe. ZumGliick
geb' ich mich gerade mit Hallers groBer und kleiner Physiologie
ab und mit Nikolais materia medica und mit allem Medizinischen,
was ich geborgt bekomme, und kann also mit meinen medizini-
schen Kenntnissen auf den SchlagfluB ein tiichtiges Kartatschen-
feuer geben. Das Feuer mach' ich an meinen FuBen, indem ich das
lange Bein in einen groBen Pelzstiefel wie eine Vorholle setze, und
das zusammengegangne in ein Pelz-Schnurstiefelchen : ich habe
die altesten Mond-Doktores und Pestilenziarien auf meiner Seite,
20 wenn ich mir einbilde, daB ich gleich einem Demokraten durch
diese Stiefel - und ein breites Senfpflaster, womit ich wie mehre
Gelehrte meine FtiBe besohle - die materia peccans aus den obern
Teilen in die niedern heruntertreiben konne. Gleichwohl gen' ich
weiter, wenns gefriert. Ich schabe und kerbe mir namlich eine
hohe Eismutze 1 aus und denke unter der gefrornen Schlafmiitze:
alsdann wirds kein Wunder sein, wenn die Apoplexie und ihre
Halbschwester, die Hemiplexie - durch mich angefallen von oben
und unten, am einen Pol durch den heiBen FuB-Sokkus, am an-
dern durch den Eis-Knauf oder die gefrorne Marterer-Krone —
30 hingeht, wo sie herkam, und mich der Erde schenkt, deren einer
Pol gleichfalls unten Sommer hat, wenn der andre oben Winter.
....Der Leser werfe aber einmal von guten Buchern ein philan-
thropinisches Auge auf uns, deren Verfasser: wir Verfasser stren-
gen uns an und verfertigen Fibeln, Mordpredigten, periodische
1 Ausgehohltes Eis wird bekanntlich auf den Kopf gelegt, wenn Kopf-
schmerzen, Schwindel, Tollheit darin sind.
302 DIE UNSICHTBARE LOGE
Blatter oder Reinigungen, Ausschnitte und andern aufklareriden
Henker; aber unsern Madensack zerzausen und schaben wir ja
dariiber entsetzlich ab - und doch meints kein Teufel ehrlich mit
uns. So steh' ich und die ganze schreibende Innung aufrecht da
und verschieBen gern lange Strahlen fiber die ganze Halbkugel
(denn mehr ist auf einmal von Welt- und andern Kugeln nicht zu
beleuchten, und dem ganzen Amerika fehlen unsre Kiele), indes
wir doch den ersten Christen gleichen, die das Licht, womit sie,
in Pech und Leinwand eingeklemmt, als lebendige Pechfackeln
iiber Neros Garten schienen, zugleich mit ihrem Fett und Leben ic
von sich gaben....
»Und hier« - sagen Romanen-Manufakturisten - »erfolgte ein
Auftritt, den der Leser sich denken, ich aber nicht beschreiben
kann.« Das kommt mir viel zu dumm vor. Ich kann es auch nicht
beschreiben, beschreib' es aber doch. Haben denn solche Autoren
so wenig Rechtschaffenheit, daB sie bei einer Szene, nach der die
Leser schon im voraus geblattert haben, z.B. bei einem Todes-
fall, auf den alle, Eltern und Kinder, lauern wie auf einen Lehn-
fall oder Hangtag, vom Sessel aufspringen und sagen: das macht
selber? Es ist so, als wenn die Schikanedrische Truppe vor den 20
verzerrendsten Auftritten des Lears an die Theater-Kiiste ginge
und das Publikum ersuchte, es mochte sich Lears Gesicht nur
denken, sie ihres Orts konnte es unmoglich nachmachen. - Wahr-
haftig was der Leser denken kann, das kann ja der Autor - beim
vollen Puis aller seiner Krafte - sich noch leichter denken und es
mithin schildern; auch wird des Lesers Phantasie, in deren Spei-
chen einmal die vorhergehenden Auftritte eingegriffen und die sie
in Bewegung gesetzt, leicht in die starkste durch jede Beschrei-
bung des letzten Auftritts hineinzureiBen sein - auBer durch die
jammerliche nicht, daB er nicht zu beschreiben sei. 30
Von mir hingegen sei man versichert, ich mache mich an alles.
Ich redete es daher schon auf der Ostermesse mit meinem Ver-
leger ab, er sollte sich urn einige Pfund Gedankenstriche, um ein
Pfund Frage- und Ausrufungszeichen mehr umtun, damit die
heftigsten Szenen zu setzen waren, weil ich dabei um meinen apo-
plektischen Kopf mich so viel wie nichts bekiimmern wurde.
VIERUNDDREISSIGSTER SEKTOR 3O3
VlERUNDDREISSIGSTER ODER I. AdVENT-SeKTOR
Ottomar - Kirche - Orgel
Am andern Morgen warfein Larm im Schlosse iiber eine Sache,
die der Doktor Fenk um eine Woche spater durch einen Brief von
— Ottomar erfuhr.
- Nie hab' ich einen Sektor oder Sonntag so traurig angefangen
als heute; mein vergehender Korper und der folgende Brief an
Fenk hangen wie ein Hutflor an mir. Ich wollt', ich verstande den
Brief nicht - ach es ware dann eine unvergeBliche November-
» stunde nie in mein Leben getreten, die, nachdem so viele andre
Stunden bei mir vorubergegangen, bei mir stehen bleibt und mich
immerfort ansieht. - Dunkle Stunde ! du streckest deinen Schatten
iiber ganze Jahre aus, du stellest dich so vor mich, daB ich den
phosphoreszierenden Nimbus der Erde hinter dir nicht flimmern
und rauchen sehen kann, die 80 menschlichen Jahre sehen in dei-
nem Schatten wie der Ruck des Sekundenweisers aus - ach nimm
mir nicht so viel! ...Ottomar hatte dieselbe Stunde nach seinem
Begrabnis und beschreibt sie dem Doktor so :
»Ich bin seitdem lebendig begraben worden. Ich habe mit dem
1 20 Tode geredet, und er hat mich versichert, es gebe weiter nichts als
ihn. - Als ich aus meinem Sarg heraus war, so hat er die ganze
Erde dafiir hineingelegt und mein biBchen Freude oben darauf.
...Ach guter Fenk! wie bin ich verandert! Komm nur bald zu-
riick! Seitdem stehen vor mir alle Stunden wie leere Graber hin,
die mich oder meine Freunde auffangen ! Ich hab' es wohl gehort,
wer meine Hand noch einmal am Sarge gedruckt .... komm recht
bald, Teurer!
WeiBt du nicht mehr, wie ich mich von jeher vor dem leben-
digen Begrabnis gefurchtet? Mitten im Einschlafen fuhr ich oft
1 30 auf, weil mir einfiel, ich konnte ohnmachtig und so beerdigt wer-
den und meine aufwollenden Arme triebe dann der Sargdeckel
nieder. Auf Reisen drohte ich iiberall, wo ich kranklich wurde,
304 DIE UNSICHTBARE LOGE
ich wollte ihnen, wenn sie mich innerhalb acht Tagen beisetzten,
als Gespenst erscheinen und auflasten. Diese Furcht war mein
Gluck: sonst hatte mich mein Sarg getotet.
Vor Wochen kam meine alte Krankheit wieder zu mir, das
hitzige Fieber. Ich eilte mit ihr nach meinem Ruhestatt, und mein
erstes Wort zu meinem Hausverwalter - da ich dich nicht haben
konnte — war, mich sogleick, als ich ohne Leben ware, zu beerdi-
gen, weildie Gewolbluft leichter erweckt, abernichts zuzusperren,
weder Sarg noch Erbgruft — die einsame Kirche am Park steht
ohnehin offen. Auch sagt* ich ihm, meinen Spitzhund, der nicht 10
von mir bleibt, uberall mitzulassen. Noch in der Nacht nahm das
Fieber zu; aber beim Blutlassen bricht meine Zuriickerinnerung
ab. Ich weiB bloB noch, dafi ich das Blut mit einigem Schauder
um meinen Arm sich krUmmen sah; und daB ich dachte: >Das ist
das Menschenblut, das uns heilig ist, welches das Kartenhaus und
das Sparrwerk unsers Ichs auskiittet und in welchem die unsicht-
baren Rader unsers Lebens und unserer Triebe gehen.< Dieses
Blut spriitzte nachher an alle Phantasien meiner Fiebernachte; das
eingetauchte All stieg blutrot daraus herauf, und alle Menschen
schienen mir an einem langen Ufer einen Strom zusammenzublu- 20
ten, der uber die Erde hinaus in eine saufende Tiefe hinabsprang —
Gedanken, haBliche Gedanken nickten vor mir grinsend voriiber,
die kein Gesunder kennt, keiner nachschafft, keiner ertragt, und
die bloB liegende Krankenseelen anbellen. Ware kein Schopfer:
so muBt' ich vor den verborgnen Angst-Saiten erzittern, die im
Menschen aufgezogen sind und an denen ein feindseliges Wesen
reiBen konnte. Aber nein! du allgiitiges Wesen! du haltst deine
Hand uber unsre Anlagezur Qualund legest dasErden-Herz, wor-
iiber diese Saiten aufgewunden sind, auseinander, wenn sie zu
heftig beben ! . . . 30
Der Kampf meiner Natur wurde endlich zu einem ohnmachti-
gen Schlummer, aus dem so viele blofi erwachen, um unter der
Erde zu sterben. Darin trug man mich in die einsam stehende
Kirche. Der Furst und mein Spitz waren mit dabei; aber blofi der
erste ging wieder fort. Ich lag vielleicht die halbe Nacht ; bis das
Leben durch mich zuckte. Mein erster Gedanke riB die Seele immer
VIERUNDDREISSIGSTER SEKTOR
305
auseinander. Von ungefahr trat der Hund auf mein Gesicht; plotz-
lich senkte sicheine Beklemmung, wie wenn eine Riesenhand meine
Brust boge, tief auf mich herein, und ein Sargdeckel schien mir
wie ein aufgehobnes Rad iiber mir zu stehen.... Schon die Be-
schreibung schmerzt mich, weil die Moglichkeit der Wiederho-
lung mich angstigt .... Ich stieg aus der sechseckigen Brutzelle des
zweiten Lebens ; der Tod streckte sich vor mir weit hin mit seinen
tausend Gliedern, den Kopfen und Knochen. Ich schien mir unten
im chaotischen Abgrund zu stehen, und oben weit iiber mir zog
10 die Erde mit ihren Lebendigen. Mich ekelte Leben und Tod. Auf
das, was neben mir lag, sogar auf meine Mutter sah ich starr und
kalt wie das Auge des Todes, wenn er ein Leben zerblickt. Ein
rundes Eisengitter in der Kirchenmaucr schnitt aus dern ganzen
Himmel nichts heraus als die schimmernde zerbrochne Scheibe
des Mondes, der als ein himmlisches Sarglicht auf den Sarg, der
die Erde heifiet, herunterhing. Die ode Kirche, dieser vorige
Markt des redenden Gewimmels, stand ausgestorben und unter-
graben von Toten da - die langen Kirchenfenster legten sich, vom
Mond abgeschattet, iiber die Gitterstuhle hinuber - an der Sa-
20 kristei richtete sich das schwarze Toten-Kreuz auf, das Orden-
kreuz des Todes - die Degen und Sporen der Ritter erinnerten
an die zerbrockelten Glieder, die sie und sich nicht mehr beweg-
ten, und der Totenkranz des Sauglings mit falschen Blumen hatte
den armen Saugling hieher begleitet, dem der Tod die Hand ab-
gebrochen, eh' sie wahre pfliicken konnte - steinerne Monche und
Ritter machten das langst verstummte Gebet an der Mauer mit
verwitternden Handen nach - nichts Lebendiges sprach in der
Kirche als der eiserne Gang des Perpendikels der Turmuhr, und
mir war, als hort* ich, wie die Zeit mit schweren FiiBen iiber die
jo Welt schritt und Graber austrat als FuDstapfen...
Ich setzte mich auf eine Altarstufe, um mich lag das Mondlicht
mit triibenden eilenden Wolkenschatten; mein Geist stand hoch:
ich redete das Ich an, das ich noch war: >Was bist du? was sitzt
hier und erinnert sich und hat Qual? - Du, ich, etwas - wo ist denn
das hin, das gefarbte Gewolk, das seit dreiflig Jahren an diesem
Ich voriiberzog und das ich Kindheit, Jugend, Leben hieB? - Mein
3<><5 DIE UNSICHTBARE LOGE
Ich zog durch diesen bemalten Nebel hindurch — ich konnt' ihn
aber nicht erfassen - weit von mir schien er etwas Festes, an mir
versickernde Dufttropfen oder sogenannte Augenblicke - Leben
heiftet also von einem Augenblick (diesem Dunstkugelchen der
Zeit) in den andern tropfen .... Wenn ich nun ware tot geblieben :
so war' also das, was ich jetzo bin, der Zweck gewesen, weswegen
ich fur diese lichtervolle Erde und sie fur mich gebauet war? -
Das ware das Ende der Szenen? - und uber dem Ende hinaus? -
Freude ist vielleicht dort — hier ist keine, weil eine vergangne keine
ist, und unsre Augenblicke verdunnen jede gegenwartige in tausend 10
vergangne - Tugend ist eher hier; sie ist uber die Zeit - Unter mir
schlaft alles; aber ich werd* es auch tun, und wenn ich mir noch
dreiBig Jahre weismache, daB ich lebe, dann legen sie mich doch
wieder hieher - die heutige Nacht kommt wieder - ich bleibe aber
in meinem Sarg: und dann? ...Wenn ich nun drei Augenblicke
hatte, einen zur Geburt, einen zum Leben, einen zum Sterben: zu
was hatt' ich sie denn? wurd' ich sagen — Alles aber, was zwischen
der Zukunft und Vergangenheit steht, ist ein Augenblick - wir
haben alle mir drei.< . . . GroBes Urwesen - ring ich an und wollte
beten du hast die Ewigkeit, ... aber unter dem Gedanken an 20
den, der nichts als Gegenwart ist, erhalt sich kein menschlicher
Geist aufrecht, sondern beugt sich an seine Erde wieder, - >0 ihr
abgeschiedenen Lieben,< dacht* ich, >ihr waret mir nicht zu groB,
erscheinet mir, hebt das Gefuhl der Nichtigkeit von meinem Her-
zen ab und zeigt mir die ewige Brust, die ich lieben, die mich
warmen kann.< Von ungefahr sah ich meinen armen Hund, der
mich anschauete; und dieser ruhrte mich mit seinem noch kiirzern,
noch dumpfern Leben so, daB ich bis zu Tranen weich wurde und
mich nach etwas sehnte, womit ich sie vermehrte und stillte.
Das war die Orgel uber mir. Ich ging zu ihr wie zu einer 30
loschenden Quelle hinauf. Und als ich mit ihren groBen Tonen
die nachtliche Kirche und die tauben Toten erschxitterte und als
der alte Staub um mich flog, der auf ihren stummen Lippen bisher
gelegen war: so zogen alle vergangliche Menschen, die ich geliebt
hatte, nebst ihren verganglichen Szenen voriiber, du kamest und
Mailand und das stille Land; ich erzahlte ihnen mit Orgeltonen,
VIERUNDDREISSIGSTER SEKTOR
307
was zu einer hloBen Erzahlung geworden war, ich liebte sie alle
im Fluge des Lebens noch einmal und wollte vor Liebe an ihnen
sterben und in ihre Hand meine Seele driicken - aber nur Holz-
tasten waren unter meiner driickenden Hand. - Ich schlug immer
wenigere Tone an, die urn mich wie ein ziehender Strudelgingen -
endlich legt' ich das Choralbuch auf einen tiefen Ton und zog die
Balge in einem fort, um nicht den stummen Zwischenraum zwi-
schen den Tonen auszustehen — ein summender Ton stromte
fort, wie wenn er hinter den Fliigeln der Zeit nachginge, er trug
10 alle meine Erinnerungen und Hoffnungen und in seinen Wellen
schwamm mein schlagendes Herz.... Von jeher machte ein fort-
bebender Ton mich traurig.
Ich verlieB meine Auferstehungstatte und sah nach der weiBen
Pyramide des Eremitenberges, wo nichts auferstand und wo das
Leben fester schlief; die Pyramide stand in Mondschimmer ge-
taucht, und mit mir wandelte ein langer Wolkenschatten. Blatter
und Baume krummte der Herbst; iiber die stachlichten Wiesen-
stoppeln wiegte sich die Blume nicht mehr, die im Maule des
Viehs verging; die Schnecke sargte sich in ihr Haus und Bett mit
20 Geifer ein; und als am Morgen sich die Erde mit vollgebluteten
fleckigen Wolken gegen die matte Sonne drehte: so funk* ich,
daB ich meine vorige frohe Erde nicht mehr hatte, sondern daB ich
sie auf immer in der Gruft gelassen, und die Menschen, die ich
wiederfand, schienen mir Leichname, die der Tod hergeliehen und
die das Leben aufrichtet und schiebt, um mit diesen Figuren zu
agieren in Europa, Asia, Afnka und Amerika....
So denk* ich noch. Ich werde auch zeitlebens den Trauer-Ein-
druck von dieser GewiBheit herumtragen, daB ich sterben muB.
Denn das weiB ich erst seit acht Tagen; ob ich mir gleich vorher
30 recht viel auf meine Empfindsamkeit an Sterbebetten, an Theatern
und Leichenkanzeln einbildete. Das Kind begreift keinen Tod,
jede Minute seines spielenden Daseins stellet sich mit ihrem Flim-
mern vor sein kleines Grab. Geschaft- und Freuden-Menschen
begreifen ihn ebensowenig, und es ist unbegreifiich, mit welcher
Kalte tausend Menschen sagen konnen : das Leben ist kurz. Es ist
unbegreifiich, daB man dem betaubten Haufen, dessen Reden ar-
308 DIE UNSICHTBARE LOGE
tikuliertes Scbnarchen ist, das dicke Augenlid nkht aufziehen
kann, wenn man von ihm verlangt: sieh doch durch deine paar
Lebenjahre hindurch bis ans Bett, worin du erliegst - sieh dich
mit der hangenden plumpen Toten-Hand, mit dem bergigen
Kranken-Gesicht, mit dem weiBen Marmor-Auge, hore in deine
jetzige Stunde die zankenden Phantasien der letzten Nacht her-
iiber - diese groBe Nacht, die immer auf dich zuschreitet und die
in jeder Stunde eine Stunde zuriicklegt und dich Ephemere, du
magst dich nun im Strahl der Abendsonne oder in dem der Abend-
Dammerung herumschwingen, gewiB niederschlagt. Aber die 10
beiden Ewigkeiten tiirmen sieh auf beiden Seiten unsrer Erde in
die Hdhe, und wir kriechen und graben in unserem tiefen Hohlweg
fort, dumm, blind, taub, kauend, zappelnd, ohne einen groBern
Gang zu sehen, als den wir mit Kaferkopfen in unsern Kot ackern.
Aber seitdem ists auch mit meinen Planen ein Ende : man kann
hienieden nichts vollenden. Das Leben ist mir so wenig, daB es
fast das Kleinste ist, was ich fur ein Vaterland hingeben kann; ich
trefFe und steige bloB mit einem groBern oder kleinern Gefolge
von Jahren in den Gottesacker ein. Mit der Freude ists aber auch
vorbei; meine starre Hand, die einmal den Tod wie einen Zitter- 20
aal beruhrt hat, reibet den bunten Schmetterlingstaub zu Ieicht
von ihren vier Fliigeln, und ich lasse sie bloB urn mich flattern,
ohne sie zu greifen. BloB Ungluck und Arbeit sind undurchsichtig
genug, daB sie die Zukunft verbauen; und ihr sollt mir will-
kommen in meinem Hause sein, zumal wenn ihr aus einem andern
ausziehet, wo der Mietherr die Freude lieber hineinhat. - O euch,
ihrarmenbleichen,ausErdfarbengemachten Bilder, ihr Menschen,
lieb' und duld' ich nun doppelt; denn wer anders als die Liebe
zieht uns durch das Gefuhl der Unverganglichkeit wieder aus der
Todesasche heraus? Wer sollt' euch euere zwei Dezembertage, 30
die ihr 80 Jahre nennt, noch kalter und kiirzer machen? Ach wir
sind nur zitternde Schatten! Und doch will ein Schatten den an-
dern zerreiBen? -
Jetzo begreif ' ich, warum ein Mensch, ein Konig in seinen alten
Tagen ins Kloster geht: was will er an einem Hofe oder auf einer
Borse machen, wenn die Sinnenwelt vor ihm zuriickweicht und
VIERUNDDREISSIGSTER SEKTOR
309
. alles aussieht wie ein ausgespannter groBer Flor, indes bloB die
hohere zweite Welt mit ihren Strahlen in dieses Schwarz herein-
hangt? So leget der Himmel, wenn man ihn auf hohen Bergen
besieht, sein Blau ab und wird schwarz, weil jenes nicht seine,
sondern unsrer Atmosphare Farbe ist; aber die Sonne ist dann wie
ein brennendes Siegel des Lebens in diese Nacht gedriickt und
flammt fort....
Ich schauete gerade zum Sternenhimmel auf; aber er erhellet
meine Seele nicht mehr wie sonst : seine Sonnen und Erden ver-
10 wittern ja ebenso wie die, wo rein ich zerfalle. Ob eine Minute den
Maden-Zahn, oder ein Jahrtausend den Haifisch-Zahn an eine
Welt setze: das ist einerlei, zermalmt wird sie doch. Nicht bloB
diese Erde ist eitel, sondern alles, das neben ihr durch den Himmel
flieht und das sich nur in der GroBe von ihr trennt. Und du holde
Sonne selber, die du wie eine Mutter, wenn das Kind gute Nacht
nimmt, uns so zartlich ansiehest, wenn uns die Erde wegtragt und
den Vorhang der Nacht um unsre Betten zieht, auch du fallest
einmal in deine Nacht und in dein Bette und brauchst eine Sonne,
um Strahlen zu haben I -
20 Es ist also sonderbar, daB man hohere Sterne oder gar die Pla-
neten und ihre Tochterlander zu Blumenkiibeln macht, in die uns
der Tod steckt, wie etwa der Amerikaner nach dem Tode nach
Europa zu fahren hofft. Die Europaer wiirden seinen Wahn er-
widern und Amerika fiir die Walhalla der Abgeschiednen halten,
wenn nur unsre zweite Halbkugel statt 1000 Meilen etwa 60000,
wie die bekannte des Mondes, entfernt von uns hinge. O mein
Geist begehrt etwas anders als eine aufgewarmte, neu aufgelegte
Erde, eine andre Sattigung, als auf irgendeinem Kot- oder Feuer-
Klumpen des Himmels wachset, ein langeres Leben, als ein zer-
30 brockelnder Wandelstern tragt ; aber ich begreife nichts davon
Komm nur recht bald zu meinem Kopfe, dem du die eine Locke
genommen : solange ich lebe, soil die Seite, an der du den Locken-
raub begangen, zum Andenken, was ich war und werde, ohne
Zierde bleiben. etc. '
Ottomar.«
3IO DIE UNSICHTBARE LOGE
Dichtende Genies sind in der Jugend die Renegaten und Verfolger .
des Geschmacks,spater aber Proselyten und Aposteldesselben,und
den verzerrenden, mikroskopischen und makroskopischen Hohl-
spiegel schleift das Alter zu einem ebnen ab, der die Natur bloB ver-
doppelt, indem er siemalt. So werden die handelnden und empfin-
denden Genies aus Feinden der Grundsatze und aus Sturmern der
Tugend groBere Freunde von beiden,als fehlerlosere Menschen
niemals werden. Ottomar wird einmal die ubertreffen,dieihn jetzo
tadeln konnen. Obrigens werd' ich ihn im Verfolge dieser Viel-
Lebensbeschreibung nicht schelmischbehandeln,sondernehrlich, 10
ob ers gfeich nieht hofft; denn vor seiner Reise, wo ich einigemal in
denheiBenBrennpunkt seiner Fehlergeriet,zerfielenwireinwenig
miteinander : - seitdem glaubt er, ich hass* ihn von Herzen ; allein
ich glaube, ich lieb' ihn von Herzen, nab' aber, wie hundert andre,
eine besondre Freude an meiner verheimlichten leidenden Liebe.
FUNFUNDDREISSIGSTER ODER ANDREAS-SEKTOR
Tage der Liebe - Oefels Liebe - Qttomars SchloB und die Wachsfiguren
Ich tunke heute schon wieder in mein biographisches DintenfaB,
wetl ich nunmehr mit meinem Gebaude bald an die Gegenwart
stofle — am heiligen Weihnachtfeste hofFich nach zu sein — ; ferner 2 o
weil heute Andreastag ist und weil mein Hausherr unter dem Ge-
schrei seiner Kinder einen Birkenbaum in die Stube und in einen
alten Topf eingestellt hat, damit er zu Weihnachten die silbernen
Friichte trage, die man ihm anbindet. Ober so etwas vergess' ich
Gerichttage und Termine.
Gustav wachte am Morgen nach der Liebeerklarung, nicht aus
seinem Schlafe — denn darein konnte nach diesem Konigschufi im
Menschenleben nur ein menschlicher Dachs oder eine Dachsin
fallen -, sondern aus seinem brausenden Freuden-Ohrenklingen
auf. Entziickungen zogen im Ringeltanz um sein inneres Auge, 50
und sein BewuBtsein langte kaum zu seinem GenieBen zu; wel-
cher Morgen! In einem solchen Brautschmuck trat die Erde nie
FUNFUNDDREISSIGSTER SEKTOR
3 II
vor ihn. Es gefiel ihm alles, sogar Oefel, sogar das Oefelsche
Prahlen mit Beatens Liebe. Das Schicksal hatte heute - den Ver-
lust seiner Liebe ausgenommen - keine giftige Spitze, keinen
eiternden Splitter, den er nicht gleichgiiltig in seine von der gan-
zen Seligkeit bewohnte und gespannte Brust eingelassen hatte.
So ersetzt oft die hochste Warme die hochste Kalte oder Apathie;
und unter der Taucherglocke einer heftigen Idee - sei es eine fixe
oder eine leidenschaftliche oder eine wissenschaftliche - stecken
wir beschirmt vor dem ganzen auBern Ozean.
> Beaten gings ebenso. Diese sanfte fortvibrierende Freude war
ein zweites Herz, das ihre Adern fullte, ihre Nerven beseelte und
ihre Wangen ubermalte. Denn die Liebe steht - indes andre Lei-
denschaften nur wie ErdstoBe, wie Blitze an uns fahren - wie ein
stiller durchsichtiger Nachsommertag mit ihrem ganzen Himmel
in der Seele unverriickt. Sie gibt uns einen Vorschmack von der
Seligkeit des Dichters, dessen Brust ein fbrtbliihendes, tonendes,
schimmerndes Paradies umfangt und der hineinsteigen kann, indes
sein auBerer Korper das Eden und sich xiber polnischen Kot, hoi-
landischen Sumpf und siberische Steppen tragt. -
» O ihr Wolliistlinge in Residenzstadten ! wo reicht euch die Ge-
genwart nur eine solche Minute, als hier die Vergangenheit "meinem
Paare ganze Tage vorsetzt; euch, deren harte Herzen vom hoch-
sten Feuer der Liebe, wie der Demant vom Brennspiegel, nur
verfluchtigt, aber nicht geschmob(en werden?
Aber wie Abendrot am Himmel so umherflieBet, daB es die
Wolken des Morgenrots besaumt: so war auf Beatens Wangen
neben dem Rot der Freude auch das der Schamhaftigkeit - wie-
wohl nicht langer, als bis des Geliebten Gestalt, wie ein Engel,
durch ihren Himmel flog. - Beide sehnten sich, einander zu sehen;
30 beide fiirchteten sich, von der Residentin gesehen zu werden; die
Entdeckung und noch mehr die Beurteilung ihrer Empflndungen
hatten sie gern gemieden. Es gibt einen gewissen stechenden Blick,
der weiche Emphndungen (wie der Sonnenblick das Alpen-Tier-
chen Sure) zersetzt und umbringt; die schonste Liebe schlagt ihre
Blumenblatter zusammen vor dem Gegenstande selber; wie sollte
sie den sengenden Hofblick ausdauern?
312 DIE UNSICHTBARE LOGE
Mit Einsicht ergreift hier der Lebensbeschreiber diese Gelegen-
heit, die Ehen der GroBen mit zwei Worten zu loben; denn er
kann sie mit den unschuldigen Blumen vergleichen. Wie Florens
bunte Kinder bedecken GroBe ihre Liebe mit nichts - wie sie
gatten sie sich, ohne sich zu kennen oder zu lieben - wie Blumen
sorgen sie fur ihre Kinder nicht - sondern bruten ihre Nach-
kommen mit der Teilnahme aus, womit es ein Briitofen in Agyp-
ten tut. Ihre Liebe ist sogar eine dem Fenster angefrorne Blume,
die in der Warme zerrinnt. Unter alien chymischen und physio-
logischen Vereinigungen hat also bloB eine unter GroBen das 10
Gute, daB die Personen, die miteinander aufbrausen und Ringe
wechseln, eine entsetzliche Kalte verbreiten: so findet man die
namliche Merkwiirdigkeit und Kalte bloB bei der Vereinigung
des mineralischen Laugensalzes und der Salpetersaure, und Herr
de Morveau sagt aus Einfalt, es fall' auf. —
Da Beata sich so sehr sehnte, ihren und meinen Helden zu sehen :
so - ging sie, um ihren Wunsch zu verfehlen, einige Tage nach
MauBenbach zu ihrer Mutter. Ich will ihr Schirmvogt sein und fur
sie reden. Sie tat es, weil sie ihm niemals anders aufstoflen wollte
als von ungefahr; bei der Residentin aber wars' allemal mit Ab- 20
sicht gewesen. Sie tat es, weil sie sich gern selber krankte und wie
Sokrates den Becher der Freude erst weggoB, eh' sie ihn ansetzte.
Sie tat es, weswegen es selten eine tate - um ihrer Mutter um den
Hals zu fallen und ihr alles zu sagen. Endlich tat sie es auch, um
zu Hause das Portrat Gustavs, das der Alte versteigert hatte, auf-
zusuchen.
Ich erfuhr alles schon am Tage ihrer Riickreise, da ich in Mau-
Benbach als eine ganze adlige Rota anlangte, um eine arme Wirtin
weniger zu bestrafen als zu befragen, weil sie - wie man in der
Pariser Oper fur wichtige Rollen die Spieler doppelt und dreifach 30
in Bereitschaft halt - die erhebliche Rolle ihres Ehemannes anstatt
mit einem Double sogar mit zwolf Leuten aus der Gegend vor-
sichtig besetzt hatte, damit fortgespielet wiirde, sooft er selber
nicht da ware. Und hier war es, wo ich abnehmen konnte, wie
wenig mein Herr Gerichtprinzipal zum Ehebruch geneigt sei,
sondern vielmehr zur Tugend; er war ordentlich froh, daB das
FUNFUNDDREISSIGSTER SEKTOR
313
ganze Floz von eingepfarrten Ehebrechern gerade vor seinem
Ufer vorbeikam und daB er das Werkzeug wurde, womit die
Gerechtigkeit diese geheime Geseltschaft heimsuchte und aus-
wichste. Daher suchte er in der Wirtin wie in Jochers Gelehrten-
Lexikon mit Lust nach den Namen wichtiger Autoren, und sie war
seinem tugendhaften Ohr ein Homer, der die verwundeten Helden
samtlich bei Namen absingt; daher schenkte er ihr aus Mitleiden,
weil sie gar nichts hatte, seine Geldstrafe ganz; aber die ehe-
brechende Union und Truppe wurde unter die Stampfmuhle und
10 in die Kelter gebracht, oder ihr Saugwerke und Pumpenstiefel
angelegt. -
Also in MauBenbach beim Auspressen des ehebrechenden Per-
sonal erzahlte mir die Gerichtprinzipalin, was ihr die Tochter
erzahlet - um mich zu bitten, daB ich als voriger Mentor des Lieb-
habers das Paar auseinanderlenken sollte, weil ihr Mann die Liebe
nicht litte. Ich konnte ihr nicht sagen, daB ich liber der Biographie
vom Paare und ihrer eignen ware und daB die Liebe das Heft-
pflaster und der Tischlerleim sei, der die ganze Lebensbeschrei-
bung und das Paar verkittete, und ohne welchen mein ganzes
20 Buch in Stucken zerfiele, daB ich also die Jenaer Rezensenten be-
leidigen wurde, wenn ich ihm seine Liebe nehmen wollte. - Aber
so viel konnt* ich ihr wohl sagen, es sei unmoglich, denn die Liebe
eines solchen Paars sei feuerfest und wasserdicht. Ich kam ihr mit
meinem Gefuhl ein wenig einfaltig vor; denn sie dachte an ihre
eigne Erfahrung. Ich fiagte verschlagnerweise hinzu : »das Falken-
bergische Haus hefce sich seit einigen Jahren und tue hubsche
Kapitalien aus.« Sie antwortete mir bloB darauf : »zum Gliick er-
fahr' es ihr Mann nie« (denn eine Menge Geheimnisse sagte sie
alien Menschen, aber nicht ihrem Manne) - »denn der habe ihrer
30 Beata schon eine ganz and re Partie zugedacht.« Mehr konnt' ich
nicht erforschen.
- Aber eine hubsche Suppe wird da fur den Helden nicht bloB,
sondern auch fur den Lebensbeschreiber eingebrockt; denn letzter
hat am Ende doch das meiste wegen der Schilderung heftiger Auf-
tritte auszubaden und muB oft an solchen Sturm-Sektoren ganze
Wochen verhusten. Ich wills dem Leser nur aufrichtig voraus-
3 1 4 DIE UNSICHTBARE LOGE
gestehen : ein solcher Schwaden und Sturmwind ist schon am vo-
rigen Freitag iiber das neue SchloB gesauset und am Sonnabend
durch Auenthal und meine Stube gefahren, wo Gustav zerstoret
zu mir kam und bei mir Nachricht einzog, ob die Rittmeisterin von
Falkenberg, die mit ihrer Mitteltinten-Katze meinen ersten Sek-
tor einnimmt und die bekanntlich Gustavs Mutter ist, ob die - sie
wirklich sei . . . . Inzwischen wird doch mutig fortgeschritten; denn
ich weiB auch, daB, wenn ich mein biographisches Eskurial und
Louvre ausgebauet und endlich auf dem Dache mit der Baurede
sitze, ich etwas in die Biicherschranke geliefert habe, dergleichen i
die Welt nicht oft habhaft wird und was freilich vorubergehende
Rezensenten reizen muB, zu sagen : »Tag und Nacht, Sommer und
Winter, auch an Werkeltagen sollte ein solcher Mann schreiben;
wer kann aber wissen, obs keine Dame ist?«
Nun fallet also auf alien nachsten Blattern das Wetterglas von
einem Grad zum andern, eh' der gedrohte Sturmwind empor-
fahrt. Wie Gustav die abwesende Beata Hebte, errat jeder, der
empfunden hat, wie die Liebe nie zartlicher, nie uneigennutziger
ist, als wahrend der Abwesenheit des Gegenstandes. Taglich ging
er zum Grabe des Freundes wie zum heiligenGrabe,an den Ge- 20
bur tort seines Gliicks, mit einem seligen Beben aller Fibern; tag-
lich tat ers um eine halbe Stunde spater, weil der Mond, das ein-
zige offne Auge bei seiner Seelen-Vermahlung, taglich um eine
halbe spater kam. Der Mond war und wird ewig die Sonne der
Liebenden sein, dieser sanfte Dekorationmaler ihrer Szenen : er
schwellet ihre Empfindungen wie die Meere an und hebt auch in
ihren Augen eine Flut. - Herr von Oefel warf den Blick des Be-
obachters auf Gustav und sagte : »Die Residentin hat aus Ihnen
gemacht, was ich aus dem Fraulein von Roper.« Hier rechnete er
meinem Helden die ganze Pathognomikder Liebe vor, dasTrauern, 30
Schweigen, Zerstreuetsein, das er an Beaten wahrgenommen und
woraus er folgerte, ihr Herz sei nicht mehr leer - er sitze drin,
merk* er. Mit Oefeln mochte eine umgehen, wie sie wollte, so
schloB er doch, sie lieb* ihn sterblich. - Gab sie sich scherzend,
erlaubend, zutraulich mit ihm ab, so sagte er ohnehin : »Es ist nichts
gewisser, aber sie sollte mehr an sich halten«; - bediente sie sich
FUNFUNDDREISSIGSTER SEKTOR
3M
des andern Extrems, wiirdigte sie ihn keines Blicks, keines Be-
fehls, hochstens ihres Spottes und versagte sie ihm sogar Kleinig-
keiten, so schwor er: »unter joo Mann woll' er den herausziehen,
den eine liebe: es sei der, den sie allein nicht ansehe.« - Schlug
eine die MittelstraBe der Gleichgultigkeit ein, so bemerkt' er : »die
Weiber wuBtensich so gut zu verstellen, daB sie nur der Satan
oder die Liebe erraten konnte.« Es war ihm unmoglich, so viele
Weiber, die in die Rotunda seines Herzens wollten, darin unter-
zubringen ; daher steckt' er den OberschuB sozusagen in den Hern-
ia beutel, worin das Herz auch hangt, wie in einen Verschlag hinein
- mit andern. Worten, er verlegte den Schauplatz der Liebe vom
Herzen aufs Papier und erfand eine dem Brief- und Papier-Adel
ahnliche Brief- und Papier- Liebe, Ich habe viele solche chiro-
mantische Temperamentblatter von ihm in Handen gehabt, wo
er wie Schmetterlinge bloB auf- poetischen Blumen Liebe treibt
- ganze Rotuln von solchen Madrigalen und anakreontischen Ge-
dichten an Damen, welche (die Madrigale, nicht die Damen) so-
wohl die Siifiigkeit als die Kalte der Geleen haben. So ist der Herr
von Oefel und fast die ganze belletristische Kompagnie.
20 Da man nur vor Leuten, vor denen man nicht rot wird, sich
selber lobt, vor gemeinen, vor Bedienten, vor Weib und Kindern;
und da ers gegen Gustav im Punkte der Liebe tat: so war seine
Eitelkeit einer lauteren Rache wert, als Gustav an ihm nahm;
dieser make sich blofi im stillen vor ? wie gliicklich er sei, daB er,
indes andre sich tauschten oder sich bestrebten, das Herz seiner
Geliebten zu haben, zu sich zuversichtlich sagen konne: »Sie hat
dirs geschenk£.« Aber diese auBergerichtliche Schenkung dem
Nebenbuhler und Botschafter zu notifizieren, oder iiberhaupt je-
manden, das verbot ihm nicht bloB seine Lage, sondern auch sein
30 Charakter; nicht einmal mir erofTnete er sie eher, als bis er mir
ganz andre Dinge zu erofFnen und zu verbergen hatte. - Ich weiB
recht gut, daB diese Diskretion ein Fehler ist, dem neuere Ro-
mane nicht ungeschickt entgegenarbeiten; hat darin ein Roman-
held oder Romanschreiber ein Herz bei einer Romanheldin er-
standen (und das gibt sie so leicht her, als saB' es vorn wie ein
Kropf daran) : so zwingt der Held oder Schreiber (die meistens
316 t DIE UNSICHTBARE LOGE
einer sind) die Heldin, das Herz heraus- und hineinzutun wie der
Stockfisch seinen Magen - ja der Held holet selber das Herz aus
der verhullenden Brust und weiset den eroberten Globus iiber
zwanzig Personen, wie der Operateur ein geschnittenes Gewachs
- handhabt den Ball wie eine Lorenzodose - fuhrt ihn ab wie einen
Stockknopf und versteckt das fremde Herz so wenig wie das
eigne. Ich gesteh' es, daB die Ziige solcher Gottinnen von den
Schreibern aus keinen schlechtern Modellen zusammengetragen
sein konnen, als die waren, wornach die griechischen Kiinstler
ihre Gottinnen oder die romischen Maler ihre Madonnen zusam- 10
menschufen, und man mtiBte wenig Weltkenntnis haben, wenn
man nicht sahe, daB die Fiirstinnen, Herzoginnen etc. in unsern
Romanen sicher nicht so gut getroffen waren, wenn nicht dem
Autor an ihrer Stelle Stuben- und noch andere Madchen gesessen
hatten; und so, indem sich der Verfasser zum Herzog und sein
Madchen zur Fiirstin machte, war der Roman fertig und seine
Liebe verewigt, wie die der Spinnen, die man gleichfalls in Bern-
stein gepaaret und verewigt antrifft. Ich sage dies alles, nicht um
meinen Gustav zu rechtfertigen, sondern nur zu entschuldigen;
denn diese Romanschreiber sollten doch auch bedenken, daB die *o
angenehme Sittenroheit, deren Mangel ich an ihm vergeblich zu
bedecken suche, auch bei ihnen fehlen wurde, wenn sie so wie er
mehr durch Erziehung, Umgang, zu feines Ehrgefuhl und Lek-
tiire (z.B. Richardsons) waren verdorben worden.
Ich schame mich, daB Gustav eine solche Ignoranz in der Liebe
hatte, daB er in einigen der besten Romanen nachsehen wollte, ob
er jetzt einen Liebebrief an Beata zu schreiben har^e - ja daB ihre
Abwesenheit ihn in Sorgen wegen ihrer Gesinnung und in Ver-
legenheit iiber sein Betragen setzte. Aber die Starke der Gefiihle
macht so gut die Zunge arm und schwer als der Man^e/derselben. 30
Zum Gliick hiipfte ihm oft die kleine Laura - nicht im Park (denn
nichts macht mehr Dinteh- und Kaffeekleckse auf eine schone
Haut als die schone Natur), sondern unter vier Mauern - ent-
gegen, und die Schiilerin ersetzte die Lehrerin.
Aber eine auferstandene hohere Gestalt betrat jetzo das Land
seiner Liebe. Ottomar, von dessen beidlebigem Korper - als
FUNFUNDDREISSIGSTER SEKTOR
317
Amphibium zweier Welten - bisher so viel Redens in Vorzim-
mern gewesen, trat damit selber im Zimmer der Residentin auf.
Sein erstes Wort zu dieser war: »sie mog* ihm verzeihen, daB er
nicht eher in ihrem Vorzimmer erschienen — er ware beerdigt
worden und hatte nicht eher gekonnt. Aber er sei der erste, der
nach dem Tode so bald ins Elysium« (hier sah er schmeichelhaft
an den Landschaftstiicken der Tapeten herum) »und zu den Got-
tern kame.« Das war bloB satirische Bosheit. Bekanntlich ists
schon ein bewahrter Paragraph in der Asthetik aller Elegants, daB
, sie - und ist mein Bruder in Lyon anders? - den Schmeicheleien,
die sie den Weibern sagen rmissen, den Ton und die Miene der
Aufrichtigkeit vollig zu benehmen haben, v. omit die antiken
Stutzer sonst ihre Fleuretten versahen. In diese Spott-Schmeiche-
leien kleidete er seinen Unmut uber Weiber und Hofe. Die
Weiber brachten ihn auf, weil sie — wie er glaubte - in der Liebe
nichts suchten als die Liebe 1 , indes der Mann damit noch hohere,
religiose, ehrgeizige Empfindungen zu verschmelzen wisse - weil
ihre Regungen nur Eilboten und jede weibliche Hitze nur eine
fliegende ware und weil sie, wenn Christus selber vor ihnen do-
» zierte, mitten aus den groBten Ruhrungen auf seine Weste und
seine Striimpfe gucken wiirden. Die Hofe erzurnten ihn durch
ihre Gefuhllosigkeit, durch seinen Bruder, durch den Volkdruck,
dessen Anblick ihn mit uniiberwindlichen Schmerzen erfullte.
Daher war seine Reisebeschreibung anderer Lander eine Satire
seines eignen, und wie die franzosischen Schriftsteller unter den
Sultanen und Bonzen des Orients einige Zeit die des Okzidents
abmalten und abstraften: so war in seinen Erzahlungen der Suden
der Lehntrager und Pasquino des Nordens. Die sanfte Menschen-
Duldung, die er sich in seinem letzten Briefevorgesetzt, hielt er
* nicht langer, als bis er ihn gestippt und gesiegelt hatte - oder so-
lang* er spazieren ging - oder wahrend der sanften Nerven-Herab-
schraubung nach einem Weinrausch. Auch war ihm wenig daran
1 Desto schoner, antwortet ihm die Note zur zweiten Auf lage, daB sie sich
die Empfindung der Liebe rein und dadurch allmachtig erhalten; andere
Empfindungen schwimmen darin, aber aufgelost und undurchsichtig; beiden
Mannern stehen jene blofi neben ihr und selbstandig.
318 DIE UNSICHTBARE LOGE
gelegen, von denen geachtet zu werden, die er selber nicht achtete ;
mitten unter groBen philosophischen, republikanischen Ideen
oder Idealen wurden ihm die Kleinigkeiten der Gegenwart un-
sichtbar und verachtlich, jetzt zumal, wo die kunftige Welt oder
die kiinftigen Welten die diinne verfinsterte, auf der er.nach jenen
hinsah, wie man durch das geschwarzte Sehrohr keinen Gegen-
stand erblickt als die Sonne. So brachte er z.B. funf groteske Mi-
nuten bei der Residentin damit zu, daB er - da den eigentlichen
Korper der Seele nur Gehirn und Ruckenmark und Nerven aus-
machen - den vernunftigsten Hofdamen und den schonsten Hof- 10
herrn die Haut abschund in Gedanken, ihnen ferner die Knochen
herauszog und das wenige Fleisch und Gedarm, was sie umlag,
wegdachte, bis nichts mehr auf der Ottomane saB als ein Mark-
Schwanz mit einem Gehirn-Knauf oben dran. Darauf lieB er diese
umgekehrten Kloppel oder aufgerichteten Schwanze gegeneinan-
der anlaufen und agieren und Fleuretten sagenund lachteinnerlich
iiber die gescheitestenLeute von Geburt, die er selber skalpiert und
abgeschuppet hatte. Das nennen viele dasphilosophische Pasquill.
Aus dem neuen SchloB eilt* er ins alte zu Gustav, der ihn zu
fiiehen schien. Aber auf welche Art er mit Gustav schon langst be- 20
kannt geworden, wie er ihm den ersten Brief geben konnen, war-
urn er wie Gustav (noch jetzt) sich an einen unbekannten'Ort
regelmaBig verfiigte, warum er von ihm geflohen wurde, und was
sie miteinander im alten Schlosse fur ein dreistiindiges Gesprach
gehalten, das sich mit der warmsten Liebe in beiden Herzen
schloB - dariiber deckt sich noch ein langer Schleier, den meine
MutmaBungen nicht aufheben konnen; denn ich habe allerdings
verschiedene, aber sie klingen so auBerordentlich, daB ichs nicht
wage, sie dem Publikum eher vorzulegen, als bis ich sie besser
rechtfertigen kann. JedeAder,jederGedankeundHerzundAuge 30
wurden in Gustav weiter und vergroBerten sich fiir eine neue
Welt, da er mit dem genialen Menschen sprach. O was sind die
Stunden der seelenverwandtesten Lektiire, selbst die Stunden der
einsamen Emporhebung, gegen eine Stunde, wo eine groBe Seele
lebendig auf dich wirkt und durch ihre Gegenwart deine Seele und
deine Ideale verdoppelt und deine Gedanken verkorpert? -
FUNFUNDDREISSIGSTER SEKTOR
319
Gustav nahm sich vor, sich aus dem Schlosse zu Ottomar zu
begeben, urn es zu vergessen, wer noch weiter darin fehle. Es war
ein stummer ausgewolkter Abend, ein Schatte nicht des schon weit
weggezognen Sommers, sondern des Nachsommers, als Gustav
aufbrach, nachdem er vergeblich auf die Ruckkehr und Gesell-
schaft des Doktors gewartet hatte. In der leeren Luft, durch die
keine gefiederteTone, keine klopfende Herzenmehr flogen, zeigte
sich nichts Lebendiges als die ewige Sonne, die kein Erdenherbst
bleicht und fallet und die ewig ofFen unsern Erdball immerfort
10 ansieht, indes unter ihr tausend Augen sich offnen und tausend
sich schlieBen. An einem solchen Abend springt der Verband von
alten Wunden auf, die wir in uns tragen. Gustav kam still im
Dorfe an ; am Eingange des Gartens, der das Ottomarsche Schlofi
halb umlief, stand ein Knabe, der die erhabene Melodie eines er-
habenen Lieds 1 auf einer Drehorgel dem Gehor eines Kanarien-
vogels vordrehte, der sie singen lernen sollte. »Ich krieg' schon
viel, wenn ers pfeifen kann«, sagte der winzige Organist. An einen
Baum gelehnt stand Ottomar der weiten Abendrote und diesen
Abendtonen gegeniiber; die Sonne auBer ihm ging, hinter einer
ao bleifarbenen groBen Wolke in ihm, unter. Gustav muBte, eh* er
ihn erreichte, vor einer dichten Nische und einem alten Gartner
darin vorbei, an welchem ihn zweierlei wunderte, daB er ihm erst-
lich mit keinem Worte fur seinen Gutenabend dankte, und zwei-
tens, daB so ein alter verniinftiger Mann ein Kindergartchen auf
dem SchoBe hatte und besah. Durch die Laube nahm er an einer
Sonnenuhr eine Erhohung wie ein Kindergrab und einen Regen-
bogen von Blumen wahr, der es umbliihte und iiberlaubte; auf
der Erhohung lagen die Kleider eines Kindes so geordnet, als war'
etwas darin und hatte sie an. Ottomar empfing ihn mit einer Sanft-
30 heit, die man nur in heftigen Charakteren in so unwiderstehlichem
Grade flndet, und sagte mit leiser Stimme : »er feiere den Todes-
tag aller Jahrszeiten, und heute ware des Nachsommers seiner.«
Sie kamen, indem sie ins SchloB gingen, vor dem Gartner vorbei,
1 »Jungling, den Bach der Zeit hinab schau' ich, in das Wellengrab des
Lebens, hier versank es etc.« Der Anfang heiBet eigentlich: »>Traurig ein
Wandrer saB am Bach, sah den fliehenden Wellen nach.« Volkslieder.
320 DIE UNSICHTBARE LOGE
und er nahm den Hut nicht ab - ferner vor dem leeren Kleid auf
dem Grab, und es lag noch unter den Blumen, und vor dem Kla-
vieristen, der noch das Lied spielte: »Jiingling, den Bach der Zeit
etc.« Da wir das Feierliche nur in Buchern, selten im Leben fin-
den : so wirkt es im letzten nachher desto starker.
Man muB noch merken, daB in Ottomar der Ausdruck der
starksten Gefuhle durch eine gewisse Sanftheit, womit sein Welt-
umgang und sein Alter sie brach, unwiderstehlich in den stillen
Strudel zog. Er offnete - Kinder waren die Lakaien - ein Zimmer
des dritten Stockwerks. Die Hauptsache waren nicht darin die ic
Gemalde mit schwarzen Griinden und weiBen Sargen, oder die
Worte iiber den Sargen : »Darin ist mein Vater, darin meine Mut-
ter, darin meine Friihlinge«, - auch der sehr groBe gemalte Sarg
nicht, woriiber stand: »Darin Hegen sechs Jahrtausende mit alien
ihren Menschen.« - Sondern das Wichtigste war das Ungemalte,
wovor sich Gustav tief buckte : eine schone Frau, die sich zu einem
unserm Gustav fast ahnlichen Kinde herabneigte, weil es ihr et-
was leise sagen wollte; ferner biickt' er sich vor einem alten Offl-
zier in Uniform, der eine zerrissene Landkarte, und vor einem
schonen jungen Italiener, der ein fliegendes Stammbuch hielt. 10
Das Kind hatte einen VergiBmeinnicht-Straufi auf der Brust, die
Frau und die zwei Manner hatten einen schwarzen StrauB. Aber
was noch mehr ihn uberraschte, war der Doktor Fenk am Fen-
ster, mit einer Rose an der Brust. —
Gustav eilte ihm zu; aber Ottomar hielt ihn. »Es ist alles von
Wachs«, sagt' er, nicht mit einem kalten, gegen das Schicksal er-
bitterten Ton, sondern mit einem ergebenen. »Alles, was mir in
meinem Leben Liebe und Freude gab, steht und bleibt in diesem
Zimmer - wer gestorben ist, dem gab ich schwarze Blumen - bei
meinem verlornen Kinde weiB ichs noch nicht, und seine Kleider 5 o
liegen drauBen im Garten O wem Gott Ruhe in den Busen
schickt, daB sie das nackte Herz umwickele und seine Zuckungen
besanftige, dem ist so wohl wie denen, die er betrauert - er tut
sanft und fest sein Auge auf, wenn ihm das Schicksal holde Ge-
stalten zuschickt, und wenn sie wieder gehen und graBliche heran-
fahren, so schlieBt ers ruhig wieder zu.«
FUNFUNDDREISSIGSTER SEKTOR
3 2I
O Ottomarl das kannst du nicht, bevor deine wogenden Krafte
am Alter sich gebrochen haben! Mach immer dein Herz drei Tage
lang fur die Ruhe weit ; am vierten zieht es der Krampf der Freude
oder des Schmerzens zusammen und driickt sie tot!
Manche Menschen konnen ohne Schauder keine Wachsfiguren
sehen: Gustav gehorte darunter; er nahm Ottomars Hand, urn
sich gleichsam ans Leben zu klammern gegen so viel Spiele und
Nachaffungen des Todes — Plotzlich larmt etwas durch das stille
SchloB... die Treppen herauf, ins Zimmer hinein . . . an Ottomars
> Hals hinan .... Fenk wars, der ihn hier nach der Auferstehung
von Toten zum ersten Male umfing und dem unter der engen Um-
armung keine Entfernung von dem, zwischen welchem und ihm
sich Lander und Jahre und Tod gelegt hatten, klein genug zu sein
vermochte. Gustav, noch an der Hand Ottomars, wurde in den
Bund der Liebe mit hineingeschlungen, und ware der Tod selber
vorbeigegangen, er hatte seine kalte Sichel nicht durch drei eng,
sprachlos und warm verkniipfte Herzen gedrangt. — »Rede, Otto-
mar,« sagte der Doktor, »das letztemal war.st du stumm.« — Otto-
mars Ruhe war nun zergangen: »Auch die (die Wachsfiguren)
> reden ewig nimmer« (sagt* er mit zerdruckter Stimme) - »sie sind
nicht einmal bei uns - wir selber sind nicht beisammen - Fleisch-
und Bein-Gitter stehen zwischen den Menschen-Seelen, und doch
kann der Mensch wahnen, es gebe auf der Erde eine Umarmung,
da nur Gitter zusammen sto Ben und hinter ihnen die eine Seele
die andre nur denkth
Alle wurden still - die Abendglocke sprach iiber das schwei-
gende Dorf hinuber und tome klagend auf und nieder- Ottomar
hatte wieder seine erschreckliche Vernichtung-Minute, wie er sie
nennt - er trat zur wachsernen Frau und nahm das schwarze To-
■ des-Bouquet und steckt* es iiber sein Herz - er besah sich und
seine zwei Freunde und sagte kalt und eintonig : »Sonach leben
wir drei - das ist das sogenannte Existieren, was wir jetzt tun -wie
still ists hier, iiberall, um die ganze Erde - eine recht stumme
Nacht steht um die Erde herum, und oben bei den Fixsternen wills
nicht einmal lichter werden.« Zum Gliick trabte und wald-
hornierte der Furst und seine Jagd-Genossenschaft durch das
322 DIE UNSICHTBARE LOG1
Dorf und verscheuchte die Nacht aus drei Menschen : so sehr han-
gen wir vom Gehor ab, so sehr gibt die au Bere Welt unsrer innern
Lichter und Farben. —
Ich habe von allem, was sie nachher in andern»Zimmern taten,
keine Merkwiirdigkeit, und von allem, was sie darin sahen^ nur
dreie einzuriicken - die, dafi Ottomar fast lauter Kinder zu Be-
dienten, lauter ganz junges Vieh und lauter Blumen um sich hatte :
denn hefrige Charaktere hangen sich gern ans Sanfte. -
Das Schulmeisterlein Wutz tritt eben in meine Stube herein
und sagt, er fur seine Person habe noch an keinem Andreastage
so viel geschrieben.. Nun, so soil denn aufgehort werden.
Sechsunddreissigster oder ii. Advent-Sektor
Kegelschnitte aus, vornehmen Korpern - Geburttag- Drama - Rendezvous
(oder, wie Campe sich ausdriickt, Stell dich ein) im Spiegel
Auf dem Steindamm nach dem neuen Schlosse furchtete Beata
sich, in diesem ihren Gustav zu finden ; im Schlosse selber wiinschte
sie das Gegenteil, sobald sie hbrte, er sei in Ruhestatt. Ihre Mutter
hatte ihr, indem sie mit ihr die Regimenter der Roben, Mantel etc.
teils reduzierte, teils iiberkomplett machte, so viel bewiesen, Beata
werde von ihrer eignert Empfindung getauscht und das Paradies 2
ihrer unschuldigsten Liebe sei nach ihrer mutterlichen Empfindung
blutschlecht und wirklich ein pontinischer Sumpf - die Bliiten-
baume darin seien Giftbaume - der Blumenflor bestehe teils aus
giftigen Kupfer-, teils aus falschen Porzellan-Blumen - auf den
Grasbanken darin sitze man sich Schnupfen an und das sanfte
Wiegen des magischen Bodens sei eine Erd-Erschutterung. Diese
Eidesverwarnung nach dem Eide der Liebe lieB sich noch horen;
aber dafi sie noch Beatens Jugend einwandte - die gewohnlichste,
einfaltigste, unwirksamste und am meisten auf bringende Einwen-
dung gegen eine lebendige Empfindung -, das begann den kleinen 3
Eindruck ihrer Wochenpredigt zu schwachen, den die Nutzan-
wendung gar wegloschte : daB ihr Vater ihr schon den Gegen-
SECHSUNDDIipISSIGSTER SEKTOR
323
stand ihrer Liebe halb und halb gewahlt — Meine Gerichtprinzi-
palin war recht gescheit; aber, meinem Gerichtprinzipal zuliebe,
auch oft recht dumm.
Beata brachte also dem Gustav ein durch dieses Zersetzen
auBerst weiches und zartliches Herz iiber den Steindamm mit —
und er kam auch mit einem solchen wunden an, um welches kein
Blattchen eines Kallus mehrhing. Ottomars salomonische Predig-
ten uber und gegen das Leben hatteri seine Puis- und Blutadern
mit einer unendlichen Sehnsucht gefiillet, die armen zerfallenden
1 Menschen zu lieben und mit seinen zwei Armen, eh' sie auf die
Erde fielen, das schonste Herz an sich zu ziehen und zu pressen,
eh' es unter die Erdschollen niedersanke. Die Liebe heftet ihre
Schmarotzerpflanzen-Wurzeln an alle andre Empfindungen.
Es war Zeit, daB sie kamen, des Herrn von Oefels wegen. Denn
am Hofe vermiBte man sie, wie uberhaupt jeden, gar wenig. Ein
russischer Fiirst v6n *** - ein Mulatte und Deponens von Hof-
mann und Vieh, dessen sichtbare Extremen sich in die unsichtbaren
Extreme von Kultur und Wildheit endigten - war samt einem Ru-
del von Franzosen und Italienern dagewesen, die samtlich wie ihr
1 20 Altmeister die fur die groBe Welt alltagliche Sonderbarkeit hat-
ten, daB sie - nicht gani waren; - fur einen Weltmann ist heutzu-
tage nichts schwerer, als aus seinem Korper nicht das zu machen,
was ich mit Recht aus meiner Lebensbeschreibung mache - einen
Sektor oder Ausschnitt. In der Tat sah diese fragmentarische Di-
vision wie ein Phalanx von Kriippeln aus, der zu einem Wunder-
tater reiset. Der meisten Glieder, die wir bei der Auferstehung
nicht wiederkriegen, z.B. Haare, Magen, Fleisch, H- und andre 1
-daher freilich der groBe Connor leicht verfechten kann, ein auf-
erstandner Christ falle nicht groBer aus wie eine Stechfliege -
> solcher Glieder hatte sich die amputierte Junta schon vor der Auf-
erstehung entladen oder doch viel davon weggetan.
Ich nab* oft daruber nachgedacht, warum tuns die GroBen und
1 Nach den altern Theologen (z.B. Gerhard loc. theol. T. VIII. p. 1161)
stehen wir ohne Haare, Magen, MilchgefaBe etc. auf. Nach Origenes stehen
wir auch ohne Fingernagel und ohne das, was er selber schon in diesem Leben
verloren, auf. Nach Connor, med. mystic, art. i3kommenwirmitnichtrnehr
Materie aus dem Grabe, als wir bei der Geburt oder Zeugurjg umhatten.
324 DIE UNSICHTBARE LOGE
machen sich zu Kleinen im physischen Sinn; aber ich war zu un-
wissend, andre Griinde zu erraten als folgende : der Sitz des Zorns
(wofur nachWinckelmann die Griechen die menschliche Nase
hielten) kann nicht bald genug ausgerottet werden, weil weder
ein Hofmann noch ein Christ Zorn beweisen soil. - Zweitens:
verkleinerte Korper sind wenig von bucklichten, auch in der
GroBe, verschieden; diese aber, wie wir an Asop, Pope, Scarron,
Lichtenberg und Mendelssohn sehen, haben viel Witz. Nun zieht
der Weltmann aus den starken Fassern unserer Vorfahren ge-
schickt den Spiritus auf kleine Korper-Flaschen, und solche Ein- 10
schnitte und optische Verkurzungen und Kuren des Leibes machen
unfahig, etwas anders zu werden als witzig oder hochstens stupid :
so kann eine Flote, in die Risse kamen, keine andre Tone von sich
geben z\s feine und hohe. Witz wird aber bekanntlich in der groBen
Welt, wenn nicht mehr, doch ebensoviel geschatzt wie Unmora-
litat. — Drittens: wie die alten Patriarchen darum ein langes Leben
bekamen, um die Erde zu bevolkern, so haben sich viele Kosmo-
politen in der namlichen Absicht ein kur^es vorgenommen und
gern das Leben von andern Menschen mit einem Curtius-Sturz
in den todlichen Schlund erkauft. Es ist aber noch die Frage, ob «
ich recht habe. - Die vierte Ursache kenn* ich aus geheimen mysti-
schen Gesellschaften, wo eben jene Menschen-Segmente sie ken^
nen lernten. Heutiges Tages muB jede Seele von - Stand desorga-
ntsiert und entkorpert werden. Hier hat man nun nicht mehr als
zwei ganz verschiedne Operationen. Die kurzeste und schlechteste
meines Erachtens ist die, daB sich der Mensch - aufhenkt und daB
so die Seele den Korper von sich wie eine Warze abbindeu Ich
wiirde keinen GroBen deshalb tadeln, wenn ich nicht wiiBte, daB
er die weit bessere und sanftere Operation vor sich habe, wodurch
er seinen Leib gleichsam als die Form, worein die geisdge Statue y
gegossen ist, bloB gliedweise ablosen kann. Ich will hier nicht in
den Fehler der Kiirze, sondern lieber in den entgegengesetzten
fallen. Also ; der Korper ist nach Philosophen, die auch eine Seele
haben, bloB ein Werkzeug, ihre und unsre auszubilden und sie an
die Entbehrung dieses Werkzeugs zu gewohnen. Die Seele muB
alle Faden, die sie an den Kiumpen schnuren, nach und nach zer-
SECHSUNDDREISSIGSTER SEKTOR
3*5
fressen und abbeifien. Er ist ihr das, was den Kindern, die schwim-
men lernen, der korkene KuraB 1 ist: taglich muB siediesenKiiraB
zu verkleinern suchen, um endlich ohne ihn zu schwimmen. Der
philosophische Mann von Welt und das Mitglied geheimer des-
organisierender Unionen schafft also von diesem Schwimm-Panzer
anfangs nur das Fleisch an Beinen und Backenknochen beiseite.
Das ist noch wenig. Darauf brennt er durch Gluhfeuer Gehirn,
Nerven und anders Zeug weg, weil sie das Kuchenfeuer aushielten.
Die Haare oder das menschliche Rauchwerk bringt jeder ohne
10 Miihe weg. Der wichtigste Schritt bei dieser KiiraB-Sektion ist
der, daB man ohne das Barbiermesser des Origenes so viel be-
werkstellige - nur sanfter - wie er. Ist das vorbei: so hat man zu
jener volligen Ertotung nicht mehr weit, wo der ganze KiiraB rein
herunter ist und wo die Seele im Meere des Seins endlich schwim-
men gelernt hat, ohne von ihrem Schwimmkleid nur so viel, als
man zum Verkorken einer Flasche bedarf, noch um sich zu haben.
Nachher wird man beerdigt. So wenigstens tragt man in geheimen
Gesellschaften von Ton die menschliche Entkorperung vor.
Diese zerbrochne Gesellschaft deckte unsern und jeden Hof so
20 schon wie zerbrochne Porzellan-GefaBe hollandische Beete ; zwei-
tens hatte sie die hoflichste Art von der Welt, grob zu sein. Ware
unter diesen Leuten ein gewisses je ne sais quoi nicht der Unter-
schied zwischen Laune und Grobheit, zwischen Feinheit und Be-
■leidigung-: so fehlte er.
Ich sagte oben, es war Zeit, daB unser Paar ankam, des Herrn
von Oefels wegen. Denn das Geburtfest der Residentin riickte
heran, gleichwohl hatte noch kein Mensch eine Seite von seiner
Rolle memoriert. Die Leser haben noch ebensowenig vom Ge-
burttag-Drama im Kopfe als die Spieler; daher soil ihnen hier
1 30 ein dunner Absud dieser Oefelschen Pflanze vorgesetzt werden.
1 Ziickert in seiner Diatetik schlagt einen korknen KiiraB vor, der iiber
dem Wasser aufrecht erhalt und den man, so wie die Fertigkeit, oben zu
schweben, wachse, beschneiden konne.
326 DIE UNSICHTBARE LOGE
Dekokt aus dem Geburttag-Drama
In einem franzosischen Dorfe waren zwei Schwestern so gut,
daB jede verdiente, das Rosenmadchen zu werden,undso uneigen-
niitzig, daB jede wollte, die andre wurd* es. Marie hieB die eine
und Jeanne die andre. Am Tage vor der Austeilung der Preis-
medaille von Rosen stritten sie sich dariiber, wer sie - ausschlagen
sollte: denn sie wuBten von recht guter Hand, daB bloB auf eine
von ihnen die Rosenkrone fallen wurde. Jeanne - von der Ministe-
rin gespielt — wischte durch den schonen Einfall unter der Laub-
krone hinweg, daB sie ihren Liebhaber Perrin - Oefel stellte den 10
vor - ofter und offentlicher um sich hatte, als eine Rosen-Kompe-
tentin soil. Marie (die Rolle von Beata) konnte also die Kronung
nicht von sich, wie es schien, abwenden; indessen bat sie ihren
Bruder Henri (Gustav wars), der sie besonders Hebte und der seit
seiner Kindhek aus ihrem Hause durch seine Reisen weggewesen,
diesen bat sie um Sieg in diesem uneigennutzigen Wettstreite. Er
suchte sie zum entgegengesetzten Siege zu bereden; endlich aber,
da er die Unerbittlichkeit ihrer schwesterlichen Liebe so ent-
schieden sah, versprach er, fur eine rechte Belohnung ihr die
ihrige zu ersparen. »Aber du muBt noch groBere Liebe fiir mich 20
haben«, sagt' er; — »die schwesterliche«, sagt sie; - »eine noch
starkere«, sagte er; — »die freundschaftlichste«, sagte sie; - »eine
noch viel starkere«, sagt* er; - »weiter gibts keine gr6Bexe«, sagte
sie; - »o doch! ich bin ja dein Bruder nicht«, sagt' er und fiel mit
liebetrunknen Augen vor ihr nieder und gab ihr ein Papier, das sie
aus ihrem bisherigen Irrtum zog und sie dafur in eine kleine Freu-
den-Ohnmacht sturzte. Sie erschienen alle vier vor dem Guts-
herrn und Kranz-Kollator (der Fiirst spielte diese Rolle sogar auf
dem — Theater), und jede kam seiner Wahl durch eine Bitte und
Lobrede fiir ihre Schwester und durch feine Invektiven auf sich 30
selber zuvor. Der kokettierende Wicht Perrin quastionierte : sollte
die Liebe andre Rosen brauchen als ihre eigne? - Marie gab eine
fliegende Schilderung von den Vorziigen, denen eine solche Be-
kronung gebuhre und die zum Teil feine Ziige aus Bousens Bilde
waren. Der Gutsherr sagte : diese schwesterliche Unparteilichkeit,
SECHSUNDDREISSIGSTER SEKTOR
327
die so sehr zu bewundern sei wie die Verdienste, die sie zu be-
lohnen suche, verdiene zwei Rosenkronen, eine, um belohnt zu
werden, und eine, um selber zu belohnen; (niemand, fiel der
scheinbar den Damen und wirklich dem Fiirsten schmeichelnde
Oefel ein, teilt Kronen schoner aus, als wer sie selber tragt;) und
sie wtirden sich von ihm in nichts als in der Unparteilichkait und
Schonheit unterscheiden, wenn sie an seiner Statt vielleicht wie er
wahlten, wem der Rosenkranz, eh* der Schmetterling von ihm
floge — einer von Brillanten war mit einer Zitternadel in die groBte
10 Rose gesteckt — , aufzusetzen sei »Unserer Rosen-Konigin!«
riefen die Schwestern und brachten den Kranz der Residentin hin.
So weit das Drama. Oefel war nichts lieber und glucklicher als die
schmeichelnde Folie des andern. Ubrigens sah sein Stuck wie eine
Idylle von Fontenelle aus. Die Phantasie, die den von der Kultur
dunn geschliffnen Leuten gefallen will, muB schimmern, aber
nicht brennen, muB das Herz kitzeln, aber nicht bewegen; die
Aste einer solchen Phantasie werden nicht von schweren gedrang-
ten Friickterty sondern von Schneelast niedergebogen. An solchen
Hof-Poeten und an Ohrwurmern sind die Fliigel gleichsam un-
20 sichtbar und winzig, aber beide findea leichter die Wege zum
Ohr. An deutschen Gedichten ist nichts; hingegen die meisten
franzdsischen riechen nicht nach der Studier- und Sparlampe,
sondern eher nach parfumierten Strumpfbandern, Handschuhen
u.s.w., und je weniger sie haben, was den Menschen interessiert,
desto mehr haben sie, was den Weltmann reizt, weil sie nicht mehr
die Natur und Himmel und Holle, sondern ein paar Besuchzimmer
abmalen und so nicht ungeschkkt in immer engere Windungen
des Schneckenhauses sich zuriickdrangen.
Oefel war zugleich Theater-Dichter, Spieler und Rollen-
30 Schreiber. Er zog aus dem Drama die Rolle Beatens heraus, die er
mit den feinsten Anspielungen auf ihr gegenseitiges Liebever-
standnis (dacht* er) oder auf ihr einseitiges (denk* ich) in die Welt
gesetzet hatte. Die zartlichsten Winke hatt* er in den Stellen, wo
er mit Beata zusammen spielte, hinein versteckt. Er zog deswegen
328 DIE UNSICHTBARE LOGE
unter manche feine Liebeerklariing und Empfindung bei dem Ab-
schreiben eine exegetische Linie und 6e{ijferte verstandig seinen
Generalbafl. »Ober tausendmal wird die Schalkhafte das uberlesen«,
sagt' er zu sich.
Darauf iiberreichte er ihr bald nach ihrer Ankunft ihre Rolle mit
weit mehr scheuer Ehrfurcht, als er selber wuBte. Zum Ungluck
fiir unsern guten dramatisierenden Hasen fiel Beata in zwei Fehler
auf einmal aus einerUrsache. Die Ursache war bloB, der Amor
hatte in ihrem Herzen sein Laboratorium aufgerichtet und hatte
seine chemischen Ofen und alles hineingesetzt: daraus muBte ihr 10
erster Fehler entstehen, daB sie schoner aussah als sonst ohne diese
Warme; denn jede Empfindung und jede innere Streitigkeit nahm
auf ihrem Gesicht die Gestalt eines Reizes an. Von der Liebe kam
auch ihr zweiter VerstoB, daB sie sich gegen Oefel heute weit zu-
traulicher und freimiitiger betrug als sonst; denn ein liebendes
Madchen hat von alien ubrigen Gegenstanden (d.h. von den eig-
nen Empfindungen fiir sie) nichts mehr zu befahren. Herr von
Oefel aber addierte auf seiner Rechenhaut ein ganz andres Fazit
heraus; er nahm alles fiir Freude, daB er nun wieder - zu haben
sei. Er ging folglich mit einem Herzen fort, das der Amor so mit 20
lilliputischen Pfeilen vollgeschossen hatte wie ein Nahkissen mit
Nadeln.
Er sagte noch an jenem Tage : »Ist das Herz einer Frau einmal so
weit, so braucht man nichts zu tun, als daB man sie tun lasset.«
Das war ihm herzlich lieb; denn es ersparte ihm die - Bedenk-
lichkeit, sie zu verfuhren. Sooft er Lovelacens oder des Cheva-
liers 1 Briefe las: so wiinschte er, sein einfaltiges Gewissen liefi'
ihm zu, ein ganz un'schuldiges widerstrebendes Madchen nach
einem feinen Plane zu verfuhren. Aber sein Gewissen nahm keine
Vernunft an, und er muBte sein ganzes Kaper-Vergniigen auf die 3 c
Verfiihrung solcher unschuldigen Personen, die er in seinem
Kopfe oder in seinem Roman agieren lieB, einschranken: so sehr
herrschet im schwachen Menschen die Empfindung uber die Ent-
schlieBungen der Vernunft, sogar in philosophischen Damen.
Mithin blieben der Weiberkenntnis Oefels statt der Fangeisen fiir
1 In den Liaisons dangereuses.
SECHSUNDDREISSIGSTER SEKTOR 329
die Unschuld nur die fur die Schuld zu legen iibrig, und das ein-
zige, wo er noch mit Ruhm arbeiten konnte, war das, der Ver-
fiihrer von Verfuhrerinnen zu sein.
Man erlaube mir, eine scharfsinnige Bemerkung zu machen.
Der Unterschied zwischen Lovelace und dem Chevalier ist der
moralische Unterschied zwischen den Nationen und Jahrzehenden
von beiden. Der Chevalier ist mit einer solchen philosophischen
Kalte ein Teufel, daB er bloB unter die Klopstockschen Teufel
gehort, die nie zu bekehren sind. Lovelace hingegen ist ein ganz
10 anderer Mann, bloB ein eitler Alcibiades, der durch einen Staats-
oder Ehe-Posten halb zu bessern ware. Sogar dann, wo seine Un-
erbittlichkeit gegen die bittende, kampfende, weinende, kniende
Unschuld ihn mehr den Modellen aus der Holle zu nahern scheint,
mildert er seine gleiBende Schwarze durch einen KuhstgrifT, der
seinem Gewissen einige und dem Genie des Dichters die groBte
Ehre macht und welcher der ist, - daB er, um seine Unerbittlich-
keit zu beschonigen, den wirklichen Gegenstand des Mitleidens,
die kniende etc. Klarisse, fur ein theatralisches, malerisches Kunst-
werk ansieht und, um nicht geriihrt zu werden, nur die Schonheit,
20 nicht die Bitterkeit ihrer Tranen, nur die malerische, nicht die
jammernde Stellung bemerken will. Auf diesem Wege kann man
sich gern gegen alles verharten; daher schorie Geister, Maler und
ihre Kenner bloB oft darum fur das wirkliche Ungluck keine oder
zu viele Tranen haben, weil sie es fur artistisches halten.
Ich muB aber schneller zum Festtage der Residentineilen, des-
sen Gewebe unsern Gustav mit Faden so vieler Art beriihrt und
ankittet.
Er brachte mit dem groflten Vergniigen seine Rolle im Drama,
wovon noch viel wird gesprochen werden, seinem Gedachtnis bei
50 und wiinschte nichts, als er konnte sie noch nicht auswendig.
Beata macht' es auch mit der ihrigen so : der Grund war, ihre Rol-
len waren auf dem Theater aneinander gerichtet, mithin waren es
jetzt ihre Gedanken auch; und fiir die scheue Beata war es be-
sonders suB, daB sie zarte Gedanken der Liebe fiir ihn, die sie
kaum zu haben und nicht zu auBern wagte, mit gutem Gewissen
memorieren konnte. Um nicht immer an ihn zu denken, zer-
330 DIE UNSICHTBARE LOGE
streuete sie sich oft durch das Geschaft des Auswendiglernens der
besagten Rolle. Gute Seele! suche dich immer zu tauschen; es ist
besser, es zu wollen, als gamichts darnach zu fragen! - Ihr Adop-
tiv-Bruder konnte bisher durchaus kein Mittel finden, ihr zu be-
gegnen; die Residentin hatte ihn und dadurch dieses Mittel iiber
den russischen Sektor und Torso vergessen; er selber hatte nicht
Zudringlichkeit genug, noch weniger den Anstand, der sie schon
und pikant macht — bis ihm Herr von Oefel mit einer feinen Miene
sagte, die Residentin woll' ihm einige Gemalde, die der Knase da-
gelassen, zu sehen geben. »Ich wollt' ohnehin schon lange das 10
Kopieren im Kabinett anfangen«, sagt* er und tauschte weniger
jenen als sich. t)ber seine errotende Verwirrung sagte Oefel zu
sich: »Ich weiB alles, mein lieber Mensch!«
Endlich fuhrte ein schoner Vormittag die zwei Seelen, die sich
leichter als ihre Korper fanden, bei der Residentin zusammen. Das
Taglicht, die bisherige Trennung, die neue Lage und die Liebe
machten an beiden alle Reize neu, alle Ziage schoner und ihren
Himmel groBer als ihre Erwartungen - aber schauet euch weder
zu viel noch zu wenig an, man blickt auf euer Anblicken! Oder
tut es nur: einer Bouse verbirgst du es doch nicht, Gustav, daB 20
dein Auge, das der Scharfsinn nicht zusammenzieht, sondern die
Liebe aufschlieBet, immer nur bei benachbarten Gegenstanden
sich auf halt, um ein Streiflicht von ihr wegzufangen; - es hilft
auch dir nichts, Beata, daB du es mehr wie sonst vermeidest, ihm
nahe zu stehen und ihn zu veranlassen,daBseineStimmeund seine
Wangen seine Verrater werden! Es half dir, wie du selber sahest,
nichts, daB du der Wiederholung des „Idolo del mio cuore" bei sei-
ner Ankunft auszuweichen suchtest; denn bat ihn nicht die Resi-
dentin, deiner Stimme auf dem Klaviere mit den Fingern nach-
zuflieBen und seinen innern Freuden-Sturm durch den Schimmer 30
des Auges und durch den Druck der Tasten und durch die Siin-
den gegen den Takt zu offenbaren? - Diejenigen meiner Leser,
die die Residentin frisiert oder bedient oder gesprochen oder gar
geliebt haben, konnen mir es gegen andre Leser bezeugen, daB
unter anderen Kaminverzierungen ihres Toilettenzimmers - weil
die GroBen nichts als Zieraten essen, bewohnen, anziehen, be- .
3 o
SECHSUNDDREISSIGSTER SEKTOR 33 1
Sitzen und beschlafen etc. mogen - auch Schweizerszenen waren
und unter diesen eine tragantene Kopie des Eremitenberges: auf
diesen Freuden-Olymp stiegen vor den Augen Gustavs Beatens
ihre nicht mehr, sooft diese auch vorher den Berg beschienen
hatten - endlich befeuchteten sich auch beider Augen, wenn
Amandus* Name beide durchtonte, mit einer siiBern lebhaftern
Running, als die iiber einen Dahingegangnen ist. Kurz sie
wurden sich wie alle Liebende weniger verraten haben, wenn sie
sich weniger verborgen hatten. Die Residentin schien heute, was
sie allemal schien: sie hatte eine stille, denkende, nicht leiden-
schaftliche Verstellung in ihrer Gewalt, und auf ihrem Gesicht sah
man nicht die falschen Mienen die aufrichtigen erst verjagen. -
Das schonste Gemalde aus dem Nachlasse des Russen war nicht
zu Hause, sondern unter dem Kopierpapiere des Fiirsten. -
So stumm und doch so nahe muB Gustav der Geliebten gegen-
iiber bleiben; nur mit drei Worten, nur mit einem Druck der
ziehenden Hand wenn er seine von Empfindungen elektrisierte
Seele zu entladen wuBte! - Warum wollen alle unsere Empfin-
dungen aus unserem Herzen in ein fremdes hiniiber? - Und warum
hat das Worterbuch des Schmerzens so viele Alphabete und das
der Entziickung und der Liebe so wenige Blatter? — BloB eine
Trane, eine driickende Hand und eine Singstimme gab der Welt-
Genius der Liebe und der Entziickung und sagte: »Sprecht da-
mit!« - Aber hatte Gustavs Liebe eine Zunge, als er (bei einem
Abwenden der Residentin auf 7 Sekunden) im Spiegel, dem er am
Klavier gegeniibersaB, mit seinen diirstenden Augen das darin
flatternde Bild seiner teuren Sangerin kiifite - und als das Bild ihn
ansah - und als das blode Bild vor dem Feuerstrom seines Auges
das Augenlid niederschlug — und als er sich plotzlich nach dem
nahen Urbild des wegblickenden Farben-Schattens umdrehte und
sitzend in das gesenkte Auge der stehenden Freundin mit seiner
Liebe eindrang und als er in einem Augenblicke, den Sprachen
nicht malen, sich nicht einmal in eine> nicht einmal in einen Laut
ergieBen durfte? - Denn es gibt Augenblicke, wo der tief aus der
fremden Seele emporgehobne Schatz wieder zurucksinkt und im
Innersten verschwindet, wenn man redet - ja wo das zarte, be-
33 2 DIE UNSICHTBARE LOGE
wegliche, schwimmende, brennende Gemalde der ganzen Seele
sich kaum in oder unter dem durchsichtigen Auge wie das zer-
stiebende Pastellgebilde unter dem Glase beschutzt N
Deswegen wars meiner Einsicht nach recht wohl getan, daB er
zu Hause sofort einen Liebebrief verfaBte. Durch einen solchen
Assekuranzbrief des Herzens verbriefte der Lebensbeschreiber
von jeher seine Liebe im eigentlichen Sinne. Aber als ihn Gustav
fertig hatte, wuBt' er nicht, wie er zu insinuieren sei, auf welcher
Penny-Post. Er trug ihn so lange herum, bis er ihm nicht mehr
gefiel — dann schrieb er einen neuen bessern und trug ihn wieder 10
so lange bei sich, bis er den besten schrieb, den ich im nachsten Sek-
tor hereinschreiben will. Bei dieser Gelegenheit kiindige ich dem
Publikum auf Ostern meinen »expediten und allzeitfertigen Liebe-
brief-StelIer« an, den alle Eltern ihren Kindern bescheren sollten.
Apropos! Der Pelz-Kurierstiefel und der Beschlag fnit Senf
und die Eis-Krone haben gliicklich mein Blut in die Fiifie gefullet
und dem Kopfe nicht mehr davon gelassen, als er haben muB, um
fur ein deutsches Publikum anmutige Ab- oder Ausschnitte auf-
zusetzen.
SlEBENUNDDREISSIGSTER ODER HEIL.WeIHNACHT-SeKTOR
20
Liebebrief- Comedie - Souper - bal pare* - zwei gefahrliche Mitternacht-
szenen - Nutzan wen dung
Ich habe in dieser frohlichen Zeit keinen recht frohlichen Sinn:
vielleicht weil mein auseinander wollender Korper so wenig wie
eine Langen- und Seeuhr richtig geht - vielleicht liegt mir auch
der Inhalt dieses Sektors im Kopfe - vielleicht schleicht auch,
beim Anblick der allgemeinen Kinderfreude, das Blut so traurig
fort zwischen dem Wintergriin und Herbstflor jener Erinnerung,
wie es sonst war, wie die Freuden des Menschen dahinrollen, wie
sie ihre Entfernung von uns durch einen aus fernen Ufern her- 30
iiberblinkenden Widerschein bezeichnen und wie unsre langsten
Tage uns selten so viel geben, als dem Kind der kiirzeste oder die
Christnacht im GenieBen oder Hoffen gibt. —
SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 333
Von Gustavs herzlichem Brief hatte ich vor vierzehn Tagen
hicht so leichtsinnig reden sollen, als ich tat. Er heiBt so:
»Eh* ich dieses schrieb, gingen Sie, unaussprechlich Teuere, mit
Lauren den Park hinauf, um die ermattende Sonne, die zwischen
zwei groBen Wolken herabschien, noch ein wenig zu geniefien;
zu Ihren Seiten flogen Wolkenschatten dahin, aber mit Ihnen ging
der Sonnenschein. Ich dankte dem Laube, daB es zu Ihren Ftifien
lag und mir Sie nicht verdecken konnte; aber ich hatte alle dor-
nichte Blatter von der Stechpalme pfliicken wollen, hinter denen
10 Sie verschwanden und von mir gingen. >0 konnt' ich ihr< - dacht*
ich - >den herbstlichen Weg mit jungen Blumen und Schmetter-
lingen bestreuen, konnt* ich sie mit Bluten und Nachtigallen um-
zingeln und vor ihr die Berge und die Walder mit dem Friihling
iiberdecken: ach! wenn sie dann vor Freude bebte und mich an-
sehen und mir danken miiBte . . .< Aber diese Bluten, diese Nachti-
gallen, diesen Friihling haben Sie mir gegeben; Sie haben iiber
mein Leben einen ewigen Mai gesandt und aus einem Menschen-
Auge Freudentranen gepresset - allein was vermag ich zu geben?
- Ach, Beata, was nab* ich Ihnen zu geben fur dieses ganze Ely-
20 sium, womit Sie das schwarze Erdreich meines Lebens durch-
winden und uberbliimen, und fur Ihr ganzes, ganzes Herz? —
Meines — das hatteh Sie ja schon ohne das, und weiter hab' ich
nichts; fiir alle schone Stunden, fur alle Ihre Reize, fur alle Ihre
Liebe, fiir alles, was Sie geben, hab' ich nichts als nur dieses treue,
gliickliche, warme Herz ....
Ja, ich habe nur dieses ; aber wenn der gottliche Funke der hoch-
sten Liebe im Menschen-Herzen gliihen kann, so ruht er in mei-
nem und brennt fiir die, die ich nur lieben, aber nicht belohnen
kann. - Du hoherer Funke wirst in meinem Herzen fiir sie fort-
jo glimmen, wenn es Tranen iiber schwemmen, oder Ungliick zu-
sammendriickt, oder der Tod einaschert.... Beata! auf der Erde
kann kein Mensch dem andern sagen, wie er ihn liebe. Die Freund-
schaft und die Liebe gehen mit verschlossenen Lippen iiber diese
Kugel, und der innere Mensch hat keine Zunge. - Ach, wenn der
334 DIE UNSICHTBARE LOGE
Mensch drauBen im ewigen Tempel, der sich bis an die Unend-
Hchkeit hinaufwolbt, mitten im Kreise von singenden Choren,
heiligen Statten, opfernden Altaren, vor einem Altare betaubt
niederfallen und beten will: o so sinkt er ja so gut wie seine Trane
zu Boden und redet nicht ! - Aber die gute Seele weiB, wer sie liebt
und schweigt, sie ubersieht das stille Auge nicht, das sie begleitet,
sie vergisset das Herz nicht, das starker klopft und doch nicht
reden kann,und den Seufzer nicht, der sich verbergen will.— Aber,
Beata, doch! - wenn einmal dieses Auge und dieses Herz ihr
Schweigen geendigt, wenn sie in der seligsten Stunde mit alien 10
Kraften der liebenden Natur zur geliebten Seele haben sagen diir-
fen: >Ich Hebe dich<: so ists hart und schwer, wieder stumm zu
werden, es tut so wehe, das emporgehobne flammende drangende
Herz wieder in eine enge kalte Brust zuruckzudrucken — dann
will im Innersten die stille Freude in stillen Kummer zerrinnen
und schimmert traurig in diesen, wie der Mond in den Regen-
bogen, den die Nacht aufrichtet Beata! ich kann keine Bitten
haben und keine wagen; ich kann mir das Eden malen, das mir
Beatens Blicke und Worte geben konnen, aber ich darf es nicht
begehren; ich muB ans Ufer des Silberschattens, der uns schon im zo
Traum und jetzo wie ein breiter Strom im Leben scheidet, mich
mit alien meinen Wiinschen heften ; aber, Teuere, wenn ichs nicht
zuweilen hore, wem das kostbarste Herz sich geschenket hat, wie
soil ich den Mut behalten, es zu glauben? - Wenn ich dieses holde
Herz unter so viel guten und erhohten Menschen erblicke und
dann zu mir sagen muB : ach ihr alle verdientes gleichwohl nicht:
so sinkt ein freudiges Staunen auf mich, daB es meiner Seele sich
gegeben, und ich glaub' es kaum. Geliebte! tausend waren Deiner
wiirdiger; aber keiner ware durch Dich gliicklicher geworden,
als ich es bin !« 3°
*
Das Schwerste war jetzt, den Brief auf andern Flugeln als unter
denen einer Brieftaube - Venus hing wahrscheinlich einen Post-
zug Brieftauben ihrer Gondel vor - an Ort und Stelle zu schaffen.
Zu so etwas sah er keine Moglichkeit, weil er unter alien Moglich-
SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 335
keiten solche am schwersten sieht. - Meine Schwester sieht solche
am leichtesten.
- Es gab sich alles in der Komodienprobe.
Ordentliche Komodien werden namlich nicht, wie ihre Schwe-
stern, die politischen, aufgefiihrt, ohne probiert zu sein. Ich will
gern zwischen der Komodienprobe und der Komodie einen so
schmalen papiernen Zwischenraum als moglich lassen ; aber der
Leser muB seines Orts auch behend zublattern und nicht sowohl
die Hande in den SchoB legen als das Buch. Die Probe war im
10 alten Schlosse - Oefel machte seine Sache gut genug - Beata noch
besser - und Gustav am aller - schlechtesten. Denn die Geskhter
des Fursteri und der Ohnmachtigen setzten wie Salpetersaure und
Salz sein Herz fast zu einem Eiskegel urn; vor manchen Menschen
ist man schlaff und unfahig, begeisterte Gefuhle zu haben. -
Sonderbar! nur die seinigen, aber nicht Beatens ihre wurden von
dieser durchs Theater streichenden Nordluft erkaltet. Es ist aber
doch nicht sonderbar; denn die Liebe wirft den Jiingling aus sei-
nem Ich hinaus unter andre Ich, das Madchen aber aus fremden in
das ihrige hinein. Kaum oder wenig nahm Beata die Approchen
20 des regierenden Akteurs oder agierenden Regenten wahr - Oefel
aber sah es und dachte seinem Siege iiber den hohen Nebenbuhler
nach — , welcher sich ihr in einer nicht sehr groBen Schneckenlinie
naher drehte, was er an Hofdamen gewohnt war, die nur in der
Jugend ihre Tugend a la minutta weggeben, im Alter hingegen
einen groBern Handel damit in grosso treiben. Ich sagte eben et-
was von einer Schneckenlinie, weil ich einen Einfall im Kopfe
hatte, der so heiBet: daB Weiber von Welt und die Sonne die
Planeten unter dem Schein, sie in einem Kreise um ihre Strahlen
herumzulenken, in der Tat in einer feinen Schneckenlinie zu ihrer
50 brennenden Oberflache hinanreiBen.
Mitten im Probe-Drama, gerade als Gustav oder Henri der
Marie das leere Papier als ein Diplom hinreichte, das ihre Ver-
wandtschaft fur null erklarte, fiel ihm das als Henri ein, was einem
andern langst als Gustav eingeijallen ware, daB auf dem leeren Pa-
pier etwas konnte geschrieben stehen, und zwar das beste Etwas,
sein Liebebrief, den wir schon langst gelesen haben. Kurz er nahm
336 DIE UNSICHTBARE LOGE
sich vor, seinen Brief in der Gestalt jenes Diploms ihr im Drama
zuzustecken, wenns nicht anders zu machen ware. Sogar das Ro-
mantische des Entschlusses, seine theatralische Rolle in seine wirk-
liche hineinzuziehen und so vielen Zuschauern eine andre Tau-
schung zu machen als eine poetische, hielt ihn nicht ab, sondern
trieb ihn an, Ich will es nur gestehen, lieber Gustav - und fiele
mein Gestandnis selber in deine Hande -, auf deine himmlische
Bescheidenheit war der Honigtau des Beifalls, den du an einem
solchen Orte nicht einmal fur Schmeichelei, sondern bloB fur eine
Fagon zu reden berechtigt warest anzusehen, zerstorend gefallen! 10
Unter alien Dingen ist menschliche Bescheidenheit am leichtesten
totgerauchert oder totgeschwefelt, und manches Lob ist so schad-
Hch wie eine Verleumdung. Im Narrenhause sehen wir, daB der
Mensch andern aufs Wort glaubt, er sei narrisch 1 , und in Palasten
sehen wir, daB er ihnen aufs Wort glaubt, er sei weise. - Ober-
haupt war Gustav - denn ein Mann ist oft an einem Abend be-
stimmt, nicht nur lauterschlechteSpielehintereinanderzu machen,
sondern auch oft lauter unbedachtsame Streiche - am Komo-
dienabend fast zu letztem ausersehen.
— Endlich ist Bousens Geburtfest da ... . Mein Gustav ! - Noch ZQ
heute weinen deine Augen nach!
Das Fest zerspallt sich in drei Gange - Comedie - Souper -
und bal pare. Im Grunde ist noch ein vierter Gang: ein Fall.
Am Tage des Drama leerte sich das neue SchloB in das furst-
liche zu Oberscheerau aus. Gustav dachte unterwegs (im Wagen
Oefels) an seinen Brief, den er ubergeben wollte, und an den guten
Doktqr Fenk ein wenig; aber die abgekiirzten Tage gaben ihm
zu Besuchen keine MuBe. Sein Fehler war, daB die Gegenwart
vor ihm allemal wie ein Wasserfall alle feme Laute uberrauschte,
- und er ware vielleicht nicht einmal zu mir gekommen, wenn 30
1 Denn man konnte einen Menschen durch die Versicherung narrisch
machen, er sei narrisch. Die Freunde vom jiingern Crebillon beredeten sich
einmal, an einem geselligen frohen Abende iiber keinen Einfall von ihm zu
lachen, sondern nur mitleidig zu schweigen, als hab* er nun alien Witz ver-
loren. Und die Sache wurd' ihm auch glaublich gemacht. Wieder andere
Schriftsteller werden durch ihre Freunde gerade mit dem umgekehrten Irrtum
noch lebhafter getauscht, dafi sie glauben, Witz zu haben.
SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 337
mich mein beschwerter juristischer Arbeittisch in die Stadt ge-
lassen hatte.
Er sah seine Marie - zehnmal hunderttausend neue Reize ....
ich will aber iiber mich herrschen : so viel ist psychologisch wahr,
daB ein bekanntes Madchen uns an einem fremden Orte auch
fremd, aber nur desto schoner wird. Dieses hatte Beata mit der
strahlenden Residentin gemein, aber ein gewisser Hauch von be-
scheidner Furchtsamkek verschonerte sie mit seinem Schleier all-
ein. Warum war Gustav diesesmal von ihr verschieden? Darum:
10 die mannliche Blodigkeit liegt bloB in der Erziehung und in Ver-
haltnissen; die weibliche tief in der Natur — der Mann hat inner-
lichen Mut und bloB oft auBerliche Unbehulflichkeit; die Frau
hat diese nicht und ist dennoch scheu - jener driickt seine Ehr-
furcht durch Hinzutreten, diese durch Zuriickweichen aus.
Die Ohnmachtige, die sogenannte Defaillante, oder die Mi-
nisterin heute ausgenommen! Ihr Winken und Blinken, ihr Lis-
peln und Zappeln, ihr Witzeln und Kitzeln, ihr Fiirchten und Wa-
gen, ihr Kokettieren und Persiflieren — wie soil das der einbeinige
Jean Paul biographisch kopieren in gemeiner schlechter Prose? -
20 Gleichwohl ists gar nicht anders zu machen, und er muB. Wenn
die bunten Kopje der Weiber im groBen Garten der Natur die
blauen, roten Glaskugeln auf lackierten Stativen vorzustellen
hatten (welches unter hundert Mannern nicht einer glaubt): so
wiird' ich in meiner Schilderung so fortfahren: der Ministerin
ihrer war nicht tibel, sondern bunt; dieser Kopf war ein kurzer
pragmatischer Auszug aus zehn andern Kopfen, die namlich Haare,
Zahne, Federn dazu zusammenschossen.
Sie war eine Antike von groBer Schonheit, die aber nach den
Verwiistungen der Jahre und Menschen nicht mehr unbeschadigt
30 zu haben war ; sie muBte also durch geschickte Bildhauer mit neuen
Gliedern - z.B. Busen, Zahnen - erganzet werden.
Auf den Wangen war die Legierung mit Rot, die tiefere Nach-
barschaft wurde mit Weifi x legiert.
Diejenigen Zahne, die den Menschen in die Reihe der gras-
1 Legierung des Goldes mit Kupfer heiBet die mit Rot y die mit Silber heiBt
die mit Wcifi.
33^ DIE UNSICHTBARE LOGE
fressenden Tiere setzen, die Schneidezahne, .waren um so mehr so
weiB wie Elfenbein, weil sie selber eines waren, und waren aus
dem Munde eines grasfressenden Tieres; - ich mag nun darunter
einen Elefanten oder einen gemeinen Mann verstehen,der die Zah-
ne, die er als Ableger einem edlern Stamm einimpfet, selten in et-
was anders als Vegetabilien setzet: so ist doch so viel gewiB, da6
kein andrer Nachsatz dieses Periodens herpasset als der; sie hatte
noch einmal so viel Zahne als andre Christinnen, und zwei Gold-
faden dazu, weil der Zahnarzt die einen allemalim Hause und unter
der Biirste hatte, wahrend die andern die Dental-Buchstaben aus- 10
sprachen.
Da man nach den neuesten Lehrbiichern die Trigonometric und
die Busen bloB in ebene und spharische einteilen kann, und da sie
ganz die scheinbare Wahl vor sich hatte: so zog ihr meBkunst-
licher Geist diejenigen GroBen, die dem MeBkunstler die meiste
Anstrengung und das meiste Vergniigen geben, vor — die sphari-
schen.
Der Anzug selber suchte, von den Schuhrosetten bis zu den
Hutrosetten, seinen Wert in der Form weit weniger als in der
Materie und konnte mithin weniger mit den Augen als auf Juwe- 20
lier-Waagen geschatzet werden, weniger nach Schonheitlinien als
nach Karats - es blieb also zwischen ihr und ihrer gesetzgebenden
Puppe immer ein Unterschied ; iibrigens muBte sie sich nach dieser
so gut wie jede andre tragen. Ich will nur ein Wort zu seiner Zeit
iiber die Puppen sagen.
Das Wort uber die Puppen
Diese Holzer haben bekanntlich die gesetzgebende Macht iiber
den schonern Teil der weiblichen Welt in Handen; denn sie sind
die Legaten und Vizekoniginnen, welche aus Paris von der im
Putz regierenden Linie abgeschickt werden, damit sie die weib- 5 o
lichen deutschen Kreise regieren - und diese holzernen Plenipo-
tentiare senden wieder ihre Kopje (Haubenkopfe) als missi regii
weiter herunter, damit diese die gemeinern Honoratiorinnen be-
SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 339
herrschen. Konnen diese regierenden Haupter von Holz nicht
selber kommen : so schicken sie - wie lebende Fiirsten im gehei-
men Rate ihre Stelle durch ihr Portrdt versehen lassen — ihre Ge-
setie und ihre Bildnisse in SchmauBens Corpus aller Reichsab-
schiede der Mode, welches Corpus wir alle unter dem Namen
Modejournal in Handen haben. Bei solchen Umstanden - da ein
Holz dem andern in die Hande arbeitet, aber uneigenniitziger als
ganze Kollegien, da ferner jahrlich neue wie die Prokonsule ge-
wahlet werden — wunder* ich mich nicht, dafl es mit dem Regi-
10 mentwesen an den Toiletten gut bestellet ist, und daB das ganze
weibliche gemeine Wesen, das Manner nicht beherrschen konnen,
von den in BaBgeigenfutteralen geschickten Wahlregentinnen,
die in dieser Aristokratie von Petersburg bis nach Lissabon stehen
und lenken, vortrefflich in Ordnung und unter Gesetzen erhalten
wird.
Ich bin der Mann nicht, dem man es erst zu sagen braucht, daB
die Puppen, auch die holzernen, iiberkleidete Statuen sind, die
man verdienten Frauen (in Riicksicht des Anzugs) setzet; - viel-
mehr bin ich iiberzeugt, daB diese offentlichen Denkmaler, die
20 man dem ankleidenden Verdienste errichtet, schon recht viele zur
Nacheiferung angefrischet haben und hoffentlich noch mehre an-
frischen werden, da ein groBer Mann selten so viel Gutes wirkt
als seine Statue, die man verehrt; aber ein Hauptpunkt, ohne den
sonst alles hinkt, ist offenbar der, daB die Statuen zu - sehen sein
miissen. Ohne den geb' ich keinen Deut fur alles. Was Sokrates
an der Philosophic tat, indent' ich an den besten Puppen tun und
sie vom Himmel der GroBen auf die Erde des Pobels ziehen. Ich
meine, daB, wenn man die Marienbilder oder auch selber Apostel
und Heilige, die man in katholischen Kirchen bisher ohne den ge-
50 ringsten Nutzen und Geschmack aus- und anzog, vernunftiger
und zweckmaBiger ankleidete, namlich so wie die franzosischen
Puppen - wenn die Kirche sich allemal jedes Monat des Mode-
journals kommen HeBe und nach dessen farbigen Vorbildern die
Marien (als Damen) und die Apostel (als Herrn) umkleidete und
urn die Altare stellte: so wurden diese Leute mit mehr Lust nach-
geahmet und verehret werden, und man wiiBte doch, weswegen
34° DIE UNSICHTBARE LOGE
man in die Kirche ginge und was sie gerade in Paris oder Versail-
les anhaben ; — man wiirde die Moden zu rechter Zeit erfahren, und
selbst der Pobel wiirde etwas Vernunftigeres umlegen, die Apostel
wiirden die Flugelmanner des Anzugs und die Marie die wahre
Himmel-Konigin der Weiber werden. So miissen kirchliche Vor-
urteile zu Staats-Vorteilen geniitzet werden; ebenso wendete der
Dominikaner-Monch Rocco in Neapel (nach Miinter) die Ver-
schwendung, am Altar der Maria auf der StraBe Lampen zu bren-
nen, zur Vermehrung dieser Gassen-Altare und zur - StraBen-
Erleuchtung an. ic
Ende des Worts iiber die Puppen
Ich bin dem Leser noch die Ursache schuldig, aus der die Mi-
nisterin sich zur Jeannen-Rolle drangte - es war, weil ihre Rolle
ihr einen kiirzern Rock erlaubte, - oder mit ahdern Worten, weil
sie alsdann ihre lilliputischen Grazien-FuBe leichter spielen lassen
konnte. An ihrer Schonheit waren sie das einzige Unsterbliche,
wie am Achilles das einzige Sterbliche; in der Tat hatteri sie, wie
des Damhirschchen seine, zu Tabakstopfern getaugt.
Wie viel besser nahm sich Oefel aus! Der ist ein Narr gerade-
zu, aber in gehorigem MaBe. Die Residentin uberholte jene in *<
jeder Biegung des Arms, den ein Maler, und in jeder Hebung des
FuBes, den eine Gottin zu bewegerf schien ; sogar im Auf legen des
Rots, woran die Bouse ihre Wangen bei einer Fiirstin angewohnen
muBte, welche von alien ihren Hofdamen diese nuchtige Fleisch-
gebung zu fodern pflegte - ihr Rot bestreifte, wie der Widerschein
eines roten Sonnenschirms, sie nur mit einer leisen Mitteltinte ....
In Riicksicht der Schonheit unterschied sich die ihrige von der
ministeriellen, wie die Tugend von der Heuchelei . . . .
Das Drama wurde von den fiinf Spielern nicht im Operhause,
sondern in einem Saale des Schlosses, der die Kronung der Resi- 3c
dentin begiinstigte, in die Welt geboren. Ich war nicht dabei; aber
man hinterbrachte mir alles. Die gute Marie, Beata, hatte zu viele
Empfindung, um sie zu zeigen; sie fuhlte, daB sie die Wiederho-
lung ihres Schicksals dramatisiere, und sie besaB zu viele von den
SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 34I
guten Grundzugen des weiblichen Charakters, Um sie vor so vielen
Augen zu entbloBen. Ihre beste Rolle spielte sie also innerlich.
Henri , Gustav, spielte auBer der innerlichen auch die auBerliche
gut, aus der namlichen Ursache. Nebst der Musik isolierte und
hob ihn gerade die Menge, die ihn umsaB, aus der Menge; und das
Feierliche gab seinen innern Wellen die Starke und Hohe, um die
auBern zu uberwaltigen. Der Brief, den er uberreichen wollte,
verwirrte seine Rolle mit seiner Geschichte, die ich schreibe; und
das falsche Lob, das die Ministerin seiner neulichen Proberolle aus
£0 eben der unuberzeugten Affektation gegeben hatte, woraus sie
die ihrige iiberspannte, half ihm wahres ernten. - Der blodeste
Mensch ist, wenn viel Phantasie unter seinen Taten glimmt, der
herzhafteste, wenn sie emporlodert. -
Es ware lacherlich, wenn mein Lob von der Warme seines
Spiels bis zur Feinheit desselben ginge; aber die Zuschauer ver-
gaben ihm gern, weil die Armut an letzter 1 sich mit dem Reich-
turn an erster verband, um sie in die Tauschung zu ziehen, er sei
von - Lande und bloB Henri. -
Dieses Feuer gehorte dazu, um seiner geliebten Marie Beata
w an der Stelle, wo er ihr die Bruderschaft aufkiindigt,< den wahren
Liebebrief zu geben - sie faltete ihn zufolge ihrer Rolle auf- un-
endlich schon hatt* er die sein ganzes Leben umschlingende "Worte
gesagt: »0 doch, ich bin ja dein Bruder nicht« - sie blickte auf
seinen Namen darin - sie erriet es schon halb aus der Art der Ober-
gabe (denn sicher mankierte noch kein Madchen einer mannlichen
List, die es zu vollenden hatte) - aber es war ihr unmoglich, in eine
verstellte Ohnmacht zu fallen - denn eine wahre befiel sie - die
Ohnmacht iiberschritt die Rolle ein wenig - Gustav hielt alles fur
SpaB, die Ministerin auch und beneidete ihr die Gabe der Tau-
\o schung. - Henri weckte sie bloB mit Mitteln, die ihm sein Rollen-
Papier vorschrieb, wieder auf, und sie spielte in einer Verwirrung,
die der Kampf aller Empfindungen, der Liebe, der Bestiirzung
und der Anstrengung, gebar,und in einer andern als theatralischen
1 Namlich blofl an konventioneller; denn es gibt eine gewisse bessere, von
der nicht allemal jene, aber wohl allemal gebildete Giite des Herzens und
Kopfes begleitet wird.
342 DIE UNSICHTBARE LOGE
Verschonerung bis zu Ende Henris Geliebte, um nicht Gustavs
seine zu spielen. Nach dem Spiele muBte sie alien iibrigen Lustig-
keiten des heutigen Abends entsagen und in einem Zimrrier, das
ihr der Fiirst so wie der Doktor mit vielem empressement auf-
drang, Ruhe fur ihre nachzitternden Nerven und im Briefe Unruhe
fiir ihren schlagenden Busen suchen. Ich hebe, Teure, den Vor-
hang immer hoher auf, der damals noch das verhullte, was jetzt
deinen Nerven und deiner Brust die Ruhe nimmt!
Gustav sah nichts; an der Tafel, woran er sie vermiBte, hatt* er
nicht den Mut, seine fremden Nachbarinnen um sie zu fragen. i
Andre Dinge fragt* er kiihner heute; nicht bloB der heutige Bei-
fall war eine Eisen- und Stahlkur fur seinen Mut gewesen, sondern
auch der Wein, den e'r nicht trank, sondern aB an den narrischen
Olla Potridas der GroBen. Dieses gegessene Getrank feuerte ihn
an, die Bonmots wirklich zu offenbaren, die er sich sonst nur
innerlich sagte. Und hier bezeug* ich offentlich, daB es mich noch
bis auf diese Minute krankt, daB ich sonst bei meinem Eintritte in
die groBe Welt ein ahnlicher Narr war und Dinge dachte, die ich
hatte sagen sollen. - Besonders bereu* ich dies, daB ich zu einer
Tranchee-Majorin, die ihr kleines Madchen an der Hand und eine :
Rose, aus deren Mitte eine kleine gesprosset war, am Busen hatte,
nicht gesagt habe: Vous voila! und daB ich nicht auf die Rose ge-
wiesen, ob ich gleich das ganze Bonmot schon fertig gegossen im
Kopfe liegen hatte. Ich fiihrte nachher die Saillie lange in den Ge-
hirnkammern herum und paBte auf, brennte sie aber zuletzt doch
auf eine recht dumme Weise los und darf die Person hier nicht
einmal nennen.
Da eine Winterlandschaft mit einem kunstlichen Reife, der in
der Warme des Zimmers zerfloB und einen belaubten Friihling
aufdeckte, unter den Schau-Genchten, den optischen Prunk-Ge- >
richten der GroBen, mit stand: so hatte Gustav einen hiibschen
Einfall dariiber, den man mir nicht mehr sagen konnte. Gleichwohl
ob er gleich unter dem schonsten Deckenstucke und auf dem nied-
lichsten Stuhle aB : so nahm er doch, als ein bloBer Hof-Anhanger,
an allem Anteil, was er sagte, und an jedem, mit dem er sprach;
dir war noch, du Seliger, keine Wahrheit und keinMensch gleich-
SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 343
giiltig. Aber er steht dir noch bevor, jener herbe Obergang von
HaB und Liebe zur Gleichgiiltigkeit, welchen alle auszustehen
haben, die mit vielen Menschen oder mit vielen Satzen, fiir die sie
kalt bleiben miissen, sich abgeben!
Die Residentin zog seine scheuen Talente heute mehr als sonst
ans Licht und beschonigte den Anteil, den sie an ihm nahm, leicht
mit seinen Theater- Verdiensten um sie. - Endlich fing das dritte
Schauspiel an, worin mehre als in den beiden andern glanzen
konnten; denn es wurde nur mit den FiiBen gespielt - der Ball
:o kam. Tanzen ist der weiblichen Welt das, was das Spielen der
groBen ist — eine schone Vakanzzeit der Zungen, die oft unbe-
holfen, oft gefahrlich werden. Fiir einen Kopf wie der Gustavische,
der so viele Besturmungen seiner Sinne heute zum ersten Male
erfahren, war ein Tanzsaal ein neues Jerusalem. - In der Tat ein
Tanzsaal ist etwas; sehet in den hinein, wo Gustav springt! Jedes
Saiten- und Blasinstrument wird zum Hebebaum, der die Herzen
aus dem kargen miBtrauischen Alltagleben aufhebt: - die Tanze
mengen die Menschen wie Karten in- und auseinander, und die
tonende Atmosphare um sie fasset die trunkne Masse in eines ein -
:o so viele Menschen und zu einem so freudigen Zwecke verkniipft,
durch umringende Helldammerung geblendet, durch ihre klop-
fenden Herzen begeistert, miissen den Freudenbecherwenigstens
kredenzen, welchen Gustav gar austrank; denn ihn, dem jede
Dame eine Dogaressa 1 ist, begeisterte jede Hand-Beruhrung, und
der Tumult von auBen weckte seinen ganzen innern so auf, daB
die Musik, wie zuriickprallend, ihren auBern Geburtort verlieB
und nur in seinem Innern unter und neben seinen Gedanken zu
entspringen und herauszutonen schien .... Wahrhaftig wenn man
seine Ideen um einen lodernden Kronleuchter herumtragt, so
o werfen sie ein ganz anderes Licht zuriick, als wenn man damit vor
einer okonomischen Lampe hockt! In phantasiereichen Menschen
liegen, wie in heiBen Landern oder auf hohen Bergen, alle Ex-
treme enger aneinander: bei Gustav wollte jeden Augenblick die
Entziickung zur Wehmut werden und die Freude zur Liebe, und
alle die Empfindungen , die ihm die Tanzerinnen einflofiten, wollt*
1 Frau des Doge.
344 DIE UNSICHTBARE LOGE
er seiner Einzigen bringen, die einsam wegstand. Gleichwohl war
ihm, als wiirde sie durch diese alle nicht sowohl als durch die Re-
sidentin ersetzt. Sogar durch das Drama, das mit dieser sich ge-
schlossen und worin er fiir ihre Kronung gespielet, wurde sie ihm
lieber; ja ihr heutiger Geburttag selber war einer ihrer Reize in
seinen Augen. Anders oder vernunftiger empfindet der Mensch
nie. Kurz die Residentin gewann bei allem, wessen ihn heute das
Wegsein seiner Beata beraubte. Er hatte heute zum ersten Male
von der Residentin, die er auBerordentlich achtete, mehr ange-
fasset als einen Handschuh - mehr, namlich ihre Arm- und i<
Riickenschienen, mit andern Worten ihr Kleid dariiber: an Arm
und Riicken, obwohl nicht an Handen, ist Bekleidung so viel wie
keine. Gustav! philosophiere und schlafe lieber —
Aus ist der bal pare - aber der Teufel geht erst an. Oefels Wa-
gen fuhr hinter dem Bousischen; am letzten entzundet sich eine
versaumte Radachse unter der unnutzen Eiligkeit. Freilich wars
Zufall, aber gewisse Menschen kennen keinen schlimmen, und
ihre Absichten legen sich um jeden an. Oefel muBt' ihr seinen an-
bieten. Die gute Beata war in ihrem Krankenzimmer mit einer
kleinen weiblichen Dienerschaft gelassen. Er nahm ein Pferd von 2 <
dem Wagen der Residentin; ihr lieO er (ich weiB nicht, ob aus
Galanterie gegen ihr Geschlecht oder aus Scharfsinn und Freund-
schaft fiir seines und fur seinen Roman) meinen und ihren Hel-
den. Ich wollt* es vor einem akademischen Senat ausfuhren, daB es
fiir einen, der erst ein Engel werden will, nicfrts Fataleres gibt als
mit einer, die er schon fiir einen halt, nachts aus einem Tanzsaale
nach Hause zu fahren - dennoch wurde meinem Helden kein Haar
gekriimmt, und er kriimmte auch keines.
Aber verliebter wurd' er, ohne zu wissen in wen.
Beata hatte keine ebenso gefahrliche Mitternacht oder Nach- 3 <
mitternacht; aber ich will erst seine abfertigen. Er kam mit der
Residentin in ihrem - Zimmer an. Er konnte und wollte von sei-
nen heutigen Szenen gar nicht los. Dieses Zimmer stellte ihm alle
die vergangnen dar, und in den Saiten des Klaviers verbarg sich
eine feme geliebte Stimme und hinter der Folie des Spiegels eine
feme geliebte Gestalt. Sehnsucht reihete sich wie eine dunkle
S1EBENUNDDREISSIGSTER SEKT0R 345
Blume unter den bunten Freuden-StrauB; die Residentin gewann
auch bei dieser dunkeln Blume. Sie war keine von den Koketten,
welche die Sinne friiher zu bewegen suchen als das Herz; sie fiel
erst in dieses mit dem ganzen Heer ihrer Reize ein und fuhrte nach-
her aus diesem, gleichsam in Feindes Land, den Krieg gegenyette.
Sie selber war nicht anders zu erobern, als sie bekriegte. Wenn
die Weiber der hohern Klasse, wie die Epigrammen, in solche,
die Wiv^ und in andre, die Empfindung haben,.einzuteilen sind:
so glich sie mehr dem griechischen als dem gallischen Sinngedicht,
io wiewohl die griechische Ahnlichkeit taglich kleiner wurde. Die
Maienluft ihres fruhern Lebenshatte einmal eine weiBe Bliite edler
Liebe an ihr Herz geweht, wie oft ein Blutenblatt zwischen die
gebeizten Federn oder Brillanten-Blumen des Damenhuts her-
unterzittert - aber ihr Stand formte bald ihren Busen zu einem
Potpourri urn, auf dem gemalte Blumen der Liebe und in welchem
ein faulender Bliiten-Schober ist. Alle ihre Verirrungen blieben
jedoch in den engern und schonern Grenzen, an denen eine un-
sichtbare Hand eines unausloschlichen Gefuhles sie anhielt. Die
Ministerin hatte dieses Gefiihlnie gehabt, und ihre Herzens-
20 Schreibtafel wurde immer schmutziger, je mehr sie hineinschrieb
und herauswischte. Diese konnte durchaus keinen edlen Menschen
blenden; jene konnt' es.
Jetzo nach dieser Abschweifung kann der Leser nicht mehr irre
werden, wenn Bousens Betragen gegen Gustav weder aufrichtig
noch verstellt, sondern beides ist. Sie zeigte ihm das Nachtstuck,
das der russische Furst dagelassen und das sie der richtigern Be-
leuchtung wegen in ihrem Kabinette aufgehangen hatte. Es stellte
bloB eine Nacht, einen aufgehenden Mond, eine Indianerin, die
ihm auf einem Berge entgegenbetet, und einen Jungling vor, der
30 auch Gebet und Arme an den Mond, die Augen aber auf die ge-
liebte Beterin an seiner Seite richtete; im Hintergund beleuchtete
noch ein Johanniswurmchen eine mondlose Stelle. Sie blieben im
Kabinett, die Residentin verlor sich in die gemalte Nacht, Gustav
sprach daruber; endlich erwachte sie schnell aus ihrem Schauen
und Schweigen mit den schlaftrunknen Worten: »Meine Geburt-
feste machen mich allemal betrubt.« Sie zeichnete ihm zum Be-
346 DIE UNSICHTBARE LOGE
weise fast alle dunklern Partien ihrer Lebensgeschichte vor; das
Trauer-Gemalde nahm seine Farben von ihrem Auge und ihrer
Lippe, und seine Seele von ihrem Ton, und sie endigte damit:
»Hier leidet jeder alleinAi Er ergriff in mitfuhlender Begeisterung
ihre Hand und widerlegte sie vielleicht durch einen leisen Druck.
Sie lieB ihm die Hand mit der unachtsamsten Miene; schien
aber bald eine Laute neben ihnen, die sie ergrifT, zum Vorwand zu
nehmen, um die schone Hand zuriickzufiihren. »Ich war nie un-
gliicklich,« fuhr sie bewegt fort, »solange mein Bruder noch lebte.«
Sie nahm nun das Bild desselben, das sie auf ihrem schwesterlichen i
Busen trug, nach einer leichten, aber notwendigen Enthiillung
hervor und teilte es karg seinen Augen mit, und freigebig den
ihrigen. Ob Gustav bei der Enthiillung so verschiedner Geheim-
nisse bloB auf das gemalte Brustbild hingesehen - das beurteilt
mein Konrektor und sein Fuchspelzrock am verniinftigsten, wel-
cher glaubt, es gebe keine schonere Riinde als der Perioden ihre,
und keine neuern Evas-Apfel als die im AltenBunde. MeinPelz-
Konrektor hat gut vordozieren; aber Gustav, der der trauernden
Residentin gegeniiberskzt, welche sonst blofl die Form, nie die
Farbe jener umlaubten verbotnen Frucht erraten lieB, hat schwer x <
lernen.
Die wenigsten waren, wie ich und der Konrektor, imstande ge-
wesen, ihr das Bild eigenhandig wieder einzuhandigen.
»Dieses Kabinett«, sagte sie, »lieb' ich, wenn ich traurig bin.
Hier uberraschte mich mein Alban (Name des Bruders), da er aus
London kam - hier schrieb er seine Briefe - hier wollt* er sterben,
aber der Arzt lieB ihn nicht aus seinem Zimmer.« Sie lieB unbe-
wuBt einen in die Luft versinkenden Akkord aus ihrer Laute
schliipfen. Sie blickte Gustav traumerisch an, ihr Auge umzog sich
mit immer feuchterem Schimmer. »Ihre Schwester ist noch gliick- 3c
lich !« sagte sie mit einem Trauerton, der allmachtig ist, wenn man
ihn das erstemal von schonen und sonst lachenden Lippen hort.
»Ach ich wollte,« (sagte er mit sympathetischem Kummer) »ich
hatte eine Schwester.« - Sie sah ihn mit einer kleinen forschenden
Verwunderung an und sagte : »Auf dem Theater machten Sie heute
gerade die umgekehrte Rolle gegen die namliche Person.« Dort
SIEBENUNDDREISSIGSTER $EKTOR 347
namlich gab* er sich falschlich fur einen Bruder der Beata, hier
falschlich fur keinen aus, oder vielmehr, hier kiindige er ihr seine
Liebe auf. Sein fragendes Erstaunen hing an ihrem Munde und
schwebte angstlich zwischen seiner Zunge und seinem Ohre. Sie
fuhr gleichgiiltig fort : »Freilich sagt man,<daB leibliche Bruder und
Schwestern skh selten lieben; aber ich bin dieerste Ausnahme;
Sie werden die zweite sein.« Sein Erstaunen wurde Erstarren —
Es wurde dem Publikum auch so gehen, wenn ich nicht einen
Absatz machte und es belehrte, daB die Residentin gar wohl die
) Luge geglaubt haben kann (im Grunde muB), die sie ihm sagte. —
Leute ihres Standes, denen das Furioso der Lustbarkeiten-Kon-
zerts immer in die Ohren reiBet, horen unebenbiirtige Neuigkeiten
nur mit tauben oder gar halben — sie kann mithin noch leichter
als der Leser (und wer steht mir fiir den}) den verlornen Sohn der
Roperin und des Falkenbergs mit dem gegenwartigen der Ritt-
meisterin und des Falkenbergs vermenget haben. - Ihr bisheriges
Betragen ist so wenig wider meine Vermutung, als das bisherige
des angeblichen Geschwisterpaars gegen ihre war; gleichwohl
kann ich mich verrechnen.
, Dieses Verrechnen wird aber durch ihr weiteres Betragen ganz
unwahrscheinlich. Seine Verlegenheit gebar ihre; sie bedauerte
ihre Voreiligkeit, ein Geschwisterpaar fiir glucklich und liebend
gepriesen zu haben, das sich meide und ungern von seinen Ver-
haltnissen spreche. Sie verbarg mit ihren Mienen ihre Absicht
nicht, das Gesprach abzulenken, sondern icigte sie mit FleiB; aber
zu ihrem Kummer, keinen Bruder zu haben, gesellete sich der
Kummer, daB Gustav zwar eine Schwester habe, aber nicht liebe,
und sie driickte ihre Sympathie mit dem ahnlichen Ungliick auf
ihrer Laute immer schoner und leiser aus. Gustavs getauschte
» Seele, auf der noch das heutige Fest mit seinem Glanze stand,
. uberzogen die heftigsten und unahnlichsten Wogen - MiBtrauen
kam nie in sein Herz, ob er gleich in seinem Kopfe genug davon
zu haben meinte - jetzt hatt' er die Wahl zwischen dem Throne
und dem Grabe seiner heutigen Freude.
Denn starke Seelen kennen zwischen Himmel und Hoik nichts
- kein Fegefeuer, keinen limbus infantum.
348 DIE UNSICHTBARE LOGE
Die Residentin entschied sein Schwanken. Sie nahm sein
Mienen-Chaos (- oder schien es, weil ich nicht das Herz habe, der
Schoppenstuhl und die letzte Instanz so vieler tausend Leser zu
sein -) fur die doppelte Verlegenheit und Betrubnis uber die Kalte,
womit seine (angebliche) Schwester ihn behandle, und iiber seine
Familiengeschichte. Sie hatte bisher in seinen Augen ein Sehnen
gefunden, das schonere Reize suchte als die ubrigen Hof- Augen -
sie hatte den Morgen, wo er Amandus* Grab erbat, und die Augen
voll Liebe, die er vor ihr trocknete, in ihrem gefuhlvollen Herzen
aufbewahrt - folglich gofi sie den zartlichsten Blick auf seinen u
heiBen - zog die zartlichste Stimme ihrer sympathetischen Brust
aus ihren Lauten-Saiten - wollte zuhiillen ihr pochendes Herz -
und konnte nicht einmal sein Schlagen verstecken - und fiel, als er
die Bewegung des heftigsten AfTektes machte, verloren, hinge-
rissen, mit zitterndem Auge, mit uberwaltigtem Herzen , mit irren-
der Seele und mit dem einzigen groBen langsamen, tief herauf-
geseufzeten Laute: »Bruder!!« an - ihn.
Er an sie!... Sie fuhlte das erstemal in ihrem Hofleben eine
solche Umarmung; er das erstemal eine empfangne; denn an Bea-
tens reinem Herzen hatt' er ihre Arme nie gefuhlt. O Bouse! 2C
hattestduihrdoch geglichen und warest eine Schwester geblieben!
Aber — : du gabest mehr, als du bekamest, und reizetest zum Nek-
men - du rissest ihn und dich in einen verfinsternden Gefiihl-
Orkan — an deinem Busen verlor er dein Gesicht - dein Herz -
sein eignes - und als alle Sinne mit ihren ersten Kraften sturmten,
alles, alles
Schutzgeist meines Gustavs! Du kannst ihn nicht mehr retten;
aber heil ihn, wenn er verloren ist, wenn er verloren hat, alles,
seine Tugend und seine Beata! Ziehe, wie ich, den traurigen Vor-
hang um seinen Fall und sage sogar zur Seele, die so gut ist wie 3 o
seine: »Sei besser!«
Ehe wir zur Seele gehen, der ers sagt, zu Beata, wollen wir
wenigstens einen einzigen Verteidiger fur den armen Gustav ver-
nehmen, damit man ihn nicht zu tief verdamme. Der Verteidiger
gibt bloB dieses zu bedenken: wenn die Weiber so leicht zu be-
siegen sind, so ist es, weil in alien Krieg-Verhaltnissen der an-
SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 349
greifende Teil die Vorteile vor dem angegriffenen voraushat;
kehret sich aber einmal der Fall urn, und tritt eine Versucherin
statt eines Versuchers auf: so wird derselbe Versuchte, der nie
eine Unschuld angefeindet hatte, die seinige verlieren in der un-
gewohnlichen Umkehrung der Verhaltnisse, und zwar um so
leichter, je mehr die weibliche Versuchung zarter, feiner und
durchdringender ist als die mannliche. Daher verfuhren zwar
Manner; aber Junglinge werden gewohnlich anfangs verfuhrt -
und eine Versucherin bildet zehn Versucher.
io Verzeihe, reine Beata, uns alien den Obergang zu dir! - Du
hiitest in dieser Spatnacht ein Zimmer des furstlichen Schlosses
ganz einsam, aber mit Freuden an Freuden; denn du hattest
Gustavs Brief an dich in der Hand und an der Brust; und im gan-
zen Palast war heute die kranklichste Seele die gliicklichste; denn
der Brief, den sie einsam lesen, kussen, ohne innere und auBere
Sturme ausgenieBen konnte, leuchtete ihrem zarten Auge milder
als die Gegenwart des Gegenstandes, dessen Gliihfeuer erst durch
eine Entfernung zur wehenden Warme fiel ; seine Gegenwart iiber-
haufte sie mit GenuB zu sehr, und sie umarmte da jeden Augen-
20 blick den Genius ihrer Tugend, wenn sie glaubte, bloB ihren
Freund zu umfassen. - In dieser Lenz-Entziickung, als sie in der
einen Hand den Brief und in der andern den Genius der Tugend
hatte, storte sie der scheerauische - Fiirst. So schiebt sich auf dem
Bauch eine Krote in ein Blumenbeet.
Einer Frau wird ihr Betragen in solchem Fall nur dann schwer,
wenn sie noch unentschlossen zwischen Gleichgiiltigkeit und
Liebe schwankt; oder auch wenn sie trotz aller Kalte aus Eitelkeit
doch gerade so viel bewilligen mochte, daB die Tugend nichts
verlore und die Liebe nichts gewonne; - hingegen im Fall der
30 vollendeten tugendhaften Entschlossenheit kann sie sich frei der
innern Tugend iiberlassen, die fur sie kampfet, und sie braucht
kaum uber Zunge und Mienen zu wachen, weil diese schon ver-
dachtig sind, wenn sie eine Wache begehren. - Die Art, wie Beata
den Brief einsteckte, war der einzige kleine Halbton in dieser vol-
len Harmonie einer geriisteten Tugend. Der scheerauische Thron-
InsaB entschuldigte seine Erscheinung mit seiner Sorgfalt fur ihre
3 JO DIE UNSICHTBARE LOGE
Gesundheit. Er setzte sein folgendes Gesprach aus der franzo-
sischen Sprache - der besten, wenn man mit Weibern und mit
Witzigen sprechen will - und aus jenen Wendungen zusammen,
mit denen man alles sagen kann, was man will, ohne sich und den
andern zu genieren, die alles nur halb und von dieser Halite wieder
ein Viertel im Scherze und alles mehr verbindlich als schmeichelnd
und mehr kiihn als aufrichtig vortragen.
»So nab* ich Sie« - sagt* er mit einer verbindlichen Verwunde-
rung — »heute den ganzen Abend in meinem Kopfe abgemalt ge-
sehen; meine Phantasie hat Ihnen nichts genommen, auBer die 10
Gegenwart. - Wenn das Schicksal mit sich reden lieBe: so hatt'
ich auf dem ganzen Ball mit ihm gezankt, daB es gerade der Per-
son, die uns heute so viel Vergniigen gab, das ihrige nahm.«
»0« - sagte sie - »das gute Schicksal gab mir heute mehr Ver-
gniigen, als ich geben konnte.« Obgleich der Fiirst unter die Per-
sonen gehort, mit denen man iaber nichts sprechen mag: so sagte
sie dieses doch mit Empfindung, die aber nichts als ein Dank ans
Schicksal fiir die vorherige frohe Lese-Stunde war.
»Sie sind« (sagt' er mit einer feinen Miene, die einen andern Sinn
in Eeatens Rede legen sollte) »ein wenig Egoistin. - Das ist Ihr 20
Talent nicht - Ihres muB sein, nicht allein zu sein. Sie verbargen
bisher Ihr Gesicht wie Ihr Herz; glauben Sie, daB an meinem
Hofe niemand wert ist, beide zu bewundern und zu sehen?« - Fiir
Beata, die glaubte, sie hatte nicht notig bescheiden zu sein, son-
dern demiitig, war ein solches Lob so groB, daB sie gar nicht da-
ran dachte, es zu widerlegen. Sein Blick sah nach einer AntWort;
aber sie gab ihm uberhaupt so selten als moglich eine, weil jeder
Schritt die alte Schlinge mit in die neue tragt. Er hatte ihre Hand
anfangs mit der Miene gesucht, womit man sie einem Kranken
nimmt: sie hatte sie ihm gleichgiiltig gelassen; aber wie einen jo
toten Handschuh hatte sie ihre in seine gebettet - alle seine Ge-
fuhlspitzen konnten nicht das geringste Regsame an ihr aus-
horchen; sie zog sie weder langsam noch hurtig bei der nachsten
Erweiterung aus der rostigen Scheide heraus.
Der Tanz, der Tag, die Nacht, die Stille gaben seinen Worten
heute mehr Feuer, als sonst darin lag. »Die Lose« - sagt* er und
SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 35 I
spielte pikiert mit einer Miinze der Westentasche, um die ge-
fiohene Hand zu ersetzen - »sind ungliicklich gefallen. Die Per-
sonen, die das Talent haben, Empfindungen einzufloBen, haben
zum Ungluck oft das feindselige, selber keine zu erwidern.« Er
heftete seinen Blick plotzlich auf ihre Hemdnadel, an der eine
Perle und das Wort „ramitie" glanzte ; er sah wieder auf seine bo-
lognesische Miinze, auf der wie auf alien bolognesischen das Wort
„libertas" (Freiheit) stand. »Sie gehen mit der Freundschaft wie
Bologna mk der Freiheit um - beide tragen das als Legende, was
io sie nicht haben.« - Die edleren Menschen konnen die Worte
» Freundschaft, Empfindung, Tugenda auch von den unedelsten
nicht horen, ohne bei diesen Worten das GroBe zu denken, wozu
ihr Herz fahig ist. Beata bedeckte einen Seufzer mit ihrer steigen-
den Brust, der es nur gar zu deutlich sagen wollte, was Empfin-
dung und Freundschaft ihr fur Freuden und fiir Schmerzen gaben ;
aber den Fiirsten ging er nichts an.
Sein haschender Blick, den er nicht seinem Geschlecht, sondern
seinem Stande verdankte, erwischte den Seufzer, den er nicht
horte. Er machte auf einmal wider die Natur der Appellation und
20 der Natur einen dialogischen Sprung : »Verstehen Sie mich nicht?«
sagt* er mit einem Tone voll hoffender Ehrerbietung. Sie sagte
kalter, als der Seufzer versprach,siekonneheutemitihremkranken
Kopfe nichts tun, als ihn auf den - Arm stiitzen, und bloB der
mache ihr es schwef, die Ehrfurcht einer Untertanin und die Ver-
schiedenheit ihrer Meinungen von den seinigen mit gleicher
Starke auszudriicken. - Gleich Raubtieren haschte er, wenn
Schleichen zu nichts fiihrte, durch Spriinge. »0 doch!« (sagt* er
und machte Henris Liebeerklarung zur seinigen) »Marie! ich bin
ja Ihr Bruder nicht.« Eine Frau gewinnt, wenn sie zu langc ge-
30 wisse Erklarungen nicht verstehen will, nichts als — die deutlich-
sten. Er lag noch dazu in Henris Attitude vor ihr. »Erlassen Sie
mir«, antwortete sie, »die Wahl, es fiir Scherz oder fiir Ernst zu
halten - auBer dem Theater bin ich unfahiger, den Rosen-Preis
zu verdienen oder zu vernachlassigen; aber Sie sinds, die Sie ihn
uberall bloB geben mussen.« - »Wem aber?« (sagt* er, und man
sieht daraus, daB gegen solche Leute keine Grunde helfen) - »ich
352 DIE UNSICHTBARE LOGE
vergesse iiber die Schonen alle HaBlichen und uber die Schonste
alle Schonen - icn gebe Ihnen den Preis der Tugend, geben Sie
mir den der Empfindung — oder darf ich mir ihn geben ?« und
hastig zuckten seine Lippen nach ihren Wangen, auf denen bisher
mehr Tranen als Kusse waren; allein sie wich ihm mit einem kal-
ten Erstaunen, das er an alien Weibern warmer gefunden hatte,
weder um einen Zoll zu viel noch zu wenig aus und reichte bei
ihm in einem Tone, in dem man zugleich die Ehrfurcht einer Un-
tertanin, die Ruhe einer Tugendhaften und die Kalte einer Uner-
bittlichen fand, kurz in einem Tone, als hatte ihre Bitte mit dem 10
Vorgegangnen gar keine Verbindung, auf diese Art reichte sie
ihre untertanige Supplik ein, er mochte allergnadigst sich, da ihr
der Doktor gesagt hatte, sie konne heute nichts Schlimmers tun
als wachen, sich — wie ich mich ausgedruckt haben wiirde - zum
Henker scheren. Eh' er so weit ging: badinierte er noch einige
Minuten, kam daruber beinahe wieder in den alten Ton, legte
seine Inhasiv-Pro-Reprotestationen ein und zog ab.
Nichts als die Ruhe, die sie aus den Handen der Tugend und
der - Liebe und des Gustavischen Briefes hatte, gab ihr das Gluck,
daB dieser Jakob oder Jack sich an diesem Engel eine Hiifte aus- 20
renkte; — was freilich den matten Jaques um so mehr verdroB,
je mehr der Engel sich unter dem Ringen verschbnerte, da jede
weibliche Unruhe bekanntlich ein augenblickliches Schmink- und
Schonheitmittel wird.
In euerem ganzen Leben, Gustav und Beata, schluget ihr eure
Augen nie mit so verschiednem Gefiihl vor einem Morgen auf als
an dem, wo sich Beata nichts und Gustav alles vorzuwerfen hatte.
tJber den ganzen versunkenen Friihling seines Lebens schlichtete
sich ein langer Winter; er hatte auBer sich keine Freude, in sich
keinen Trost und vor sich statt der Hoffnung Reue. 3 o
Er riB sich mit so vieler Schonung, als seine Verzweiflung zu-
lieB, von den Gegenstanden seines Jammers los und jagte sein
sprudelndes Blut nach Auenthal zu Wutz - in meine Stube. Ich sah
an nichts mehr, daB er noch Gefiihl und Leben hatte, als am Ge-
witterregen seiner Augen. — Er ring vergeblich an; unter Blut,
Ideen und Tranen sanken seine Worte unter - endlich wandte er
SIEBENUNDDREISSIGSTER SEKTOR 353
sich, hochaufgliihend, von mir gegen dasFenster underzahltemir,
aufeinen Ort blickend, seinen Fall, den er von sich selbst herunter
getan. - Darauf, urn sich an sich selber durch seine Beschamung
zu rachen, lieB er sich ansehen, hielt es aber nicht langer aus, als
bis er zum Namen Beata kam; hier, wo er mich zum ersten Male
vor den gewichnen Blumengarten seiner ersten Liebe fuhrte, muBt'
er sich das Gesicht zuhullen und sagte: »0 ich war gar zu gluck-
lich und bin gar zu unglucklich.«
Die Tauschung der Residentin, welche ihn fur den Bruder
io Beatens gehalten, konnt' ich ihm leicht aus der Ahnlichkeit der
Bildnisse von ihm und dem ersten Sohne ihrer Mutter erklaren. -
Zuerst sucht' ich ihm den wichtigsten Kredit wieder zu geben —
den, den man bei sich selber finden muB : wer sich keine mora-
Hsche Starke zutrauet, buBet sie am Ende wirklich ein. Sein Fall
kam bloB von seiner neuen Lage; an einer Versuchung ist nichts
so gefahrlich als ihre Neuheit; die Menschen und die Pendul-
Uhren gehen bloB in einerlei Temperatur am richtigsten. - Obri-
gens bitt* ich die Romanenschreiber, die es noch leichter finden,
als das Gefiihl und die Erfahrung es hestatigen, daB ^weiganz reine
*o seelenvolle Seelen ihre Liebe in einen Fall verwandeln, nicht mei-
nen Helden zum Beweise zu nehmen ; denn hier mangelte die %weite
reine Seele ; hingegen die Vereinigung aller Farben von iwei scho-
nen Seelen (Gustavs und Beatens) wird immer nur die weifie der
Unschuld geben.
Sein EntschluB war der, von Beaten sich auf immer in einem
Briefe abzureiBen - das SchloB mit alien Gegenstanden, die ihn
an seine schonen Tage oder an seinen ungliicklichen erinnerten,
zu verlassen - den Winter bei seinen Eltern, die ihn allemal in der
Stadt zubrachten, zu verleben oder zu verseufzen und dann im
jo Sommer mit Oefel die Karten zum Spiel des Lebens von neuem
zu mischen, um zu sehen, was es noch, wenn die Seelenruhe ver-
loren ist, zu gewinnen oder einzubuBen gabe.... Schoner Un-
glucklicher! warum legt gerade jetzt deine gegenwartige Ge-
schichte, da ich mit ihr meine geschriebne zusammenfuhren
konnte, Flore um? Warum fallen gerade deine kurzentriiben Tage
in die kurzen triiben des Kalenders hinein? O in diesem Trauer-
354 DIE UNSICHTBARE LOGE
Winter wird mich keine Himmelleiter des Enthusiasmus mehr in
die Hohe richten, um die Bluten-Landschaft deines Lebens zu iiber-
schauen und abzuzeichnen, und ichwerde wenigvondirschreiben,
um dich ofter in meine Arme zu nehmen!
Und ihr entsetzlichen Seelen, die ihr einen Fehltritt, an dem
Gustav sterben will, unter eure Vorziige und eure Freuden rech-
net, die ihr die Unschuld nicht, wie er, selber verliert, sondern
fremde mordet, darf ich ihn durch eure Nachbarschaft auf dem
Papier besudeln? - Was werdet ihr noch aus unserem Jahrhundert
machen? - Ihr gekronten, gestirnten, turnierfahigen, infulierten
Hamlinge! Davon ist die Rede nicht und ich nab' es nie getadelt,
daB ihr aus euren Standen die sogenannte Tugend (d. h. den Schein
davon), die ein so sproder Zusatz in euren weiblichen Metallen
ist, mit so viel Glasfeuer, als ihr zusammenbringen konnt,heraus-
brennt und niederschlagt - denn in euren Standen hatVerfuhrung
keinen Namen mehr, keine Bedeutung, keine schlimme Folgen,
und ihr schadet da wenig oder nicht - aber in unsere mittleren
Stande, auf unsere Lammer schifeBet, ihr Greif- und Lammergeier,
nicht herab ! Bei uns seid ihr noch eine Epidemie (ich falle, wie ihr,
in eine Vermischung, aber nur der Metaphern), die mehr weg- :
reiBet, weil sie neuer ist. Raubet und totet da lieber alles andre als
eine weibliche Tugend! - Nur in einem Jahrhundert wie unsers,
wo man alle schonen Gefuhle starkt, nur das der Ehre nichi, kann
man die weibliche, die bloB in Keuschheit besteht, mit FiiBen tre-
ten und wie der Wilde einen Baum auf immer umhauen, um ihm
seine ersten und letzten Friichte zu nehmen. Der Raub einer weib-
lichen Ehre ist so viel als der Raub einer mannlichen, d.h. du zer-
schlagst das Wappen eines hohern Adels, zerknickst den Degen,
nimmst die Sporen ab, zerreiBest den Adelbrief und Stammbaum;
das, was der Scharfrichter am Manne tut, vollstreckest du an einem 3
armen Geschopfe, das diesen Henker liebt und bloB seine unver-
haltnismaBige Phantasie nicht bandigen kann. Abscheulich! -
Und solcher Opfer, welche die mannlichen Hande mit einem ewi-
gen Halseisen an die Unehre befestigt haben, stehen in den Gassen
Wiens zweitausend, in den Gassen von Paris dreiBigtausend, in
den Gassen von London funfzigtausend. — Entsetzlich! Todes-
ACHTUNDDREI SSI GSTER SEKTOR 355
Engel der Rache! zahle die Tranen nicht, die unser Geschlecht aus
dem weiblichen Auge ausdriickt und brennend aufs schwache
weibliche Herz rinnen la'Bt ! MiB die Seufzer und die Qualen nicht,
unter denen die Freuden-Madchen verscheiden und an denen den
eisernen Freuden-Mann nichts dauert, als daB er sich an ein andres
Bett, das kein Sterbebette ist, begeben muB!
Sanftes, treues, aber schwaches Geschlecht! Warum sind alle
Krafte deiner Seele so glanzend und groB, daB deine Besonnen-
heit zu bleich und klein dagegen ist? Warum beweget sich in dei-
10 nem Herzen eine angeborne Achtung fiir ein Geschlecht, das die
deinige nicht schont? Je mehr ihr eure Seelen schmiicket, je mehr
Grazien ihr aus euren Gliedern machet, je mehr Liebe in eurem
Herzen wallet und durch eure Augen bricht, je mehr ihr euch zu
Engeln umzaubert: desto mehr suchen wir diese Engel aus ihrem
Himmel zu werfen, und gerade im Jahrhundert eurer Verschone-
rung vereinigen sich alle, Schriftsteller, Ktinstler und GroBe, zu
einem Wald von Giftbaumen, unter denen ihr sterben sollt, und
wir schatzen einahder nach den meisten Brunnen- und Kelchver-
giftungen fiir eure Lippen!
2 ° ACHTUNDDREISSIGSTER ODER NeUJAHR-SeKTOR
Nachtmusik - Abschiedbrief- mem Zanken und Kranken
Ich hatte auf heute vor, SpaB zu machen, meine Biographie
einen gedruckten Neujahrwunsch an den Leser zu nennen und
statt der Wiinsche scherzhafte Neujahr-Fliiche zu tun und der-
gleichen mehr. Aber ich kann nicht und werd* es uberhaupt bald
gar nicht mehr konnen. Welches plumpe ausgebrannte Herz miis-
sen die Menschen haben, welche im Angesichte des ersten Tages,
der sie unter 364 andre gebuckte, ernste, klagende und zerrinnende
hineinfuhret, die tobende schreiende Freude der Tiere dem
,0 weichen stillen und ans Weinen grenzenden Vergnugen des
Menschen vorzuziehen imstande sind! Ihr musset nicht wissen,
was die Worter »erster« und »letzter« sagen, wenn ihr nicht daruber ,
356 DIE UNSICHTBARE LOGE
sie mogen einem Tage oder einem Buche oder einem Menschen
gegeben werden, tiefern Atem zieht; ihr musset noch weniger
wissen, was der Mensch vor dem Tiere voraushat, wenn in euch
der Zwischenraum zwischen Freude und Sehnsucht so grofi ist
und wenn nicht beide in euch eine Trane vereinigt! - Du Himmel
und Erde, eure jetzige Gestalt ist ein Bild (wie eine Mutter) einer
solchen Vereinigung: die in unser frierendes Auge trostend hin-
einblickende Lichtwelt, die Sonne, verwandelt den blauen Ather
um sich in eine blaue Nacht, die sich iiber den blitzenden Grund
der beschneiten Erde noch tiefer schattiert, und der Mensch sieht 10
sehnend an seinem Himmel eine herubergezogene Nacht und eine
Licht-Ritze: die tiefe Offnung und Strafie gegen hellere Welten
hin —
Die vergangne Nacht fuhrt noch meine Feder. Es ist namlich
in Auenthal wie an vielen Orten Sine, daB in der letzten feierlichen
Nacht des Jahrs auf dem Turm aus Waldhornern gleichsam ein
Nachhall der verklungnen Tage oder eine Leichenmusik des um-
gesunknen Jahrs ertont. Als ich meinen guten Wutz nebst einigen
Gehulfen in der untern Stube einiges Gerausch und einige Probe-
Tone machen horte, stand ich auf und ging mit meiner langst 20
wachen Schwester ans enge Fenster. In der stillen Nacht horte
man den Hinauftritt der Leute auf den Turm. t)ber unser Fenster
lag jener Balken, unter dem man in prophetischen Nachten hin-
aushorchen muB, um die Wolkengestalten der Zukunft zu sehen
und zu horen. Und wahrhaftig, ich sah im eigentHchen Sinn, was
der Aberglaube sehen will - ich sah wie er Sarge auf Dachern und
Leichengefolge an der einen Tiire und Hochzeitgaste und Braut-
kranz an der andern, und das Menschen-Jahr zog durch das Dorf
und hielt an seiner rechten Mutterbrust die kleinen Freuden, die
mit dem Menschen spielen, und an seiner linken die Schmerzen, 3c
die ihn anbellen; es wollte beide nahren, aber sie fielen sterbend
ab, und sooft ein Schmerz oder eine Freude abwelkte, so oft schlug
einer von den zwei Kloppeln zum Zeichen an die Turmglocken
an — Ich sah nach dem weiBen Wald hiniiber, hinter welchem
die Wohnungen meiner Freunde liegen. O junges Jahr, sagt* ich,
zieh zu meinen Freunden hin und leg ihnen in ihre Arme die Freu-
ACHTUNDDREISSIGSTER SEKTOR 357
den aus deinen und nimm die zuruckgebliebnen zahen Schmerzen
des alten mit, die nicht sterben wollen! Geh in alle vier Welt-
straBen und verteile die SaugHnge deiner rechten Brust und mir
lasse nur einen - die Gesundheit! —
Die Tone des Turms verstromten in die weite mondlose Nacht
hin, die ein groBer, mit Sternbluten iibersaeter Wipfel war. Bist
du gliicklich oder unglucklich, kleiner Schulmeister Wutz, daB
du auf deinem Turm der weiBen Mauer und einem weiBen Stein
des Auenthaler Gottesackers entgegen stehest und doch nicht da-
io ran denkest, wen Mauer und Stein verschliefien, denselben nam-
lich, der sonst an deinem Platze in dieser Stille auch wie du das
neue Jahr begriiBte, deinen Vater, der wieder ebenso ruhig wie du
uber die verwesenden Ohren des seinigen hiniiberblies? . . . Ruhi-
ger bist du freilich, der du am neuen Jahre an kein anderes Ab-
nehmen als an das der Nachte denkst; aber lieber ist mir meine
Philippine, die hier neben mir ihr Leben von neuem uberlebt und
gewiB ernsthafter als das erstemal, und in deren Brust das Herz
nicht bloB Frauenzimmer-Arbeit tut, sondern auch zuweilen zum
Gefuhl anschwillt, wie wenig der Mensch ist, wie vieler wird und
zo wie sehr die Erde eine Kirchhof-Mauer und der Mensch der ver-
puffende Sal peter ist, der an dieser Mauer anschieBet! Gute wei-
nende Schwester, in dieser Minute fragt dein Bruder nichts dar-
nach, daB du morgen - nicht viel darnach fragest; in dieser
Minute verzeihet er dirs und deinem ganzen Geschlechte, daB
eure Herzen so oft Edelsteinen gleichen, in denen die schonsten
Farben und eine - Mxicke oder ein Moos nebeneinander wohnen;
denn was kann der Mensch, der dieses verwitternde Leben
und seine verwitternden Menschen besieht und beseufzet, mitten
in diesem Gefuhle Bessers tun, als sie recht herzlich lieben,
»o recht dulden, recht... LaB dich umarmen, Philippine, und wenn
ich einmal dir nicht verzeihen will, so erinnere mich an diese
Umarmung!...
Meine Lebensbeschreibung sollte jetzo weiterrxicken; aber ich
kann meinen Kopf und meine Hand unmoglich dazu leihen, wenn
ich nicht auf der Stelle mich aus der gelehrten Welt in die zweite
schreiben will. Es ist besser, wenn ich bloB den Setzer dieser Ge-
358 DIE UNSICHTBARE LOGE
schichte mache und den schmerzhaften Brief abschreibe, den
Gustav seiner verscherzten Freundin schickte.
»Treue tugendhafte Seele ! Die jetzige dunkle Minute, die nur ich
verdienet habe, aber nicht du, quale dich nicht lange und verziehe
sich bald! O! zum Gliick kannst du doch nicht mein Auge, nicht
meinen von Schmerzen zitternden Mund und mein zertriimmertes
Herz erblicken, womit ich nun alien meinen schonen Tagen ein
Ende mache. - Wenn du mich hier schreiben sahest: so wiirde die
weichste Seele, die noch auf der Erde getrostet hat, sich zwischen
mich und meinen schlagenden Kummer stellen und mich bedecken n
wollen; sie wiirde mich heilend anblicken und fragen, was mich
quale,,.. Ach, gutes treues Herz! frage mich es nicht; ich miiBte
antworten : meine Qual, meine unsterbliche Folter, meine Vipern-
Wunde heiBet verlorne Unschuld — Dann wiirde sich deine
ewige Unschuld erschrocken wegwenden und mich nicht trosten;
ich wiirde einsam liegen bleiben, und der Schmerz stande aufrecht
mit der Geifiel bei mir; ach ich wiirde nicht einmal das Haupt auf-
heben, urn alien guten Stunden, die sich in deiner Gestalt von mir
wegbegeben, verlassen nachzusehen. - Ach es ist schon so, und
du bist ja schon gegangen! - Amandus! trennt dich der Himmel u
ganz von mir, und kannst du, der du mir die Lilien-Hand Beatens
gegeben, nicht meine befleckte sehen, die nicht mehr furdiereinste
gehort? - Ach, wenn du noch lebtest, so hatt' ich ja dich auch
verloren.... O daB es doch Stunden hienieden geben kann, die
den vollen Freudenbecher des ganzen Lebens tragen und ihn mit
einem Fall zersplittern und die Labung aller, aller Jahre ver-
schiitten diirfen!
Beata! nun gehen wir auseinander; du verdienst ein treueres
Herz, als meines war, ich verdiente deines nicht - ich habe nichts
mehr, was du lieben konntest - mein Bild in deinem Herzen muB 3 <
zerrissen werden - deines steht ewig in meinem fest, aber es sieht
mich nicht mehr mit dem Auge der Liebe, sondern mit einem zu-
gesunknen an, das iiber den Ort weint, wo es steht — Ach, Beata,
ich kann meinen Brief kaum endigen; sobald seine letzte Zeile
steht, so sind wir auseinander gerissen und horen uns nie mehr
ACHTUNDDREISSIGSTER SEKTOR 359
und kennen uns nimmer. — O Gott! wie wenig hilft die Reue
und das Beweinen! Niemand stellet das heiBe Herz des Menschen
her, wenn nichts in ihm mehr ist als der harte groBe Kummer, den
es, wie ein Vulkan ein Felsenstiick, empor- und herauszuwerfen
sucht und der immer wieder in den lodernden Kessel zuriicksturzt ;
nichts heilt uns, nichts gibt dem entblatterten Menschen das ge-
fallne Laub wieder; Ottomar behalt recht, daB das Leben des
Menschen, wie ein Vollmond, iiber lauter Nachte ziehe...
Ach es muB doch sein! Lebe nur wohl, Freundin! Gustav war
to der Stunde, die du haben wirst, nichtwert.DeinheiligesHerz,
dem er Wunden gegeben, verbinde ein Engel, und im Bande der
Freundschaft trage du es still I Meinen letzten freudigen Brief, wo
ich mich nicht mit meinem iiberschwenglichen Gliick begnugte,
leg in diesen trostlosen, in dem ich nichts mehr habe, und ver-
brenne sie miteinander ! Kein Voreiliger sage dir kunftig nach vie-
len Jahren, daB ich noch lebe, daB ich den langen Schmerz, mit
dem ich mein versunknes Gliick abbiiBe, wie Dornen in meine
verlassene Brust gedriickt und daB in meinem triiben Lebenstage
die Nacht fruher komme, die zwischen zwei Welten liegt! Wenn
10 einmal dein Bruder mit einem schoneren Herzen an deines sinkt:
so sag es ihm nicht, so sag es dir selber nicht, wer ihm ahnlich sah
- und wenn einmal dein Tranen-Auge auf die weiBe Pyramide
fallt: so wend es ab und vergiB, daB ich dort so gliicklich war.
- Ach! aber ich vergess' es nicht, ich wende das Auge nicht ab,
und konnte der Mensch sterben an der Erinnerung, ich ginge zu
Amandus' Grabe und stiirbe - Beata, Beata, an keiner Menschen-
brust wirst du starkere Liebe finden, als meine war, wiewohl star-
kere Tugend leicht - aber wenn du einmal diese Tugend gefun-
den hast, so erinnere dich meiner nicht, meines Falles nicht, bereue
10 unsre kurze Liebe nicht und tue dem, der einmal unter dem Sternen-
Himmel an deiner edlen Seele lag, nicht unrecht.... O du meine,
meine Beata! in der jet%igen Minute gehorest du ja noch mir zu,
weil du mich noch nicht kennest; in der jetzigen Minute darf noch
mein Geist, mit der Hand auf seinen Wunden und Flecken, vor
deinen treten und um ihn fallen und mit erstickten Seufzern zu
dir sagen : liebe mich ! . . . Nach dieser Minute nicht mehr — nach
360 DIE UNSICHTBARE LOGE
dieser Minute bin ich allein und ohne Liebe und ohne Trost - das
lange Leben liegt weit und leer vor mir hin, und du bist nicht da-
rin aber dieses Menschen-Leben und seine Fehltritte werden
voriibergehen, der Tod wird mir seine Hand geben und mich weg-
fiihren — die Tage jenseits der Erde werden mich heiligen fur die
Tugend und dich dann komm, Beata, dann wird dir, wenn
dich ein Engel durch dein irdisches Abendrot in die zweite Welt
getragen, dann wird dir ein hienieden gebrochnes, dort geheiligtes
Herz zuerst entgegengehen und an dich sinken und doch nicht an
seiner Wonne sterben, und ich werde wieder sagen: >Nimm mich «
wieder, geliebte Seele, auch ich bin selig< - alle irdischen Wunden
werden verschwinden, der Zirkel der Ewigkeit wird uns umfassen
und verbinden ! . . . Ach, wir miissen uns ja erst trennen, und dieses
Leben wahret noch lebe langer als ich, weine weniger als ich
und — vergiB mich doch nicht ganzlich. — Ach hast du mich denn
sehr geliebt, du Teure, du Verscherzte?...
Gustav F.«
*
Abends unter dem Zusiegeln des Briefs fuhr Beata zum SchloB-Tor
hinein. Als er ihre Lichtgestalt, die bald mit so vielen Tranen sollte
bedeckt werden, heraussteigen sah: prallte er zuriick, schrieb die 2c
Aufschrift, ging zu Bette und zog die Vorhange zu, um recht sanft
-zu weinen. Dem Romanen-Steinmetz Oefeleilteer vorziiglichaus
dem Wege, weil seine Mienen und Laute nichts als unedle Trium-
phe seines weissagenden Blickes waren ; und sogar Gustavs Nieder-
geschlagenheit rechnete er noch unedler zu seinen Triumphen —
Im Grunde wollt' ich, der Henker holte alle Weltteile und sich
dazu; denn mich hat er halb. Wenige wissen, daB er mich diese
Biographie nicht zu Ende fiihren lasset. Ich bin nun iiberzeugt,
daB ich nicht am Schlage (wie ich mir neulich unter meinem ge-
frornen Kopfzeug einbildete) noch an der Lungensucht (welches 3<
eine wahre Grille war) sterben kann; aber biirgt mir dieses dafiir,
daB ich nicht an einem Her^polypen scheitern werde, wofiir alle
menschliche Wahrscheinlichkeit ist? - Zum Gluck bin ich nicht
so hartnackig wie Musaus in Weimar, der das Dasein des seinigen,
den er so gut wie ich den meinigen mit kaltem Kaffee groB geatzet,
ACHTUNDDREISSIGSTER SEKTOR 361
nicht eher glaubte, als bis der Polype sein schones Herz verstopft
und ihm alle Wiegenfeste und alle Wunsche fur die seiner Gattin
genommen hatte. Ich sage, ich merke besser auf Vorboten von
Herzpolypen : ich verberge mir es nicht, was hinter dem aussetzen-
den Pulse steckt, namlich eben ein wirklkher Herzpolype, der
Ziindpfropf des Todes. Die fatale literarische Feme, der Rezen-
senten-Bund, schleicht mit Stricken urn uns gutwillige Narren
herum, die wir schreiben und gleich Schmetterlingen an der Um-
armung der Musen sterben - aber keine Kreuzer-Piece, nicht eine
10 Zeile sollten wir edieren fiir solche gewissenlose StoBvogel: wer
dankt mirs, daB ich Szenen aufstelle, die den Prospektmaler bei-
nahe umbringen, und biographische Seiten schreibe, die auf mich
nicht viel besser wirken als vergiftete Briefe? Wer weifi es - nach
Scheerau komm* ich jetzo seiten - als meine Schwester, daB ich
in diesem biographischen LustschloB, das mein Mausoleum wer-
den wird, oft Zimmer und Wande ubermale, die mir Puis und
Atem dergestalt benehmen, daB man mich einmal tot neben mei-
ner Malerei liegen finden raufl? MuB ich nicht, wenn ich so in die
Schlagweite des Todes gerate, aufspringen, durch die Stube zirku-
20 lieren und mitten in den zartlichsten oder erhabensten Stellen ab-
schnappen und die Stiefel an meinen Beinen wichsen, oder Hut
und Hosen auskehren, damit es mir nur den Atem nicht versetzt,
und doch wieder mich daran machen und so auf eine verdammte
Art zwischen Empfindsamkeit und Stiefelwichsen wechseln? -
Ihr verdammten Kunstrichter allzumal!
Dazu gesellen sich noch tausend Plackereien, die mich seit ei-
niger Zeit viel ofter zwicken, weil sie etwa merken, daB der Po-
lype mir bald den Garaus versetzen und sie mich nicht lange mehr
haben werden. Meinen MauBenbacher Hummer, der mich immer
3° zwischen seine gerichtherrlichen Scheren nimmt und der glaubt,
ein armer Gerichthalter musse an nichts anderm sterben als an
Arbeiten ex officio, diesen agyptischen Fronvogt will ich uber-
springen; auch meine Schwester und Wutzen unter mir, die beide
wider alles MaB lustig sind und mich fast tot singen. Aber was
mich driickt, ist der Druck der Untertanen, das metallene Druck-
werk, das man unsern Fiirsten nennt.
362 DIE UNSICHTBARE LOGE
Ich hatte mich beinahe neulich in einer Exzeptionschrift in einen
ehrenvollen Festungarrest hineingeschrieben. Hier aber auf dem
biographischen Papiere kann ich schon eher meine Orangen ohne
Karzer-Gefahr an den gekronten Kopf werfen. Pfui! bist du dar-
um Fiirst, um eine Wasserhose zu sein, die alles, woriiber sie
riickt, in ihren Krater hinaufschlingt? Und wenn du uns einmal
bestehlen willst, tu es mit keinen andern Handen als mit deinen
eignen, fahre terminierend vor alien Hausern durch das Land und
erhebe selber die ordentlichen Steuern in deinen Wagen : aber so
wie bisher, langen unsre Abgaben nach dem Transrtozoll, den sie ic
den Handen aller deiner Kassenbedienten geben miissen, so mager
wie weitgereisete Heringe oben in deiner Schatulle an, daB du im
Grunde von beschwerlichen Summen nicht mehr bekommst als
bequeme Logarithmen. Die Fiirsten haben, wie die ostindischen
Krebse, eine Riesen-Schere zum Nehmen, und eine Zwerg-Schere,
den Fang an den Mund zu bringen.
Und so ist die ganze Hauptstadt, wo jeder sich fur regierendes
Mitglied ansieht und doch jeder dariiber schreiet, daB der andre
sich ins Regieren mengt und daB die Kinder unter den Hermelin
wie unter den vaterlichen Schlafrock kriechen und vereinigt den 20
Vater nachmachen — wo die Palaste der GroBen aus Hollensteinen
gemauert sind, die wie aussatzige Hauser kleinere zernagen - wo
der Minister den Fiirsten auf seiner unempfmdlichen Hand, wie
der Falkonier den Falken auf der beschuhten, tragt - wo man die
Laster des Volks fur die Renten ihrer Obern ansieht und alles
moralische Aas, wie die Bienen ihr physisches, bloB mit Wachs
umklebt, anstatt es aus dem Bienenkorb zu tragen, d.h. wo die
Polizei die Moral ersetzen will - wo, wie an einem jeden Hofe, eine
moralischeFigur so unausstehlichund so steif gefunden wird als in
der Malerei eine geometrische - wo der Teufel vollig los und der 30
heilige Geist in der Wiiste ist und wo man Leuten, die in Auen-
thal oder sonst krumme Sonden in den Handen halten und damit
die fremden Korper und Splitter aus den Wunden des Staates
heben wollen, ins Gesicht sagt : sie waren nicht recht gescheit ....
Ich wollt', es war* wahr: so war' ich wenigstens recht gesund.
Nach einem solchen Klumpen von Ich, woraus ein Staatskorper
ACHTUNDDREISSIGSTER SEKTOR 363
wie aus Monaden besteht, ist das meinige zu winzig, urn vorge-
nommen und besehen zu werden. Sonst konnt* ich jetzo nach den
Besorgnissen um den Staat die um mich selber erzahlen.
- Und doch will ich dem Leser meine Qualen oder Sieben Worte
am Kreuze sagen, wiewohl er selber mich an das Kreuz, unter wel-
chem er mich bedauern will, hat schlagen helfen. Im Grunde fragt
kein Teufel viel nach meinem Siechtum. Ich sitze hier und stelle
mir aus unvergoltener Liebe zum Leser den ganzen Tag vor, daB
Feuer kann geschrien werden, das gleich einem Autodafe alle
to meine biographischen Papiere in Asche legt und vielleicht auch
den Verfasser. - Ich stelle mir ferner vor und martere mich, daB
dieses Buch auf dem Postwagen oder in der Druckerei so ver-
dorben werden kann, daB das Publikum um das ganze Werk so
gut wie gebracht ist, und daB es auch nach dem Druck in ein Hetz-
haus und eine Marterkammer geraten kann, wo ein kritischer
Brotherr und Kunstrichter-Ordengeneral seine Rezensenten mit
ihren langen Zahnen sitzen hat, die meiner zarten Beata und ihrem
Amanten Fleisch und Kleider abreiBen und deren Stube jener
Stube voll Spinnen gleicht, die ein gewisser Pariser hielt und die
20 bei seinem Eintritt allemal auf seine ausgezognen blutigen Tau-
benfedern zum Saugen von der Decke niederfuhren und aus deren
Fabrikaten er mit Miihe jahrlich einen seidnen Strumpf erzielte.
. . . Alle dtese Martern tu' ich mir selber an, bloB des Lesers wegen,
der am meisten verlore, wenn er mich nicht zu lesen bekame; aber
es ist diesem harten Menschen einerlei, was die ausstehen, die ihn
ergotzen. - Hab* ich endlich meine Hand von diesen Nageln des
Kreuzes losgemacht: so ekelt mich das Leben selber an als ein so
elendes langweiliges Ding von Monochord, daB jedem Angst
werden muB, ders ausrechnet, wie oft er noch Atem holen und
30 die Brust auf- und niederheben muB, bis sie erstarret, oder wie oft
er sich bis zu seinem Tode noch auf den Stiefelknecht oder vor den
Rasierspiegel werde heben miissen. — Ich betrachte oft die groBte
Armseligkeit im ganzen Leben, welche die ware, wenn einer alle
in dasselbe zerstreuet umhergesaete Rasuren, Frisuren, Anklei-
dungen, Sedes hintereinander abtun miiBte. - Der dunkelste
Nachtgedanke, der sich iiber meine etwa noch griinenden Pro-
364 DIE UNSICHTBARE LOGE
spekte lagert, ist der, daB der Tod in diesem nachtlichen Leben,
wo das Dasein und die Freunde wie weit abgeteilte Lichter im
finstern Bergwerk gehen, mir meine teure Geliebten aus den ohn-
machtigen Handen ziehe und auf immer in verschiittete Sarge ein-
sperre, zu denen kein Sterblicher, sondern bloB die groBte und
unsichtbarste Hand den Schlussel hat.... Hast du mir denn nicht
schon so viel weggerissen? Wtird' ich von Kummer oder von
Eitelkeit des Lebens reden, wenn der bunte Jugend-Kreis noch
nicht zerstiickt, wenn das Farbenband der Freundschaft, das die
Erde und ihren Schmelz noch an den Menschen heftet, noch nicht :
voneinander gesagt ware bis auf ein oder zwei Faden? - O du, den
ich jetzo aus einer weiten Entfernung weinen hore, du bist nicht
ungliicklich, an dessen Brust ein geliebtes Herz erkaltet ist, son-
dern du bists, der ists, der an das verwesende denkt, wenn er sich
iiber die Liebe des lebendigen Freundes freuen will, und der in
der seligsten Umarmung sich fragt: »Wie lange werden wir ein-
ander noch fuhlen?«...
Neununddreissigster oder i ter Epiphania-Sektor
Erst jetzt ists toll: die Krankheit hat mir zugleich die juristische
und die biographische Feder aus der Hand gezogen, und ich kann «
trotz alien Ostermessen und Fatalien in nichts eintunken
VlERZIGSTER ODER 2 tct EPIPHANIA-SEKTOR
Mich wird, wie es scheint, nebenbei auch der schwarze Star
befallen; denn Funken und Flocken und Spinnweben tanzen
stundenlang um meine Augen; und damit - sagen Plempius und
Ritter Zimmermann - meldet sich stets besagter Star an. Schielen
- sagt Richter, der Starstecher, nicht der Starinhaber, in seiner
Wundarzeneikunst (B.III, S426) - lauft untriiglich dem Stare
voraus. Wie sehr ich schiele, sieht jeder, weil ich immer rechts und
EINUNDVIERZIGSTER SEKTOR 365
links zugleich nach allem blicke und ziele. - Werd' ich denn wirk-
lich so stockblind wie ein Maulwurf: so ists ohnehin um mein
biBchen Lebensbeschreiben getan....
EINUNDVIERZIGSTER ODER 3 ter EPIPHANIA-SEKTOR
Ich besitze ein paar Fieber auf einmal, die bei andern gliick-
lichern Menschen sonst einander nicht leiden konnen: das drei-
tagige Fieber - das Quartanfieber - und noch ein Herbst- oder
Friihlingfieber im allgemeinen. - Indessen will ich, solang' ich
noch nicht eingesargt bin, dem Publikum alle Sonntage schreiben
■ und es etwa zu zwei oder drei Zeilen treiben* Auch der Stil sogar
wird jammerlich; hier wollen sich die zwei Verba reimen....
ZWEIUNDVIERZIGSTER ODER 4 ter EpIPHANIA-SeKTOR
O ihr schonen biographischen Sonntage! ich erlebe keinen wie-
der. Zu den Obeln, die ich schon bekannt gemacht habe, stoBet
noch eine lebendige Eidechse, die sich in meinem Magen aufhalt
und deren Laich ich im vorigen Sommer aus einem ungliicklichen
Durst muB eingeschluckt haben....
Dreiundvierzigster oder 5 tet und 6 ter Epiphania-Sektor
Von Kirschkernen, die im Magen aufgekeimt, wie von Erbsen
20 im Ohre hat man Beispiele. Noch aber nab' ich nicht gelesen, daB
der Same von Stachelbeeren, den man gewohnlichmit einschluckt,
in den Gedarmen getrieben hatte, wenn diese durch Verstopfung
etwa zu wahren Lohbeeten des gedachten Staudengewachses ge-
diehen waren. - O guter Himmel, was wird endlich meine Krank-
heit sein, deren unsichtbare Tatze meine Nerven ergreift, erdriickt,
ausdehnt, entzweischlitzt ....
366 DIE UNSICHTBARE LOGE
VlERUNDVIERZIGSTER ODER SePTUAGESIMA-SeKTOR
Wenns eine Krankheit gibt, die aus alien Krankheiten, aus alien
Kapittln der Pathologie auf einmal kompiliert ist: so hat sie nie-
mand als ich. Apoplexie - Hektik - Magenkrampf oder eine Ei-
dechse - dreierlei Fieber - Herzpolypus - aufgehende Stachel-
beerstauden : — das sind die wenigen sichtbaren Bestandteile und
Ingredienzien, die ich bisher an meinem Obel auskundschaften
konnen; eine verniinftige tiefere Sektion meines armen Leibes
wird auch gar die unsicktbaren, wenn ihn beide Bestandteile erlegt
haben, noch dazu gesellen....
FONFUNDVIERZIGSTER ODER SeXAGESIMA-SeKTOR
Eine bedenkliche Pleuresie - wenn man anders der ganzen Se-
miotik und den harten Pulsschlagen und Bruststichen glauben
kann - umarmt und halt mich seit vorgestern und ist willens, mein
gemiBhandeltes Leben und diese Lebensbeschreibung zu schlie-
Ben - es muBte denn durch eine gliickliche Kur der Tod in em
Empyema gemildert werden - oder in eine Phthisis - oder Vomica
- oder in einen Scirrhus oder auch in einen Ulkus. — Nach
dieser Heilung braucht man bloB meine Brust anzubohren, um
aus ihr, aus der einmal ein Buch voll Menschenliebe kam, das Le- :
ben und die Krankheitmaterie miteinander herauszuziehen....
Sechsundvierzigster oder Esto Mihi-Sektor
Ihr guten Leser! die ihr mit eurem vergebenden Auge vom
Schachbrett des ersten Sektors an bis zum Sterbelager des letzten
mir nachgezogen seid, meine Bahn und unsre Bekanntschaft haben
ein Ende - das Leben mog' euch niemals driicken - euer Geschaft-
blick moge nie iiber das kleine Feld das groBe vergessen, uber das
erste Leben das zweite, iiber die Menschen euch - euer Leben mo-
gen Traume bekranzen, und euer Sterben mogen keine erschrek-
SIEBENUNDVIERZIGSTER SEKTOR 367
ken .... Meine Schwester soil alles beschlieBen .... Lebt froh und
entschlaft froh !
SIEBENUNDVIERZIGSTER ODER InVOKAVIT-SeKTOR
Mein guter und gemarterter Bruder will haben, da 6 ich dieses
Buch ausmache. Ach, seine Schwester wiird' es ja vor Schmerzen
nicht vermogen, wenns so ware. Ich hofF aber zum Himmel, dafi
mein Bruder nicht so kranklich ist, als er meint. - Nach dem Essen
denkt ers wohl. - Und ich muB ihn, wenn wir beide Friede haben
sollen, darin bestarken und ihn fur ebenso krank ausgeben, wie er
io sich selber. Gestern muflt' ihm der Schulmeister an die Brust
klopfen, damit er horte, ob sie hallete, weil ein gewisser Avenbrug-
ger in Wien geschrieben hatte, dieses Hallen zeige eine gute Lunge
an. Zum Ungliick hallete sie wenig; und er gibt sich deshalb auf;
ich will aber ohne sein Wissen an den Herrn Doktor Fenk schrei-
ben, damit er seine Qualen stille. — Ich soil noch berichten, daB
der junge Herr von Falkenberg krank in Oberscheerau bei seinen
Eltern ist und dafi meine Freundin Beata auch kranklich bei den
ihrigen ist. ... Es ist fur uns alle ein flnstrer Winter. Der Fruhling
heile jedes Herz und gebe mir und den Lesern dieses Buchs mei-
ao nen lieben Bruder wieder!
ACHTUNDVIERZIGSTER ODER MAI-SEKTOR
Der hammernde Vetter - Kur - Bade-Karawane
— Er ist wieder zu haben, der Bruder und Biograph! Frei und
froh tret' ich wieder vor; der Winter und meine Narrheit sind
voriiber, und lauter Freude wohnt in jeder Sekunde, auf jedem
Oktavblatt, in jedem Dintentropfen.
Es ging so. Eine jede eingebildete Krankheit setzt eine wahre
voraus; aber eingebildete Krankheitursachen gibts dennoch. Mein
Wechsel zwischen Gesund- und Siechsein, zwischen Froh- und
3<58 DIE UNSICHTBARE LOGE
Traurig-, zwischen Weich- und Hartsein war mit seiner Schnellig-
keit und seinen Abstichen aufs hochste gekommen : ich konnte
vor Mangel an Atem kein Protokoll mehr diktieren, und die Sze-
nen dieser Lebensbeschreibung durfV ich mir nicht einmal mehr
denken: als ich an einem rotgliihenden Winterabend durch den
rotgeschminkten Schnee drauBen herumschritt und in diesem
Schnee das Wort »heureusement« antra f.
Ich werde an dieses Wort der Schnee- Wachstafel immer den-
ken; es war mit einem Bambusrohr lapidarisch schon hineinge-
zeichnet. »Fenk!« rief ich mechanisch. »Weit kannst du nicht weg n
sein«, dacht* ich; denn da jeder Europaer (sogar auf seinen Plan-
tagen) den Schnitt seiner Feder an einem eignen Worte priifet und
da der Doktor schon ganze Bogen mitdem Probierlaut»heureuse-
ment« als erstem Abdrucke seiner Feder vollgemacht: so wuBt'
ich sogleich, wie es war.
— Und bei mir saB er; und lachte (sicher mehr iiber die Krank-
heithistorie von meiner Schwester als iiber meine Invaliden-Ge-
stal^michsolangeauSjdaBichjdaichnichtwuBte^ollt'ichlachen
oder ziirnen, am besten eines um das andre tat. - Aber bald kam er
in meinen Fall und muBte auch eines um das andre tun - bei einer 2 <
Historie, die uns, namlich dem ganzen hypochondrischen Wohl-
fahrtausschusse, zur Schande gereicht und die ich doch erzahle.
Es befand namlich ein naher Vetter von mir, Fedderlein ge-
nannt, sich auch in der Stube, der beides ein Scheerauer Schuster
und Turmer ist; er sorgt fur die Stiefel und fur die Sicherheit der
Stadt und hat mit Leder und Chronologie (wegen des Lautens)
zu tun. Mein naher Vetter war kohlschwarz und betriibt, nicht
iiber meine Krankheit, sondern iiber die seiner Frau, weil sie dar-
an verstorben war. Diesen Krankheit- und Totenfall wollt* er
mir und dem Doktor auch hinterbringen, um den letzten zu be- 5G
lehren und den ersten zu ruhren. Es ware auch gegangen, hatt* er
nicht zum Ungliick ein Trennmesser meiner Philippine erwischt
und damit, wahrend seiner eignen Aufmerksamkeit auf die Todes-
post, sehr auf den Tisch gehammert. Ich setzte mirs sogleich vor,
es nicht zu leiden. Meine Hand kroch daher - meine Augen hielten
seine fest - dem gedachten Hammer naher, um ihn zu hindern.
ACHTUNDVIERZIGSTER SEKTOR 369
Aber des Vetters Hand wich ihr hof lich aus und klopfte fort.
Ich hatte mich gern tief geriihrt, denn er kam den letzten Stunden
meiner seligen Base immer naher - aber ich konnte meine Ohren
vom Messer-Hammerwerk nicht wegbringen. Zum Gliick sah ich
den kleinen Wutz dort stehen und lieh eiligst dem Klopfer das un-
gluckliche Trennmesser ab und schnitt dem Kinde damitein paar
halbe - Fastnachtbrezeln vor in der Angst.
Nun stand ich gerettet da und hatte selber das Messer. Aber er
begann jetzt auf der Klaviatur des Tisches rait den enrwaffneten
10 Fingern zu spielen und versah in seiner Novelle seine Frau mit
dem heiligen Abendmahl. Ich wollte mich und meine Ohren iiber-
winden ; aber da mich teils der innere Krieg, teils meine horchende
Aufmerksamkeit auf seine trornmelnden Finger, die ich nur mit
der groBten Muhe vernehmen konnte, ganzlich von meiner guten
Base wegzogen, die gewiB eine Frau und Turmerin war wie we-
nige, so hatt* ichs satt und ring nach seiner orgelnden Qual-Hand,
legte sie in Arrest und brach aus: »0 mein lieber Herr Vetter
Fedderlein!« Er mutmaBte, ich sei geriihrt; und wurd* es selber
immer mehr, vergaB sich und schnipsete mit den linken, noch
20 arrestfreien Fingern zu stark an den Tisch.
Ich wollte mir wie ein Stoiker auf dieser neuen Ungliick-Sta-
tion von innen heraus helfen und stellte mir wahrend des auBern
Schnipsens hinter mir meine gute Base und ihr Totenlager vor:
»Und so« (sagt* ich beredt zu mir selber) »liegst du arme Abge-
bliihte denn drunten und bist steif und unbeweglich und sozu-
sagen tot!« - Er schnipsete jetzo ganz toll. - Ich konnte mir hicht
helfen, sondern ich zog auch die linke Hand des Historikers ge-
fanglich ein und driickte sie halb aus Riihrung. »Sie konnen beide
denken,« (sagt* er) »wie mir erst war, als fiele der Turm auf mich,
30 da sie einer wie einen Sack auf den Riicken fassen muBte und sie
die sieben Treppen so heruntertrug.« - Ich war auBer mir, erst-
lich dariiber und zweitens weil ich in meiner Hand die Anstren-
gung der seinigen zu neuem Schnipsen verspiirte; uberwaltigt
sagt* ich: »Ums Himmels willen, mein teurer Herr Vetter, um der
guten Seligen willen, wenn Er seinen eignen Vetter lieb hat. . .«
»Ich will schon auf horen,« sagt' er, »wenn Sie's so angreift.« -
37° DIE UNSICHTBARE LOGE
»Nein,« sagt* ich, »schnips' Er mir nur nicht so! - Aber so eine
Base bekommen wir beide schwerlich so bald wiederk Denn ich
besann mich nicht mehr.
Und doch besteht das Leben wie ein Miniaturgemalde aus sol-
chen Punkten, aus solchen Augenblicken. Der Stoizismus halt oft
die Keule der Stunde, aber nicht den Miickenstachel der Sekunde
ab.
Mein Doktor nahm mich ernsthaft (unter dem unbefangnen
Fragen meines Vetters: »Wie wollte mein Herr Vetter?«) aus der
Stube hinaus und sagte: »Du bist, lieber Jean Paul, mein wahrer i
Freund, ein Regierungadvokat, eine MauBenbacher Audienza,
ein Schriftsteller im lebensbeschreibenden Fache - aber ein Narr
bist du doch, ich meine ein HypochondristA
Abends tat er mir beides dar. O an jenem Abend zogest du
mich, guter Fenk, aus dem Rachen und aus den Giftzahnen der
Hypochondrie heraus, die ihren beiBenden Saft auf alle Minuten
spriitzen ! Deine ganze Apptheke lag auf deiner Zunge! Deine Re-
zepte waren Satiren und deine Kur Belehrung!
»Setz in deine Biographie,«- fing er an und steckte seine Hande
in seinen Muff - »daB es bei dir keine Nachahmung des Herrn 20
Thiimmels und seines Doktors und ihres medizinischen Kolle-
giums ist, das halb aus dem Patienten, halb aus dem Arzte be-
stand — daB ich dich auch ausfilze ; denn ich will es in der Tat tun.
- Sag mir, wo hast du bisher deine Vernunft, ja nur deine Ein-
bildkraft gehabt, daB du des Henkers lebendig warest? Antworte
mir nicht, daB die Gelehrten hier zu verschiedner Meinung waren
—daB Willis die Einbildkraft in die Hirnschwiele verlegte - Posi-
donius hingegen in die Vorderkammer, wie auch Aetius — und
Glaser ins eiformige Zentrum. Die Sach' ist nur eine lebhafte
Redensart; weil du mich aber damit irre machst: so will ich dich 30
anders angreifen. Sag mir - oder sagen Sie mir, Hebe Philippine,
wie konnten Sie zulassen, daB der Patient bisher so viel erhabne,
riihrende und poetische Empfindungen hatte und niederschrieb
fur andre Menschen? Hatten Sie ihm nicht das DintenfaB oder
den Kaffeetopf umwerfen konnen oder den ganzen Schreibtisch?
Die Anstrengung der empfindenden Phantasie ist unter alien gei-
ACHTUNDVIERZIGSTER SEKTOR 37 1
stigen die entnervendste; ein Algebraist uberlebt allemal einen
Tragddiensteller.«
»Und auch«, sagt* ich, »einen Physiologen: Hallers verdammte
und doch vortreffliche Physiologie hatte mich beinahe niederge-
arbeitet, die acht Bande hier.« —
»Eben darum,« - fuhr er fort - »diese anatomische Oktapla
spannt die Phantasie, die sonst nur uber flieBende poetische Auen
zu schweben pflegte, auf scharf abgeschnittene und noch dazu kleine
Gegenstande an; daher...«
to »Zum Gliick«- unterbrach ichihn-»richteteichmichundmeine
Phantasie ziemlich durch braunes Bier 1 wieder auf, das ich
(wenn ich Atem holen wollte) so lange nehmen muBte, als ich
liber dem Herrn von Haller saB. In diesern Vehikel und in
dieser Verdimnung bracht' ich diese Arznei des Geistes, die
Physiologie, leichter hinein. Ich kann also, wenn ich nicht der
groBte Trinker werden will, unmoglich der groBte Physiolog
werden.«
»Es ist gut,« - sagt* er ungeduldig und zog aus seinem Muff den
Schwanz heraus - »aber so wird nichts. Ich und du stehen hier in
to lauter Ausschweif-Reden, anstatt in vernunftigen Paragraphen;
die Rezensenten deiner Biographie mussen glauben, ich ware
wenig systematisch.
Ich will jetzt reden wie ein Buch oder wie eine Doktordisputa-
tion; ich sollte ohnehin eine fur einen Doktoranden mit der Dok-
torsucht schreiben und wollte darin entweder den nervus ischia-
ticus oder den nervus sympatheticus durchgehen ; ich wills bleiben
lassen und hier und in der Disputation von schwachen Nerven
uberhaupt reden.
Jeder Arzt muB eine Favorit-Krankheit haben, die er ofters
(o sieht als eine andre - die meinige ist Nervenschwache. Reizbare,
schwache, uberspannte Nerven, hysterische Umstande und deine
1 Da keine Leser weniger Ernst verstehen als die, die keinen SpaC ver-
stehen: so merk* ich fur diese Klasse hier unten an, da3 die Sache oben wirk-
lich so ist und dafi ich (als gleich unmaBiger Wasser- und Kaffeetrinker) kein
andres neryenstarkendes Mittel gegen aussetzenden Puis und Atem und andre
Schwachen, die mir alle innere Anstrengung verbitterten, von solcher Wir-
kung fand als - Hopfen-Bier.
37^ DIE UNSICHTBARE LOGE
Hypochondria - sind viele Taufnamen meiner einzigen Liebling-
krankheit.
Man kann sie so zeitig wie den Erbadel bekommen - der Erb-
adel selber, fast die hohern Weiber und hochsten Kinder haben
sie aus dieser ersten Hand - dann kann sie durch alle Doktor-Hute
gleich den ewigen Hollenstrafen nicht weggenommen, sondern
nur gelindert werden.
Du aber hast sie dir wie den Kaufadel durch Verdienste er-
worben.«
»Sie ist vielmehr selber ein Verdienst,« - sagt' ich - »und ein i,
Hypochondrist ist der Milchbruder eines Gelehrten, wenn er nicht
gar selber dieser ist; so wie die Blattern, die den Affen so gut wie
uns befallen, auf seine Verwandtschaft mit dem Menschen das
Siegel drticken.« —
»Aber dein Verdienst« - fuhr er fort - »ist viel leichter zu ku-
rieren. Wenn man dir dreierlei, namlich deine pathologischen
Fieberbilder — deine Arineiglaser - und deine Bucket nimmt: so
wird die Krankheit mit dreingegeben. Ich vergesse immerfort,
daB ich wie eine Disputation reden will. Also die Fieberbilder! -
Die jammerlichste Semiotik ist sicherlich nicht die sinesische, son- *
dern die hypochondrische. Deine Krankheit und eine stoische
Tugend gleichen sich darin, daB, wer eine hat, alle hat. Du stan-
dest als eine tragende P fancier statue da, der die Pathologie alle
ihre Insignien und Schilde aufpackte und umsteckte - jammerlich
schrittest du herum unter deinem medizinischen Gewehrtragen
und deiner semiotischen Landfracht von Herzpolypus, mazerier-
ten Lungenflugel, Magen-Insassen u.s.w.«
»Ah!« versetzte ich, »alles ist abgeladen, und ich trage bloB noch
auf der Gehirnkugel ein Kapillar- oder Haarnetz von geschwoll-
nen Blutadern, oder so eine Art Taucherkappe des Todes, welche 3<
die Leute sehr gemein einen SchlagfluB benamsen.«
»Eine Narrenkappe hast du innen auf; denn die Sache ist nicht
anders als so : im Hypochondristen sind zwar alle Nerven schwach,
aber die am schwachsten, die er am meisten gemiBbraucht. Da
man sich diese Schwache meistens ersitzt, erstudiert und erschreibt
und mithin gerade dem Unterleib, der doch der Moloch dieser
ACHTUNDVIERZIGSTER SEKTOR 373
Geisteskinder sein soil, alle die Bewegung nimmt, die man den
Fingern gibt: so vermengt man den siechen Unterleib mit siechen
Nerven und hon% Kampfs Viszeral-Spriitze sei zugleich eine
Doppelflinte gegen jenen und gegen diese. Glaub es aber nicht;
es kann ein hypochondrisches Bruststuck auf einem rustigen Un-
terleib sitzen. Nicht deine Lungenflugel sind zerknickt, wenn sie
zuweilen erschlaffen, sondern deine Lungennerven sind entseelt,
von denen sie gehoben werden sollten, oder auch deine Zwerch-
fellnerven. Spannen sich deine Magennerven ab, so hast du so
10 viel Schwindel und Ekel, als lage wirklich diatetischer Bodensatz
im Magen oder irgendeine Aderflut im Kopfe. Sogar der schwache
Magen ist nicht immer im Gefolge schwacher Nerven ; sieh nur zu,
wie ein matter Hektiker friBt und verdaut eine halbe Stunde vor sei-
nem Sterben. - Daher hat deine gelbe Herbstfarbengebung, deine
fleischlose Knochen-Versteinerung, dein auf horender Puis, sogar
deine Ohnmachten haben - nichts zu sagen, mein lieber Paul.«
»Ei! den Henker!« sagte der Patient.
»Denn«, sagte der Doktor, »da alles durch Nerven, wovon oft
Gelehrte nicht einmal die Definition wissen, worunter ich gehore,
20 ausgefuhret wird: so mussen die periodischen und wandernden,
aber fliichtigen Krampfe und Ermattungen der Nerven nach und
nach die ganze Semiotik durchlaufen, aber nicht die ganze Patho-
logic Jetzt tritt mein zweiter Paragraph in der umgoldeten Dis-
putation hervor.« -
»Wo war denn der erste?« fragt* ich.
»Schon da gewesen! Daher wirft det zweite alle Arzneiglaser
auf die Gasse, blaset alle Pulver in die Luft, legt mit Bannstrahlen
alle verdammte Magen-Arzneien in Asche, giefiet sogar warme
und oft kalte Badewannen aus und schiebt Kampfs Klistier-Ma-
30 schinen weit unter das Krankenbett und tobt sehr — Denn die
Nerven werden so wenig in einer Woche (es sei die beste Eisen-
kur da) gestarkt, als in einer Woche (es sei die groBte Ausschwei-
fung da) entmannt; ihre Starke kehret mit so langsamen Schritten
zuriick, als sie sich entfernte. Die Arzneien mussen sich also in
Speisen und - da dieses schadet - mithin die Speisen sich in Arz-
neien verwandeln.«
374 DIE UNSICHTBARE LOGE
»Ich esse vom Wenigsten.«
»Das istdie unangenehmste UnmaBigkeit; und der Magentreibt
alsdann nach seinen Kraften eine Art von Skeptizismus oder Fohis-
mus oder doch Apathie. Kehre lieber die literarische Regel (mul-
tum, non multa) um und esse vielertei, aber nicht vieL Die Diatetik
hat in Essen, Trinken, Schlafen etc. nichts iiber die Art y aber alles
tiber den Grad zu befehlen. Hochstens hat jeder seinen eignen
Regenbogen, seinen eignen Glauben, seinen eignen Magen und
seine eigne - Diatetik. Und doch ist das alles nicht mein dritter
Doktoranden-Paragraph, sondern erst dieses : bloB Bewegung des 10
Korpers ist erster Unterarzt gegen Hypochondrie; - und - da ich
schon Hypochondrie und Bewegung vereinigt im beweglichen
tiers etat gesehen - blofi Mangel aller Bewegung der Seele ist der
erste Leibarzt gegen den ganzen Teufel. Leidenschaften sind so
ungesund wie ihr Feind, das Denken, oder ihr Freund, das Dich-
ten; bloB ihre samtliche Koalition ist noch giftiger.«
»Unter den Leidenschaften« - fuhr er fort - »loset Kummer wie
Tauwetter alle Krafte auf- so wie Vergniigen unter alien Nerven-
Hebmitteln das starkste ist. - Jetzo will ich alle deine medizini-
schen Schnitzer und Waldfrevel auf einen Haufen bringen, damit 20
du nur horest, was du bist.«...
»Ich hore nicht darauf«, sagt' ich.
»Du hast aber doch, wie alle Hypochondristen und alle lecke
Weiber, fatal gehandelt und bald den Magen, bald die Lunge, d.h.
bald das Kammrad, bald das Hebrad, bald das Zifferblattrad olend
eingeschmiert, indes der treibende Gewicht-Stein abgerissen oder
abgelaufen auf der Erde lag. Du sogest dich, wie die einbeinige
Muschel, an deinen Studierfelsen an; und - dies war im Grunde
das einzige Schlimme — driicktest dich mit der brennenden und
matten Brust einer Bruthenne auf deine biographischen Eier und 30
Sektores und wolltest den Lebenden nachkommen. Wo blieb dein
Gewissen, deine Schwester, dein gelehrter Ruhm, dein Magen?«. . .
»Wedele nicht so heftig, Fenk, mit dem Muff-Schwanz und wirf
ihn lieber ins Bett!«
»Meine Doktor-Disputation und deine Krankheit sind auch aus,
wenn deine Tatigkeit sich, wie in einem Staate, von oben herab
ACHTUNDVIERZIGSTER SEKTOR 375
vefmindert; - den Kopf untatig, das Herz in heiteren Schlagen,
die Fiifie im Laufe, und dann komme der Marz nur heran.«...
Ich tats einige Monate kintereinander, urn den armen Leib wie-
der in integrum zu restituieren - und als ich mich so des gelben
Ratzenpulvers und Mehltaues fur die Nerven, namlich des Kaffees
und des Witzes enthielt und statt zu beiden zu braunem Bier und
zu meinem Wut\e griff, so wurde einmal plotzlich die Stube hell,
Auenthal und der Himmel flammend, die Menschen legten ihre
Fehler ab, alle Flachen griinten, alle Kehlen schlugen, alle Herzen
10 lachelten, ich niesete vor Licht und Wonne und dachte: entweder
eine Gottin ist gekommen oder der Friihling — es war gar bei-
des, und die Gottin war die Gesundheit.
Und bloB auf deinem Altar will ich meine biographischen Blat-
ter weiterschreiben ! - der Pestilenziar leidet es nicht anders ; seine
Schlusse und Rezepte sind die : »Ich wurde« - sagt* er - »in meiner
Biographie, gleich der heiBen Zone, den ganzen Winter mit alien
seinen Tatsachen iiberspringen, da er ohnehin nur, wie der in je-
ner Zone, im Regnen (der Augen) besteht. Ich wurde, wenn ich
an deiner Stelle saBe, sagen, der Doktor Fenk wills nicht haben,
20 nicht leiden, nicht lesen, sondern ich soil, statt in einer Entfernung
von 365 Stunden der vorausschreitenden saenden Geschichte
keuchend mit der Feder nachzueggen, lieber hart hinter der Ge-
genwart halten und sie ans Silhouettenbrett andriicken und so-
gleich abreiBen. Ich wiirde« (fuhr Fenk fort) »dem Leser raten,
bloB den Doktor Fenk anzupacken, der allein schuld sei, daB ich
vom ganzen Winter nur folgenden schlechten Extrakt gabe: Der
gute Gustav verschmerzte den Winter in des Professor Hoppe-
dizels Hause bei seinen Eltern, welche da ihr gewohnliches Win-
terquartier hatten - er mattete seinen Kopf ab, um sein Herz ab-
jo zumatten und ein anderes zu vergessen; bereuete seinen Fehler,
aber auch seinen voreiligen Abschiedbrief; setzte seine Wunden
dem philosophischen Nordwind des Professors aus, der auf einem
zarten Instrument, wie Gustav, wie auf einem Pedal mit den
FiiBen orgelt; und zehrte durch Einsperren, Denken und Sehnen
seine Lebenbluten ab, die kaum der Friihling wieder nachtreiben
oder iibermalen kann.
37<> DIE UNSICHTBARE LOGE
Beata wiirde zu Hause — denn ihr weibliches Auge fand wahr-
scheinlich die Parze ihrer Freuden leicht heraus, von der sie sich
unter dem ihr verdankten Vorwand der Kf anklichkeit ohne Miihe
geschieden hatte — noch mehr sich entblattert und umgebogen
haben, ware mein romantischer Kollege Oefel nicht gewesen: der
argerte sie hinlanglich und mischte ihrem Kummer die Erfrischun-
gen des Zornes bei, indem er immer kam und im schpnsten ge-
brochnen eingeschleierten Auge der verlornen Liebe seine eigne
aufsuchte und herausforderte. Jetzt trinkt sie, auf Fenks Treiben,
den Brunnen in Lilienbad \m& lebt allein miteinem Kammermad- 10
chen der Mai hebe die gesenkte BIumen-Knospe deines Gei-
stes empor, den dein Flockenleib, wie Blumen neu gefallner
Schnee, umlegt und drtickt und aus dessen aufgerissenen Blumen-
Blattern die Schnee-Rinde erst unter der Fruhlingsonne des ent-
fernten zweiten Himmels rinnen wird! -
Ottomar hat den Winter verzankt und verstritten; hat viele
Korrespondenz; advoziert wie ich, aber gegen jeden giftigen
Stammbaum und Hundstern auf dem Rock, am meisten gegen den
Fiirstenhut seines Bruders, der damit Untertanen wie Schmetter-
linge erwirft und fangt. Er glaubt, ein Advokat sei der einzige 20
Volktribun gegen die Regierung; nur sei das bisherige Lesen der
Advokaten schlimmer gewesen als selbst das Bucks tabieren, das
der selige Heinecke fur schlimmer ausschrie als Erbsiinde und
Pest. Ich mochte ihn fast fur den Verfasser einer Satire iiber den
Fiirsten halten, die im Winter vor den Thron kam und die der
Patenbrief eines Raubers mit der Bitte war, der Fiirst mochte dem
kleinen Diebs-Dauphin seinen Namen geben, wie einem Minister,
und sich seiner annehmen, wenn die Eltern gehenkt waren. Am
meisten fielen mir einige pasquillantische Ziige auf, die eine feinere
Hand verraten ; z. B. der Staat sei eine Menschenpyramide, wie sie 50
oft die Seiltanzer formieren, und die Spitze derselben schlieBe sich
mit einem Knaben - Das Volk sei zahe und biegsam wie das Gras,
werde vom FuBtritt nicht zerknickt, wachse wieder nach, es moge
abgebissen oder abgeschnitten werden, und die schonste Hohe
desselben fur ein monarchisches Auge sei die glattgeschorne des
Park-Grases - Diebe und Rauber wiirden fur Separatisten und
ACHTUNDVIERZIGSTER SEKTOR 377
Dissenters im Staate gehalten und lebten unter einem noch argern
Druck als die Juden, ohne alle biirgerliche Ehre, von Amtern
ausgeschlossen, in Hohlen wie die ersten Christen und eben-
solchen Verfolgungen ausgesetzt; gleichwohl fahre man solchen
Staatsbiirgern, die den Luxus und Geld-Umtrieb und Handel
starker beforderten als irgendein Gesandter, bloB darum so hart
mit, weil diese Religionsekte besondere Meinungen iiber das sie-
bente Gebot hegte, die im Grunde nur im Ausdruck sich von
denen anderer Sekten unterschieden etc. -
10 Der Verfasser kann aber auch ein wirkliches Mitglied dieser
geheimen Gesellschaft sein, die iiberhaupt weit humoristischer
und unschadlicher stiehlt als jede andre. Neulich hielten sie den
Postwagen an und nahmen ihm merits als ein Grafen-Diplom, das
jemand zugefahren wurde, der kaum die Emballage desselben ver-
diente - ferner sie forderten einmal, wie ein hoherer Gerichtstand,
dem Beiwagen gewisse wichtige Akten ab, iiber die ich hier nichts
sagen darf - und vor vierzehn Tagen hielten ihre Kaper-Schiffe
vor den Schranken der Theater- und der Redouten-Garderobe
und warfen ihre Zuggarne iiber die darin hangenden Charaktere
20 aus; es waren nachher keine Kleider zum Agieren und Maskieren
da als bauerische. - Ich halte sie fur dieselben, die, wie der Leser
weiB, vorlangst den leidtragenden Kanzeln und Altaren die
schwarzen Fliigeldecken abgeloset haben.
So ware also der biographische Winter abgetan und wegge-
schmolzen. - Hast du so viel geschrieben,« - sagte Fenk - »so
reise nach Lilienbad und gebrauche den Brunnen und den Brun-
nen-Doktor, welches ich bin, und den Brunnen-Gast, welches
Gustav ist: denn dieser heilet ohne das Lilien-Wasser und ohne
die Lilien-Gegend dort nicht aus ; ich muB ihn hinbereden, es mag
30 dort schon sein, wer will. Freue dich, wir gehen einem Paradies
entgegen, und du bist der erste Autor im Paradiese, nicht Adam.«
»Das schonste Beet« - sagt' ich - >>ist in diesem Eden das, daB
mein Werk kein Roman ist: die Kunstrichter lieBen sonst fiinf
solche Personen auf einmal wie uns nimmermehr ins Bad, sie wiir-
den vorschiitzen, es ware nicht wahrscheinlich, daB wir kamen
und uns in einem solchen Himmel zusammenfanden. Aber so nab*
378 DIE UNSICHTBARE LOGE
ich das wahre Gliick, daB ich bloB eine Lebensbeschreibung setze
und daB ich und die andern samtlich wirklich existieren, auch
auBer meinem Kopfe.«...
— Jetzt kann der Leser den Geburttag dieses Sektors erfahren :
— er ist gerade einen Tag jiinger als unser Gliick - kurz morgen
reisen wir, ich und Philippine, und heute schreib' ich an ihm.
Gustav wird bloB durch einen Strom von freundschaftlichen und
medizinischen Vorstellungen mit fortgefuhret und morgen von
uns fortgezogen. - Die Fortuna hat diesesmal keine Vapeurs und
keine einseitigen Kopfschmerzen; alles gliickt uns* eingepackt ist 10
alles — meine Fristgesuche sind geschrieben — aus MauBenbach
darf mich niemand storen - der Himmel ist himmlisch blau, und
ich brauche nicht meinen Augen, sondern dem Cyanometer 1 des
Herrn von Saussure zu glauben - ich sehe wie der Friihling und
seine gaukelnden Schmetterlinge aus und bliihe - kurz: meinem
Gliick fehlte nichts, als daB gar der heutige Sektor gliicklich ge-
schrieben war, den ich bis heute hinausspielte, um die ganze Ver-
gangenheit hinter mir zu haben und morgen nichts beschreiben
zu miissen als morgen ....
Und da der nun auch fertig ist: so - blauer Mai - breite deine 20
Liebe-Arme aus, schlage deine himmelblauen Augen auf, decke
dein Jungfrauen-Angesicht auf und betrete die Erde, damit alle
Wesen wonnetrunken an deine Wangen, in deine Arme, zu deinen
FiiBen fallen und der Lebensbeschreiber auch wo liege!
Neunundvierzigster oder i tcr Freuden-Sektor
Der Nebel - Lilienbad
Nimm uns in dein Blumen-Eden auf, eingehulltes Lilienbad,
mich, Gustav und meine Schwester, gib unsern Traumen einen
irdischen Boden, damit sie vor uns spielen, und sei so dammernd
schon wie eine Vergangenheit! 30
Heute zogen wir ein, und unser Vorreiter war ein spielender
1 Ein Blau-Messer, um die Grade des Himmelblaues abzumessen.
NEUNUNDVIERZIGSTER SEKTOR 379
Schmetterling, den wir vor uns von einer Blumen-Station auf die
andre trieben. - Und der Weg meiner Feder soil auch uber nichts
anders gehen.
Der heutige Morgen hatte die ganze Auenthaler Gegend unter
ein Nebel-Meer gesetzt. Der Wolkenhimmel ruhte auf unsern
tiefen Blumen aus. Wir brachen auf und gingen in diesen flieBen-
den Himmel hinein, in welchen uns sonst nur die Alpen heben.
An dieser Dunst-Kugel oben zeichnete sich die Sonne wie eine er-
blassende Nebensonnehinein ; endlich verlief sich der weiBe Ozean
to in lange Strome - auf den Waldern lagen hangende Berge, jede
Tiefe deckten glimmende Wolken zu, uber uns lief der blaue
Himmelzirkel immer weiter auseinander, bis endlich die Erde dem
Himmel seinen zitternden Schleier abnahm und ihm froh ins groBe
ewige Angesicht schauete - das zusammengelegte WeiBzeug des
Himmels (wie meine Schwester sagte) flatterte noch an den Bau-
men, und die Nebelflocken verhingen noch Bliiten und wogten
als Blonden um Blumen - endlich wurde die Landschaft mit den
glimmenden Goldkornern des Taues besprengt, und die Fluren
waren wie mit vergroBerten Schmetterlingflugeln iiberlegt. Eine
20 gereinigte hebende Maienluft kiihlte mit Eis den Trank der Lun-
ge, die Sonne sah frohlich auf unsern funkelnden Fruhling nieder
und schaute und glanzte in alle Taukiigelchen, wie Gott in alle
Seelen.... O wenn ich heute an diesem Morgen, wo uns alles zu
umfassen schien und wo wir alles zu umfassen suchten, mir nicht
antworten konnte, da ich mich fragte : »War je deine Tugend so
rein wie dein Vergniagen, und fur welche Stunden will dich diese
belohnen?« so kann ich jetzo noch weniger antworten, da ich sehe,
daB der Mensch seine Freuden, aber nicht seine Verdienste durch
die Erinnerung erneuern kann, und daB unsre Gehirn-Fibern die
30 Saiten einer Aolsharfe sind, die unter dem Anwehen einer langst
vergangnen Stunde zu spielen beginnen. Der groBe Weltgeist
konnte nicht die ganze sprode Chaos-Masse zu Blumen fur uns
umgestalten; aber unserem Geist gab er die Macht, aus dem zwei-
ten, aber biegsamern Chaos, aus der Gehirn-Kugel, nichts als
Rosen-Gefilde und Sonnen-Gestalten zu machen. Glucklicherer
Rousseau, als du selber wuBtest! Dein jetziger erkampfter Him-
380 DIE UNSICHTBARE LOGE
mel wird sich von dem, den du hier in deiner Phantasie anlegtest,
in nichts als darin unterscheiden, daB du ihn nicht allein bewoh-
nest....
Aber das macht eben den unendlichen Unterschied; und wo
hatt* ich ihn siiBer fiihlen konnen als an der Seite meiner Schwester,
deren Mienen der Widerschein unsers Himmels, deren Seufzer das
Echo unserer verschwisterten Harmonie gewesen. Sei nur immer
so, teure Geliebte, die du vom Kranken so viel Httest als ich von
der KrankheitI Ich weiB ohnehin nicht, was ich ofter von dir zu-
riicknehme, meinen Tadel oder mein Lob! 10
Wir langten unter sprachlosen Gedanken in Unterscheerau an
und fanden unsern bleichen Reisegenossen schon bereit, meinen
Gustav. Er schwieg viel, und seine Worte lagen unter demDrucke
seiner Gedanken; der auBere Sonnenschein erblich zu innerem
Mondschein, denn kein Mensch ist frohlich, wenn er das Beste
sucht oder zu finden hofft, was hienieden zu verlieren ist- Ge-
sundheit und Liebe. Da in solchen Fallen die Saiten der Seele sich
nur unter den leichtesten Fingern nicht verstimmen, d.h. unter
den weiblichen : so lieB ich meine ruhen und weibliche spielen, die
meiner Schwester. 20
Als wir endlich manchen Strom von Wohlgeruch durchschnit-
ten hatten - denn man geht oft drauBen vor BIumen-Luftchen
vorbei, von denen man nicht weiB, woher sie wehen -; und als
alle Freuden-Diinste des heutigen Tages im Auge zum Abendtau
zusammenflossen und mit der Sonne sanken; als der Teil des
Himmels, den die Sonne iiberflammte, weiB zu gluhen anfing, eh'
er rot zu gluhen begann, indes der ostliche Teil im dunkeln Blau
nun der Nacht entgegenkam; als wir jedemVogel und Schmetter-
ling und Wanderer, der nach Lilienbad seine Richrung nahm, mit
den Augen nachgezogen waren: - so schloB uns endlich das 30
schone Tal, in das wir so viele HofTnungen als Samen kunftiger
Freuden mitbrachten, seinen Busen auf. - Unser Eingang war am
ostlichen Ende; am westlichen sah uns die zur Erde herabgegan-
gene Sonne an und zerfloB gleichsam aus Entziicken iiber ihren
angewandten Tag in eine Abendrote, die durch das ganze Tal
schwamm und bis an die Laub-Gipfel stieg. Nie sah ich so eine;
FUNFZIGSTER SEKTOR 3 8 1
sie lag wie herabgetropfet in dem Gebxisch, auf dem Grase und
Laube und make Himmel und Erde zu einem Rosen-Kelch. Ein-
zelne, zuweilen gepaarte Hiitten hiillten sich mit Baumen zu;
lebendige Jalousie-Fenster aus Zweigen preBten sich an die Aus-
sichten der Zimmer und bedeckten den Glucklichen, der heraus
nach diesen Gemalden der Wonne sah, mit Schatten, Diiften,
Bliiten und Friichten. Die Sonne war hinabgeriickt, das Tal legte
wie eine verwittibte Fiirstin einen Schleier von weiBen Diiften an
und schwieg mit tausend Kehlen. Alles war still - still kamen wir
10 an - still war es um Beatens Hiitte, an deren Fenster ein Blumen-
topf mit einem einzigen VergiBmeinnicht noch vom BegieBen
tropfelte - still wahlten wir unsere gepaarte Hiitten, und unsre
Herzen zergingen uns vor ruhiger Wonne iiber diesen heiligen
Abend unsrer kunftigen Festtage, iiber diese schone Erde und
ihren schdnen Himmel, die beide zuweilen wie eine Mutter sich
nicht regen, damit das an sie gesunkene Kind nicht aus seinem
Schlummer wanke. -
O sollten einmal unsre Tage in Lilienbad auf Dornen sterben,
sollt' ich statt der Freuden-Sektores einen Jammer-Sektor schrei-
20 ben miissen - wenns einmal ist : so sieht es der Leser daran voraus,
daB ich das Wort »Freude« vom Sektor weglasse und statt der
Oberschrift nur Kreuze mache. Es ist aber unmdglich; ich kann
meinen Bogen ruhig beschlieBen. - Beata haucht noch ein leises
Abendlied in ihr mit Saiten iiberzognes Echo; wenn beide aus-
getonet, so wird der Schlaf das Sinnenlicht der Menschen in Li-
lienbad ausloschen und das Nachtstuck des Traums in den dam-
mernden Seelen ausbreiten —
FUNFZIGSTER ODER 2 tcr FREUDEN-SEKTOR
Der Brunnen - die Klagen der Liebe
30 Ich bin im ersten Himmel eingeschlafen und im dritten aufge-
wacht. Man sollte an keinen Orten aufwachen als an fremden -
in keinen Zimmern als denen, in welche die Morgensonne ihre
382 DIE UNSICHTBARE LOGE
er.sten Flammen wirft - vor keinen Feristern als denen, wo das
Schattengriin wie ein Namenzug im himmlischen Feuerwerk
brennt und wo der Vogel zwischen den durchhiipften Blattern
schreiet....
Ich wollte, mein kunftiger Rezensent lebte mit mir auf der Stube
zu Lilienbad; er wurde nicht (wie er tut) iiber meine Freuden-
Sektores den asthetischen Stab brechen, sondern einen Eichen-
zweig, urn den Vater derselben zu bekranzen
Dieser Vater ist jetzt ein Damenschneider, aber bloB in folgen-
dem Sinn: in der Mitte von Lilienbad steht der medizinische ic
Springbrunnen, aus dem man die aus der Erde quellende Apotheke
schopft; von diesem Brunnen entfernen sich in regelloser Sym-
metric die Kunst-Bauerhutten, die die Badgaste bewohnen; jede
dieser kleinen Htitten putzt sich scherzhaft mit dem heraushan-
genden Malzeichen oder der Signatur irgendeines Handwerks,
Mein Hauschen halt eine Schere als eine technische Insignie her-
aus, um kundzutun, wer darin wohne (welches ich tue), treibe das
Damenschneider-Handwerk. Meine Schwester ist (nach dem Ex-
ponenten eines holzernen Strumpfs zu urteilen) ein Strumpfwir-
ker; neben ihr schwankt ein holzerner Stiefel oder ein holzernes 2c
Bein (wer kanns wissen?) und saget uns so gut wie ein Handwerk-
gruB den darin seBhaften Schuster an, welches niemand als mein
Gustav ist.
Auf Beatens Hiitte, die wie jetzige Damen einen Hut oder ein
Dach von Stroh aufhat, liegt eine lange Leiter hinauf und kundigt
die schone Bauerin darin an und ist die Himmelleiter, unter der
man wenigstens einen Engel sieht.
Es ist auch auswarts bekannt, daB unser Fiirstentum so gut
seinen Gesundbrunnen hat und haben muB als irgendeines auf
der Fiirstenbank - (denn jedes muB eine solche pharmazeutische ja
Quelle wie einen Flakon bei sich fiihren, um gegen kameralistische
Ohnmacht daran zu riechen) - ferner kann es bekannt sein, daB
sonst viele Gaste hierher kamen und jetzt keine Katze - und daB
daran nicht der Brunnen, sondern die Kammer schuld ist, die zu
viel hineinbauete und zu viel heraushaben will und die so teuer
anfing, als der Seltersbrunnen endigte - daB mithin unser Brun-
FUNFZIGSTER SEKTOR 383
nen so wohlfeil endigen will, als jener anfmg - und daB unser
Lilienbad bei alien medizinischen Kraften doch die wichtigere
nicht hat, einen wenigstens nur so krank zu machen, als eine
Kammerjungfer ist ich sagte, das war* alles bekannt genug,
und ich hatt' es also gar nicht zu sagen gebraucht.
Freilich ists nicht das Verdienst der andern Gesundbrunnen,
wenn sie angenehme Krankheitbrunnen sind, um die sich die
ganze groBe und reiche Welt als Priester stellet; - hatten wir nur
hier in Lilienbad auch solche weibliche Engel wie in andern Ba-
10 dern, die den Teich von Bethesda erschuttern und ihm eine me-
dizinische Kraft mitteilen, die der des biblischen Teiches entgegen-
gesetit ist; hatten wir Spieler, die zum Sitzen, Brunnenarzte, die
zum Brunnensaufen (nicht Brunnentrinken) zwingen : so wurde
unsere Quelle so gut wie jede andre deutsche fahig sein, die Zech-
gaste instand zu setzen, daB sie jedes Jahr - wiederkamen. Aber
so wird unsere Brunneninspektion ewig sehen miissen, wie die
kranke Phalanx der groBen Welt vor uns vorbeirollt und um an-
dre Brunnen sich drangt, wie die wilden Tiere um einen in Afri-
ka; und wenn Plinius 1 aus diesen Tierkonventen das Sprichwort
20 in der Note erklart: so wollt' ich auch ahnliche Neuigkeiten aus
den Brunnenkongressen erklaren.
Die Kammer ist am Ende am meisten zu bedauern, daB in unse-
rem Josaphats-Tale bloB Natur, Seligkeit, Mafiigkeit und Auf-
erstehung wohnet.
Heute tranken wir alle am Wasser-Baquet das iiber Eisen ab-
gezogne Wasser unter dem Larm der Vogel und Blatter und
schlangen das daraus schimmernde Sonnenbild und zugleich ihr
Feuer mit hinein. Der Kummer- Winter hat um die Augenlider
der Beata und um ihren Mund die unaussprechlich-holden Buch-
30 staben ihres verblichnen Schmerzes gezogen; ihr groBes Auge ist
ein sonnenheller Himmel, dem glanzende Tropfen entfallen. Da
ein Madchen die Pfauenspiegel ihrer Reize leichter an einem
1 Nach den Alten versammelten die seltnen Brunnen alle wilde Tiere um
sich; und diese Zusammentreffungen gaben - wie die in Redouten - zu-noch
sonderbarern und zum Sprichwort »Afrika bringt immer etwas Neuesfl oder
zu MiBgeburten Gelegenheit.
384 DIE UNSICHTBARE LOGE
andern Madchen als an einer Mannsperson entfalten kann : so ge-
wann sie sehrdurch das Spiel mitmeinerSchwester.-Gustav- war
unsichtbar; er trank seinen Brunnen nach und verirrte sich in die
Reize der Gegend, um eigentlich den groBern Reizen ihrer Be-
wohnerin zu entkommen. Das Gliick ausgenommen, sie zu sehen,
kannt* er kein groBeres als das, sie nicht zu sehen. Sie spricht
nicht von ihm, er nicht von ihr; seine herauswollenden Gedanken
an sie werden nicht zu Worten, sondern zu Errotungen. Wollte
der Himmel, ich faBte statt einer Lebensbeschreibung einen Ro-
man ab : so fuhrt' ich euch, schone Seelen, einander naher und kon- 10
struierte unsern freundschaftlichen Zirkel aus seinen Segmenten
wieder; dann bekamen wir hier einen solchen Himmel, daB, wenn
der Tod vorbeiginge und uns suchte, dieser ehrliche Mann nicht
wiiBte, ob wir schon darin saBen oder von ihm erst hineinzu-
schaffen waren —
Ich habe verstandig und delikat zugleich gehandelt, daB ich
einen gewissen Aufsatz, den Beata im Winter machte und zu dem
ich auf eine ebenso ehrliche als feine Weise kam, vor Gustav so
gut brachte wie vor meine Leser hier. Er ist an das Bild ihres
wahren Bruders gerichtet und besteht in Fragen. Der Schmerz 20
liegt auf den weiblichen Herzen, die geduldig unter ihm sich driik-
ken lassen, mit groflerer Last als auf den mannlichen auf, die sich
durch Schlagen und Pochen unter ihm wegarbeiten; wie den un-
bewegtichen Tannengipfel aller Schnee belastet, indes auf den
tiefern Zweigen, die sich immer regen, keiner bleibt.
An das Bild meines Bruders
»Warum blickst du mich so Iachelnd an, du teures Bild? Warum
bleibt dein Farbenauge ewig trocken, da meines so voll Tranen
vor dir steht? O wie wollt' ich dich lieben, warest du traurig ge-
malt! 5 o
Ach Bruder! sehnest du dich nach keiner Schwester, saget dirs
dein Herz gar nicht, daB es in der oden Erde noch ein zweites gibt,
das dich so unaussprechlich liebt? - Ach hatt* ich dich nur einmal
in meine Augen, in meine Arme gefasset — wir konnten uns nie
FUNFZIGSTER SEKTOR 385
vergessen! Aber so — wenn dii auch verlassen bist wie deine
Schwester, wenn du audi, wie sie, unter einem Regen-Himmel
und durch eine leere Erde gehest und keinen Freund in den Stun-
den des Kummers findest - ach, du hast alsdann nicht einmal ein
verschwistertes Bild, vor dem dein Herz ausblutet! - O Bruder,
wenn du gut und ungliicklich bist: so komm zu deiner Schwester
und nimm ihr ganzes Herz - es ist zerrissen, aber nicht zerteilt
und blutet nur! O es wiirde dich so sehr lieben! Warum sehnest
du dich nach keiner Schwester? O du Ungesehener, wenn dich die
ro Fremden auch verlassen, auch tauschen, auch vergessen, warum
sehnest du dich nach keiner treuen Schwester? - Wann kann ich
dirs sagen, wie oft ich dein stummes Bild an mich gepresset, wie
oft ich es stundenlang angeblicket und mir Tranen in seine ge~
malten Augen gedacht habe, bis ich selber daruber in stromende
ausgebrochen bin? — Verweile nicht so lange, bis deine Schwester
mit dem ermudeten Herzen unter der Leichendecke ausruhet und
mit allem ihren vergeblichen Sehnen, mit ihren vergeblichen
Tranen, mit ihrer vergeblichen Liebe in kalte vergessene Erde
zerfallt! Verweile auch nicht so lange, bis unsere Jugend-Auen
io abgemahet und eingeschneiet sind, bis das Herz steifer und der
Jahre und Leiden zu viele geworden sind. — Es wird auf einmal
meinem Innern so wehe, so bitter.... Bist du vielleicht schon ge-
storben, Teurer? - Ach, das betaubt mein Herz - wende dein
Auge, wenn du selig bist, von der verwaiseten Schwester und er-
blick* ihre Schmerzen nicht - ach ich frage mich schwer im blu-
tenden Innern: was hati ich noch, das mich liebt? und ich antworte
nicht.... «
*
Die Leser haben den Mut, daraus mehr zu Gustavs Vorteil zu
erraten als er selber. Ihm als Helden dieses Buchs muB dieses Blatt
jo willkommen sein ; aber ich als sein bloBer Geschichtschreiber nab*
nichts davon als ein paar schwere Szenen mehr, die ich jedoch aus
wahrer Liebe gegen den Leser gern verfertige - Billionen wollt*
ich deren ihm zu Gefallen ausarbeiten. Nur tut es meiner ganzen
Biographie Schaden, daB die Personen, die ich hier in Handlung
setze, zugleich mich in Handlung setzen und daB der Geschicht-
386 DIE UNSICHTBARE LOGE
oder Protokollschreiber selber unter die Helden und Parteien ge-
hort. Ich ware vielleicht auch unparteiischer, wenn ich diese Ge-
schichteeinpaarJahrzehendeoderJahrhundertenachihrerGeburt
aufsetzte, wie die, die kiinftig aus mir schopfen werden, tun miissen.
Die Maler befehlen dem Portratmaler, dreimal so weit vom Urbilde
abzusitzen, als es groB ist - und da Fiirsten so groB sind und da sie
folglich nur von Autoren gezeichnet werden konnen, die in einer
dieser Gro Be gleichen Entfer nung des Or ts oder der Zei t von ihnen
wegsitzen : so ware zu wiinschen, ich stande nicht neben unserem
Fiirsten, damit ich ihn nicht so vorteilhaft abmalte, als ich tue . . . . :
ElNUNDFUNFZIGSTER ODER 3 tet FrEUDEN-SeKTOR
Sonntagmorgen - offne Tafel - Gewitter - Liebe
Welch ein Sonntag! - Heut ist Montag. Ich weiB kein Mittel,
mich, der ich (wie wir alle durch unser Isolieren) ein Freuden-
Elektrophor geworden, auszuladen als durch Schreiben, ichmtiBte
denn tanzen. Gustav ho r* ich heriiber : der hat zum Auslader einen
Flugel und spielt ihn. Der Fliigel wird mir diesen Sektor sehr er-
leichtern und mir manchen funkelnden Gedanken zuwerfen. Ich
nab* mir oft gewunscht, nur so reich zu werden, daB ich mir (wie
die Griechen taten) einen eignen Kerl halten konnte, der so lange 2
musizierte, als ich schriebe. - Himmel ! welche opera omnia spros-
sen heraus! Die Welt erlebte doch das Vergnugen, daB, da bisher
so viele poetische Flickwerke (z.B. die Medea) der Anlafi zu mu-
sikalischen Meisterwerken waren, sich der Fall umkehrte und daB
musikalische Nieten poetische Treffer gaben. -
Vor Tags machten wir uns gestern aus dem Bette,- ich und mein
musikalischer Souffleur. »Wir mussen«, sagt' ich zu ihm, »vier
voile Stunden drauBen herumjagen, eh* wir in die Kirche gehen«
- namlich nach Ruhestatt, wo der vortreffliche Herr Burger aus
GroBenhayn 1 als Gastprediger auftreten sollte. Alles geschah. Bis 3
1 Seine vor einem Jahre gedruckten Predigten werden nach dem Ge-
schmack eines jeden sein, der meinen hat.
EINUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 387
diese Stunde weiB ich nicht, zieh' ich eine laue Sommernacht oder
einen kalten Sommermorgen vor : in jener rinntdas zerschmolzene
Herz in Sehnen auseinander; dieserhartetdasgliihendezurFreude
zusammen und stahlet sein Schlagen. Unsere vier Stunden zu
palingenesieren - muBte man aus hundert Lust- und Jagdschlos-
sern die Minuten dazu zusammentragen, und es hinkte doch. Die
Morgendammerung ist fur den Tag, was der Friihling fur den
Sommer ist, wie die Abenddammerung fur die Nacht, was der
Herbst fur den Winter. Wir sahen und horten und rochen und
10 fiihlten, wie allmahlich ein Stiickchen vom Tag nach dem andern
aufwachte - wie der Morgen uber Fluren und Garten zog und sie
wie vornehme Morgenzimmer mit Bliiten und Blumen raucherte
- wie er sozusagen alle Fenster offnete, damit ein kiihlender Luft-
zug den ganzen Schauplatz durchstriche — wie jede Kehle die an-
dre weckte und sie in die Lufte und Hohen zog, um mit trunkner
Brust der steigenden vertieften Sonne entgegenzufliegen und ent-
gegenzusingen - wie der bewegliche Himmel tausend Farben rieb
und verschmolz und den Faltenwurf seiner Wplken versuchte und
farbte.... So weit war der Morgen, da wir noch im tauenden Tale
20 gingen. Aber als wir aus seiner ostlichen Pforte hinaustraten in
eine unabsehliche, mit wachsenden Girlanden und regem Laub-
werk musivisch ausgelegte Aue, deren sanfte Wellenlinie in Tie-
fen fiel und auf Hohen floB, um ihre Reize und Blumen auf und
nieder zu bewegen; als wir davor standen: so erhob sich der
Sturm der Wonne und des lebenden Tages und der Ostwind ging
neben ihm und die groBe Sonne stand und schlug wie ein Herz
am Himmel und trieb alle Strbme und Tropfen des Lebens um
sich herum. —
Gustav spielt eben sanfter, und seine Tone halten meinen noch
jo immer leicht in hypochondrische Heftigkeit iibergehenden Atem
auf. -
Als jetzt die Muhle der Schopfung mit alien Radern und Stro-
men rauschte und sturmte : wollten wir in siiBer Betaubung kaum
gehen, es war uns uberall wohl; wir waren Lichtstrahlen, die jedes
Medium aus ihrem Wege brach; wir zogen mit der Biene und
Ameise und verfolgten jeden Wohlgeruch bis zu seiner Quelle
388 DIE UNSICHTBARE LOGE
und gingen um jeden Baum; jedes Geschopf war ein Pol, der un-
sere Nadel zu Abbeugungen und Einbeugungen lenkte. Wir stan-
den in einem Kreis von Dorfern, deren Wege alle mit frohlichen
Kirchgangern zuruckkamen und deren Glocken diegeistige Messe
einlauteten. Endlich zogen wir auch der wallfahrtenden Andacht
nach und. zur Kirchtiir der kiihlen Ruhestatter Kirche hinein.
Wenn ein Maitre de plaisirs einem Fiirsten eine Operndekora-
tion vorschliige, die aus einer aufziehenden Sonne, tausend Leip-
ziger Lerchen, zwanzig lautenden Glocken, ganzen Fluren und
Floren von seidnen Blumen bestande: so wiirde der Fiirst sagen, ic
es kostete zu viel - aber der Freudenmeister sollte versetzen : einen
Spaziergang kostets - oder eine Krone, sag' ich, weil zu einem
solchen GenuB nicht der Fiirst, sondern der Mensch zulangt.
In der Kirche lieB ich mich auf dem Orgelstuhl nieder, um die
plumpe Orgel zu kartatschen zum Erstaunen der meisten Seelen.
Als Gustav in eine adelige Loge trat, saB in der gegenuberstehen-
den - Beata; denn eine Predigt war ihr so lieb als einer andern ein
Tanz. Gustav biickte sich mit niederfallenden Augen und auf-
stromender Rote vor ihr und war tief geruhrt uber die blasse ge-
krankte Gestalt, die sonst vor ihm gegluhet hatte-sie warsgleich- 2 <
falls von der seinigen, auf der sie alle traurige Erinnerungen las,
die in ihre oder seine Seele geschrieben waren. Ihre vier Augefi
zogen sich vom Gegenstand der Liebe zu dem der Aufmerksam-
keit zuriick, auf Herrn Burger aus GroBenhayn. Er ring an; ich
hatte als zeitiger Organist vor, gar nicht auf ihn acht zu geben -
ein Kantor macht sich aus einer Predigt so wenig wie ein Mann
von Ton -; allein Herr Burger predigte mir mit den ersten Wor-
ten das Choralbuch aus der Hand, worin ich lesen wollte. Er trug
die Vergebung der menschlichen Fehler vor - wie hart die Men-
schen auf der einen, und wie zerbrechlich sie auf der andern Seite 3<
waren; wie sehr jeder Fehler sich ohnehin am Menschen blutig
rache und gleich einem Nervenwurme den durchfresse, den er be-
wohne, und wie wenig also ein anderer das Richteramt der Unver-
sohnlichkeit zu verwalten habe; wie wenig es Verdienst habe,
Unvorsichtigkeiten, kleine oder zu entschuldigende Fehler zu
vergeben, und wie sehr alles Verdienst auf Obersehung solcher
EINUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 389
Fehler, die uns mit Recht erbitterten, ankomme etc. Da er endlich
auf das Gliick der Menschenliebe zeigte : so ruhte das brennende
und stromende Auge Gustavs unbewuBt auf Beatens Antlitz aus;
und als endlich ihre Augen sich, dem Pfarrer zugekehrt, mit der
wahren Kummer- und Freuden-Auflosung anfiillten und als sie
unter dem Abtrocknen sie auf Gustav wandte: so offneten sie sich
einander ihre Augen und ihr Innerstes; die zwei entkorperten
Seelen schaueten groB ineinander hinein, und ein voruberfliegen-
der Augenblick des zartlichsten Enthusiasmus zauberte sie an den
10 Augen zusammen Aber plotzlich suchten sie wieder den alten
Ort, und Beata blieb mit ihren an der Kanzel.
Ich kanns nicht behaupten, ob er, Herr Burger, diese nutzliche
Predigtschon unter seine gedruckten getan oder nicht; gleichwohl
soil mich dieses Lob nicht hindern zu gestehen, daB seinen an sich
guten Predigten eigentliche Kraft einzuschlafern vielleicht fehle,
ein Fehler, den man sowohl beim Lesen als beim Horen wahr-
nimmt. Hier will ich zum Besten andrer Geistlichen einige Extra-
seiten iiber die falsche Bauart der Kirchen einschichten.
Extraseiteh iiber die falsche Bauart der Kirchen
20 Ich hah* es schon dem Konsistorium und der Bauinspektion vor-
getragen; aber es verfangt nichts. Wir und sie wissen es alle, daB
jede Kirche, eine Kathedral-Kirche so gut als ein Filial, fiir den
Kopf oder das Gehirn der Diozes zu sorgen habe, d.h. fiir den
ScA/cz/derselben, weil nach Brinkmann jenes nichts so starkt als
dieser. Es ware lacherlich, wenn ich mich hersetzen und erst lange
ausfiihren wollte, daB dieser desorganisierende Schlaf auf eine
wohlfeilere Art und fiir weniger Pfennige und Opium als bei den
Tiirken zu erregen steht; denn unser Opium wird wie Queck-
silber auBerlich eingerieben und hauptsachlich an den Ohren an-
30 gelegt. Nun ist niemand so gut wie mir bekannt, was man in der
ganzen Sache schon getan. Wie man in Konstantinopel (nach de
Tott) besondere Buden und Sitze fiir die Opiumesser, aber nur
neben den Moscheen hat: so sind sie bei uns darin und heiBen
Kirchenstiihle. - Ferner brennen ordentliche Nachtlichter auf dem
390 DIE UNSICHTBARE LOGE
Altar, Die Fensterscheiben haben in katholischen Tempeln Glas-
gemalde, die so gut wie Fenstervorhange Schatten geben. Zu-
weilen sind die Pfeiler sogeordnet oder vervielfaltigt, daB sie zur
kirchlichen Dunkelheit mithelfen, die der Zweck des Schlafens so
sehr begehrt. Da die Schlafzimmer in Frankreich lauter matte
glanzlose Farben haben : so ist in dem groBen kanonischen Schlaf-
zimmer wenigstens insofern fur den Schlaf gesorgt worden, daB
doch die Teile der Kirche, auf die das Auge sich am meisten
richtet, Altar, Pfarrer, Kantor und Kanzel, schwarz angestrichen
sind. Man sieht, ich unterdriicke keinen Vorzug, und es ist nicht 10
Tadelsucht, wenn ich tadele. -
Aber es fehlet einem Tempel noch viel zu einem wahren Dor-
mitorium, Ich stand (ich konnt* auch sagen: ich lag) in Italien
und auch in Paris in mehren Theaterlogen, die vernunftig einge-
richtet und mobliert waren : man konnte darin (weil alles dazu da
war) schlaf en^ spielen, pissen, essen und mehr .... — Man hatte seine
Freundinnen mit. Das haben nun die GroBen gewohnt; wie will
man ihnen ansinnen, sie sollen in die Kirche fahren und darin
schlafen, da ihnen ihr Geld eher alle Freuden als den Schlaf ver-
schafft? - Beim tiers etat, beim Bauer und Burger, selber beim 20
Burgermeister-Kollegium, das sich die ganze Woche matt votiert,
ists kein Wunder, sondern freilich leicht dahin zu bringen, daB
sie leicht auf jedem Stuhl, auf jeder Empor entschlafen; ich leugn'
es nicht; aber der Libertin, der Schlafer auf Eiderdunen, wird euch
(und predigte ein Konsistorialrat) auf keinem bloBen Sessel schla-
fen; er geht daher lieber in keine Kirche. Fur solche Leute von
Ton mussen daher ordentliche Kirchenbetten in den Logen auf-
geschlagen werden, damit es geht; so wie auch Spieltische, EB-
tische, Ottomanen, Freundinnen u. dergl. in einer Hof kirche so un-
entbehrliche Dinge sind, daB sie besser an jedem andern Orte 30
mangeln konnten als da.
Man kann es also, ohne mich und die Wahrheit zu beleidigen,
kein Schmeicheln nennen, wenn ich verfechte, daB hloB die dumme
Kirchen-Architektur und der Mangel alles Haus- und Kirchen-
gerats, aller Betten etc. daran schuld sind, nicht aber die gut und
philosophisch oder mystisch ausgearbeiteten Predigten geschick-
EINUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 391
ter Hof-, Universitat-, Kasernen- und Vesper-Prediger, wenn die
Leute von Stand weit weniger darin schlafen konnen, als man sich
verspricht.
Ende der Extraseiten
Nach der Kirche trafen wir alle an der Sakristei zusammen. Ich
gehe iiber Kleinigkeiten hinweg und komme sogleich dazu, daB
wir samtlich abzogen und daB Gustav unserer schonen Dauphine
den Arm gab und nahm. Es war ein ruhiges Wandeln unter der
festlichen Sonne und unter den Bliiten der Gebiische hinweg. Der
10 Putz, die getafelte Stirn, die wie Fiedelbogen-Haare hiniiberge-
spannten Stirn-Haare, die wie Zwiebelhaute tibereinander liegen-
den Rocke des weiblichen Bauerstandes malten samt dessen an-
lachendem Angesicht uns den Sonntag heller vor, als alle halbe
und ganze Partiren der Stadterinnen konnen. Auch find' ich am
Sonntage viel schonere Gesichter als an den sechs Werkeltagen,
die alles im Schmutz vermummen.
Das Gesprach muBte gleichgultig bleiben - ich denke, selbst
beim VergiBmeinnicht. Beata sah namlich eines im Grase liegen
und eilte hinzu und - da wars von Seide: »0 ein falsches«, sagte
ao sie. »Nur ein gestorbnes,« sagte Gustav, »aber ein dauerhaftes.«
Unter Personen von einer gewissen Feinheit wird leicht alles zur
Anspielung! Wohlwollen ist ihnen daher unentbehrlich, damit
sie an keine andern Anspielungen als an gutmiitige glauben. -
Ich labte mich unter dem ganzen Wege am meisten daran, daB
ich der Hintergrund und der Riickenwind war, der hintennach
ging; denn war* ich vorausgezogen, so hatt' ich den schonsten
Gang nicht gesehen, in dem sich noch die schonste weibliche Seele
durch ihren Korper zeichnete - Beatens ihren. Nichts ist charak-
teristischer als der weibliche Gang, zumal wenn er beschleunigt
3 o werden soil.
Im Tal fanden wir auBer dem Schatten und Mittage noch etwas
Schpneres, den Doktor Fenk. Er hatte ein kleines Speise-Concert
spirituel unter den Baumen angeordnet, wo wir alle wie Fiirsten
und Schauspieler offne Tafel, aber vor lauter satten musikalischen
392 DIE UNSICHTBARE LOGE
Zuschauern, vor den Vogeln, hielten. Wir hatten nichts darwider,
daB zuweilen eine Bliite in den Tunknapf, oder in das Essiggestell
ein Blattchen flatter te, oder dafi ein Luftchen das Zuckergestober
aus der Zuckerdose seitwarts wegblies; dafur lag der grofite plat
de menage, die Natur, um unsern freudigen Tisch herum, und
wir waren selber ein Teil des Schaugerichts. Fenk sagte und spielte
mit einem herabgezognen Aste; »unser Tisch hatte wenigstens
den Vorzug vor den Tischen in der groBen Welt, daB die Gaste an
unserem einander kennten ; die GroBen aber , z. B. in Scheerau oder
Italien, speiseten mehr Menschen, als sie kennen lernten; wie im xc
Fette desTieres, das von den Juden sosehrverabscheuetundnach-
geahmet wiirde, Mause lebten, ohne daB das Tier es merkte.«
Ein Arzt sei noch so delikat im Ausdruck: er ists doch nur fur
Arzte.
Unter dem Kaffee behauptete mein lieber Pestilenziar, alle
Kannen - Kaffee-, Schokolade-, Teekannen — , Kriige etc. hatten
eine Physiognomie, die man viel zu wenig studiere; und wenn
Melanchthon der Missionar und Kabinettprediger der Topfe ge-
wesen, so fehle noch ein Lavater derselben. Er habe einmal in
Holland eine Kaffeekanne gekannt, deren Nase so matt, deren «
Profil so schal und hollandisch gewesen ware, daB er zum Schiff-
arzt, der mitgetrunken, gesagt, in dieser Kanne s^Be gewiB eine
ebenso schlechte Seele, oder alle Physiognomik sei Wind : - da
er eingeschenkt hatte, so war das Gesoff nicht zum Trinken. Er
sagte, in seinem Hause werde kein Milchtopf gekauft, den er nicht
vorher, wie Pythagoras seine Schiller, in physiognomischen
Augenschein nehme.
»Wem haben wirs zuzuschreiben,« fuhr er in humoristischem
Enthusiasmus fort, »daB um unsere Gesichter und Taillen nicht
so viele Schonheitlinien als um die griechischen beschrieben sind, 3c
als bloB den verdammten Tee- und Kaffeetopfen, die oft kaum
menschlicheBildung haben und die doch unsere Weiber die ganze
Woche ansehen und dadurch kopieren in ihren Kindern? - Die
Griechinnen hitigegen wurden von lauter schonen Statuen be-
wacht, ja die Sparterinnen hatten die Bildnisse schoner Jiinglinge
sogar in ihren Schlafzimmern aufgehangen.«
EINUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 393
Ich muB aber zur Rechtfertigung von vielen hundert Damen
sagen, da6 sie dafur ja das namliche mit den Originalen tun und
daB damit auch schon etwas zu machen ist. -
Da ich in diesem Familien-Schauspiel fiir keine Gottin Achtung
habe als fiir die der Wahrheit: so kann ich sie auch meiner
Schwester nicht aufopfern, obgleich ihr Geschlecht und ihre Ju-
gend sie noch unter die Gottinnen stellen. Es argert mich, daB
sie zu wenig Stolz und zu viel Eitelkeit ernahrt. Es argert mich,
daB es sie nicht argern wird, sich hier gedruckt und getadelt zu
10 lesen, weil ihr mehr am Gewinst der Eitelkeit durch den Druck
als am Verlust des Stolzes durch den Tadel gelegen ist.
Stolz ist in unserem kriegslistigen Jahrhundert der treueste
Schutzheilige und Lehns-Vormund der weiblichen Tugend. Nie-
mand wird zwar von mir fodern, die Damen von meiner Bekannt-
schaft ofFentlich zu nennen, die gewiB wie Mailand 40 mal (nach
Keifiler) waren belagert und 20 mal erobert worden, waren sie
nicht brav stolz gewesen, ja warenichteinedavonanemem Abende
voll Tanz zweiundeinhalbmal stolz gewesen; aber nennen
konnt* ich sie, wollt' ich sonst.
20 Du lehrest mich, Hebe Philippine, daB die edelsten Gefuhle
nicht immer die Gefallsucht ausschliefien und daB ich auBer dem
Geschafte, dich zu lieben, kein besseres haben kann als das, dich
zu schelten - und deinen Medizinalrat Fenk auch, der gegen dich
seiner sorgenlosenLaune zu weit nachhangt : zum Gliick ist sie noch
im Alter, wo Madchen allemal den lieben, den sie am langsten ge-
sprochen, und wo ihr Herz wie ein Magnet das alte Eisen fallen
lasset, wenn man ein neues daran bringt.
Beata und Gustav bertihrten einander die wunden Stellen wie
zwei Schneeflocken; sogar in der Stimme und der Bewegung
jo schilderte sich zartliches, schonendes, ehrliebendes, aufopferndes
Ansichhalten. O wenn die Weigerungen der Koketterie schon so
viel geben : wie viel mussen erst die gegenwartigen der Tugend
. geben!
Der Nachmittag war auf den Fliigeln der Schmetterlinge, die
neben uns ihre tiefern Blumen suchten, davongeeilet; die Ge-
sprache nahmen wie die Augen an Interesse zu, und wir schlenter-
394 DIE UNSICHTBARE LOGE
ten (oder schreibt mans mit einem weichen D?) auf der Allee-
Terrasse hin, die den Berg wieein Giirtelumwindetundauf der das
Auge iiber die Einzaunungen des Tales in die Fluren hinuber-
gehen kann. Gegen Westen riickte ein Gewitter mit seinem Don-
ner-Tritt iiber den Himmel und hing sein Bahrtuch von schwar-
zem Gewolk iiber die Sonne. Die Gegend sah wie das Leben eines
groBen, abernichtglucklichen Menschen aus; dereineBerg gliihte
vom Flammenblick der Sonne, der andre verdunkelte sich unter
der niederfallenden Nacht einer Wolke — driiben in der Abend-
gegend brauste im Himmel statt des Vogelgesangs das himmlische 10
Pedal, der Donner, und in Reihen von weiBen Wassersaulen riB
sich der warmende Regen vom Himmel los und fiillte seine Blu-
menkelche und Gipfel wieder, aus denen er gestiegen war - es
war der Seele so feierlich, als wtirde ein Thron fur Gott errichtet,
und alles wartete, daB er darauf niederstiege.
Gustav und Beata gingen, in den Himmel versunken, auf der
Terrasse voraus; der Doktor, meine Schwester und ich in einer
kleinen Feme hinter ihnen. Endlich platzten auf dem Laube der
Allee einzelne Regen trop fen, die aus dem Saume der breiten
Wetterwolke iiber uns flogen und fielen ; - so bestreift ein donnern- 20
des niederblitzendes Ungliick der Nachbarschaft die entlegnen
Lander nur miteinigen Tranen, die aus dem Auge des Mitleids ent-
wischen. - Wir stellten uns alle unter die nachsten Baume. Gustav
und Beata standen seit vielen Monaten zum ersten Male wieder
einsamnebeneinander, ohne Ohrenzeugen, obwohlneben Augen-
zeugen. Sie Waren gegen Abend gekehrt und schwiegen. Es gibt
Lagen, wo der Mensch sich zu groB fiihlt, ein Gesprach heranzu-
lenken, oder fein zu sein, oder Anspielungen zu machen. Beide
verstummten fort, bis Gustav in der heiBesten Sonnenwende sei-
ner Empfindungen sich von der uberschwemmten Abendgegend 30
umkehrte zu Beatens Augen hin - ihre hoben sich langsam und
unverhullt zu seinen auf und der Mund unter ihnen blieb ruhig
und ihre Seele war bei niemand als bei Gott und der Tugend.
Die Wolke war verronnen und verzogen. Der Doktor hatte
heimzueilen. Niemand konnte aus seinem genieBenden Schweigen
heraus. So stumm waren wir alle die Terrasse hinunter gekommen
EINUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 395
- und jedes war auch schon von seinem belaubten Regenschirme
hinweg -, als auf einmal die tiefe Sonne die schwarze Wolken-
decke durchbranrrte und entzweiriB und den Leichenschleier des
Gewitters weit zuruckschlug und uns iiberstrahlte und die glim-
menden Gestrauche und jeden feurigen Busch.... Alle Vogel
schrien, alle Menschen verstummten - die Erde wurde eine Sonne
- der Himmel zitterte weinend iiber der Erde vor Freude und ura-
armte sie mit heiBen unermeBlichen Lichtstrahlen. -
Die Gegend brannte im himmlischen Feuerregen urn uns; aber
io unsere Augen sahen sie nicht und hingen blind an der groBen
Sonne. Im Drang, das Herz von Blut und Freude loszumachen,
versank Gustavs Hand in Beatens ihre - er wuBte nicht, was er
nahm - sie wuBte nicht, was sie gab, und ihre gegenwartigen
Gefiihle erhoben sich weit iiber geringfugige Versagungen.
Endlich legte sich die umdonnerte Sonne wie ein Weiser ruhig
unter die kiihle Erde, ihr Abendrot ruhte gliihend unter dem
blitzenden Wetter, sie schien wie eine Seele zu Gott gegangen
zu sein, und ein Donnerschlag fiel in den Himmel nach ihrem
Tode ....
20 Es dammerte . . . . die.Natur war ein stummes Gebet...! Der
Mensch stand erhabener wie eine Sonne darin; denn sein Herz
faBte die Sprache Gottes.... aber wenn in das Herz diese Sprache
kommt und es zu groB wird fur seine Brust und seine Welt: so
hauchet der groBe Genius, den es denkt und liebt, die stillende
Liebe zu den Menschen in den stiirmenden Busen, und der Un-
endliche lasset sich von uns sanft an den Endlichen lieben....
Gustav empfand die Hand, die in seiner pulsierte und aus ihr
herausstrebte - er hielt sie schwacher und sah in das schonste Auge
zuriick - seines bat Beaten unendlich riihrend um Vergebung der
30 vergangnen Tage und schien zu sagen : »0 ! nimm in dieser seligen
Stunde auch meinen letzten Kummer weg!« - Als er nun leise mit
einem Tone, der so viel war wie eine gute Tat, fragte : »Beata?«
und als er nicht weitersprechen konnte und sie das errotende An-
gesicht zur Erde wandte und auf horte, ihre Hand aus seiner zu
ziehen, und tief geriihrt wieder aufsah und ihm die Trane zeigte,
die zu ihm sagte: »Ich will dir vergeben«: so wurden aus zwei
39<> DIE UNSICHTBARE LOGE
Seelen, die noch groBer waren als die Natur urn sie, zwei Engel,
und sie fiihlten den Himmel der Engel - sie standen und schwie-
gen, in unendliche Dankbarkeit und Entztickung verloren — er
nahm endlich, zitternd vor hochachtender Freude, ihren beben-
den Arm und erreichte uns.
Den Sabbat schlossen stilfc Gedanken, stille Entziickungen,
stille Erinnerungen und ein stiller Regen aus alien entladenen Ge-
wittern.
VlERTER FREUDEN-SEKTOR
Der Traum vom Himmel - Brief Fenks *p
Seitdem ich neben meinem lelpenbeschreibenden Handwerk noch
das eines Damenschneiders betreibe, wachst ein ganz neues Leben
in mir auf. Gleiehwohl muB man dem kiinftigen Schrockh, der in
sein Bilderkabinett beriihmter Manner mich auch als einen hinein-
hangen will, den Rat geben, daB er sich maBige und aus meiner
Schneiderei nicht alles ableite, sondern etwas aus meiner Phanta-
sie. Die letzte hat sich im vorigen Winter und Herbst durch das
Malen so vieler Naturszenen so gestarkt, daB der gegenwartige
Fruhling an mir ganz andre Augen und Ohren findet als die vori-
gen alle. Das hatten wir alle, ich und Leser, eher bedenken sollen. 2o
Wenn der Reiz gewisser Laster durch die taglich wachsenden An-
strengungen der Phantasie unbezwinglich wird: warum geben
wir ihrem hinreiBenden Pinsel nicht wiirdige Gegenstande? War-
um richten wir sie nicht im Winter ab, den Fruhling aufzufassen
oder vielmehr auszuschaffen? Denn man geniefiet an der Natur
nicht, was man sieht (sonst genosse der Forster und der Dichter
drauBen einerlei), sondern was man ans Gesehene andichtet, und
das Gefuhl fur die Natur ist im Grunde die Phantasie fur dieselbe.
In keinem Kopfe aber kristallisierten sich holdere Traum- und
Phantasiegestalten als im Gustavischen. Seine Gesundheit und 3°
sein Gluck sind zurikkgekommen: das zeigen seine Nachte an,
worin die Traume wie Violen wieder ihre Lenzkelcheauseinander-
tun. Ein solcher Edenduft wallet um folgenden Traum:
ZWEIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 397
Er starb (kam ihm vor) und sollte den Zwischenraum bis zu
seiner neuen Verkorperung in lauter Traumen verspielen. Er ver-
sank in ein schlagendes Bluten-Meer, das der zusammengeflossene
Sternen-Himmel war; auf der Unendlichkeit bliihten alle Sterne
weiB und nachbarliche Bliitenblatter schlugen aneinander. War-
um berauschte aber dieses von der Erde bis an den Himmel wach-
sende Blumenfeld mit dem rauchenden Geiste von tausend Kel-
chen alle Seelen, die daruberflogen und in betaubender Wonne
niederfielen, warum mischte ein gaukelnder Wind unter einem
10 Schneegestober von Funken und bunten Feuerflocken Seelen mit
Seelen und Blumen zusammen, warum wolkte die verstorbnen
Menschen ein so siiBer und so spielender Totentraum ein? - O
darum : die nagenden Wunden des Lebens sollte der Balsamhauch
dieses unermeBHchen Fruhlings verschlieBen und der von den
StoBen der vorigen Erde noch blutende Mensch sollte unter den
Blumen zuheilen fur den kunftigen Himmel, wo die groBere Tu-
gend und Kenntnis eine genesene Seele begehrt. - Denn ach! die
Seele leidet ja hier gar zu viel! - Wenn auf jenem Schneegefilde
eine Seele die andre umfafite : so schmolzen sie aus Liebe in einen
so gliihenden Tautropfen ein; er zitterte dann an einer Blume herab
und sie hauchte ihn wieder entzweigeteilt als heiligen Weihrauch
empor. - Hoch uber dem Bliitenfeld stand Gottes Paradies, aus
dem das Echo seiner himmlischen Tone in Gestalt eines Bachs in
die Ebene herniederwallete; sein Wohllaut durchkreuzte in alien
Krummungen das Unter-Paradies und die trunknen Seelen stiirz-
ten sich aus Wonne von den Ufer-Blumen in den Flotenstrom;
im Nachhall des Paradieses erstarben ihnen alle Sinne und die zu
endliche Seele ging, in eine helle Freuden-Trane aufgeloset, auf
der laufenden Welle weiter. - Dieses Blumengefilde stieg unauf-
(o haltsam empor, dem erhoheten Paradiese entgegen, und diedurch-
eilte Himmelluft schwang sich von oben herab und ihr Nieder-
wehen faltete alle Blumen auseinander und bog sie nicht. - Aber
oft ging Gott in der dunkelsten Hohe weit uber der wehenden
Aue hinweg; wenn der Unendliche dann oben seine Unendlich-
keit in zwei Wolken verhullte, in eine blitzende, oder die ewige
Wahrheit, und in eine warm auf alles niedertraufelnde und wei-
398 DIE UNSICHTBARE LOGE
nende, oder die ewige Liebe : alsdann stand gehalten die steigende
Au, der sinkende Ather, der nachhallende Bach, das rege Blumen-
blatt; alsdann gab Gott das Zeichen, daB er voriibergehe, und eine
unermefiliche Liebe zwang alle Seelen, in dieser hohen Stille sich zu
umarmen und keine sank an eine, sondern alle an alle - ein Wonne-
Schlummer fiel wie ein Tau auf die Umarmung. Wenn sie dann
wieder auseinander erwachten, so gingen aus dem ganzen Blu-
menfelde Blitze, so rauchten alle Bliiten, so sanken alle Blatter
unter den Tropfen der warmen Wolke, so klangen alle Krum-
mungen des tonenden Baches zusammen, es wetterleuchtete das 10
ganze Paradies iiber ihnen und nichts verstummte als die lieben-
den Seelen, die zu selig waten —
Gustav erwachte in eine nahere Welt, die ein schones Gegenspiel
seiner getraumten war; die Sonne war in einen einzigen gliihenden
Strahl verwandelt, und dieser Strahl knickte auch an der Erde ab;
die Wolke der Dammerung zog herum, Blumen und Vogel hin-
gen ihre schlafenden Haupter in den Tau hin und bloB der Abend-
wind kramte noch in den Blattern umher und blieb die ganze
Nacht auf
So schleichen unsere griinen Stunden durch unser unbesuchtes 2C
Tal, sie gleiten miteinem ungehortenSchmetterling-Fittich durch
unsern Luftkreis, nicht mit der schnurrenden Kafer-Flugeldecke
- die Freude legt sich leise wie ein Abendtau an und prasselt nicht
wie ein GewitterguB herab. Unsere gluckliche Badzeit wird uns
zum Mut, zu Geschaften, zum Erdulden auf lange, auf immer er-
fnschen; das griine Lilienbad wird in unserer Phantasie eine
griine Rasenstelle bleiben, auf der, wenn einmal die Jahre alle ely-
sische Felder, die ganze Gegend unserer Freude tief uberschneiet
haben, unter ihrem warmen Hauche aller Schnee zergeht und die
uns immer angriinet, damit wir auf ihr, wie Maler auf griinem 3 <
Tuche, unsere alten Augen erquicken Ichwunsch'euch,meine
Leser, fur euer Alter recht viele solche offen bleibende Stellen
und jedem Kranken sein Lilienbad.
Tat' ichs nicht dem deutschen Publikum zu Gefallen : so wiird'
ZWEIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 399
ich schwerlich vor Freude zur Beschreibung derselben gelangen.
Und doch werd* ich keinen neuen Freuden-Sektor anfangen vor
dem Geburttage Beatens. Dieser wird auf der kleinen Molukke
Teidor begangen, dahin sind wir vom Doktor eingeladen; der hat
sein Landhaus auf dieser Insel; das Wetter wird auch schon ver-
bleiben. — Ich kann so viel ohne groBes prophetisches Talent
leicht voraussehen, daB der Geburttags- oder Teidors-Sektor
alles Schone, was je in der Alexandrinischen Bibliothek verbrannt
oder in Ratbibliotheken vermodert oder in andern erhalten wor-
io den, nicht sowohl vereinigen als vollig iiberbieten werde.
Im namlichen Brief, der uns nach der molukkischen Insel lockt,
schreibt mir der Doktor eine Neuigkeit, die insofern hier einen
Platz verdient, weil einer da ist und ich den Sektor gcrn voll haben
mochte, indem ich bloB abschriebe.
»Der Professor Hoppedizel, der auBer dem Philosophieren und
Priigeln nichts so liebt als SpaBmachen, will, sobald der Mond
wieder spater aufgeht, den machen, daB er ein Spitzbube ist. Ich
traf ihn vor einigen Tagen an, daB er sich einen langen Bart zu-
rechtsott, ferner Brecheisen versteckte und Masken wahlte. Ich
20 fragte ihn, auf welcher Redoute er stehlen wolle. Er sagte, in der
MauBenbachschen - kurz er will deinen Gerichtprinzipal dadurch,
daB er mit der kleinen Bande einbricht und statt Beute SpaB macht,
in einen theatralischen Kunst-Schrecken jagen. Zu wiinschen
ware, dieser artistische und satirische Rauberhauptmann wtirde fur
einen wahren genommen und mit seinem Brech-Apparat auf einen
Arrestanten-Wagen gebracht und offentHch hereingefahren -
nicht etwa, damit der gute Hoppedizel dabei versehret wiirde -
sondern nur damit dieser korsarische Stoiker auf die Folter kame
und dadurch drei Menschen auf einmal ins Licht setzte : erstlich
jo sich, indem er weniger das Verbrechen als seine stoischen Grund-
satze bekennte - zweitens den Pestilenziar oder mich, indem ich
bei der Tortur (wie wir bei alien Schmerzen tun) die Rucksichten
auf seine Gesundheit vorschriebe — drittens den Justitiar oder.
dich, der du zeigen konntest, daB du deine akademischen Krimi-
nalhefte schon noch im Koffer hattest.«
Ich glaube, es wird dem Leser auch so gehen wie mir, daB uns
400 DIE UNSICHTBARE LOGE
auf dem Blumengestade unter den Wohllauten der Natur dieses
Seetreffen des groBen Weltmeers und dieses SchieBen desselben
eine schreiende Dissonanz zu machen scheint.
DREIUNDFUNFZIGSTER ODER DER GROSSTE FREUDEN-SEKTOR
ODER DER GEBURTTAGS- ODER TEIDORS-SEKTOR
Der Morgen - der Abend - die Nacht
Heute ist Beatens Fest und wird immer schoner - mein Schreibe-
pult ist neun Millionen Quadratmeilen breit, namlich die Erde -
die Sonne ist meine Epiktets-Lampe, und statt der Handbibliothek
rauschen die Blatter des ganzen Naturbuchs vor mir . . . . Aber von i<
vornen an! Obrigens lieg' ich jetzt auf der Insel Teidor,
Die Tage vor schlechtem Wetter sind auch meteorologisch die
schonsten. Da wir heute als die friedlichste Quadrupel-Allianz,
die es gibt, durch unser singendes Tal, eh' noch die Morgen-
strahlen hereingestiegen waren, hinausgingen, um noch vor neun
Uhr recht gemachlich auf der kleinen Molukke Teidor anzukom-
men: so streckte sich ein ganzer kristallener quellenheller Tag auf
den weiten Fluren vor uns hin - wir waren bisher an schone ge-
wohnt, aber an den schonsten nicht. - Die Erdkugel schien eine
helle, aus Diinsten und Liiften herausgehobene Mondkugel zu *
sein - die Berg- und Waldspitzen standen nackt im tiefen Blau,
sozusagen ungepudert von Nebeln - alle Aussichten waren uns
naher geruckt und der Dunst war vom Glase, wodurch wir sahen,
abgewischt — die Luft war nicht schwul, aber sie ruhte auf den
Gewurz-Fluren unbeweglich aus und das Blatt nickte, aber nicht
der Zweig, und die hangende Blume wankte ein wenigj aber bloB
unter zwei kampfenden Schmetterlingen — Es war der Ruhetag
der Elemente, die Sieste der Natur. Ein solcher Tag, wo schon der
Morgen die Natur eines schwarmerischen Abends hat und wo
schon er uns an unsere Hoffnungen, an unsre Vergangenheit und $c
an unser Sehnen erinnert, kommt nicht oft, kommt fur nicht viele,
darf fiir die wenigen, in deren schwellendes Herz er leuchtet, nicht
DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 4OI
oft kommen, weil er die armen Menschen, die ihm ihre Her'zen
wie Blumenblatter auftun, zu sehr erfreuet, sie vom kameralisti-
schen Feudalboden, wo man mehr Blumen mahen als beriechen
muB, zu weit ins magische Arkadien verschlagt. - Aber ihr Fi-
nanziers und Okonomen und Pachter, wenn fast alle Jahrzeiten
der Haut und dem Magen dienen : warum soil nicht ein Tag - z*u-
mal fiir Brunnengaste - bloB dem zu weichen Herzen zugehoren?
Wenn man euch Harte vergibt: warum wollt ihr keine Weich-
heit vergeben? — O ihr beleidigt ohnehin genug, ihr gefuhllosen
io Seelen;dieschonerefeinereist euch bloBunbedeutend und lacher-
lich; aber ihr seid ihr qualend und verwundet sie. - Sonderbar
ists, daB man andern zuweilen die Vorziiglichkeit der Talente,
aber nie die Vorziiglichkeit der Empfindungcn zugesteht und daB
man seiner eignen Vernunft, aber nicht seinem eignen Ge-
schmack Irrtiimer zutraut.
Ein durchsichtiges Dockengelander von Waldbaumen stand
•bloB noch zwischen uns und dem indischen Ozean, worin Teidor
grtinte, als uns der Steig durch das hohe Gras, das iiber ihn her-
einschlug, an einer Einode oder einem isolierten Hause voriiber-
20 trug, das zu entziickend in diesem Blumen-Ozean lag, als daB
man hatte vorbeigehen oder -reiten konnen. Wir lagerten uns auf
einer abgemahten Rasenstelle, zur rechten Seite des Hauses, zur
linken eines runden Gartchens, das sich mitten in die Wiese ver-
steckte. Tm armen Gartchen waren und nahrten sich (wie in ei-
nem toleranten Staate) auf dem namlichen Beete Bohnen und
Erbsen und Salat und Kohlriiben; und doch hatte im Zwerg-Gar-
ten ein Kind noch sein Infusions-Gartchen. Im blendenden und
roten Vogelhauschen betrieb eine flinke Frau gerade ihre wohl-
riechende Feldbackerei ; und zwei Kinderhemdchen hingen am
30 Gartenzaun, und zwei standen an der Haustiir, in weichen letzten
zwei braune Kinder spielten und uns beobachteten - ihnen tat am
heutigen Morgen nichts wohl als ihren entbloBten FiiGen die
Sonne. O Natur! o Seligkeit! du suchest wie die Wohltatigkeit
gern die Armut und das Verborgne auf!
Das Klugste, was ich heute gesagt habe und vermutlich sagen
werde, ist gewiB die Gras-Rede am Morgen neben dem Hauschen.
402 DIE UNSICHTBARE LOGE
Als ich so den stehenden Himmel, die Wind- und Blatterstille be-
trachtete, in der der steilrechte Flugel des Schmetterlings und das
Harchen der Raupe unverbogen blieb: so sagt' ich: »Wir und
dieses Raupchen stehen unter und in drei allmachtigen Meeren,
unter dem Luftmeer, unter dem Wassermeer und unter dem elek-
trischen Meere; gleichwohl sind die brausenden Wogen dieser
Ozeane, diese Meilen-Wellen, die ein Land zerreiBen konnen, so
geglattet, so bezahmet , daB der heutige Sabbat-Tag herauskommt,
wo den breiten Flugel des Schmetterlings kein Luftchen ergreift
oder um ein gefiedertes Staubchen berupft und wo das Kind so 10
ruhig zwischen den Elementen-Leviathans tandelt und lachelt. -
Wenn dies kein unendlicher Genius bezwungen hat, wenn wir
diesem Genius keine Zusammenordnung unsers kiinftigen Schick-
sals und unserer kiinftigen Welt zutrauen -«...
O unendlicher Genius der Erde! an deinen Busen wollen wir
unsre kindlichen Augen schmiegen, wenn sich der Sturm von der
Kette losreiBet an dein allmachtiges heiBes Herz wollen wir-
zuriicksinken, wenn uns der eiserne Tod einschlafert, indem er
vorbeigeht! -
So wandelten wir unschuldig-zufrieden, ohne Hastigkeit und 20
Heftigkeit den Wellen zu, die an Fenks Landhaus spulten. Son-
derbar ists, es gibt Tage, wo wir freiwilligunser stilles fort-vibrie-
rendes Vergniigen von den aufiern Gegenstanden uns zureichen
lassen (wodurch wir ungewohnlich gegen echten Stoizismus ver-
stoBen); - noch sonderbarer ists, daB manche Tage dieses wirk-
lich tun. — Ich meine das: ein gewisses leises wellen-glattes Zu-
friedensein - nicht verdient durch Tugend, nicht erkampft durch
Nachdenken - wird uns zuweilen von dem Tage, von der Stunde
beschert, wo alle die jammerlichen Kleinigkeiten und Fransen,
woraus unser ebenso kleinliches als kleines Leben zusammenge- 30
naht ist, mit unsern Pulsen einstimmen und unserem Blute nicht
entgegenflieBen - z.B. wo (wie heute geschah) der Himmel un-
bewolkt, der Wind im Schlaf, der Fahrmann, der nach Teidor
bringt, bei der Hand, der Herr des Landhauses, Doktor Fenk,
schon vor einer Stunde gegenwartig, das Wasser eben, das Boot
trocken, der Anlandung-Hafen tief und alles recht ist.... Wahr-
DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 403
haftig wir sind alle auf einen so narrischen FuB gesetzt, daB es zu
den Menschenfreuden, woriiber der Zerbster Konsistorialrat Sin-
tents zwei Bandchen abgefasset, mit gerechnet werden kann - in
Deutschland; aber in Italien und Polen weit weniger -, zuweilen
einen oder den andern Fldh zu greifen Will man also einen
solchen paradiesischen Tag erleben: so muB nicht einmal eine
Kleinigkeit, iiber die man in stoisch-energischen Stunden weg-
schreitet, im Wege Hegen; so wie sich iiber die Sonne, wenn ein
Brennspiegel sie herunterholen will, nicht das diinnste Wolkchen
10 schieben darf . . . . Ich bin jetzt im Feuer und versichere, ich kann
mir unmoglich etwas Narrischeres denken als unser Leben, unsere
Erde, uns Menschen und unsre Bemerkung dieser Narrheit....
Der indische Ozean war ein larrnender Marktplatz wie ein sine-
sischer Strom, uberall bewegte sich auf ihm Freude, Leben und
Glanz, von seiner Oberflache bis zu seinem Grunde, wo die zweite
Halbkugel des Himmels mit ihrer Sonne zitterte. Im Landhause
waren die Wande weiB, weil fiir einen Menschen (sagte Fenk),
welcher aus der in lauter Feuer und Lichtern stehenden Natur in
eine enge Klause tritt, kein Kolorit dieser Klause hell genug sein
20 konne, um einen traurigen beschrankten Eindruck abzuwenden.
Alsdann ruhten wir aus, indem wir von einer beschatteten Gras-
bank der Insel zur andern gingen, von Birkenblattern und indi-
schen Wellen angefachelt - dann musizierten - dann dinierten
wir, erstlich am Tische eines Wirtes, der auf eine lustige Art fein
und delikat zu sein weiB, zweitens vor den in alle Weltgegenden
aufgeschlossenen Fenstern, die uns noch mehr in alle Strudel der
freudigen Natur hineindrehten, als waren wir drauBen gewesen,
und drittens jeder von uns mit einer Hand, welche die weiche
Beere des Vergniigens abzunehmen weiB, ohne sie entzweizu-
30 driicken. - Ottomar kommt abends - die zwei Madchen haben
unter Blumen und der gliickliche Gustav unter Schatten sich ver-
loren - der Lebensbeschreiber liegt hier wie der Jurist Bartolus
auf dem hebenden Grase und schildert alles - Fenk ordnet auf
Abend an. - Erst abends tritt das Vollicht unserer heutigen Freude
ein; und ich danke dem Himmel, daB ich jetzt mit meiner bio-
graphischen Feder nachgekommen bin und niemals mehr weiB,
404 DIE UNSICHTBARE LOGE
als ich eben berichte: anstatt dafi ich bisher immer mehr wuBte
und mir den biographischen GenuB der freudigsten Szenen durch
die Kenntnis der traurigen Zukunft versalzte. So aber konnt' in
der nachsten Viertelstunde uns alle das Weitmeer ersaufen : in der
jetzigen lachelten wii* in dasselbe hinein;
Da ich so ruhig bin und nicht spazieren gehen mag: so will ich
iiber das Spazieren gehen, das so oft in meinem Werke vorkommt,
nicht ohne Scharfsinn reden. Ein Mann von Verstand und Logik
wiirde meines Bediinkens alle Spazierer, wie die Ostindier, in
vier Kasten zerwerfen. 10
In der I.Kaste laufen die jammerlichsten, die es aus Eitelkeit
und Mode tun und entweder ihr Gefuhl oder ihre Kleidung oder
ihren Gang zeigen wollen.
In der ILKaste rennen die Gelehrten und Fetten, um sich eine
Motion zu machen, und weniger, um zu genie Ben, als um zu ver-
dauen, was sie schon genossen habe; in dieses passive unschuldige
Fach sind auch die zu werfen, die es tun ohne Ursache und ohne
GenuB, oder als Begleiter, oder aus einem tierischen Wohlbeha-
gen am schonen Wetter.
Die III. Kaste nehmen diejenigen ein, in deren Kopfe die Augen 20
des Landschaftmalers stehen, in deren Herz die groBen Umrisse
des Weltali dringen, und die der unermeBlichen Schonheitlinie
nachblicken, welche mit Efeufasern um alle Wesen fliefiet und
welche die Sonne und den Bluttropfen und die Erbse rundet und
alle Blatter und Friichte zu Zirkeln ausschneidet. — O wie wenig
solcher Augen ruhen auf den Gebirgen und auf der sinkenden
Sonne und auf der sinkenden Blume!
Eine IV. bessere Kaste, dachte man, konnt* es nach der dritten
gar nicht geben : aber es gibt Menschen, die nicht bloB ein artisti-
sches, sondern ein heiliges Auge auf die Schopfung fallen lassen - 30
die in diese bliihende Welt die zweite verpflanzen und unter die
Geschopfe den Schopfer - die unter dem Rauschen und Brausen
des tausendzweigigen, dicht eingelaubten Lebensbaums nieder-
knien und mit dem darin wehenden Genius reden wollen, da sie
selber nur geregte Blatter daran sind - die den tiefen Tempel der
Natur nicht als eine Villa voll Gemalde und Statuen, sondern als
DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 405
eine heilige Statte der Andacht brauchen - kurz, die nicht bloB
mit dem Auge, sondern auch mit dem Herzen spazieren gehen ....
Ich weiB kein groBeres Lob, als daB ich von solchen Menschen
leicht auf unser liebendes Paar hiniibergleiten kann - die Liebe
desselben ist ein solcher Spaziergang, das Leben der hohen Men-
schen ist auch ein solcher. - Ich will nur noch, eh' ich mich vom
erdruckten Gras aufrichte, so viel bemerken, daB Gustavs Liebe
ganz in die Realdefinition einpasset, die von ihr in einer schwarme-
rischen Sommer-Mitternacht zu machen ist - Die edelste Liebe
10 (kann man definieren) ist bloB die zarteste, tiefste, festeste Ach-
tung, die sich weniger durch Tun als durch Unterlassen offen-
baret, die sich wechselseitig errat, die auf beide Seelen (bis zum
Erstaunen) die namlichen Saiten zieht, die die edelsten Emprm-
dungen mit einem neuen Feuer hoher tragt, die immer aufopfern,
nie bekommen will, die der Liebe gegen das ganze Geschlecht
nichts nimmt, sondern alles gibt durch das Einzelwesen; diese
Liebe ist eine Achtung, in welcher der Druck der Hande und der
Lippen sehr entbehrliche Bestandteile sind und gute Handlungen
sehr wesentliche; kurz eine Achtung, die vom groBern Teile der
10 Menschen ausgehohnet und vom kleinsten tief geehret werden
muB. Eine solche herzerhohende Achtung war Gustavs Liebe,
welche edle Augenzeugen nicht nur vertrug, sondern auch er-
freuete und warmte, weil sie ohne jenes unschuldig-sinnliche Ge-
tandel mit Lippen und Handen war, woran der Zuschauer gerade
so viel Anteil wie an rolIenmaBigen theatralischen Viktualien der
Schauspieler nehmen kann. - Ein Zeichen der tugendhaften Ach-
tung oder Liebe ist dies, wenn der Zuschauer desto mehr Anteil
daran nimmt, je groBer sie ist. Gustavs Liebe hatte - seit seinem
Petrus-Falle und noch mehr seit der Vergebung dieses Falls (denn
o viele Fehler fuhlt man erst am tiefsten, wenn sie verziehen sind) -
einen solchen Zusatz von Zartheit, von Zuriickhaltung, von Be-
wuBtsein des fremden Werts gewonnen, daB er sich mehre Her
zen gewann als das wekhste, und andre Augen beherrschte als die
schonsten an Beaten, vor denen seine Blicke, wie Schneerlocken
unter der nackten Sonne im Blauen, rein, schimmernd, zitternd
und zerrinnend niederfielen. —
406 DIE UNSICHTBARE LOGE
— Eben langt alles an, Ottomar und die andern.
Meine Uhr schlagt zwei Uhr nach Mkternacht, und noch ist
Beatens und des Paradieses Wiegenfest nicht beschlossen: denn
ich setze mich jetzt her, es zu beschreiben; wenn ich anders auf
dem Stuhl bleibe und nicht wieder in das blaue Gewolbe, das iiber
so viele heutige Freuden seine Sternenstrahlen warf, hinausirre.
Gegen Abend flog Ottomar iiber das Wasser heriiber. Er sieht
immer aus wie ein Mann, der an etwas Weites denkt, der jetzt nur
ausruhet, der die hereinhangende Blume der Freude abbricht, weil i<
ihn seine fliehende Gondel vor ihr voriiberreiBet, nicht weil er da-
ran denkt. Er hat noch seine erhaben-leise Sprache und sein Auge,
das den Tod gesehen. Immer noch ist erein Zahuri 1 , der durch
alles Blumengeniste und alle Graspartien der Erde durchschauet
und zu den unbeweglichen Toten hinabsieht, die unter ihr liegen*
So sanft und sturmisch, so humoristisch und melancholisch, so
verbindlich und unbefangen und frei! Er behauptete, die meisten
Laster kamen von der Flucht vor Lastern - aus Furcht, schlimm
zu handeln, taten wir nichts und hatten zu nichts GroBem mehr
Mut - wir hatten alle so viel Menschenliebe, daB wir keine Ehre «
mehr hatten - aus Menschen-Schonung und Liebe hatten wir kei-
ne Aufrichtigkeit, keine Gerechtigkeit, wir stiirzten keinen Be-
triiger, keinen Tyrannen etc.
Ihn wunderte Beata, die nicht den gewohnlich erzwungenen,
sondern steigenden Anteil an unsern Reden nahm ; denn er glaubt,
mit einer Frau konne man von Himmel und Holle, von Gott und
Vaterland sprechen, so denke sie doch unter dem ganzen Horen
an nichts als an ihre Gestalt, ihr Stehen, ihren Anzug. »Ich nehme«,
sagte Fenk, »erstlich alles aus, und zweitens auch die Physiogno-
mik; auf diese horchen alle, weil sie alle sie sogleich gebrauchen 3<
konnen.«
Der magische Abend trieb immer mehr Schatten vor sich vor-
aus; er nahm endlich alle Wesen auf seinen wiegenden SchoB und
legtesie an sich, um sie ruhig, sanft und froh zu machen. Wir
1 Die Zahuri in Spanien sehen durch die verschlossene Erde hindurch bis
zu ihren Schatzen hinab, zu ihren Toten, zu ihren Metallen etc.
DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 407
funf Eilander wurden es auch. Wir gingen samtlich hinaus auf
eine kleine kiinstliche Anhohe, urn die Sonne bis zur Treppe zu
begleiten, eh* sie iiber Ozeane nach Amerika hinabschifft. Plotz-
lich ertonten driiben in einer andern Insel fiinf Alphorner und
gingen ihre einfachen Tone ziehend auf und ab. Die Lage wirkt
mehr auf die Musik, als die Musik auf die Lage. In unserer Lage
- wo man mit dem Ohr schon an der Alpenquelle, mit dem Auge
auf der am Abend iibergoldeten Gletscherspitze ist und um die
Sennenhiitte Arkadien und Tempe und Jugend-Auen lagert, und
[0 wo wir diese Phantasien vor der untergehenden Sonne und nach
dem schonsten Tage fliegen lieBen - da folgt das Herz einem Alp-
horn mit groBern Schlagen als einem Konzertsaale voll geputzter
Zuhorer. - O das EinlaBblatt zur Freude ist ein gutes, und dann
ein ruhiges Herz ! - Die dunkeln wolkigen durchschimmerten Be-
griffe, die der Weltweise von alien Empfindungen verlangt, mus-
sen langsam iiber die Seele ziehen oder ganzlich stehen, wenn sie
sich vergniigen soil; so wie Wolken, die langsam gehen, schones
Wetter, und fliegende schlimmes bedeuten. »Es gibt«, sagte Beata,
»tugendhafte Tage, wo man alles verzeiht und alles iiber sich ver-
20 mag, wo die Freude gleichsam im Herzen kniet und betet, daB sie
langer dableibe, und wo alles in uns ausgeheitert und beleuchtet
ist; - wenn man dann vor Vergniigen dariiber weint: so wird
dieses so groB, daB alles wieder vorbei ist.«
»Ich«, sagte Ottomar, »werfe mich lieber in die schaukelnden
Arme des Sturms. Wir genieBen nur blinkende, gliihende Augen-
blicke; diese Kohle muB heftig herumgeschleudert werden, damit
der brennende Kreis der Entziickung erscheine.«
»Und doch«, sagt* er, »bin ich heute so froh vor dir, untersinken-
de Sonne!... Je froher ich in einer Stunde, in einer Woche war,
50 desto mehr stiirmte dann die folgende - Wie Blumen ist der
Mensch : je heftiger das Gewitter werden wird, desto mehr Wohl-
geriiche verhauchen sie vorher.«
»Sie miissen uns nicht mehr einladen, Herr Doktor«, sagte
lachelnd Beata, aber ihr Auge schwamm doch in etwas mehr als in
Freude.
Unter dem Rotauf legen des Himmels trat die Sonne ; auf ihre
408 DIE UNSICHTBARE LOGE
letzte Stufe, von farbigen Wolken umlagert. Die Alphorner und
sie verschwanden im namlichen Nu. Eine Wolke um die andere
erblaBte, und die hochste hing noch durchgluhet herab. Beata und
meine Schwester scherzten weiblich dariiber, was diese illumi-
nierten Nebel wohl sein konnten .- Die eine machte daraus Weih-
nachtschafchen mit rosenroten Bandern, eine rote Himmelscharpe
- die andre feurige Augeri oder Wangen unter einem Schleier -
rote und weiBe Nebel-Rosen - einen roten Sonnenhut usw. . . .
Punsch, denk' ich, wurde endlich fiir die Herren gebracht, von
denen einer ihn in soldier MaBigkeit zu sich nahm, daB er noch u
um 2 1 /, Uhr seinen Sektor setzen kann. Wir wandelten dann unter
dem kiihlenden rauschenden Baum des Himmels, dessen Bliiten
Sonnen und dessen Fruchte Welten sind, hin und her. Das Ver-
gnugen fiihrte uns bald auseinander, bald zueinander, und jeder
war gleich sehr fahig, ohne und durch Gesellschaft zu genie Ben,
Beata und Gustav vergafien aus Schonung iiber die fremde Liebe
und Freude ihre besondere und waren unter lauter Freunden sich
auch nur Freunde. O predigt doch blofi die Traurigkeit, die das
Herz so dkk wie das Blut macht, aber nicht die Freude aus der
Welt, die in ihrem Taumeltanz die Arme nicht bloB nach einem *
Mittanzer, sondern auch nach einem wankenden Elenden aus-
streckt und aus dem Jammer-Auge, das ihr zusieht, voriiber-
fliehend die Trane nimmt! - Heute wollten wir einander alles ver-
zeihen, ob wir gleich nichts zu verzeihen fanden. Es war nichts
zu vergeben da, sag* ich; denn als ein Stern um den andern aus der
schattierten Tiefe herausquoll und als ich und Ottomar vor einer
schlagenden Nachtigall umgekehret waren, um durch die Ent-
fernung den gedampften Lautenzug ihrer Klagen anzuhoren, und
als wir einsam, von lauter Tonen und Gestalten der Liebe um-
geben, nebeneinander standen und als ich mich nicht mehr halten 3°
konnte, sondern unter dem groBen jetzigen und kiinftigen Him-
mel mein Herz dem zeigte, dessen seines ich langst gesehen und
geliebt:sowarsoetwaskein Verzeihen und Versohnen, sondern...
Davon ubermorgen!
In veranderlichen Gruppen - bald die zwei Madchen allein,
bald mit einem dritten, bald wir alle - betraten wir die in Gras
DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 409
umgekleideten Blumen und gingen zwischen zwei nebenbuhle-
rischen Nachtigallen, wovon die eine unsre Insel, die andre die
, nachste Insel besang und begeisterte. In diesem musikalischen
Potpourri hatten die Blumenblatter die wohlriechenden Potpourri
zugedeckt, aber alle Birkenblatter hatten die ihrigen aufgetan, und
wir tellten uns mit Absicht auseinander, um nicht eilig aus unse-
rem zauberischen Otaheiti abschiffen zu konnen. -
Endlich gerieten wir zufallig unter einer Silberpappel zusammen,
deren beschneiete Blatter durch den Glanz im Abend uns um sie
o versammelt hatten. »Wir haben hohe Zeit zum Fortgehen!« sagte
Beata, Allein da wirs wollten oder wollen muBten: so ging der
Mond auf; hinter einem gegitterten Facher von Baumen schlug
er so bescheiden, als er still iiber die blinde Nacht wegflieBet, seine
Wolken-Augenlider auf, und sein Auge stromte, und er sah uns
an wie die Aufrichtigkeit, und die Aufrichtigkeit sah auch ihn an.
»Wollen wir nur« - sagte Ottomar, in dessen heiBer Freundschaft-
Hand man gern jede weibliche entriet - »bleiben, bis es auf dem
Wasser lichter wird und der Mond in die Taler hereinleuchten
kann - wer weiB, wann wirs wieder so haben ?« .Endlich ftigt- er
20 hinzu: »Ich und Gustav verreisen ohnehin morgen fruh, und das
Wetter halt nicht mehr lange.« Es ist das siebenwochentliche un-
bekannte Verreisen, von dem ich alle MutmaBungen, die es bisher
so wichtig und ratselhaft vorstellten, gern hier zurucknehme.
Wir blieben wieder; das Gesprach wurde einsilbiger, der Ge-
danke vielsilbiger und das Herz zu voll, so wie uns der abnehmen-
de Mond an der Aufgangschwelle auch voll vorkam. Wenn ein-
mal eine Gesellschaft die Hand vom Turdrucker, woran sie sie
schon hatte, wieder wegtut: so erregt dieser Aufschub die Er-
wartung groBerer Vergnugungen, und diese Erwartung erregt
30 Verlegenheit; - wir aber wurden bloB um einander stiller, ver-
bargen unsere Seufzer iiber die Falkenfliigel frohlicher Stunden,
und vielleicht brachte manches weggewandte Auge dem Monde
das Opfer, das ihm der traurigste und der freudigste Mensch so
schwer versagen kann ....
Gerade jetzt drangte ich mich wieder hinaus in seine Strahlen
und komme wieder an meinenSchreibtisch und danke dem Schleier
4IO DIE UNSICHTBARE LOGE
der Nacht, der um das Universum doppelt herumreicht, daB er
auch uber den groBten Schmerzen und Freuden der Menschen
sich faltet Wir waren also auf unserer Insel so schwermiitig
stumm, wie an einer Pforte der frohlichen Ewigkeit; der lander-
breite Friihling zog mit seiner Herrlichkeit - mit seinem gesunk-
nen lauen Monde - mit seinem schillernden Venusstern - mit
seiner erhabnen Mitternachtrote - mit seinen himmlischen Nach-
tigallen vor fiinf Menschen voriiber; er warf und haufte in diese
fiinf Obergliickliche seine Knospen und seine Bliiten und seine
dammernden Aussichten und Hoffnungen und seine tausend Him- i<
mel und nahm ihnen nichts dafiir weg als ihre Sprache. O Friih-
ling I o du Erde Gottes! o du unumspannter Himmel! ach! regte
sich heute doch in alien Menschen auf dir das Herz in freudigen
Schlagen, damit wir alle nebeneinander unter den Sternen nieder-
fielen und den heiBen Atem in eine Jubel-Stimme ergossen und
alle Freuden in Gebete, und das hohe Herz nach dem hohen Him-
melblau richteten und in der Entziickung nicht Kummer-, son-
dern Wonne-Seufzer abschickten, deren Weg so lang zum Him-
mel wie unserer zum Sarge ist! . . . Du bitterer Gedanke, oft unter
lauter Ungliicklichen der Frohliche zu sein! - du siiBerer, unter *<
lauter Gliicklichen der Betriibte zu sein!
Endlich flossen vom Silberblick des steigenden Mondes die
triibenden Schlacken hinweg; er stand wie eine unaussprechliche
Entziickung hoher in der Nacht des Himmels, aus dessen Hinter-
grund in den Vorgrund gemalt. Die Frosche durchschlugen wie
eine Muhle die Nacht, und ihr forttonender vielstimmiger Larm
hatte die Wirkung eines Schweigens. - O welcher Mensch, den
der Tod zu einem iiber die Erde fliegenden Engel gemacht hatte,
ware nicht auf sie niedergefallen und hatte unter irdischem Laub
und auf der irdischen, vom Monde ubersilberten Erde (wie von der j<
Sonne iibergoldeten) nicht an seinen verlassenen Himmel gedacht
und an seine alten Menschen- Auen, seine alten Friihlinge hie-
nieden und an seine vorigen Hoffnungen unter den Bliiten? -
Ihr Rezensenten! vergebt mir nur heute und lasset mich fort-
fahren!
Endlich stiegen wir in die Gondel wie in einen Charons-Nachen
DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 411
ein, wir raumten entziickt und unwillig das buschige Ufer und
den aus dem Wasser an seine Blatter aufgestrahlten Widerschein.
Das groBte Vergnugen,der groBte Dank treiben nicht waagrechte,
sondern senkrechte, ins Herz greifende versteckte Wurzeln; wir
konnten also zu Fenk nicht viel sagen, der von der Freudenstatte
heute nacht nicht weggeht. - Du Freund! der mir teurer als alien
andern ist, vielleicht wenn alles stiller und der Mond hoher und
reiner und die Nacht ewiger ist, gegen Morgen hin, wirst du zu
weinen anfangen iiber beides, was die Erde dir gegeben, was sie
o dir genommen. — Geliebter! wenn du es jetzt in dieser Minute
tust: so tu* ich es ja auch! -...
Mit unserem ersten Tritt ins Boot durchdrangen (wahrschein-
lich auf Fenks Anordnung) die Alphorner wieder die Nacht; jeder
Ton klang in ihr wie eine Vergangenheit, jeder Akkord wie ein
Seufzer nach einem Friihling der andern Welt; der Nacht-Nebel
spielte und rauchte iiber Waldern und Gebirgen und zog sich wie
die Grenze des Menschen, wie Morgen wolken der kiinftigen Welt
um unsere Friihlingerde. Die Alphorner verhallten wie die Stimme
der ersten Liebe an unseren Ohren und wurden lauter in unsern
o Seelen; das Ruder und das Boot schnitt das Wasser in eine glim-
mende MilchstraBe entzwei; jede Welle war ein zitternder Stern;
das wankende Wasser spiegelte den Mond zitternd nach, den wir
lieber vertausendfaltigt als verdoppelt hatten Und dessen sanftes
Lilienantlitz unter der Welle noch blasser und holder bliihte. -
Umzingelt von vier Himmeln - dem oben im Blauen, auf der
Erde, im Wasser und in uns - schifften wir durch schwimmende
Bliiten hin. Beata saB am einen Ende des Bootes entgegengerichtet
dem andern, dem Monde und dem Freund ihrer zarten Seele - ihr
Blick glitt leicht zwischen dem Monde und ihm hinab und hinauf
o - er dachte an seine morgendliche Reise und an seine langere Ge-
sandtschaftreise und bat uns alle um schriftliche Denkmaler, da-
mit er immer gut bleibe wie jetzt unter uns, und erinnerte Beata
an ihr Versprechen, ihm auch eines zu geben. - Sie hatt' es schon
geschrieben und gab es ihm heute beim Abschied. Der frohe Tag,
der frohe Abend, die himmlische Nacht fullte ihre Augeri mit
tausend Seelen und mit zwei Tranen, die stehen blieben. Sie deckte
412 DIE UNSICHTBARE LOGE
und trocknete das eine Auge mit dem weiBen Tuche und sah
Gustav mit dem zweiten rein und stromend an wie ein Spiegel-
bild Du gute Seele dachtest, du verbargest auch das zweite
Auge! -
Endlich - o du ewiges unaufhorliches Endlich! - brach auch
unsere silberne Wellen-Fahrt an ihrem Ufer. Das gegenuber-
liegende lag ode und iiberschattet dort. Ottomar riB sich in der
wehmiitigsten Begeisterung los, und unter dem Verklingen der
Schweizer-Tone sagte mein erneuerter Freund: »Es ist wieder
voriiber — alle Tone verhallen — alle Wellen versinken — die :
schonsten Stunden schlagen aus, und das Leben verrinnt - Es
gibt doch gar nichts, du weiter Himmel iiber uns, was uns fullet
oder begliickt! - Lebt wohl! ich werde von euch Abschied neh-
men auf meinem ganzen Weg hindurch.«
Die Alpen-Echos klangen in die weite Nacht zuriick und fielen
zu einem tonenden Hauche, der nicht der Erinnerung aus der
Jugend, sondern aus der tiefen Kindheit glich. Wir schwankten,
ausgefiillt vom GenuB, durch tauende Gestrauche und umge-
biickte schlaf- und tautrunkne Fluren, aus denen wir entschlum-
merte Blumen rissen, um morgen ihre zugefaltete Schlafgestalt ;
zu sehen. Wir dachten an die sonnenlosen Pfade des heutigen
Morgens; wir gingen ohne Laut vor dem zwerghaften Gartchen
und Hauschen voriiber, und die Kinder und die brotbackende
Frau wurden von den Todesarmen des Schlummers gedriickt und
umflochten. Die Zeit hatte den Mond, wie einen Sisyphusstein,
auf den Gipfel des Himmels gewalzet und lieB ihn wieder sinken.'
In Osten stiegen Sterne, in Westen sanken Sterne, mitten im Him-
mel zersprangen kleine von der Erde abgesandte Sternchen- aber
die Ewigkeit stand stumm und groB neben Gott und alles verging
vor ihr und alles entstand vor ihm. Das Feld des Lebens und der
Unendlichkeit hing nahe und tief iiber uns, wie ein Blitz, herein,
und alles GroBe, alles Oberirdische, alle Verstorbne und alle
Engel hoben unsern Geist in ihren blauen Kreis und sanken ihm
entgegen....
Wir traten endlich, ich an der Hand meiner Schwester, Gustav
an Beatens Hand, stiller, voller, heiliger in unser kleines Lilienbad,
DREIUNDFUNFZIGSTER SEKTOR- 413
als wir es am Morgen verlassen hatten. Gustav schied zuerst von
mir und sagte: »In fiinf Tagen sehen wir uns wieder.« Beaten
fuhrt' er ihrer Hiitte zu, die in Lunens Silberflammen loderte. Die
weiBe Spitze der Pyramide auf dem Eremitenberge schimmerte
tief entfernt iiber den langen griinenden Weg zum Tal und durch
die Nacht heruber. - Neben dieser Pyramide hatten sich die zwei
Glucklichen ihre Herzen zuerst gegeben, neben ihr ruhte ein
Freund von seinem Leben aus, und ihre weiBe Spitze zeigte den
Ort, wo sein Friihling schoner ist. - Sie horten die Blatter der
10 Terrasse lispeln und den Lebensbaum, unter welchem sie nach
dem Untergang der Sonne sich zum zweiten Mai ihre Seelen ge-
geben hatten.... O ihr zwei Gberseligen und Guten! jetzo
schopft ein guter Seraph fur euch eine Silber-Minute aus dem
Freuden-Meere, das in einer schonern Erde liegt — auf diesem
eilenden Tropfen blinkt die ganze Perspektive des Edens, worin
der Engel ist; die Minute wird zu euch herunterrinnen, aber ach,
so schnell wird sie voriibergehen! —
Beata gab Gustav, als Wink zum Abschied, das begehrte Blatt
- er driickte die Hand, aus der es kam, an seinen stillen Mund - er
20 konnte weder Dank noch Lebewohl sagen - er nahm ihre zweite
Hand, und alles rief und wiederholte in ihm : »Sie ist ja wieder dein
und bleibt es ewig«, und er muBte weinen iiber seine Seligkeit.
Beata sah ihm in sein uberstromendes Herz und ihres floB in eine
Trane iiber und sie wufit' es noch nicht; aber als die Trane des
heiligsten Auges auf die Rosenwange glitt und an diesem Rosen-
blatte mit erzitterndem Schimmer hing - als seine fesselnde und
ihre gefesselte Hande sie nicht trocknen konnten -als er mit sei-
nem flammenden Angesicht, mit seiner iiberseligen zerspringen-
den Brust die Zahre nehmen wollte und sich nach dem Schqnsten
*o auf der Erde wie eine Entzuckung nach der Tugend neigte und
mit seinem Gesicht das ihrige beriihrte: dann fiihrte der Engel,
der die Erde liebt, die zwei frommsten Lippen zu einem unaus-
loschlichen Kusse zusammen - dann versanken alle Baume, ver-
gingen alle Sonnen, verflogen alle Himmel, und Himmel und
Erde hielt Gustav in einem einzigen Herz an seiner Brust; - dann
gingest du, Seraph, in die schlagenden Herzen und gabest ihnen
414 DIE UNSICHTBARE LOGE
die Flammen der uberirdischen Liebe - und du honest fliehen
von Gustavs heiBen Lippen die gehauchten Laute: »0 du Teure!
Unverdiente! und so Gute! so Gute!«
Es sei genug - die hohe Minute ist voriibergeflossen - der Er-
dentag schickt sein Morgenrot schon an den Himmel - mein Herz
komme zur Ruhe, und jedes andre auch!
VlERUNDFUNFZIGSTER ODER 6 tcr FrEUDEN-SeKTOR
Tag nach dieser Nacht - Beatens Blatt - Merkwurdigkeit
Ich bitte die Kritik um Verzeihung, wenn ich diese Nacht zu
viele Metaphern und zu viel Feuer und Larm gemacht: ein Freu- 10
den-Sektor (so wie die Kritik dariiber) muB sich dergleichen ge-
fallen lassen, sobald einmal der Verfasser sich eine ahnliche Ober-
fracht von Zitronensaure, Teebliite, Zuckerrohr und Arrak ge-
fallen lasset, wie ich tat.
Ich legte mich heute gar nicht nieder: die Vogel fingen schon
wieder zu singen an, und als der Traum kaum das vergangne
Schauspiel einige 4omal wieder vor den zugesunknen Augen auf-
gefuhret hatte, macht* ich sie wieder auf, weil die Sonne mich um-
flammte.
Eine durchwachte und durchfreuete Nacht lasset einen Morgen zc
zuriick, wo man in einer siiBen Abspannung weniger empfindet
als phantasieret, wo die nachtlichen Tone und Tanze unsere innern
Ohren immerfort anklingen, wo die Personen, mit denen wir sie
verbrachten, in einem schonen Dammerlichte, das unsre Herzen
zieht, vor unsern innern Augen schweben. In der Tat, man liebt
nie eine Frau mehr als nach einer solchen Nacht, morgens eh*
man gefruhstuckt.
Ich dachte heute tausendmal an meinen Gustav, der vor Tage
seine funftagige Reise angetreten, und an meinen festen Ottomar,
der mit ihm geht. Mochtet ihr an keine Dornen kommen als solche, 3C
die unter die Rose gesteckt sind, unter keine Wolke treten als die,
die euch den ganzen blauen Himmel lasset und bloB die Glut-
VIERUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 415
Scheibe nimmt, und mochte euren Freuden keine fehlen als die,
daB ihr sie uns noch nicht erzahlen konnet!
Alles Sonnenlicht umzauberte und iiberwallte mir bloB wie er-
hohtes Mondenlicht alle Schattengange von Lilienbad; die vorige
Nacht schien mir in den heutigen Tag heriiberzulangen, und ich
kann nicht sagen, wie mir der Mond, der noch mit seinem abge-
wischten Schimmer wie eine Schneeflocke tief gegen Abend her-
hing, so willkommen und lieb wurde, O blasser Freund der Not
und der Nacht! ich denke schon noch an dein elysisches Schim-
ao mern, an deine abgekuhlten Strahlen, womit du uns an Bachen
und in Laubgangen begleitest und womit du die traurige Nacht in
einen von weiten gesehenen Tag umkleidest! Magischer Pro-
spektmaler der kiinftigen Welt, fur die wir brennen und weincn;
wie ein Gestorbner sich verschonert, so malest du jene auf unsre
irdische, wenn sie mit alien ihren Blumen und Menschen schlaft
oder schweigend dir zusieht! -
Ich gabe heute die vornehmste Visite darum, wenn ich eine bei
den Glucklichen des gestrigen Tages machen konnte; es ist aber
nicht zu tun. Sogar Beata hat heute eine von ihrer Mutter ; und mein
a* Auge konnte noch nichts von ihr habhaft werden als die funf wei-
Ben Finger, womit sie einen Blumentopf an ihrem Fenster aus dem
Schatten eines Zweiges wegdrehte. O wenn unser altes Leben und
unsre Wandelgange wieder anheben und alles wieder beisammen-
lebt: was solldadieGelehrten-Republiknicht zulesenbekommen!
Heute reich' ich ihr nichts mehr als Beatens Geleitbrief an
Gustav, weil ich ihn nur abzuschreiben brauche. Ich schliipfe dann
wieder ins Freie, beschiffe nach der Seekarte meines Kopfes den
gestrigen Weg noch einmal, und indem ich die verzettelten Blu-
men, die gestern unsre vollen Hande fallen liefien, als Nachflor
30 auflese, find' ich die hohern auch. - Man wird einige Stellen im
folgenden Aufsatze Beaten verzeihen, wenn ich voraussage, daB
sie - vielleicht durch ihr Herz so gut wie durch ihren Vater uber-
listet, der nur ein auBerlicher Renegat des Katholizismus war -
von den Engeln und ihrer Anbetung mehr glaubte, als Nicolai
und die Schmalkaldischen (Waren-) Artikel einer Lutheranerin
verstatten konnen. Denn das schwache und so oft hiilflose
4I<> DIE UNSICHTBARE LOGE
Weib, das nicht weit iiber diese Erde zu steigen wagt, legt in der
Stunde der Not so gern ihre Bitten und ihre Seufzer vor einer
Marie, vor einer Seligen, vor einem Engel nieder; aber der festere
Mann wird nachsichtig einen Wahn nicht rtigerr, der so trosten
kann. -
Wiinsche fur meinen Freund
»Es ist kein Wahn, da 8 Engel um den bedrohten Menschen mitten in
ihren Freuden wachen, wie die Mutter unter ihren Freuden und Ge-
schaften ihre Kinder hiitet. O! ihr unbekannten Unsterblichen!
schlieBet euchein einziger Himmelein? - Dauert euch nie der wehr- «
lose Erdensohn? - Solltet ihr groBere Tranen abzutrocknenhaben
als unsre ?- Ach, wenn der Schopfer seine Liebe so in euch wie in uns
gelegt hat, so sinkt ihr gewiB auf diese Erde und trostet das um-
stiirmte Herz unter dem Monde, fliegt um die gedruckte Seele, deckt
eure Hand aufdieversiegendeWunde und denkt an die armen Men-
schen !
Und wenn hienieden ein Geist geht, der euch einmal gleichen
wird, konnt ihr euren Bruder vergessen? - Engel der Freude! sei
mit meinem und deinem Freurute, wenn die Sonne kommt, und
laB Ihn schone fromme Morgen angriinen! Sei mit Ihm, wenn sie %<
hoher geht und wenn Ihn die Arbeit driickt! - O nimm den ent-
fernten Seufzer einer Freundin und kiihle damit Seinen! Sei mit
Ihm, wenn die Sonne weicht, und richte Sein Auge auf den im
weiBen Trauergewand aufsteigenden Mond und auf den weiten
Himmel, worin der Mond und du gehen! -
Engel der Tranen und der Geduld ! Du, der du ofter um den
Menschen bist! Ach, vergesse mein Herz und mein Auge und laB
sie bluten - sie tun es doch gern -; aber stille, wie der Tod, das
Herz und das Auge meines Freundes und zeig ihneirauf der Erde
nichts als den Himmel jenseits der Erde. - Ach, Engel der Tranen 3 <
und der Geduld! Du kennst das Auge und das Herz, das sich fur
Ihn ergieBet, du wirst Seine Seele vor sie bringen, wie man Blu-
men in den Sommerregen stellet! Aber tu es nicht, wenn es Ihn zu
traurig macht ! O Engel der Geduld ! ich liebe dich, ich kenne dich !
ich werde in deinen Armen sterben !
VIERUNDFUNFZIGSTER SEKTOR 417
Engelderi r re«rt£/jcAa/if/-vielleichtbistdudervorigeEngel?
ach! Dein himmlischer Fliigel hulle Sein Herz ein und warm*
es schoner, als die Menschen konnen - ach, du wiirdest auf einer
andern Erde und ich auf dieser weinen, wenn an einem kalten
Herzen Sein heiBes, wie am gefrierenden Eisen die warme Hand,
anklebte und blutig abrisse!.... O bedeck Ihn; aber wenn du es
nicht kannst, so sag mir Seinen Jammer nicht!
O ihr immer Glucklichen in andern Welten! euch stirbt nichts,
ihr verliert nichts und habt alles! - Was ihr liebt, druckt ihr an
10 eine ewige Brust, was ihr habt, haltet ihr in ewigen Handen. -
Konnt ihrs denn fuhlen in euren glanzenden Hohen droben, in
eurem ewigen Seelenbunde, daB die Menschen hienieden getrennt
werden, daB wir einander nur aus Sargen, eh* sie untersinken, die
Hande reichen, ach, daB der Tod nicht das einzige, nicht das
Schmerzhafteste ist, was Menschen scheidet? - Eh' er uns ausein-
andernimmt, so drangt sich noch manche kaltere Hand herein und
spaltet Seele von Seele — dann flieBet ja auch das Auge, und das
Herz fallt klagend zu, ebensogut als hatte der Tod zertrennt, wie
in der volligen Sonnenfinsternis so gut wie in der langern Nackt
w der Tau sinkt, die Nachtigall klagt, die Blume zuquillt!
- Alles Gute, alles Schone, alles, was den Menschen begluckt
und erhebt, sei mit meinem Freunde; und alle meine Wiinsche
vereinigt mein stilles Gebet.
Ich tue sie alle mit, nicht bloB fur Gustav, sondern fur jeden Gu-
ten, den ich kenne, und fur die andern auch.«
Ob es gleich schon eilf Uhr nachts ist : so muB ich dem Leser doch
etwas Melancholisch-Schones melden, das eben voruberzog, Ein
singendes Wesen schwebte durch unser Tal, aber von Blattern und
Dammerung verdeckt, weil der Mond noch nicht auf war. Es sang
o schoner, als ich noch horte:
— Niemand, nirgends, nie.
— Die Trane, die fallt.
— Der Engel, der Ieuchtet.
41 8 DIE UNSICHTBARE LOGE
— Es schweigt.
— Es leidet.
— Es hofft.
— Ich und Du!
Offenbar fehlet jeder Zeile die Halfte, und jeder Antwort die
Frage. Es fiel mir schon einige Male ein, daB der Genius, der un-
sern Freund unter der Erde erzog, ihm beim Abschiede Fragen
und Dissonanzen dagelassen, deren Antworten und Auf Idsungen
er mitgenommen; ich denk', ich nab' es dem Leser auch gesagt.
Ich wollte, Gustav ware da. Aber ich habe nicht den Mut, mir die
Freude auszudenken, daB auch der Genius sich in unsre Freuden-
Girlande zu Lilienbad eindrange ! - Ich hore noch immer die ge-
zognen Flotentone aus diesem unbekannten Busen hinter den
Bliiten klagen; aber sie machen mich traurig. Hier Hegen die
ewig schlafenden Blumen, die ich heute auf dem Steige unsrer
letzten Nacht zusammentrug, neben aufgefalteten wachenden, die
ich erst ausriB - sie machen mich auch traurig. - Es gibt fur mich
und meine Leser nichts Notigeres, als jetzt einen neuen Freuden-
Sektor anzuheben, damit wir unser altes Leben fortsetzen. . . .
O Lilienbad ! du bist nur einmal in der Welt; und wenn du noch ;
einmal vorhanden bist, so heiBest du V-zka.
Letzter Sektor
ttttttttt
Wir ungliicklichen Brunnengaste! Es ist vorbei mit den Freu-
den in Lilienbad. - Die obige Oberschrift konnte noch mein Bru-
der machen, eh' er nach MauBenbach forteilte ! Denn Gustav Hegt
da im Gefangnis. Es ist alles unbegreif lich. Meine Freundin Beata
unterliegt den Nachrichten, die wir haben und die im folgenden
Briefe vom Herrn Doktor Fenk an meinen Bruder heute ankamen.
Es ist schmerzhaft fiir eine Schwester, daB sie allzeit bloB in
Trauerfallen die Feder fur den Bruder nehmen muB. Wahrschein-
lich wird die folgende Hiobspost dieses ganze Buch so wie unsere
bisherigen schonen Tage beschlieBen.
LETZTER SEKTOR 419
»Ich will dich, mein teuerer Freund, nicht wie ein Weib schonen,
sondern dir auf einmal den ganzen auBerordentlichen Schlag er-
zahlen, der unsere gliicklichen Stunden getroffen hat und am
meisten die unserer beiden Freunde.
Drei Tage nach unserer schonen Nacht - erinnerst du dich noch
an eine gewisse Bemerkung von Ottomar uber die Gefahrlichkeit
der Entziickungen? - will der Professor Hoppedizel seinen un-
besonnenen SpaB ausfuhren, im MauBenbachschen Schlosse ein-
zubrechen. Der pfiffige Jager Robisch war gerade nicht zu Hause,
10 sondern mit deinem Vorfahrer, dem Regierungrat Kolb, auf einer
Streiferei nach Diebgesindel, bei der sie aus Lust mitzogen. Be-
merke, eine Menge Umstande und Personen verkniipfen sich hier,
die schwerlich der Zufall zusammengeleitet hat.
Der Professor kommt mit sechs Kameraden und hat eine Leiter
mit, um sie an dem seit Jahren zerbrochnen Fenster, das nach
Auenthal hiniibersieht, anzulegen. Aber als er unter das Fenster
tritt : steht schon eine daran. Er nimmts fiir den besten Zufall, und
sie steigen samtlich, beinahe hintereinander, hinauf. Oben langt
eine Hand eine silberne Degenkuppel heraus und will sie geben -
to der Professor ergreift beide und springt uber das Fenster hinein.
Darin war, was er schien, ein Dieb, welcher Handlanger auf der
Leiter erwartete. Der diebische Realist fallt den Nominalisten mit
wiitender Verzweiflung an - die Galerie auf der Leiter stiirzet gar
nach und vermehrt das fechtende Gewimmel. Die StoBe auf dem
FuBboden larmen den horchenden Roper weniger aus seinem
Schlafe als Bette auf- er sein ganzes Haus, und dieses seinen Ge-
richtdiener - es kurz zu sagen : in wenigen Minuten hatt* er mit
der Wut, womit der Geizige seine Giiter rettet und halt, die spaB-
haften Diebe und den ernsthaften zu Gefangnen gemacht, der
o wahre Dieb mochte noch so sehr um sich schlagen und der Pro-
fessor noch so sehr disputieren. Jetzo sitzt alles fest und wartet
auf dich.
- Ach! haltst du es aus - wenn ich dir alles sage? Die Streifer
Kolb und Robisch finden um MauBenbach die Bundgenossen des
ertappten Diebs - dringen in den Wald - gehen einer Hohle zu,
als wtiBten sie, daB sie zu etwas fuhre- finden eine unterirdische
420 DIE UNSICHTBARE LOGE
Menschenwelt - O ! daB gerade du zu deinem Ungliick da ge-
troffen werden muBtest, du Unschuldiger und Ungliicklicher!
nun schlagt dein sanftes Herz auch an der Kerkerwand ! - soil ich
dir deinen Freund Gustav nennen? — Eile, die, damit es sich an-
ders wende !
Sieh! nicht bloB auf deine, auch auf meine Brust hat dieser Tag
sich heftig geworfen. Haltst du es aus, wennichnochmehrsage?-
dafi es nur ein Zufall ist, daB Ottomar noch lebt. — Ich brachte
ihm die Nachricht unseres Unglucks. Mit einem schrecklichen
Strauben seiner Natur, in der jede Fiber mit einem andern Schauer 10
kampfte, hort' er mir zu und fragte mich, ob keiner mit seeks Fin^
gern gefangen genommen worden. >Ich habe in jener Waldhohle<
(sagt* er) >einen schweren Eid getan, unsere unterirdische Ver-
bindung niemand zu ofFenbaren, ausgenommen eine Stunde vor
meinem Tode. Fenk, ich will dir jetzo die ganze Verbindung offen-
baren.< - Mein Strauben und Flehen half nichts: er ofFenbarte mir
alles. > Gustav muB gerechtfertiget werdem, sagt* er. - Aber diese
Geschichte ist nirgends sicher, kaum im getreuesten Busen, ge-
schweige auf diesem Papier. Ottomar wurde von seiner soge-
nannten Vernicht-Minute angefallen. Ich lieB seine Hand nicht aus m
meiner, damit er iiber seine Stunde hinauslebte und seinen Eid
brache. - Es gibt nichts Hoheres als einen Menschen, der das
Leben verachtet; und in dieser Hoheit stand mein Freund vor
mir, der in seiner Hohle mehr gewagt und besser gelebt hatte als
alle Scheerauer. - Ich sah es ihm an, daB er sterben wo lite. Es war
Nacht. Wir waren in der Stube, wo die wachsernen Mumien mit
schwarzen StrauBern stehen, die den Menschen erinnern, wie
wenig er war, wie wenig er ist. >Beuge<, sagt' er (denn ich kettete
mich an ihh), >deinen Kopf weg, daB ich in den Sirius sehe - daB
ich in den unendlichen Himmel hinaussehe und einen Trost habe - 3 <
daB ich mich hinwegsetze iiber eine Erde mehr oder weniger. -
O mache mir, Freund, das Sterben nicht so sauer - und ziirne und
traure nicht. - O schau, wie der ganze Himmel von einer Unend-
lichkeit zur andern schimmert und lebt und nichts droben tot ist;—
die Menschen aller dieser Wachs-Leichname wohnen darin in je-
nem Blau - O ihr Abgeschiednen, heute zieh* ich auch zu euch, in
LETZTER SEKTOR 42 1
welche Sonne auch mein menschlicher Lichtfunke springen moge,
wenn der Korper von ihm niederschmilzt : ich find' euch wieder.< -
Das Ausschlagen jeder Viertelstunde hatte bisher mein Herz
durchstochen; aber die letzte Viertelstunde tonte mich wie eine
Leichenglocke an ; ich bewachte angstlich seine Hande und Schritte ;
er fiel um mich. >Nein! nein!< sagt' ich, >hier ist kein Abschied -
ich hasse dich bis ins Grab hinein, wenn du etwas im Sinne hast -
umarme mich nicht.< - Er hatt' es schon getan; sein ganzes Wesen
war ein schlagendes Herz; er wollte in der Empfindung der
> Freundschaft vergehen ; er preBte seine Brust an meine, und seine
Seele an meine: >Ich umarme dich< (sagt* er) >auf der Erde - in
welche Welt auch der Tod mich werfe: ich vergesse deiner nicht;
ich werde dort nach der Erde sehen und meine Arme ausbreiten
nach dem irdischen Freunde, und nichts soil meine Arme fullen
als die getreue, die belastete Brust derer, die mit mir hier gelitten,
die mit mir hier die Erde getragen haben. . . . Sieh! du weinst und
wolltest mich doch nicht umarmen I o Geliebter ! - an dir fuhT ich
die Eitelkeit der Erde nicht — duwirstjaauchsterben! ... Grofies
Wesen iiber der Erde. . . .< - Hier riB er sich von mir und sturzte
10 auf seine Knie und betete. >Zerstor mich nicht, bestraf mich
nicht! - ich gehe weg von dieser Erde; du weiBt, wo der Mensch
ankommt; du weiBt, was das Erdenleben und das Erdentun ist -
Aber, o Gott, der Mensch hat ein zweites Herz, eine zweite Seele,
seinen Freund! Gib mir den Freund wieder mit meinem Leben -
wenn einmal alle Menschenherzen stocken und alles Menschenblut
in Grabern verfault : o gutiges, liebendes Wesen ! hauch dann iiber
die Menschen und zeige der Ewigkeit ihre Liebe!< Ein Aufsprung
- ein Flug an mich - eine umarmende Zerdruckung - ein Schlag
an die Wand - ein SchuB aus ihr -
*o Er lebt aber noch. _ ,
Fenk.«
Leben des vergnugten Schulmeisterlein
Maria Wutz in Auenthal
Eine Art Idylle
Wie war dein Leben und Sterben so sanft und meerstille, du
vergniigtes Schulmeisterlein Wutz ! Der stille laue Himmel eines
Nachsommers ging nicht mit Gewolk, sondern mit Duft um dein
Leben herum: deine Epochen waren die Schwankungen unci dein
Sterben war das Umlegen einer Lilie, deren Blatter auf stehende
Blumen flattern - und schon auBer dem Grabe schliefest du sanft!
Jetzt aber, meine Freundej miissen vor alien Dingen die Stiihle 10
um den Ofen, der Schenktisch mit dem Trinkwasser an unsre Knie
geriickt und die Vorhange zugezogen und die Schlafmutzen auf-
gesetzt werden, und an die grand monde iiber der Gasse driiben
und ans Palais royal mufl keiner von uns denken, bloB weil ich
die ruhige Geschichte des vergnugten Schulmeisterlein erzahle -
und du, mein lieber Christian, der du eine einatmende Brust fur
die einzigen feuerbestandigen Freuden des Lebens, fur die haus-
lichen, hast, setze dich auf den Arm des GroBvaterstuhls, aus dem
ich herauserzahle, und lehne dich zuweilen ein wenig an mich! Du
machst mich gar nicht irre. 20
Seit der Schwedenzeit waren die Wutze Schulmeister in Auen-
thal, und ich glaube nicht, daB einer vom Pfarrer oder von seiner
Gemeinde verklagt wurde. Allemal acht oder neun Jahre nach der
Hochzeit versahen Wutz und Sohn das Amt mit Verstand -unser
Maria Wutz dozierte unter seinem Vater schon in der Woche das
Abe, in der er das Buchstabieren erlernte, das nichts taugt. Der
Charakter unsers Wutz hatte, wie der Unterricht anderer Schul-
leutej etwas Spielendes und Kindisches; aber nicht im Kummer,
sondern in der Freude.
Schon in der Kindheit war er ein wenig kindisch. Denn es gibt 5°
zweierlei Kinderspiele, kindische und ernsthafte - die ernsthaften
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 423
sind Nachahmungen der Erwachsenen, das Kaufmann-, Soldaten-,
Handwerker-Spielen - die kindischen sind Nachaffungen der
Tiere. Wutz war beim Spielen nie etwas anders als ein Hase, eine
Turteltaube oder das Junge derselben, ein Bar, ein Pferd oder gar
der Wagen daran. Glaubt mir! ein Seraph fmdet auch in unsern
Kollegien und Horsalen keine Geschafte, sondern nur Spiele und,
wenn ers hoch treibt, jene zweierlei Spiele.
Indes hatt' er auch, wie alle Philosophen, seine ernsthaftesten
Geschafte und Stunden. Setzte er nicht schon langst - ehe die
10 brandenburgischen erwachsenen GeistHchen nur fiinf Faden von
buntem Oberzug umtaten - sich dadurch uber groBe Vorurteile
weg, dafi er eine blaue Schurze, die seltner der geistliche Ornat als
der in ein Amt tragende Dr.Fausts-Mantel guter Kandidaten ist,
vormittags uber sich warf und in diesem himmelfarbigen MeB-
gewand der Magd seines Vaters die vielen Siinden vorhielt, die
sie um Himmel und Holle bringen konnten? - Ja er griff seinen
eignen Vater an, aber nachmittags; denn wenn er diesem Cobers
Kabinettprediger vorlas, wars seine innige Freude, dann und wann
zwei, drei Worte oder gar Zeilen aus eignen Ideen einzuschalten
zo und diese Interpolation mit wegzulesen, als sprache Herr Cober
selbst mit seinem Vater. Ich denke, ich werfe durch diese Perso-
nalie vieles Licht auf ihn und einen SpaB, den er spater auf der
Kanzel trieb, als er auch nachmittags den Kirchgangern die Postille
an Pfarrers Statt vorlas, aber mit so viel hineingespielten eignen
Verlagartikeln und Fabrikaten, daB er dem Teufel Schaden tat
und dessen Diener ruhrte. »Justel,« sagt* er nachher um 4 Uhr zu
seiner Frau, »was weiBt du unten in deinem Stuhl, wie prachtig es
einem oben ist, zumal unter dem KanzelliedeU
Wir konnens leicht bei seinen altern Jahren erfragen, wie er in
so seinen Flegeljahren war. Im Dezember von jenen lieB er allemal
das Licht eine Stunde spater bringen, weil er in dieser Stunde seine
Kindheit - jeden Tag nahm er einen andern Tag vor - rekapitu-
lierte. Indern der Wind seine Fenster mit Schnee-Vorhangen ver-
finsterte und indem ihn aus den Ofen-Fugen das Feuer anblinkte :
druckte er die Augen zu und lieB auf die gefrornen Wiesen den
langst vermoderten Fruhling niedertauen; da bauete er sich mit
424 DIE UNSICHTBARE LOGE
der Schwester in den Heuschober ein und fuhr auf dem architek-
tonisch gewolbten Heu-Gebirge des Wagens heim und riet dro-
ben mit geschlossenen Augen, wo sie wohl nun fuhren. In der
Abendkiihle, unter dem Schwalben-Scharmuzieren iiber sich,
schoB er, froh iiber die untere Entkleidung und das Deshabille der
Beine, als schreiende Schwalbe herum und mauerte sich fur sein
Junges - ein holzerner Weihnachthahn mit angepichten Federn
wars t eine Kot-Rotunda mit einem Schnabel von Holz und trug
hernach Bettstroh und Bettfedern zu Nest. Fiir eine andere palin-
genesierende Winter- Abendstunde wurde ein prachtigerTnnita- ic
tis (ich wollt', es gabe 365 Trinitatis) aufgehoben, wo er am
Morgen, im tonenden Lenz um ihn und in ihm, mit lautendem
Schliissel-Bund durch das Dorf in den Garten stolzierte, sich im
Tau abkiihlte und das gliihende Gesicht durch die tropfende Jo-
hannisbeer-Staude drangte, sich mit dem hochstarnmigen Grase
maB und mit zwei schwachen Fingern die Rosen fiir den Herrn
Senior und sein Kanzelpult abdrehte. An eben diesem Trinitatis -
das war die zweite Schiissel an dem namlichen Dezember-Abend-
quetschete er, mit dem Sonnenschein aufdemRucken,den Orgel-
tasten den Choral »Gott in der Hoh* sei Ehr'<< ein oder ab (mehr *<
kann er noch nicht) und streckte die kurzen Beine mit vergeb-
lichen Naherungen zur Parterre-Tastatur hinunter, und der Vater
riB fiir ihn die richtigen Register heraus. - Er wiirde die ungleich-
artigsten Dinge zusammenschiitten, wenn er sich in den gedachten
beiden Abendstunden erinnerte, was er im Kindheit-Dezember
vornahm ; aber er war so klug, daB er sich erst in einer dritten dar-
auf besann, wie er sonst abends sich aufs Zuketten der Fenster-
laden freuete, weil er nun ganz gesichert vor allem in der lichten
Stube hockte, daher er nicht gern lange in die von abspiegelnden
Fensterscheiben iiber die Laden hinausgelagerte Stube hineinsah; v
wie er und seine Geschwister die abendliche Kocherei der Mutter
ausspionierten, unterstiitzten und unterbrachen, und wie er und
sie mit zugedriickten Augen und zwischen den Brustwehr-Schen-
keln des Vaters auf das Blenden des kommenden Talglichts sich
spitzten, und wie sie in dem aus dem unabsehlichen Gewolbe des
Universums herausgeschnittenen oder hineingebauten Closet
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 425
ihrer Stube so beschirmet waren, so warm, so satt, so wohl
Und alle Jahre, sooft er diese Retourfuhre seiner Kindheit und des
Wolfmonats darin veranstaltete, vergaB und erstaunt* er - sobald
das Licht angeziindet wurde -, daB in der Stube, die er sich wie
ein Loretto-Hauschen aus dem Kindheit-Kanaan heruberholte, er
ja gerade jetzt saBe. '— So beschreibt er wenigstens selber diese Er-
innerung- hohen-Opern in seinen Rousseaulschen Spa^iergangen,
die ich da vor mich lege, um nicht zu lugen
Allein ich schnure mir den FuB mit lauter Wurzelngeflecht und
10 Dickicht ein, wenn ichs nicht dadurch wegreiBe, daB ich einen ge-
wissen auBerst wichtigen Umstand aus seinem mannlichen Alter
herausschneide und sogleich jetzo aufsetze; nachher aber soil or-
dentlich a priori angefangen und mit dem Schulmeisterlein lang-
sam in den drei aufstetgenden Zelchen der Alterstufen hinauf und
auf der andern Seite in den drei niedersteigenden wieder hinab ge-
gangen werden — bis Wutz am FuB der tiefsten Stufe vor uns ins
Grab fallt.
Ich wollte, ich hatte dieses Gleichnis nicht genommen. Sooft
ich in Lavaters Fragmenten oder in Comenii orbis pictus oder an
20 einer Wand das Blut- und Trauergeruste der sieben Lebens-Sta-
tionen besah - sooft ich zuschauete, wie das gemalte Geschopf,
sich verlangernd und ausstreckend, die Ameisen-Pyramide auf-
klettert, drei Minuten droben sich umblickt und einkriechend auf
der andern Seite niederfahrt und abgekiirzt umkugelt auf die um
diese Schadelstatte liegende Vorwelt - und sooft ich vor das atmen-
de Rosengesicht voll Fruhlinge und voll Durst, einen Himmel
auszutrinken, trete und bedenke, daB nicht Jahrtausende, sondern
Jahrzehende dieses Gesicht in das zusammengeronnene zerkniillte
Gesicht voll uberlebter HofFnungen ausgedorret haben.... Aber
30 indem ich iiber andre mich betrube, heben und senken mich die
Stufen selber, und wir wollen einander nicht so ernsthaft machen!
Der wichtige Umstand, bei dem uns, wie man behauptet, so
viel daran gelegen ist, ihn voraus zu horen, ist namlich der, daB
Wutz eine ganze Bibliothek - wie hatte der Mann sich eine kaufen
konnen? - sich eigenhandig schrieb. Sein Schreibzeug war seine
Taschendruckerei; iedes neue MeBprodukt, dessen Titel das
426 DIE UNSICHTBARE LOGE
Meisterlein ansichtig wurde, war nun so gut als geschrieben oder
gekauft: denn es setzte sich sogleich hin und machte das Produkt
und schenkt* es seiner ansehnlichen Buchersammlung, die, wie die
heidnischen, aus lauter Handschriften bestand. Z.B. kaum waren
die physiognomischen Fragmente von Lavater da: so lieB Wutz
diesem fruchtbaren Kopfe dadurch wenig voraus, daB er sein
Konzeptpapier in Quarto brach und drei Wochen lang nicht
vom Sessel wegging, sondern an seinem eignen Kopfe so lange
zog, bis er den physiognomischen Fotus herausgebracht (- er
bettete den Fotus aufs Biicherbrett hin -) und bis er sich dem ic
Schweizer nachgeschrieben hatte. Diese Wutzische Fragmente
iibertitelte er die Lavaterschen und merkte an: »er hatte nichts
gegen die gedruckten; aber seine Hand sei hoffentlich ebenso
leserlich, wenn nicht besser als irgendein Mittel-Fraktur-Druck.«
Er war kein verdammter Nachdrucker, der das Original hinlegt
und oft das meiste daraus abdruckt: sondern er nahm gar keines
zur Hand. Daraus sind zwei Tatsachen vortrefflich zu erklaren:
erstlich die, daB es manchmal mit ihm haperte und dafi er z. B. im
ganzen Federschen Traktat iiber Raum und Zeit von nichts han-
delte als vom SchirTs-i?cz«/rc und der Ze'u, die man bei Weibern 20
Menses nennt. Die zweite Tatsache ist seine Glaubenssache : da
er einige Jahre sein Biicherbrett auf diese Art voll geschrieben und
durchstudieret hatte, so nahm er die Meinung an, seine Schreib-
bucher waren eigentlich die kanonischen Urkunden, und die ge-
druckten waren bloBe Nachstiche seiner geschriebnen; nur das,
klagt' er, konn' er - und boten die Leute ihm Balleien dafiir an -
nicht herauskriegen, wienach und warum der Buchfiihrer das Ge-
druckte allzeit so sehr verfalsche und umsetze, daB man wahr-
haftig schworen sollte, das Gedruckte und das Geschriebne hatten
doppelte Verfasser, wiiBte man es nicht sonst. 3°
Es war einfaltig, wenn etwa ihm zum Possen ein Autor sein
Werk griindlich schrieb, namlich in Querfolio - oder witzig, nam-
lich in Sedez : denn sein Mitmeister Wutz sprang den Augenblick
herbei und legte seinen Bogen in die Quere hin, oder krempte ihn
in Sedezimo ein.
Nur ein Buch lieB er in sein Haus, den MeBkatalog; denn die
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ
427
besten Inventarienstiicke desselben muBte der Senior am Rande
mit einer schwarzen Hand bestempeln, damit er sie hurtig genug
schreiben konnte, um das Ostermefi-Heu in die Panse des Bucher-
schranks hineinzumahen, eh* das Michaelis- Grummet heraus-
schoB. Ich mochte seine Meisterstiicke nicht schreiben. Den groB-
ten Schaden hatie der Mann davon - Verstopfung zu halben
Wochen und Schnupfen auf der andern Seite -, wenn der Senior
(sein Friedrich Nicolai) zu viel Gutes, das er zu schreiben hatte,
anstrich und seine Hand durch die gemalte anspornte; und sein
10 Sohn klagte oft, daB in manchen Jahren sein Vater vor Iiterarischer
Geburtarbeit kaum niesen konnte, weil er auf einmal Sturms Be-
trachtungen, die verbesserte Auf lage, Schillers Rauber und Kants
Kritik der reinen Vernunft der Welt zu schenken hatte.' Das ge-
schah bei Tage; abends aber muBte der gute Mann nach dem
Abendessen noch gar um den Sudpol rudern und konnte auf sei-
ner Cookischen Reise kaum drei gescheite Worte zum Sohne nach
Deutschland hinaufreden. Denn da unser Enzyklopadist nie das
innere Afrika oder nur einen spanischen Maulesel-Stall betreten,
oder die Einwohner von beiden gesprochen hatte : so hatt' er desto
20 mehr Zeit und Fahigkeit, von beiden und alien Landern reich-
haltige Reisebeschreibungen zu liefern - ich meine solche, worauf
der Statistiker, der Menschheit-Geschichtschreiber und ich selber
fuBen konnen - erstlich deswegen, weil auch andre Reisejour-
nalisten haufig ihre Beschreibungen ohne die Reise machen -
zweitens auch, weil Reisebeschreibungen uberhaupt unmoglich
auf eine andre Art zu machen sind, angesehen noch kein Reise-
beschreiber wirklich vor oder in dem Lande stand, das er silhouet-
tierte: denn so viel hat auch der Diimmste noch aus Leibnizens
vorherbestimmten Harmonie im Kopfe, daB die Seele, z.B. die
30 Seelen eines Forsters, Brydone, Bjornstahls - insgesamt seBhaft
auf dem Isolierschemel der versteinerten Zirbeldriise - ja nichts
anders von Siidindien oder Europa beschreiben konnen, als was
jede sich davon selber erdenkt und was sie, beim ganzlichen Man-
gel auBerer Eindriicke, aus ihren filnf Kanker-Spinnwarien vor-
spinnt und abzwirnt. Wutz zerrete sein Reisejournal auch aus nie-
mand anders als aus sich.
4^8 DIE UNSICHTBARE LOGE
Er schreibt iiber alles, und wenn die gelehrte Welt sich dariiber
wundert, daB er fiinf Wochen nach dem Abdruck der Werther-
schen Leiden einen alten Flederwisch nahm und sich eine harte
Spule auszog und damit stehendes FuBes sie schrieb, die Leiden -
ganz Deutschland ahmte nachher seine Leiden nach - : so wundert
sich niemand weniger iiber die gelehrte Welt als ich; denn wie
kann sie Rousseaus Bekenntnisse gesehen und gelesen haben, die
Wutz schrieb und die dato noch unter seinen Papieren liegen? In
diesen spricht aber J. J. Rousseau oder Wutz (das ist einerlei) so
von sich, allein mit andern Einkleid-Worten : »er wiirde wahr- 10
haftig nicht so dumm sein, daB er Federn nahme und die besten
Werke machte, wenn er nichts brauchte, als bloB den Beutel auf-
zubinden und sie zu erhandeln. Allein er habe nichts darin als
zwei schwarze Hemdknopfe und einen kotigen Kreuzer. Woll*
er mithin etwas Gescheites lesen, z. B. aus der praktischen Arznei-
kunde und aus der Kranken-Universalhistorie : so miiss er' sich an
seinen triefenden Fensterstock setzen und den Bettel ersinnen. An
wen woir er sich wenden, um den Hintergrund des Freimaurer-
Geheimnisses auszuhorchen, an welches Dionysius-Ohr, mem' er,
als an seine zwei eignen? Auf diese an seinen eignen Kopf ange- 2c
ohrten hor' er sehr, und indem er die Freimaurer-Reden, die er
schreibe, genau durchlese und zu verstehen trachte : so merk' er
zuletzt allerhand Wunderdinge und komme weit und rieche im
ganzen genommen Lunten. Da er von Chemie und Alchemie so
viel wisse wie Adam nach dem Fall, als er alles vergessen hatte :
so sei ihm ein rechter Gefallen geschehen, daB er sich den Annulus
Platonis geschmiedet, diesen silbernen Ring um.den Blei-Saturn,
diesen Gyges-Ring, der so vielerlei unsichtbar mache, Gehirne
und Metalle; denn aus diesem Buche diirft* er, sollt* ers nur ein-
mal ordentlich begreifen, frappant wissen, wo Bartel Most hole.« - 5°
Jetzt wollen wir wieder in seine Kindheit zuriick.
Im zehnten Jahre verpuppte er sich in einen mulattenfarbigen
Alumnus und obern Quintaner derStadtScheerau. SeinExaminator
muB mein Zeuge sein, daB es keine weiBe Schminke ist, die ich
meinem Helden anstreiche, wenn ichs zu berichten wage, daB er
nur noch ein Blatt bis zur vierten Deklination zuriickzulegen hatte
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 429
und daB er die ganze Geschlecht-Ausnahme thorax caudex pulex-
que vor der Quinta wie ein Wecker abrollte - bloB die Regel
wuBt' er nicht. Unter alien Nischen des Alumneums war nur eine
so gescheuert und geordnet, gleich der Prunkkiiche einer Niirn-
bergerin: das war seine; denn zufriedene Menschen sind die or-
dentlichsten. Er kaufte sich aus seinem Beutel fur zwei Kreuzer
Nagel und beschlug seine Zelle damit, um fur alle Effekten be-
sondere Nagel zu haben - er schlichtete seine Schreibbiicher so
lange, bis ihre Riicken so bleirecht aufeinander lagen wie eine
10 preuBische Fronte, und er ging beim Mondschein aus dem Bette
und visierte so lange um seine Schuhe herum, bis sie parallel neben-
einander standen. - War alles metrisch: so rieb er die Hande, riB
die Achseln iiber die Ohren hinauf, sprang empor, schiittelte sich
fast den Kopf herab und lachte ungemein.
Eh* ich von ihm weiter beweise, daB er im Alumneum gliick-
lich war: will ich beweisen, daB dergleichen kein SpaB war, son-
dern eine herkulische Arbeit. Hundert agyptische Plagen halt man
fur keine, bloB weil sie uns nur in der Jugend heimsuchen, wo mo-
ralische Wunden und komplizierte Frakturen so hurtig zuheilen
20 wie physische - griinendes Holz bricht nicht so leicht wie durres
entzwei. Alle Einrichtungen legen es dar, daB ein Alumneum
seiner altesten Bestimmung nach ein protestantisches Knaben-
Kloster sein soil; aber dabei sollte man es lassen, man sollte ein
solches Praservations-Zuchthaus in kein LustschloB, ein solches
Misanthropin in kein Philanthropin verwandeln wollen. Mussen
nicht die gliicklichen Inhaftaten einer solchen Fiirstenschule die
drei Klostergeliibde ablegen? Erstlich das des Gehorsams, da der
Schiiler-Guardian und Novizenmeister seinen schwarzen Novizen
das Spornrad der haufigsten, widrigsten Befehle und Ertotungen
30 in die Seite sticht. Zweitens das der Armut^ da sie nicht Kruditaten
und iibrige Brocken, sondern Hunger von einem Tage zumandern
aufheben und iibertragen; und Carminati vermochte ganze In-
validenhauser mit dem Supernumerar-Magensaft der Konvikto-
rien und Alumneen auszuheilen. Das Geliibde der Keuschheit tut
sich nachher von selbst, sobald ein Mensch den ganzen Tag zu
laufen und zu fasten hat und keine andern Bewegun^en entbehrt
43O DIE UNSICHTBARE LOGE
als die peristaltischen. Zu wichtigen Amtern muB der Staatsbiirger
erst gehanselt werden. Verdient denn aber bloB der katholische
Novize zum Monch geprugelt, oder ein elender Ladenjunge in
Bremen zum Kaufmannsdiener gerauchert, oder ein sittenloser
Siidamerikaner zum Kaziken durch beides und durch mehre, in
meinen Exzerpten stehende Qualen appretiert und sublimiert zu
werden? 1st ein lutherischer Pfarrer nicht ebenso wichtig, und
sind seiner kiinftigen Bestimmung nicht ebensogut solche iibende
Martern notig? Zum Gliick hat er sie; vielleicht mauerte die Vor-
welt die Schulpforten, deren Konklavisten insgesamt wahre 10
Knechte der Knechte sind, bloB seinetwegen auf: denn andern
Fakultaten ist mit dieser Kreuzigung und Radbrechung des
Fleisches und Geistes zu wenig gedient. - Daher ist auch das so
oft getadelte Chor-, Gassen- und Leichensingen der Alumnen ein
recht gutes Mittel, protestantische Klosterleute aus ihnen zu ziehen
- und selbst ihr schwarzer Oberzug und die kanonische Mohren-
Enveloppe des Mantels ist etwas Ahnliches von der Monchkutte.
Daher schieBen in Leipzig um die Thomasschuler, da doch ein-
mal die Geistlichen die Periicken-Wammen anhangen miissen,
wenigstens die Herzblatter eines aufkapfenden Periickchens her- 20
um, das wie ein Pultdach oder wie halbe Fliigeldecken sich auf
dem Kopfe umsieht. In den alten Klostern war die Gelehrsamkeit
Strafe; nur Schuldige mufiten da lateinische Psalmen auswendig
lernen oder Autores abschreiben; - in guten armen Schulen wird
dieses Strafen nicht vernachlassigt, und sparsamer Unterricht
wird da stets als ein unschuldiges Mittel angeordnet, den armen
Schiiler damit zu ziichtigen und zu mortifizieren ....
BloB dem Schulmeisterlein hatte diese Kreuzschule wenig an;
den ganzen Tag freuete er sich auf oder iiber etwas. »Vor dem
Aufstehen«, sagt' er, »freu' ich mich auf das Fruhstiick, den ganzen 30
Vormittag aufs Mittagessen, zur Vesperzeit aufs Vesperbrot und
abends aufs Nachtbrot - und so hat der Alumnus Wutz sich stets
auf etwas zu spitzen.« Trank er tief, so sagt* er: »Das hat meinem
Wutz geschmeckt« und strich sich den Magen. Niesete er, so sagte
er; »Helf dir Gott, Wutz!« - Im fleberfrostigen Novemberwetter
letzte er sich auf der Gasse mit der Vormalung des warmen Ofens
SCHULMEISTERLE1N MARIA WUTZ 43 1
und mit der narrischen Freude, daB er eine Hand um die andre
unter seinem Mantel wie zu Hause stecken hatte. War der Tag gar
zu toll und windig - es gibt fur uns Wichte solche Hatztage, wo
die ganze Erde ein Hatzhaus ist und wo die Plagen wie spaBhaft
gehende Wasserkiinste uns bei jedem Schritte ansprutzen und
einfeuchten -, so war das Meisterlein so pfiffig, daB es sich unter
das Wetter hinsetzte und sich nichts darum schor; es war nicht
Ergebung, die das unvermeidliche Obel aufnimmt, nicht Abhar-
tung, die das ungefilhlte tragt, nicht Philosophie, die das verdiinnte
ro verdauet, oder Religion, die das beloknte verwindet: sondern der
Gedanke ans warme Bett wars. »Abends«, dacht* er, »lieg* ich auf
alle Falle, sie mogen mich den ganzen Tag zwicken und hetzen,
wie sie wollen, unter meiner warmen Zudeck und driicke die Nase
ruhig ans Kopfkissen, acht Stunden lang.« - Und kroch er end-
lich in der letzten Stunde eines solchen Leidentages unter sein
Oberbett: so schiittelte er sich darin, krempte sich mit den Knien
bis an den Nabel zusammen und sagte zu sich: »Siehst du, Wutz,
es ist doch vorbei.«
Ein andrer Paragraph aus der Wutzischen Kunst, stets frohlich
20 zu sein, war sein zweiter PfifT, stets frohlich aufzuwachen - und
um dies zu konnen, bedient' er sich eines dritten und hob immer
vom Tage vorher etwas Angenehmes fur den Morgen auf, ent-
weder gebackne KloBe oder ebensoviel auBerst gefahrliche Blatter
aus dem Robinson, der ihm lieber waralsHomer-oderauch junge
Vogel oder junge Pfianzen, an denen er am Morgen nachzusehen
hatte, wie nachts Federn und Blatter gewachsen.
Den dritten und vielleicht durchdachtesten Paragraphen seiner
Kunst, frohlich zu sein, arbeitete er erst aus, da er Sekundaner
30 ' er wurde verliebt. -
Eine solche Ausarbeitung ware meine Sache .... Aber da ich
hier zum ersten Male in meinem Leben mich mit meiner ReiBkohle
an das Blumenstuck gemalter Liebe mache: so muB auf der Stelle
abgebrochen werden, damit fortgerissen werde morgen um 6 Uhr
mit weniger niedergebranntem Feuer. -
Wenn Venedig, Rom und Wien und die ganze Luststadte-Bank
432 DIE UNSICHTBARE LOGE
sich zusammentaten und mich mit einem solchen Karneval be-
schenken wollten, das dem beikame , welches mitten in der schwar-
zen Kantors-Stube in Joditz war, wo wir Kinder von 8 Uhr bis 1 1
forttanzten (so lange wahrte unsre Faschingzeit, in der wir den
Appetit zur Fastnacht-Hirse versprangen) : so machten sich jene
Residenzstadte zwar an etwas Unmogliches und Lacherliches -
aber doch an nichts so Unmogliches, wie dies ware, wenn sie dem
Alumnus Wutz den Fastnachtmorgen mit seinen Karnevallustbar-
keiten wiedergeben wollten, als er, als unterer Sekundaner auf
Besuch, in der Tanz- und Schulstube seines Vaters am Morgen ic
gegen 10 Uhr ordentlich verliebt wurde. Eine solche Fasching-
lustbarkeit - trautes Schulmeisterlein, wo denkst du hin? - Aber
er dachte an nichts hin als zu Justina, die ich selten oder niemals
wie die Auenthaler Justel nennen werde. Da der Alumnus unter
dem Tanzen (wenige Gymnasiasten hatten mitgetanzt, aber Wutz
war nie stolz und immer eitel) den Augenblick weghatte, was -
ihn nicht einmal eingerechnet - an der Justel ware, daB sie ein
hubsches gelenkiges Ding und schon im Briefschreiben und in der
Regeldetri in Briichen und die Patin der Frau Seniorin und in
einem Alter von 1 5 Jahren und nur als eine Gast-Tanzerin mit in *<
der Stube sei: so tat der Gast-Tanzer seines Orts, was in solchen
Fallen zu tun ist; er wurde, wie gesagt, verliebt - schon beim
ersten Schleifer flogs wie Fieberhitze an ihn - unter dem Ordnen
zum zweiten, wo er stillstehend die warme Inlage seiner rechten
Hand bedachte und befuhlte, stiegs unverhaltnismaBig - er tanzte
sich augenscheinlich in die Liebe und in ihre Game hinein. - Als
sie noch dazu die roten Haubenbander auseinanderfallen und sie
ungemein nachlassig um den nackten Hals zuriickflattern lieB:
so vernahm er die BaBgeige nicht mehr — und als sie endlich gar
mit einem roten Schnupftuch sich Kiihlung vorwedelte und es 3=
hinter und vor ihm fliegen lieB : so war ihm nicht mehr zu helfen,
und hatten die vier groBen und die zwolf klemen Propheten zum
Fenster hineingepredigt. Denn einem Schnupftuch in einer weib-
liehen Hand erlag er stets auf der Stelle ohne weitere Gegen wehr,
wie der Lowe dem gedrehten Wagenrade und der Elefant der
Maus. Dorfkoketten machen sich aus dem Schnupftuch die nam-
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 433
liche Feldschlange und Kriegmaschine, die sich die Stadtkoketten
aus dem Facher machen; aber die Wellen eines Tuchs sind ge-
falliger als das knackende Truthahns-Radschlagen der bunten
Streitkolbe des Fachers.
Auf alle Falle kann unser Wutz sich damit entschuldigen, daB
seines Wissens die Orter offentlicher Freude das Herz fur alle
Emphndungen, die viel Platz bediirfen, fur Aufopferung, fur Mut
und auch fur Liebe, weiter machen; - freilich in den engen Amt-
und Arbeitstuben, auf Rathausern, in geheimen Kabinetten liegen
to unsre Herzen wie auf ebenso vielen Welkboden und Darrofen und
runzeln ein.
Wutz trug seinen mit dem Gas der Liebe aufgefiillten und em-
porgetriebnen Herzballon freudig ins Alumneum zuriick, ohne
jemand eine Silbe zu melden, am wenigsten der Schnupftuch-
Fahnenjunkerin selber - nicht aus Scheu, sondern weil er nie mehr
begehrte als die Gegenwart; er wair nur froh, daB er selber ver-
liebt war, und dachte an weiter nichts
Warum lieB der Himmel gerade in die Jugend das Lustrum der
Liebe fallen? Vielleicht weil man gerade da in Alumneen, Schreib-
*o stuben und andern Gifthutten keucht: da steigt die Liebe wie auf-
bliihendes Gestrauch an den Fenstern jener Marterkammern em-
* por und zeigt in schwankenden Schatten den grofien Friihling
von auBen. Denn Er und ich, mein Herr Prafektus, und auch Sie,
verdiente Schuldiener des Alumneums, wir wollen miteinander
wetten, Sie sollen iiber den vergniigten Wutz ein Harenhemd Zie-
hen (im Grund hat er eines an) - Sie sollen ihn Ixions Rad und
Sisyphus' Stein der Weisen und den Laufwagen Ihres Kindes
bewegen lassen - Sie sollen ihn halb tot hungern oder priigeln
lassen - Sie sollen einer so elenden Wette wegen (welches ich
50 Ihnen -nicht zugetrauet hatte) gegen ihn ganz des Teufels sein :
Wutz bleibt doch Wutz und praktiziert sich immer sein biBchen
verliebter. Freude ins Herz, vollends in den Hundtagen! -
Seine Kanikularferien sind aber vielleicht nirgends deutlicher
beschrieben als in seinen )>Werthers Freuden% die seine Lebens-
beschreiber fast nur abzuschreiben brauchen. — Er ging da sonn-
tags nach der Abendkirche heim nach Auenthal und hatte mit den
434 DIE UNSICHTBARE LOGE
Leuten in alien Gassen Mitleiden, daB sie dableiben muBten.
DrauBen dehnte sich seine Brust mit dem aufgebaueten Himmel
vor ihm aus, und halbtrunken im Konzertsaal aller Vogel horcht*
er doppelselig bald auf die gefiederten Sopranisten, bald auf seine
Phantasien. Um nur seine iiber die Ufer schlagende Lebenskrafte
abzuleiten, galoppierte er oft eine halbe Viertelstunde lang. Da er
immer kurz vor und nach Sonnen-Untergang ein gewisses wol-
lustiges trunknes Sehnen empfunden hatte - die Nacht aber macht
wie ein langerer Tod den Menschen erhaben und nimmt ihm die
Erde — : so zauderte er mit seiner Landung in Auenthal so lang', i C
bis die zerfliefiende Sonne durch die Ietzten Kornfelder vor dem
Dorfe mit Goldfaden, die sie gerade iiber die Ahren zog, sein
blaues Rockchen stickte und bis sein Schatten an den Berg iiber
den FluB wie ein Riese wandelte. Dann schwankte er unter dem
wie aus der Vergangenheit heriiberklingenden Abendlauten ins
Dorf hinein und war alien Menschen gut, selbst dem Prafektus.
Ging er dann um seines Vaters Haus und sah am obern Kapp-
fenster den Widerschein des Monds und durch ein Parterre-Fen-
ster seine Justina, die da alle Sonntage einen ordentlichen Brief
setzen lernte o wenn er dann in dieser paradiesischenViertel- 20
stunde seines Lebens auf funfzig Schritte die Stube und die Briefe
und das Dorf von sich hatte wegsprengen und um sich und um die .
Briefstellerin bloB ein einsames dammerndes Tempe-Tal hatte
ziehen konnen - wenn er in diesem Tale mit seiner trunknen
Seele, die unterweges um alle Wesen ihre Arme schlug, auch an sein
schonstes Wesen hatte fallen diirfen und er und sie und Himmel
und Erde zuriickgesunken und zerflossen waren vor einem flam-
menden Augenblick und Brennpunkte menschlicher Entziik-
kung
Indessen tat ers wenigstens nachts um eilf Uhr* und vorher 30
gings auch nicht schlecht. Er erzahlte dem Vater, aber im Grunde
Justinen seinen Studienplan und seinen politischen EinfluB; er
setzte sich dem Tadel, womit sein Vater ihre Briefe korrigierte,
mit demjenigen Gewicht entgegen, das ein solcher Kunstrichter
hat, und er war, da er gerade warm aus der Stadt kam, mehr als
einmal mit Witz bei der Hand - kurz, unter dem Einschlafen horte
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 435
er in seiner tanzenden taumelnden Phantasie nichts als Spharen-
Musik.
- Freilich du, mein Wutz, kannst Werthers Freuden aufsetzen,
da allemal deine auBere und deine innere Welt sich wie zwei
Muschelschalen aneinander loten und dich als ihr Schaltier ein-
fassen; aber bei uns armen Schelmen, die wir hier am Ofen sitzen,
ist die AuBenwelt selten der Ripienist und Chorist unsrer innern
frohlichen Stimmung; - hochstens dann, wenn an uns der ganze
Stimmstock umgefallen und wir knarren und brummen; oder in
to einer andern Metapher: wenn wir eine verstopfte Nase haben, so
setzt sich ein ganzes mit Blumen iiberwolbtes Eden vor uns hin,
und wir mogen nicht hineinriechen.
Mit jedem Besuche machte das Schulmeisterlein seiner Johanna-
Therese-Charlotte-Mariana-Klarissa-Heloise-Justel auch ein Ge-
schenk mit einem Pfefferkuchen und einem Potentaten; ich will
iiber beide ganz befriedigend sein.
Die Potentaten hatt' er in seinem eignen Verlage; aber wenn
die Reichshofrats-Kanzlei ihre Fiirsten und Grafen aus ein wenig
Dime, Pergament und Wachs macht : so verfertigte er seine Po-
20 tentaten viel kostbarer, aus RuB, Fett und zwanzig Farben. Im
Alumneum wurde namlich mit den Rahmen einer Menge Poten-
taten eingeheizet, die er samtlich mit gedachten Materialien so zu
kopieren und zu reprasentieren wiiBte, als war* er ihr Gesandter.
Er iiberschmierte ein Quartblatt mit einem Endchen Licht und
nachher mit OfenruB - dieses legte er mit der schwarzen Seite auf
ein andres mit weiBen Seiten - oben auf beide Blatter tat er irgend-
ein furstliches Portrat - dann nahm er eine abgebrochne Gabel
und fuhr mit ihrer driickenden Spitze auf dem Gesichte undLeibe
des regierenden Herrn herum — dieser Druck verdoppelte den
50 Potentaten, der sich vom schwarzen Blatt aufs weiBe uberfarbte.
So nahm er von allem, was unter einer europaischen Krone saB,
recht kluge Kopien; allein ich habe niemals verhehlet, daB seine
Okulier-Gabel die russische Kaiserin (die vorige) und eine Menge
Kronprinzen dermaBen aufkratzte und durchschnitt, daB sie zu
nichts mehr zu brauchen waren als dazu, den Weg ihrer Rahmen
zu gehen. Gleichwohl war das ruBige Quartblatt nur die Bruttafel
43 6 DIE UNSICHTBARE LOGE
und Atz-Wiege glorwiirdiger Regenten, oder auch der Streich-
oder Laichteich derselben - ihr Streckteich aber oder die Appretur-
Maschine der Potentaten war sein Farbkastchen; mit diesem illu-
minierte er ganze regierende Linien, und alle Muscheln kleideten
einen einzigen GroBfursten an, und die Kronprinzessinnen zogen
aus derselben Farbmuschel Wangenrote, Schamrote und Schmin-
ke. — Mit diesen regierenden Schonen beschenkte er die, die ihn
regierte und die nicht wuBte, was sie mit dem historischen Bilder-
saale machen sollte.
Aber mit dem PfefFerkuchen wuBte sie es in dem Grade, daB i
sie ihn aB. Ich halt' es fur schwer, einer Geliebten einen Pfeffer-
kuchen zu schenken, weil man ihn oft kurz vor der Schenkung
selber verzehrt. Hatte nicht Wutz die drei Kreuzer fiir den ersten
schon bezahlt? Hatt* er nicht das braune Rektangulum schon in '
der Tasche und war damit schon bis auf eine Stunde vor Auenthal
und vor dem Adjudikationtermin gereiset? Ja wurde die siiBe
Votiv-Tafel nicht alle Viertelstunde aus der Tasche gehoben, um
zu sehen, ob sie noch viereckig sei? Dies war eben das Ungliick;
denn bei diesem Beweis durch Augenschein, den er fiihrte, brach
er immer wenige und unbedeutende Mandeln aus dem Kuchen; - 2<
dergleichen tat er ofters - darauf machte er sich (statt an die Qua-
dratur des Zirkels) an das Problem, den gevierteten.Zirkel wieder
rein herzustellen, und biB sauber die vier rechten Winkel ab und
machte ein Acht-Eck, ein Sechzehn-Eck - denn ein Zirkel ist ein
unendliches Viel-Eck - darauf war nach diesen mathematischen
Ausarbeitungen das Viel-Eck vor keinem Madcheamehr zu pro-
duzieren - darauf tat Wutz einen Sprung und sagte: »Ach! ich
fress' ihn selber«, und heraus war der Seufzer und hinein die geo-
metrische Figur. — Es werden wenige schottische Meister, akade-
mische Senate und Magistranden leben, denen nicht ein wahrer Ge- 3 c
fallen geschahe, wenn man ihnen zu horen gabe, durch welchen
Maschinen-Gott sich Wutz aus der Sache zog durch einen
zweiten Pfefferkuchen tat ers, den er allemal als einen Wand- und
Taschen-Nachbar des ersten mit einsteckte. Indem er den einen
aB, landete der andre ohne Lasionen an, weil er mit dem Zwilling
wie mit Brandmauer und Kronwache den andern beschutzte. Das
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 437
aber sah er in der Folge selber ein, daB er - um nicht einen bio Ben
Torso oder Atom nach Auenthal zu transportieren - die Kron-
truppen oder Pfefferkuchen von Woche zu Woche vermehren
miisse.
Er ware Primaner geworden, ware nicht sein Vater aus unserem
Planeten in einen andern oder in einen Trabanten geriickt. Daher
dacht' er die Melioration seines Vaters nachzumachen und wollte
von der Sekundanerbank auf den Lehrstuhl rutschen. Der Kirchen-
patron, Herr von Ebern, drangte sich zwischen beide Geruste und
io hielt seinen ausgedienten Koch an der Hand, um ihn in ein Amt
einzusetzen, dem er gewachsen war, weil es in diesem ebensogut
wie in seinem vorigen Spanferkel 1 tot zu peitschen und zu ap-
pretieren, obwohl nicht zu essen gab. Ich hah' es schon in der Re-
vision des Schulwesens in einer Note erinnert und Herrn Gedikens
Beifall davongetragen, daB in jedem Bauer jungen ein unausge-
wachsener Schulmeister stecke, der von ein paar Kirchenjahren
groB zu paraphrasieren sei - daB nicht bloB das alte Rom Welt-
Konsule, sondern auch heutige Dorfer Schul-Konsule vom Pfluge
und aus der Furche ziehen konnten - daB man ebensogut von
20 Leuten seines Standes hier unterrichtet, als in England gerichtet
werden konne, und daB gerade der, dem jeder das meiste Scibile
verdanke, ihm amahnlichsten sei, namlich jeder selber -daB, wenn
eine ganze Stadt (Norcia an dem appenninischen Gebirg) nur von
vier ungelehrten Magistratgliedern (li quatri illiterati) sich be-
herrschen lassen will,«doch eine Dorfjugend von einem einzigen
ungelehrten Mann werde zu regieren und zu priigeln sein - und
daB man nur bedenken mochte, was ich oben im Texte sagte. Da
aber die Note selber der Text ist, so will ich nur sagen, daB ich
sagte: eine Dorfschule sei hinlanglich besetzt. Es ist da i) der
30 Gymnasiarch oder Pastor, der von Winter zu Winter den Priester-
rock umhangt und das Schulhaus besucht und erschreckt- 2) steht
in der Stube das Rektorat, Konrektorat und Subrektorat, das der
Schulhalter allein ausmacht - 3) als Lehrer der untern Klassen
sind darin angestellt die Schulmeisterin, der, wenn irgendeinem
1 Die bekanntlich besser schmecken, wenn man sie mit Rutenstreichen
totet.
43 8 DIE UNSICHTBARE LOGE
Menschen, die Kallipadie der Tochterschule anvertrauet werden
kann, ihr Sohn als Tertius und Lummel zugleich, dem seine Zog-
linge allerhand legieren und spendieren mussen, damit er sie ihre
Lektion nicht aufsagen lasset, und der, wenn der Regent nicht zu
Hause ist, oft das Reichsvikariat des ganzen protestantischen
Schulkreises auf den Achseln hat - 4) endlich ein ganzes Raupen-
nest Kollaboratores, namlich Schuljungen selber, weil daselbst,
wie irn Hallischen Waisenhause, die Schiiler der obern Klasse
schon zu Lehrern der untern groB gewachsen sind. - Da man
bisher aus so vielen Studierstuben heraus nach Realschulen schrie : 10
so horten es Gemeinden und Schuthalter und taten das Ihrige gern.
Die Gemeinden lasen fur ihre Lehrstiihle lauter solche padago-
gische SteiBe aus, die schon auf Weber-, Schneider-, Schuster-
Schemeln seBhaft waren und von denen also etwas zu erwarten
war - und allerdings setzen solche Manner, indem sie vor dem
aufmerksamen Institute Rocke, Stiefel, Fischreusen und alles
machen, die Nominalschule leicht in eine Realschule um, wo man
Fabrikate kennen lernt. Der Schulmeister treibts noch weiter und
sinnt Tag und Nacht auf Real-Schulhalten; es gibt wenige Ar-
beiten eines erwachsenen Hausvaters oder seines Gesindes, in 20
denen er seine Dorf-Stoa nicht beschaftigt und ubt, und den gan-
zen Morgen sieht man das expedierende Seminarium hinaus- und
hineinjagen, Holz spalten und Wasser tragen u.s.w., so daB er
auBer der Realschule fast gar keine andre halt und sich sein biB-
chen Brot sauer im SchweiBe seines - Schulhauses verdient....
Man braucht mir nicht zu sagen, daB es auch schlechte und ver-
saumte Landschulen gebe; genug wenn nur die groBere Zahl alle
die Vorziige wirklich aufweiset, die ich ihr jetzt zugeschrieben.
Ich mag meine Fixstern-Abirrung mit keinem Wort entschul-
digen, das eine neue ware. Herr von Ebern hatte seinen Koch zum 30
Schulmeister investieret, wenn ein geschickter Nachfahrer des
Kochs ware zu haben gewesen; es war aber keiner aufzutreiben,
und da der Gutsherr dachte, es sei vielleicht gar eine Neuerung,
wenn er die Kiiche und die Schule durch ein Subjekt versehen
lie Be - wiewohl vielmehr die Trennung und Verdopplung der
Schul- und der Herrendiener eine viel groBere und altere war;
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 439
denn im neunten Sakulum muBte sogar der Pfarrer der Patronat-
kirche zugleich dem Kirchenschiff-Patron als Bedienter aufwarten
und satteln etc. 1 , und beide Amter wurden erst nachher, wie mehre,
voneinander abgerissen — , so behielt er den Koch und vozierte
den Alumnus, der bisher so gescheit gewesen, daB er verliebt ge-
blieben.
Ich steuere mich ganz auf die ruhmlichen Zeugnisse, die ich in
Handen habe und die Wutz vom Superintendenten auswirkte,
weil sein Examen vielleicht eines der rigorosesten und glucklich-
[o sten war, wovon ich in neueren Zeiten noch gehoret. MuBte nicht
Wutz das griechische Vaterunservorbeten,indesdasExamination-
Kollegium seine samtnen Hosen miteiner Glasbiirste auskarnmte;
- und hernach das lateinische Symbolum Athanasii? Konnte der
Examinandus nicht die Biicher der Bibel richtig und Mann fur
Mann vorzahlen, ohne iiber die gemalten Blumen und Tassen auf
dem Kaffeebrette seines fruhstiickenden Examinators zu stolpern?
MuBt* er nicht einen Betteljungen, der bloB auf einen Pfennig
aufsah, herumkatechesieren, obgleich der Junge gar nicht wie
sein Unter-Examinator bestand, sondern wie ein wahres Stuck-
2D chen Vieh? MuBt* er nicht seine Fingerspitzen in ftinf Topfe war-
mes Wasser tunken und den Topf aussuchen, dessen Wasser warm
und kalt genug fiir den Kopf eines Tauf lings war? Und muBt' er
nicht zuletzt drei Gulden und 36 Kreuzer erlegen?
Am i3 ten Mai ging er als Alumnus aus dem Alumneum heraus
und als offentlicher Lehrer in sein Haus hinein, und aus der zer-
sprengten schwarzen Alumnus-Puppe brachein bunter Schmetter-
ling von Kantor ins Freie hinaus.
Am 9 ten Julius stand er vor dem Auenthaler Altar und wurde
kopuliert mit der Justel.
30 Aber der elysaische Zwischenraum zwischen dem i3 tcn Mai
und dem 9 ten Julius! - Fiir keinen Sterblichen fallt ein solches
goldnes Alter von acht Wochen wieder vom Himmel, bloB fiir
das Meisterlein funkelte der ganze niedergetauete Himmel auf ge-
stirnten Auen der Erde. - Du wiegtest im Ather dich und sahest
durch die durchsichtige Erde dich rund mit Himmel und Sonnen
1 Langens geistliches Recht S. 534.
44° DIE UNSICHTBARE LOGE
umzogen und hattest keine Schwere mehr; aber uns Alumnen der
Natur fallen nie acht solche Wochen zu, nicht eine, kaum ein
ganzer Tag, wo der Himmel ilber und in uns sein reines Blau mit
nichts bemalt als mit Abend- und Morgenrot - wo wir uber das
Leben wegfliegen und alles uns hebt wie ein freudiger Traum —
wo der unbandige stiirzende Strom der Dinge uns nicht auf seinen
Katarakten und Strudeln zerstoBet und schuttelt und radert, son-
dern auf blinkenden Wellen uns wiegt und unter hineingebognen
Blumen voriibertragt - ein Tag, zu dem wir den Bruder vergeb-
lich unter den verlebten suchen und von dem wir am Ende jedes ic
andern klagen: seit ihm war keiner wieder so.
Es wird uns alien sanft tun, wenn ich dieseacht Wonne-Wochen
oder zwei Wonne-Monate weitlauftig beschreibe. Sie bestanden
aus lauter ahnlichen Tagen. Keine einzige Wolke zog hmter den
Hausern herauf. Die ganze Nacht stand die riickende Abendrote
unten am Himmel, an welchem die untergehende Sonne allemal
wie eine Rose gliihend abgebliihet hatte. Urn i Uhr schlugen
schon die Lerchen, und die Natur spielte und phantasierte die
ganze Nacht auf der Nachtigallen-Harmonika. In seine Traume
tonten die auBern Melodien hinein, und in ihnen flog er uber *<
Bliiten-Baume, denen die wahren vor seinem offnen Fenster ihren
Blumen-Atem liehen. Der tagende Traum ruckte ihn sanft, wie
die lispelnde Mutter das Kind, aus dem Schlaf ins Erwachen iiber,
und er trat mit trinkender Brust in den Larm der Natur hinaus, wo
die Sonne die Erde von neuem erschuf und wo beide sich zu einem
brausenden Wollust-Weltmeer ineinander ergossen. Aus dieser
Morgen-Flut des Lebens und Freuens kehrte er in sein schwarzes
Stiibchen zuriick und suchte die Krafte in kleinern Freuden wie-
der. Er war da uber alles froh, uber jedes beschienene und unbe-
schienene Fenster, iiber die ausgefegte Stube, iiber das Frtih- 3<
stuck, das mit seinen Amt-Revenuen bestritten wurde, iiber
7 Uhr, weil er nicht in die Sekunda muBte, iiber seine Mutter, die
alle Morgen froh war, daB er Schulmeister geworden und sie nicht
aus dem vertrauten Hause fort gemuBt.
Unter dem Kaffee schnitt er sich, auBer den Semmeln, die Fe-
dern zur Messiade, die er damals, die drei letzten Gesange aus-
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 441
genommen, gar aussang. Seine groBteSorgfaltverwandteerdar-
auf, daB er die epischen Federn falsch schnitt, entweder wie
Pfahle oder ohne Spalt oder mit einem zweiten Extraspalt, der
hinausniesete; denn da alles in Hexametern, und zwar in solchen,
die nicht zu verstehen waren, verfasset sein sollte: so muBte der
Dichter, da ers durch keine Bemuhung zur geringsten Unver-
standlichkeit bringen konnte - er fassete allemal den Augenblick
jede Zeile und jeden FuB und pes -, aus Not zum Einfall greifen,
daB er die Hexameter ganz unleserlich schrieb, was auch gut war.
10 Durch diese poetische Freiheit bog er dem Verstehen unge-
zwungen vor.
Um eilf Uhr deckte er fur seine Vogel, und dann fiir sich und
seine Mutter den Tisch- rnit vier Schubladen, in welchem mehr
war als auf ihm. Er schnitt das Brot, und seiner Mutter die weiBe
Rinde vor, ob er gleich die schwarze nicht gern aB. O meine
Freunde, warum kann man denn im Hotel de Baviere und auf dem
Romer nicht so vergniigt speisen als am Wutzischen Ladentisch?
- Sogleich nach dem Essea machte er nicht Hexameter, sondern
Kochloffel, und meine Schwester hat selber ein Dutzend von ihm.
20 Wahrend seine Mutter das wusch, was er schnitzte, lieBen beide
ihre Seelen nicht ohne Kost; sie erzahlte ihm die Personalien von
sich und seinem Vater vor, von deren Kenntnis ihn seine akade-
mische Laufbahn zu entfernt gehalten - und er schlug den Ope-
rationplan und BauriB seiner kunftigen Haushaltung bescheiden
vor ihr auf, weil er sich an dem Gedanken, ein Hausvater zu sein,
gar nicht satt kauen konnte. »Ich richte mir« - sagte er - »mein
Haushalten ganz verniinftig ein - ich stell' mir ein Saugschwein-
chen ein auf die heiligen Feiertage, es fallen so viel KartofTeln-
und Riiben-Schalen ab, daB mans mit fett macht, man weiB kaum
3° wie - und auf den Winter muB mir der Schwiegervater ein Fiider-
chen Biischel (Reisholz) einfahren, und die Stubentiir muB total
gefuttert und gepolstert werden - denn, Mutter! unsereins hat
seine padagogischen Arbeiten im Winter, und man halt da keine
Kalte aus.« - Am 2c> ten Mai war noch dazu nach diesen Gesprachen
eine Kindtaufe — es war seine erste — sie war seine erste Revenue,
und ein groBes Einnahmebuch hatte er sich schon auf dem Alum-
44 2 DIE UNSICHTBARE LOGE
neum dazu geheftet - er besah und zahlte die paar Groschen
zwanzig Mai, als waren sie andere. - Am Taufstein stand er in
ganzer Pariire, und die Zuschauer standen auf der Empor und in
der herrschaftlichen Loge im Alltag-Schmutz. - »Es ist mein
saurer SchweiB«, sagt' er eine halbe Stunde nach dem Aktus und
trank vom Gelde zur ungewohnlichen Stunde ein NoBel Bier. -
Ich erwarte von seinem kiinftigen Lebensbeschreiber ein paar
pragmatische Fingerzeige, warum Wutz bloB ein Einnahme- und
kein Ausgabe-Buch sich nahte und warum er in jenem oben
Louisd'or, Groschen, Pfennige setzte, ob er gleich nie die erste ^
Munzsorte unter seinen Schul-Gefallen hatte.
Nach dem Aktus und nach der Verdauung lieB er sich den Tisch
hinaus unter den Weichselbaum tragen und setzte sich nieder und
bossierte noch einige unleserliche Hexameter in seiner Messiade.
Sogar wahrend er seinen Schinkenknochen als sein Abendessen
abnagte und abfeilte, befeilt' er noch einen und den andern epi-
schen Fu6, und ich weifi recht gut, daB des Fettes wegen mancher
Gesang ein wenig geolet aussiehet. Sobald er den Sonnenschein
nicht mehr auf der StraBe, sondern an den Hausern Hegen sah:
so gab er der Mutter die notigen Gelder zum Haushalten und zo
lief ins Freie, um sich es ruhig auszumalen, wie ers kunftig haben
werde im Herbst, im Winter, an den drei heiligen Festen, unter
den Schulkindern und unter seinen eignen. -
Unddoch sind das bloB Wochentage;derSonntagaberbrennt
in einer Glorie, die kaum auf ein Altarblatt g'eht. - Oberhaupt
steht in keinen Seelen dieses Jahrhunderts ein so groBer BegrifF
von einem Sonntage, als in denen, welche in Kantorenund Schul-
meistern hausen; mich wundert es gar nicht, wenn sie an einem
solchen Courtage nicht vermogen, bescheiden zu verbleiben.
Selber unser Wutz konnte sichs nicht verstecken, was es sagen ;o
will, unter tausend Menschen allein zu orgeln - ein wahres Erb-
Amt zu versehen und den geistlichen Kronung-Mantel dem Se-
nior uberzuhenken und sein Valet de fantaisie und Kammermohr
zu sein - iiber ein ganzes von der Sonne beleuchtetes Chor Terri-
torial-Herrschaft zu exerzieren, als amtierender Chor-Maire auf
seinem Orgel-Fiirstenstuhl die Poesie eines Kirchsprengels noch
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 443
besser zu beherrschen, als der Pfarrer die Prose desselben kom-
mandiert— und nach der Predigt uber das Gelander hinab vollige
furstliche Befehle sans facon mit lauter Stimme weniger zu geben
als abzulesen Wahrhaftig, man sollte denken, hier oder nir-
gends tat' es not, daB ich.meinem Wutz zuriefe: »Bedenke, was
du vor wenig Monaten warest ! Oberlege, daB nicht alle Menschen
Kantores werden konnen, und mache dir die vorteilhafte Un-
gleichheit der Stande zunutze, ohne sie zu miBbrauchen und ohne
darum mich und meine Zuhorer am Ofen zu verachten.« — Aber
io nein! auf meine Ehre, das gutartige Meisterlein denkt ohnehin
nicht daran; die Bauern hatten nur so geschek sein sollen, da(3 sie
dir schnakischem, lachelndem, trippelndem, handereiberidem
Dinge ins gallenlose'uberzuckerte Herz hineingesehcn hatten:
was hatten sie da ertappt? Freude in deinen zwei Herz-Kammern,
Freude in deinen zwei Herz-Ohren. Du numeriertest bloB oben
im Chore, gutes Ding! das ich je langer je lieber gewinne, deine
kiinftigen Schulbuben und Schulmadchen in den Kirchstuhlen
zusammen und setztest sie sam.tlich voraus in deine Schulstube
und um seine winzige Nase herum und nahmest dir vor, mit der
20 letzten taglich vormktags und nachmittags einmal zu niesen und
vorher zu schnupfen, nur damit dein ganzes Institut wie beses.sen
auffuhre und zuriefe : Helf Gott, Herr Kantner ! Die Bauern hatten
ferner in deinem Herzen die Freude angetroffen, die du hattest,
ein Setzer von Folioziffern zu sein, so lang wie die am Zifferblatt
der Turmuhr, indem du jeden Sonntag an der schwarzen Lieder-
tafel in offentlichen Druck gabst, auf welcher Pagina das nachste
Lied zu suchen sei - wir Autores treten mit schlechterem Zeuge
im Drucke auf-; ferner die Freude hatte mart gefunden, deinem
Schwiegervater und deiner Braut im Singen vorzureiten; und end-
30 Hch deine Hoffnung, den Bodensatz des Kommunion-Weins ein-
sam auszusaufen, der sauer schmeckte. Ein hoheres Wesen muB
dir so herzlich gut gewesen sein wie das referierende, da es gerade
in deinem achtwochentlichen Eden-Lustrum deinen gnadigen
Kirchenpatron kommunizieren hieB: denn der hatte doch so viel
Einsicht, daB er an die Stelle des Kommunion-Weins, der Christi
Trank am Kreuz nicht ungliicklich nachbildete, Christi Trdnen
444 DIE UNSICHTBARE LOGE
aus seinem Keller setzte; aber welche Himmel dann nach dem
Trank des Bodensatzes in alle deine Glieder zogen Wahrlich
jedesmal will ich wieder in Ausrufungen verfallen; - aber warum
macht doch mir und vielleicht euch dieses schulmeisterlich ver-
gniigte Herz so viel Freude? - Ach, liegt es vielleicht daran, daB
wir selber sie nie so voll bekommen, weil der Gedanke der Erden-
Eitelkeit auf uns liegt und unsern Atem driickt und weil wir die
schwarze Gottesacker-Erde unter den Rasen- und Blumenstucken
schon gesehen haben, auf denen das Meisterlein sein Leben ver-
hiipft? - io
Der gedachte Kommunion-Wein moussierte noch abends in
seinen Adern ; und diese letzte Tagzeit seines Sabbats hab* ich noch
abzuschildern. Nur am Sonntag durfV er mit seiner Justine spa-
zieren gehen. Vorher nahm er das Abendessen beim Schwieger-
vater ein, aber mit schlechtem Nutzen; schon unter dem Tisch-
gebet wurde sein Hundshunger matt und unter den Allotriis da-
rauf gar unsichtbar. Wenn ich es lesen konnte: so konnt' ich das
ganze Konterfei dieses Abends aus seiner Messiade haben, in die
er ihn, ganz wie er war, im sechsten Gesang hineingeflochten, so
wie alle groBe Skribenten ihren Lebenslauf, ihre Weiber, Kinder, 20
Acker, Vieh in ihre opera omnia stricken. Er dachte, in der ge-
druckten Messiade stehe der Abend auch. In seiner wird es episch
ausgefuhret sein, daB die Bauern auf den Rainen wateten und den
SchuB der Halme maBen und ihn uber das Wasser heruber als
ihren neuen wohlverordneten Kantor griiBten - daB die Kinder
auf Blattern schalmeiten und in Batzen-Floten stieBen und daB
alle Busche und Blumen- und Bliitenkelche vollstimmig besetzte
Orchester waren, aus denen alien etwas heraus sang oder sumsete
oder schnurrte - und daB alles zuletzt so feierlich wurde, als hatte
die Erde selber einen Sonntag, indem die Hohen und Walder um 50
diesen Zauberkreis rauchten und indem die Sonne gen Mitter-
nacht durch einen illuminierten Triumphbogen hinunter-, und
der Mond gen Mittag durch einen blassen Triumphbogen herauf-
zog. O du Vater des Lichts ! mit wie viel Farben und Strahlen und
Leuchtkugeln fassest du deine bleiche Erde ein! - Die Sonne
kroch jetzt ein zu einem einzigen roten Strahle, der mit dem
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 445
Widerscheine der Abendrote auf dem Gesichte der Braut zusam-
menkam; und diese, nur mit stummen Gefiihlen bekannt, sagte
zu Wutz, daB sie in ihrer Kindheit sich oft gesehnet hatte, auf den
roten Bergen der Abendrote zu stehen und von ihnen mit der
Sonne in die schonen rotgemalten Lander hinunterzusteigen, die
hinter der Abendrote lagen. Unter dem Gebetlauten seiner Mutter
legt' er seinen Hut auf die Knie und sah, ohne die Hande zu falten,
an die rote Stelle am Himmel, wo die Sonne zuletzt gestanden,
und hinab in den ziehenden Strom, der tiefe Schatten trug; und es
o war ihm, als lautete die Abendglocke die Welt und noch einmal
seinen Vater zur Ruhe - zum ersten und letzten Male in seinem
Leben stieg sein Herz iiber die irdische Szene hinaus - und es rief,
schien ihm, etwas aus den Abendtonen herunter, er werde jetzo
vor Vergniigen sterben — Heftig und verziickt umschlang er
seine Braut und sagte: »Wie lieb nab* ich dich, wie ewig lieb !«
Vom Flusse klang es herab wie Flotengeton und Menschengesang
und zog naher; auBer sich druckt' er sich an sie an und wollte ver-
einigt vergehen und glaubte, die Himmeltone hauchten ihre bei-
den Seelen aus der Erde weg und dufteten sie wie Taufunken auf
10 den Auen Edens nieder. Es sang:
O wie schon ist Gottes Erde
Und wert, darauf vergniigt zu sein !
Drum will ich, bis ich Asche werde,
Mich dieser schonen Erde freun.
Es war aus der Stadt eine Gondel mit einigen Floten und sin-
genden JiingHngen. Er und Justine wanderten am Ufer mit der
ziehenden Gondel und hie hen ihre Hande gefaBt und Justine
suchte leise nachzusingen ; mehre Himmel gingen neben ihnen.
Als die Gondel um eine Erdzunge voll Baume nerurnschiffte :
jo hielt Justine ihn sanft an, damit sie nicht nachkamen, und da das
Fahrzeug dahinter verschwunden war, fiel sie ihm mit dem ersten
errotenden Kusse um den Hals.... O unvergeBliche* erster Ju-
nius I schreibt er. - Sie begleiteten und belauschten von weitem
die schiffenden Tone ; und Traume spielten um beide, bis sie sagte ;
»Es ist spat, und die Abendrote hat sich schon weit herumgezogen,
446 DIE UNSICHTBARE LOGE
und es ist alles im Dorfe still.« Sie gingen nach Hause; er dffnete
die Fenster seiner mondhellen Stube und schlich mit einem leisen
Gutenacht bei seiner Mutter voriiber, die schon schlief. -
Jeden Morgen schien ihn der Gedanke wie Tageslicht an, daB
er dem Hochzeittage, dem 8 ten Junius, sich um eine Nacht naher
geschlafen; und am Tage lief die Freude mit ihm herum, daB er
durch die paradiesischen Tage, die sich zwischen ihn und sein
Hochzeitbett gestellet, noch nicht durchware. So hielt er, wie der
metaphysische Esel, den Kopf zwischen beiden Heubiindeln,
zwischen der Gegenwart und Zukunft; aber er war kein Esel oder i<
Scholastiker, sondern grasete und rupfte an beiden Bundeln auf
einmal.... Wahrhaftig die Menschen sollten niemals Esel sein,
weder indifferentistische, noch holzerne, noch bileamische, und
ich habe meine Griinde dazu Ich breche hier ab, weil ich noch
iiberlegen will, ob ich seinen Hochzeittag abzeichne oder nicht.
Musivstifte nab' ich ubrigens dazu ganze BundeL -
Aber wahrhaftig ich bin weder seinem Ehrentage beigewohnet,
noch einem eignen ; ich will ihn also bestens beschreiben und mir-
ich hatte sonst gar nichts - eine Lustpartie zusammen machen.
Ich weiB iiberhaupt keinen schicklichern Ort oder Bogen als 20
diesen dazu, daB die Leser bedenken, was ich ausstehe: die ma-
gischen Schweizergegenden, in denen ich mich lagere - die Apol-
los- und Venusgestalten, denen sich mein Auge ansaugt - das er-
habne Vaterland, fur das ich das Leben hingebe, das es vorher ge-
adelt hat - das Brautbett, in das. ich einsteige, alles das ist von
fremden oder eignen Fingern bloB - gemalt mit Dinte oder
Druckerschwarze; und wenn nur du, du Himmlische, der ich treu
bleibe, die mir treu bleibt, mit der ich in arkadischen Julius-
Nachten spazieren gehe, mit der ich vor der untergehenden Sonne
und vor dem aufsteigenden Monde stehe und um derenwillen ich 30
alle deine Schwestern Hebe, wenn nur du - warest; aber du bist
ein Attar blatt y und ich finde dich nicht.
Dem Nil, dem Herkules und andern Gottern brachte man zwar
auch, wie mir, nur nachbossierte Madchen dar; aber vorher be-
kamen sie doch reelle.
Wir rmissen schon am Sonnabend ins Schul- und Hochzeithaus
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 447
gucken, um die Pramissen dieses Rusttags zum Hochzeittag ein
wenig vorher wegzuhaben: am Sonntag haben wir keine Zeit da-
zu; so ging auch die Schopfung der Welt (nach den altern Theo-
logen) darum in sechs Tagwerken und nicht in einer Minute vor,
damit die Engel das Naturbuch, wenn es allmahlich aufgeblattert
wurde, leichter zu ubersehen hatten. Am Sonnabend rennt der
Brautigam auffallend in zwei corporibus piis aus und ein, im
Pfarr- und im Schulhaus, um vier Sessel aus jenem in dieses zu
schaffen. Er borgte diese Gestelle dem Senior ab, um den Kom-
io modator selbst darauf zu weisen als seinen Fiirstbischof und die
Seniorin als Frau Patin der Braut und den Subprafektus aus dem
Alumneum und die Braut selbst. Ich weiB so gut als andre, inwie-
weit dieser mietende Luxus des Brautigams nicht in Schutz zu
nehmen ist; allerdings papillotierten die gigantischen Mietstiihle
(Menschen und Sessel schrumpfen jetzt ein) ihre falschen Rind-
haar-Touren an Lehne und Sitz mit blauem Tuche, MilchstraBen
von gelben Nageln sprangen auf gelben Schniiren als Blitzeherum,
und es bleibt gewiB, daB man so weich auf den Randern dieser
Stiihle aufsaB, als triige man einen DoppelsteiB - wie gesagt, die-
20 sen SteiB-Luxus des Glaubigers und Schuldners hab' ich niemals
zum Muster angepriesen; aber auf der andern Seite muB doch
jeder, der in den »Sckul{ von Paris« hineingesehen, bekennen, daB
die Verschwendung im Palais royal und an alien Hofen offenbar
groBer ist. Wie werd' ich vollends solche Methodisten von der
strengen Observanz auf die Seite des GroBvater- oder Sorgestuhls
Wutzens bringen, der mit vier holzernen Lowentatzen die Erde
ergreift, welche mit vier Querholzern - den Sitz-Konsolen mun-
terer Finken und Gimpel - gesponselt sind, dessen Haar-Chignon
sich mit einer gebliimten ledernen Schwarte mehr als zu prachtig
30 besohletj und welcher zwei holzerne behaarte Arme, die das Alter,
wie menschliche, durrergemacht,nacheinemInsaB ausstreckt ? . . .
Dieses Fragzeichen kann manchen, weil er den langen Perioden
vergessen, frappieren.
Das zinnene Tafel-Servicej das der Brautigam noch von seinem
Fiirstbischof holte, kann das Publikum beim Auktionproklamator,
wenn es anders versteigert wird, besser kennen lernen als bei mir:
44 8 DIE UNSICHTBARE LOGE
so viel wissen die Hochzeitgaste, die Salariere, die Sauciere, die
Assiette zu Kase und die Senfdose war ein einziger Teller, der
aber vor jeder Rolle einmal abgescheuert wurde.
Ein ganzer Nil und Alpheus schoB iiber jedes Stubenbrett, wo-
von gute Gartenerde wegzuspiilen war, an jede Bettpfoste und an
den Fensterstock hinan und HeB den gewohnlichen Bodensatz der
Flut zuruck - Sand. Die Gesetze des Romans Tvurden verlangen,
daB das Schulmeisterlein sich anzoge und sich auf eine Wiese
unter ein wogendes Zudeck von Gras und Blumen streckte und
da durch einen Traum der Liebe nach dem andern hindurch sank' i<
und brache — allein er rupfte Hiihner und Enten ab, spaltete Kaffee-
und Bratenholz und die Braten selbst, kredenzte am Sonnabend
den Sonntag und dekretierte und vollzog in der blauen Schiirze
seiner Schwiegermutter funfzig Kuchen-Verordnungen und
sprang, den Kopf mit Papilloten gehornt und das Haar wie einen
Eichhornchenschwanz emporgebunden, hinten und vornen und
iiberall herum: »denn ich mache nicht alle Sonntage Hochzeit«,
sagt' er.
Nichts ist widriger, als hundert Vorlaufer und Vorreiter zu
einer winzigen Lust zu sehen und zu horen; nichts ist aber suBer, 20
als selber mit vorzureiten und vorzulaufen; die Geschaftigkeit,
die wir nicht blofi sehen, sondern teilen, macht nachher das Ver-
gniigen zu einer von uns selbst gesaeten, besprengten und aus-
gezognen Frucht; und obendrein befallt uns das Herzgespann des
Passens nicht.
Aber, lieber Himmel, ich brauchte einen ganzen Sonnabend,
um diesen nur zu rapportieren: denn ich tat nur einen vorbei-
fliegenden Blick in die Wutzische Kiiche - was da zappelt! was
da raucht! - Warum ist sich Mord und Hochzeit so nahe wie die
zwei Gebote, die davon reden? Warum ist nicht bloB eine furst- 30
liche Vermahlung oft fur Menschen, warum ist auch eine biirger-
liche fur Gefiiigel eine Parisische Bluthochzeit?
Niemand brachte aber im Hochzeithaus diese zwei Freudentage
miBvergniigter und fataler zu als zwei Stechfinken und drei Gim-
pel; diese inhaftierte der reinliche und vogelfreundliche Brauti-
gam samtlich - vermittelst eines Treibjagens mit Schurzen und
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 449
geworfnen Nachtmiitzen - und notigte sie, aus ihrem Tanz-Saale
in ein paar Draht-Kartausen zu fahren und an der Wand, in Man-
sarden springend, herabzuhangen.
Wutz berichtet sowohl in seiner »Wutzischen Urgeschichte<(
als in seinem »Lesebuch fiir Kinder mittlern Alters«, daB abends
um 7 Uhr, da der Schneider dem Hymen neue Hosen und Gilet
und Rock anprobierte, schon alles blank und metrisch und neu-
geboren war, ihn selber ausgenommen. Eine unbeschreibliche
Ruhe sitzt auf jedem Stuhl und Tisch eines neugestellten brillan-
o tierten Zimmers! In einem chaotischen denkt man, man miisse
noch diesen Morgen ausziehen aus dem aufgekiindigten Loge-
ment.
Ober seine Nacht (so wie iiber die folgende) fliegen ich und die
Sonne hiniiber, und wir begegnen ihm, wenn er am Sonntage,
gerotet und elektrisiert vom Gedanken des heutigen Himmels,
die Treppe herablauft in die anlachende Hochzeitstube hinein, die
wir alle gestern mit so vieler Miihe und Dinte aufgeschmuckt
haben vermittelst Schonheitwasser - mouchoir de Venus und
Schminklappen (Waschlappen) - Puderkasten (Topf mit Sand)
•.o und anderem Toiletten-Schiffund Geschirr. Er war in der Nacht
siebenmal aufgewacht, um sich siebenmal auf den Tag zu freuen;
und zwei Stunden friiher aufgestanden, um beide Minute fiir Mi-
nute aufzuessen. Es ist mir, als ging' ich mit dem Schulmeister
zur Tur .hinein, vor dem die Minuten des Tages hinstehn wie
Honigzellen - er schopfet eine um die andre aus, und jede Minute
tragt einen weitern Honigkelch. Fiir eine Pension auf Lebenlang
ist dennoch der Kantor nicht vermogend, sich auf der ganzen Erde
ein Haus zu denken, in dem jetzo nicht Sonntag, Sonnenschein
und Freude ware; nein! - Das zweite, was er unten nach der Ture
.0 auftat, war ein Oberfenster, um einen auf- und niederwallenden
Schmetterling - einen schwimmenden Silberflitter, eine Blumen-
Folie und Amors Ebenbild - aus Hymens Stube fortzulassen. Dann
fiitterte er seine Vogel-Kapelle in den Bauern zum voraus auf den
larmenden Tag und fiedelte auf der vaterlichen Geige die Schleifer
zum Fenster hinaus, an denen er sich aus der Fastnacht an die
Hochzeitnacht herangetanzt. Es schlagt erst 5 Uhr, mein Trauter,
450 DIE UNSICHTBARE LOGE
wir haben uns nicht zu iibereilen ! Wir wollen die zwei Ellen lange
Halsbinde (die du dir ebenfalls, wie friiher die Braut, antanzest,
indem die Mutter das andre Ende halt) und das Zopfband glatt
umhaben, noch zwei vollige Stunden vor dem Lauten. Gern gab'
ich den GroBvaterstuhl und den Ofen, dessen Assessor ich bin,
dafur, wenn ich mich und meine Zuhorerschaft jetzt zu transpa-
renten SylphidenzuverdunnenwuBte;damitunsereganze Briider-
schaft dem zappelnden Brautigam ohne Stoning seiner stillen
Freude in den Garten nachfloge, wo er fiir ein weibliches Herz,
das weder ein diamantnes noch ein welsches ist, auch keine Blumen, i
die es sind, abschneidet, sondern lebende — wo er die blitzenden
Kafer und Tautropfen aus den Blumenblattern schiittelt und gern
auf den Bienenriissel wartet, den zum letzten Male der rmitterliche
Blumenbusen sauget — wo er an seine Knaben-Sonntagmorgen
denkt und an den zu engen Schritt iiber die Beete und an das kalte
Kanzelpult, auf welches der Senior seinen StrauB auf Iegte. Gehe
nach Haus, Sohn deines Vorfahrers, und schaue am achten Junius
dich nicht gegen Abend urn, wo der stumme, sechs FuB dicke
Gottesacker iiber manchen Freunden liegt, sondern gegen Mor-
gen, wo du die Sonne, die Pfarrtiire und deine hineinschlupfende 2
Justine sehen kannst, welche die Frau Patin nett ausfrisieren und
einschnuren will. Ich merk' es leicht, daB meine Zuhorer wieder
in Sylphiden verfliichtigt werden wollen, um die Braut zu um-
fiattern; aber sie siehts nicht gern.
Endlich lag der himmelblaue Rock - die Livreefarbe der Muller
und Schulmeister - mit geschwarzten Knopflochern und die
plattende Hand seiner Mutter, #e alle Briiche hob, am Leibe des
Schulmeisterleins, und es darf nur Hut und Gesangbuch nehmen.
Und jetzt - ich weiB gewiB auch, was Pracht ist, fiirstliche bei
fiirstlichen Vermahlungen, das Kanonieren, Illuminieren, Exer- 3
zieren und Frisieren dabei; aber mit der Wutzischen Vermahlung
stell* ich doch dergleichen nie zusammen : sehet nur dem Mann
hintennach, der den Sonnen- und Himmelweg zu seiner Braut
geht und auf den andern Weg driiben nach dem Alumneum schauet
und denkt: »wer hatt's vor vier Jahren gedacht«; ich sage, sehet
ihm nach ! Tut es nicht auch die Auenthaler Pfarrmagd, ob sie
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 45 I
gleich Wasser tragt, und henkt einen solchen prachtigen vollen
Anzug bis auf jede Franse in ihren Gehirn- und Kleiderkammern
auf? Hat er nicht eine gepuderte Nasen- und Schuhspitze? Sind
nicht die roten Torflugel seines Schwiegervaters aufgedreht, und
schreitet er nicht durch diese ein, indes die von der Haarkrauslerin
abgefertigte Verlobtedurch das Hoftiirchen schleicht? Und stoBen
sie nicht so mobliert und uberpudert aufeinander, da/3 sie das Herz
nicht haben, sich Guten Morgen zu bieten? Denn haben beide in
ihrem Leben etwas Prachtigers und Vornehmeres gesehen als sich
> einander heme? 1st in dieser verzeihlichen VerJegenheit nicht der
lange Span ein Gliick, den der kleine Bruder zugeschmtzt und den
er der Schwester hinreckt, damit sie darum wie um einen Wein-
pfahl die Blumen-Staude und Geruch-Quaste fiir des Kantors
Knopfloch winde und giirte? Werden neidsiichtige Damen meine
Freunde bleiben, wenn kh meinen Pinsel eintunke und ihnen da-
mit vorfarbe die Pariire der Braut, das zitternde Gold statt der
Zitternadel im Haar, die drei goldnen Medaillons auf der Brust
mit den Miniaturbildern der deutschen Kaiser 1 und tiefer die in
Knopfe zergossenen Silberbarren ? Ich konnt* aber den Pinsel
> fast jemand an den Kopf werfen, wenn mir beifallt, mein Wutz
und seine gute Braut werden mir, wenns abgedruckt ist, von den
Koketten und anderem Teufelszeuge gar ausgelacht: glaubt ihr
denn aber, ihr stadtischen distillierten und tatowierten Seelen-
verkauferinnen, die ihr alles an Mannspersonen messet und liebt,
ihr Herz ausgenommen, daB ich oder meine meisten Herren Leser
dabei gleichgiiltig bleiben konnten, oder daB wir nicht alle eure
gespannten Wangen, eure zuckenden Lippen, eure mit Witz und
Begierde sengenden Augen und eure jedem Zufall gefiigigen Arme
und selber euere empfindsamen Deklamatorien mit SpaB hin-
> gaben fiir einen einzigen Auftritt, wo die Liebe ihre Strahlen in
dem Morgenrot des Schamens bricht, wo die unschuldige Seele
sich vor jedem Aug* entkleidet, ihr eignes ausgenommen, und wo
hundert innere Kampfe das durchsichtige Angesicht beseelen, und
kurz worin mein Brautpaar selbst agierte, da der alte lustige Kauz
1 In manchen deutschen Gegenden tragen die Madchen drei Dukaten am
Halse.
452 DIE UNSICHTBARE LOGE
von Schwiegervater beider gekrauselten und weiBbltihenden
Kopfe habhaft wurde und sie gescheit zu einem KuB zusammen-
Ienkte? Dein freudiges Erroten, Heber Wutz! - und dein ver-
schamtes, Hebe Justine! -
Wer wird iiberhaupt diesen und dergleichen Sachen kurz vor
seinen Sponsalien scharfer nachdenken und nachher delikater
spielen als gegenwartiger Lebensbeschreiber selber?
Der Larm der Kinder und Biittner auf der Gasse und der Re-
zensenten in Leipzig hindern ihn hier, alles ausfiihrlich herzu-
setzen, die prachtigen Eckenbeschlage und dreifachen Man- i<
schetten, womit der Brautigam auf der Orgel jede Zeile des Cho-
rals versah - den holzernen Engelfittich, woran er seinen Kurhut
zum Chor hinaushing - den Namen Justine an den Pedalpfeifen -
seinen Spa 6 und seine Lust, da sie einander vor der Kirchen-
agende (der Goldnen Bulle und dem Reichsgrundgesetze des
Eheregiments) die rechten Hande gaben und da er mit seinem
Ringfinger ihre hohle Hand gleichsam hinter einem Bettschirm
neckte - und den Eintritt in die Hochzeitstube, wo vielleicht die
groBten und vornehmsten Leute und Gerichte des Dorfs einander
begegneten, ein Pfarrer, eine Pfarrerin, ein Subprafektus und eine *<
Braut. Es wird aber Beifall finden,daBichmeineBeineauseinander
setze und damit uber die ganze Hochzeittafel und Hochzeittrift
und uber den Nachmittag wegschreite, um zu horen, was sie
abends angeben — einen und den andern Tanz gibt der Subpra-
fektus an. Es ist im Grunde schon alles auBer sich - Ein Tobak-
Heerrauch und ein Suppen-Dampf bad woget um drei Lichter und
scheidet einen vom andern durch Nebelbanke - Der Violoncellist
und der Violinist streichen fremdes Gedarm weniger, als sie eignes
fxillen - Auf der Fensterbriistung guckt das ganze Auenthal als
Galerie zappelnd herein, und die Dorfjugend tanzt drauBen, 3<
dreiBig Schntte von dem Orchester entfernt, im ganzen recht
hiibsch - Die alte Dorf-La Bonne schreiet ihre wichtigsten Per-
sonalien der Seniorin vor, und diese nieset und hustet die ihrigen
los, jede will ihre historische Notdurft fruher verrichten und sieht
ungern die andre auf dem Stuhle seBhaft - Der Senior sieht wie
ein SchoBjunger des SchoBj lingers Johannes aus, welchen die
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 453
Maler mit einem Becher in der Hand abmalen, und lacht lauter.
als er predigt - Der Prafektus schieBet als Elegant herum und ist
von niemand zu erreichen - Mein Maria platschert und fahrt unter
in alien vier Fliisseri des Paradieses, und des Freuden-Meers
Wogen heben und scha'ukeln ihn allmachtig. - BloB die eine
Brautfuhrerin (mit einer zu zarten Haut und Seele fur ihren
schwielenvollen Stand) hort die Freuden-Trommel wie von einem
Echo gedampft und wie bei einer Konigleiche mit Flor bezogen,
und die stille Entziickung spannt in Gestalt eines Seufzers die ein-
o same Brust. - Mein Schulmeister (er darf zweimal im Kiichen-
stiick herumstehen) tritt mit seiner Trauunghalfte unter die Haus-
tiir, deren dessus de porte ein Schwalben-Globus ist, und schauet
auf zu dem schweigenden glimmenden Himmel iiber ihm und
denkt, jede groBe Sonne gucke herunter wie ein Auenthaler und
zu seinem Fenster hinein Schiffe frohlich uber deinen ver-
diinstenden Tropfen Zeit, du kannst es; aber wir konnens nicht
alle: die eine Brautfuhrerin kanns auch nicht -Ach, war' ich wie
du an einem Hochzeitmorgen dem angstlichen, den Blumen ab-
gefangnen Schmetterling begegnet, wie du der Biene im Bliiten-
o kelch, wie du der um 7 Uhr abgelaufnen Turmuhr, wie du dem
stummen Himmel oben und dem Iauten unten : so hatt' ich ja daran
denken miissen, daB nicht auf dieser sturmenden Kugel, wo die
Winde sich in unsre kleinen Blumen wiihlen, die Ruhestatte zu
suchen sei, auf der uns ihre Diifte ruhig umflieBen, oder ein Auge
ohne Staub zu finden, ein Auge ohne Regentropfen, die jene Stiirme
an uns werfen - und ware die blitzende Gottin der Freude so nahe
an meinem Busen gestanden : so hatt' ich doch auf jene Aschen-
haufchen hinubergesehen, zu denen sie mit ihrer Umarmung, aus
der Sonne gebiirtig und nicht aus unsern Eiszonen, schon die
o armen Menschen verkalkte; - und o wenn mich schon die vorige
Beschreibung eines groBen Vergniigens so traurig zuriicklieB : so
mufit' ich, wenn erst du, aus ungemessenen Hohen in die tiefe
Erde hereinreichende Hand! mir eines, wie eine Blume auf einer
Sonne gewachsen, herniederbrachtest, auf diese Vaterhand die
Tropfen der Freude fallen Iassen und mich mit dem zu schwachen
Auge von den Menschen wegwenden ....
454 DIE UNSICHTBARE LOGE
Jetzt, da ich dieses sage, ist Wutzens Hochzeit langst vorbei,
seine Justine ist alt und er selber auf dem Gottesacker; der Strom
der Zeit hat ihn und alle diese schimmernden Tage unter vier-,
funffache Schichten Bodensatz gedriickt und begraben; - auch an
uns steigt dieser beefdigende Niederschlag immer hoher auf; in
drei Minuten erreicht er das Herz und iiberschlichtet mich und
euch.
In dieser Stimmung sinne mir keiner an, die vielen Freuden des
Schulmeisters aus seinem Freuden-Manuale mitzuteilen, be-
sonders seine Weihnacht-, Kirchweih- und Schulfreuden-eskann k
vielleicht noch geschehen in einem Posthumus von Postskript,
das ich nachliefere, aber heute nicht! Heute ists besser, wir sehen
den vergnugten Wutz zum letzten Mai lebendig und tot und gehen
dann weg.
Ich hatte iiberhaupt - ob ich gleich dreiBigmal vor seiner Haus-
tiir voriibergegangen war - wenig vom ganzen Manne gewuBt,
wenn nicht am i2 tcn Mai vorigen Jahrs die alte Justine unter ihr
gestanden ware und mich, da sie mich im Gehen meine Schreib-
tafel vollarbeiten sah, angeschrien hatte: ob ich nicht auch ein
Buchermacher ware. - »Was sonst, Liebe?« - versetzt* ich - »jahr- zc
lich mach* ich dergleichen und schenke alles nachher dem Pub-
liko.« - So mocht* ich dann, fuhr sie fort, mich auf ein Stiindchen
zu ihrem Alten hineinbemiihen, der auch ein Buchmacher sei, mit
dem es aber elend aussehe.
Der Schlag hatte dem Alten, vielleicht weil er eine Flechte
talersgroB am Nacken hineingeheilet, oder vor Alter, die linke
Seite gelahmt. Er saB im Bette an einer Lehne von Kopf kissen und
hatte ein ganzes Warenlager, das ich sogleich spezifizieren werde,
auf dem Deckbette vor sich. Ein Kranker tut wie ein Reisender -
und was ist er anders? - sogleich mit jedem bekannt; so nahe mit 3<
dem FuBe und Auge an erhabnern Welten, macht man in dieser
raudigen keine Umstande mehr. Er klagte, es hatte sich seine Alte
schon seit drei Tagen nach einem Biicherschreiber umschauen
miissen, hatt' aber keinen ertappt, auBer eben; »er muss' aber
einen haben, der seine Bibliothek ubernehme, ordne und inven-
tiere und der an seine Lebensbeschreibung, die in der ganzen Bib-
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 455
liothek ware, seine letzten Stunden, falls er sie jetzt hatte, zur
Komplettierung gar hinanstieBe; denn seine Alte ware keine Ge-
lehrtin und seinen Sohn hatt* er auf drei - Wochen auf die Uni-
versitat Heidelberg gelassen.«
Seine Aussaat von Blattern und Runzeln gab seinem runden
kleinen Gesichtchen auBerst frohliche Lichter; jede schien ein
lachelnder Mund : aber es gefiel mir und meiner Semiotik nicht,
daB seine Augen so blitzten, seine Augenbraunen und Mund-
Ecken so zuckten und seine Lippen so zitterten.
10 Ich will mein Versprechen der Spezifikation halten: Auf dem
Deckbette lag eine griintaftne Kinderhaube, wovon das eine Band
abgerissen war, eine mit abgegriffnen Goldflitterchen iiberpichte
Kinderpeitsche, ein Fingerring von Zinn, eine Schachtel mit
Zwerg-Buchelchen in 1 28-Format, eine Wanduhr, ein beschmutz-
tes Schreibbuch und ein Finkenkloben fingerlang. Es waren die
Rudera und Spatlinge seiner verspielten Kindheit. Die Kunst-
kammer dieser seiner griechischen Altenumer war von jeher unter
der Treppe gewesen — denn in einem Haus, das der Blumenkiibel
und Treibkasten eines einzigen Stammbaums ist, bleiben die
io Sachen jahrfunfziglang in ihrer Stelle ungeruckt -; und da es von
seiner Kindheit an ein Reichsgrundgesetz bei ihm war, alle seine
Spielwaren in geschichtlicher Ordnung aufzuheben, und da kein
Mensch das ganze Jahr unter die Treppe guckte als er: so konnt'
er noch am Rusttage vor seinem Todestage diese Urnenkriige
eines schon gestorbenen Lebens um sich stellen und sich zuriick-
freuen, da er sich nicht mehr vorauszufreuen vermochte. Du
konntest freilich, kleiner Maria, in keinen Antikentempel zu Sans-
souci oder zu Dresden eintreten und darin vor dem Weltgeiste der
schonen Natur der Kunst niederfallen; aber du konntest doch in
*o deine Kindheit- Antiken-Stiftshutte unter der finstern Treppe
gucken, und die Strahlen der auferstehenden Kindheit spielten,
wie des gemalten Jesuskindes seine im Stall, an den diistern Win-
keln ! O wenn groBere Seelen als du aus der ganzen Orangerie der
Natur so viel siiBe Safte und Diifte sogen als du aus dem zackigen
griinen Blatte, an das dich das Schicksal gehangen: so wiirden
nicht Blatter, sondern Garten genossen, und die bessern und doch
4$6 DIE UNSICHTBARE LOGE
glucklichern Seelen verwunderten sich nicht mebr, daB es ver~
gnilgte Meisterlein geben kann.
Wutz sagte und bog den Kopf gegen das Biicherbrett hin;
»Wenn ich mich an meinen ernsthaften Werken matt gelesen und
korrigiert: so schau* ich stundenlang diese Schnurrpfeifereien an,
und das wird hoffentlich einem Bucherschreiber keine Schande
sein.«
Ich wuBt* aber nicht, womit der Welt in dieser Minute mehr
gedient ist, als wenn ich ihr den rasonierenden Katalog dieser
Kunststiicke und Schnurrpfeifereien ziiwende, den rriir der Patient i<
zuwandte. Den zinnenen Ring hatt* ihm die vie'rjahrige Mamsell
des vorigen Pastors, da sie miteinander von einem Spielkamera-
den ehrlich und ordentlich kopuliert wurden, als Ehepfand an-
gesteckt — das elende Zinn lotete ihn fester an sie als edlere Metalle
edlere Leute, und ihre Ehe brachten sie auf vierundfunfzig Mi-
nuten. Oft wenn er nachher als geschwarzter Alumnus sie mit
nickenden Federn-Standarten am diinnen Arme eines gesprenkel-
ten Elegant spazieren gehen sah, dachte er an den Ring und an die
alte Zeit. Cberhaupt hab' ich bisher mir unniitze Muhe gegeben,
es zu verstecken, daB er in alles sich verliebte, was wie eine Frau *■
aussah; alle Frohliche seiner Art tun dasselbe; und vielleicht
konnen sie es, well ihre Liebe sich zwischen den beiden Extremen
von Liebe aufhalt und beiden abborgt, so wie der Busen Band
und Kreole der platonischen und der epikurischen Reize ist. -
Da er seinem Vater die Turmuhr aufziehen half, wie vorzeiten
die Kronprinzen mit den Vatern in die Sitzungen gingen: so
konnte so eine kleine Sache ihm einen Wink geben, ein lackiertes
Kastchen zu durchlochern und eine Wanduhr daraus zu schnitzen,
die niemals ging; inzwischen hatte sie doch, wie mehre Staat-
korper, ihre Iangen Gewichte und ihre eingezackten Rader, die 3
man dem Gestelle niirnbergischer Pferde abgehoben und so zu
etwas Besserem verbraucht hatte. - Die griine Kinderhaube, mit
Spitzen gerandert, das einzige Oberbleibsel seines vorigen vier-
jahrigen Kopfes, war seine Buste und sein Gipsabdruck vom klei-
nen Wutz, der jetzt zu einem groBen ausgefahren war. Alltags-
Kleider stellen das Bild eines toten Menschen weit inniger dar als
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ
457
sein Portrat; - daher besah Wutz das Griin mit sehnsuchtiger
Wollust, und es war ihm, als schimmere aus dem Eis des Alters
eine griine Rasenstelle der langst iiberschneieten Kindheit vor;
»Nur meinen Unterrock von Flanell«, sagte er, »sollt' ich gar
haben, der mir allemal unter den Achseln umgebunden wurde!« -
Mir ist sowohl das erste Schreibbuch des Konigs von PreuBen als
das des Schulmeisters Wutz bekannt, und da ich beide in Handen
gehabt: so kann ich urteilen, daB der Konig als Mann und das
Meisterlein als Kind schlechter geschrieben. »Mutter,« sagt' er zu
> seiner Frau, »betracht doch, wie dein Mann hier (im Schreibbuch)
und wie er dort (in seinem kalligraphischen Meisterstuck von
einem Lehnbrief, den er an die Wand genagelt) geschrieben : ich
fress' mich aber noch vor Liebe, Mutter !« Er prahlte vor niemand
als vor seiner Frau; und ich schatze den Vorteil so hoch, als er
wertist, den die Ehe hat, daB derEhemanndurchsienocheinzwei-
tes Ich bekommt, vor welchem er sich ohne Bedenken recht herz-
lich loben kann. Wahrhaftig das deutsche Publikum sollte ein
solches zweites Ich von uns Autoren abgeben! - Die Schachtel
war ein Bucherschrank der lilliputischen Traktatchen in Finger-
) kalender-Format, die er in seiner Kindheit dadurch herausgab,
daB er einen Vers aus der Bibel abschrieb, es heftete und bloB
sagte: »AbermaIs einen recht hiibschen Cober 1 gemacht!« Andre
Autores vermogen dergleichen auch, aber erst wenn sie heran-
gewachsen sind Als er mir seine jugendliche Schriftstellerei re-
ferierte, bemerkte er: »Als ein Kind ist man ein wahrer Narr; es
stach aber doch schon damals der Schriftstellertrieb hervor, nur
freilich noch in einer unreifen und lacherlichen Gestalt« und be-
lachelte zufrieden die jetzige. - Und so gings mit dem Finken-
kloben ebenfalls : war nicht der fingerlange Finkenkloben, den er
j mit Bier bestrich und auf dem er die Fliegen an den Beinen fing,
der Vorlaufer des armlangen Finkenkloben, hinter dem er im
Spatherbst seine schonsten Stunden zubrachte, wie aufihm die
Finken ihre haBlichsten? Das Vogelstellen will durchaus ein in
sich selber vergniigtes stilles Ding von Seele haben.
1 Cobers Kabinettsprediger - in dem mehr Geist steckt (freilich oft ein
narrischer) als in zwanzig jetzigen ausgelaugten Predigthaufen.
458 DIE UNSICHTBARE LOGE
Es ist leicht begreiflich, dafi seine groBte Krankenlabung ein
alter Kalender war und die abscheulichen 12 Monatkupfer des-
selben. In jedem Monat des Jahrs machte er sich, ohne vor einem
Galerieinspektor den Hut abzunehmen oder an ein Bilderkabinett
zuklopfen, mehr malerische und artistische Lust als andre Deut-
sche, die abnehmen und anklopfen. Erdurchwandertenamlichdie
1 1 Monat-Vignetten - die des Monats, worin er wanderte, lieB er
weg — und phantasierte in die Holzschnitt-Auftritte alles hinein,
was er und sie notig hatten. Es muBte ihn freilich in gesunden und
in krankenTagen letzen, wenn er im Jenner-Winterstiick auf dem 10
abgerupften schwarzen Baum herumsrieg und sich (mit der Phan-
tasie) unter den an der Erde aufdriickenden Wolkenhimmel stellte,
der iiber den Winterschlaf der Wiesen und Felder wie ein Bett-
himmel sich hinuberkrummte. - Der ganze Junius zog sich mit
seinen langen Tagen und langen Grasern um ihn herum, wenn er
seine Einbildung den Junius-Landschaft-Holzschnitt ausbriiten
lieB, auf welchem kleine Kreuzchen, die nichts als Vogel sein
sol Iten, durch das graue Druckpapier flogen und auf dem der
Holzschneider das fette Laubwerk zu Blattergerippen mazerierte.
Allein wer Phantasie hat, macht sich aus jedem Abschnitzel eine *c
wundertatige Reliquie, aus jedem Eselkinnbacken eine Quelle;
die fiinf Sinne reichen ihr nur die Kartons, nur die Grundstriche
des Vergniigens oder MiBvergniigens.
Den Mai iiberblatterte der Patient, weil der ohnehin um das
Haus drauBen stand. Die Kirschbliiten, womit der Wonnemond
sein griines Haar besteckt, die Maibliimchen, die als Vorsteck-
rosen iiber seinem Busen duften, beroch er nicht - der Geruch
war weg -, aber er besah sie und hatte einige in einer Schussel
neben seinem Krankenbette.
Ich habe meine Absicht klug erreicht, mich und meine Zuhorer 3<
fiinf oder sechs Seiten von der traurigen Minute wegzufuhren, in
der vor unser aller Augen der Tod vor das Bett unsers kranken
Freundes tritt und langsam mit eiskalten Handen in seine warme
Brust hineindringt und das vergniigt schlagende Herz erschreckt,
fangt und auf immer anhalt. Freilich am Ende kommt die Minute
und ihr Begleiter doch.
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ
459
Ich blieb den ganzen Tag da und sagte abends, ich konnte in
der Nacht wachen. Sein lebhaftes Gehirn und sein zuckendes Ge-
sicht hatten mich fest iiberzeugt, in der Nacht wurde der Schlag
sich wiederholen; es geschah aber nicht, welches mir und dem
Schulmeisterlein ein wesentlicher Gefallen war. Denn es hatte mir
gesagt - auch in seinem letzten Traktatchen stehts — , nichts ware
schoner und leichter, als an einem heitern Tage zu sterben: die
Seele sahe durch die geschlossenen Augen die hohe Sonne noch,
und sie stiege aus dem vertrockneten Leib in das weite blaue
io Lichtmeer drauBen; hingegen in einer finstern briillenden Nacht
aus dem warmen Leibe zu mussen, den Iangen Fall ins Grab so
einsam zu tun, wenn die ganze Natur selber dasaBe und die Augen
sterbend zuhatte - das ware ein zu harter Tod.
Um iiVa Uhr nachts kamen Wutzens zwei besten Jugend-
freunde noch einmal vor sein Bette, der Schlaf und der Traum,
um von ihm gleichsam Abschied zu nehmen. Oder bleibt ihr lan-
ger, und seid ihr zwei Menschenfreunde es vielleicht, die ihr den
ermordeten Menschen aus den blutigen Handen des Todes holet
und auf eueren wiegenden Armen durch die kalten unterirdischen
20 Hohlungen mtitterlich traget ins helle Land hin, wo ihn eine neue
Morgensonne und neue Morgenblumen in waches Leben hau-
chen? -
Ich war allein in der Stube - Ich horte nichts als den Atemzug
des Kranken und den Schlag meiner Uhr, die sein kurzes Leben
wegmaB - Der gelbe Vollmond hingt tief und groB in Sudenund
bereifte mit seinem Totenlichte die Maiblumchen des Mannes und
die stockende Wanduhr und die griine Haube des Kindes - Der
leise Kirschbaum vor dem Fenster make auf dem Grund von
Mondlicht aus Schatten einen bebenden Baumschlag in die Stube
> - Amstillen Himmel wurdezuweilerieinefackelnde Sternschnuppe
niedergeworfen, und sie verging wie ein Mensch - Es fiel mir bei,
die namliche Stube, die jetzt der schwarz ausgeschlagene Vorsaal
des Grabes war, wurde morgen vor 43 Jahren, am 1 3 tcn Mai, vom
Kranken bezogen, an welchem Tage seine elysischen Achtwochen
angegangen - Ich sah, daB der, dem damals dieser Kirschbaum
Wohlgeruch und Traume gab, dort im driickenden Traume ge-
460 DIE UNSICHTBARE LOGE
ruchlos liege und vielleicht noch heute aus dieser Stube ausziehe
und daB alles, alles voriiber sei und niemals wiederkomme .... und
in dieser Minute fing Wutz mit dem ungelahmten Arme nach et-
was, als wollt' er einen entfallenden Himmel erfassen — und in
dieser zitternden Minute knisterte der Monatzeiger meiner Uhr
und fuhr, weils 12 Uhr war, vom i2 ten Mai zum i3 ten iiber
Der Tod schien mir meine Uhr zu stellen, ich horte ihn den
Menschen und seine Freuden kauen, und die Welt und die
Zeit schien in einem Strom von Moder sich in den Abgrund
hinabzubrockeln ! . . . »c
Ich denke an diese Minute bei jedem mitternachtlichen Ober-
springen meines Monatzeigers; aber sie trete nie mehr unter die
Reihe meiner iibrigen Minuten !
Der Sterbende - er wird kaum diesen Namen lange mehr haben
— schlug zwei lodernde Augen auf und sah mich lange an, um mich
zu kennen. Ihm hatte getraumt, er schwankte als ein Kind sich auf
einem Lilienbeete, das unter ihm aufgewallet - dieses ware zu
einer emporgehobnen Rosen- Wolke zusammengeflossen, die
mit ihm durch goldne Morgenroten und iiber rauchende Blumen-
felder weggezogen - die Sonne hatte mit einem weiBen Madchen- ™
Angesicht ihn angelachelt und angeleuchtet und ware endlich
in Gestalt eines von Strahlen umflognen Madchens seiner
Wolke zugesunken und er hatte sich geangstigt, daB er den linken
gelahmten Arm nicht um und an sie bringen konnen. Da-
riiber wurd* er wach aus seinem letzten oder vielmehr vorletzten
Traum; denn auf den langen Traum des Lebens sind die kleinen
bunten Traume der Nacht wie Phantasieblumen gestickt und
gezeichnet.
Der Lebensstrom nach seinem Kopfe wurde immer schneller
und breiter : er glaubte immer wieder, verjiingt zu sein ; den Mond 30
hielt er fur die bewolkte Sonne; es kam ihm vor, er sei ein fliegen-
der Taufengel, unter einem Regenbogen an eine Dotterblumen-
Ketfe aufgehangen, im unendlichen Bogen auf- und niederwo-
gend, von der vierjahrigen Ringgeberin iiber Abgrunde zur Sonne
aufgeschaukelt Gegen 4 Uhr morgens konnte er uns nicht
mehr sehen, obgleich die Morgenrote schon in der Stube war -
SCHULMEISTERLEIN MARIA WUTZ 461
die Augen blickten versteinert vor sich hin-eine Gesichtzuckung
kam auf die andre-den Mund zog eine Entziickung immer lacheln-
der auseinander - Friihling-Phantasien, die weder dieses Leben
erfahren, noch jenes haben wird, spiel ten mit der sinkenden Seele-
endlich stiirzte der Todesengel den blassen Leichenschleier auf
sein Angesicht und hob hinter ihm die bliihende Seele mit ihren
tiefsten Wurzeln aus dem korperlichen Treibkasten voll organi-
sierter Erde Das Sterben ist erhaben ; hinter schwarzen Vor-
hangen tut der einsame Tod das stille Wunder und arbeitet fiir
10 die andre Welt, und die Sterblichen stehen da mit nassen, aber
stumpfen Augen neben der iiberirdischen Szene —
»Du guter Vater,« sagte seine Witwe, »wenn dirs jemand vor
43 Jahren hatte sagen sollen, daB man dich am 1 3 tcn Mai, wo deine
Achtwochen angingen, hinaustragen wurde!« - »Seine Acht-
wochen«, sagt* ich, »gehen wieder an, dauern aber langer.«
Als ich um 1 1 Uhr fortging, war mir die Erde gleichsam heilig,
und Toteschienen mir neben mirzugehen;ichsahaufzumHim-
mel, als konnt* ich im endlosen Ather nur in einer Richtung den
Gestorbnen suchen; und als ich oben auf dem Berge, wo man
20 nach Auenthal hineinschauet, mich noch einmal nach dem Leidens-
theater umsah und als ich unter den rauchenden Hausern bloB das
Trauerhaus unbewolket dastehen und den Totengraber oben auf
dem Gottesacker das Grab aushauen sah, und als ich das Leichen-
lauten seinetwegen horte und daran dachte, wie die Witwe im
stummen Kirchturm mit rinnenden Augen das Seil unten reiBe :
so fuhlt' ich unser aller Nichts und schwur, ein so unbedeutendes
Leben zu verachten, zu verdienen und zu genieBen. -
Wohl dir, lieber Wutz, daB ich - wenn ich nach Auenthal gehe
und dein verrasetes Grab aussuche und mich dariiber kummere,
30 daB die in dein Grab beerdigte Puppe des Nachtschmetterlings.
mit Fliigeln daraus kriecht, daB dein Grab ein Lustlager bohren-
der Regenwurmer, riickender Schnecken, wirbelnder Ameisen
und nagender Raupchen ist, indes du tief unter alien diesen mit
unverrucktem Haupte auf deinen Hobelspanen liegst und keine
liebkosende Sonne durch deine Bretter und deine mit Leinwand
zugeleimten Augen bricht - wohl dir, daB ich dann sagen kann:
462 DIE UNSICHTBARE LOGE
»Als er noch das Leben hatte, genoB ers frohlicher wie wir
alle.«
Es ist genug, meine Freunde - es ist 12 Uhr, der Monatzeiger
sprang auf einen neuen Tag und erinnerte uns an den doppelten
Schlaf, an den Schlaf der kurzen und an den Schlaf der langen
Nacht
AUSLAUTEN ODER SlEBEN LETZTE WoRTE AN DIE LeSER DER
Lebensbeschreibung und der Idylle
Am 2i ten Junius oder langsten Tage
Heute wird also meine kleine Rolle, wenigstens fur den ersten
Auftritt, aus; sobald ich die sieben Worte gar geschrieben habe:
so gehen ich und die Leser auseinander. Aber ich trete trauriger
weg als sie. Ein Mensch, der den Weg zu einem weiten Ziel voll-
endet hat, wendet sich an diesem urn und sieht unbefriedigt und
voll neuer Wiinsche iiber die zuriicklaufende StraBe hin, die seine
io schmalen Stun den wegmaB und die er, wie eine Medea, mit
Gliedern des Lebens uberstreuete. Eh' es heute Nacht wurde, nab'
ich alle die Papierspane, die von diesem Buche fielen, eingesargt,
aber nicht, wie andre Schreiber, eingeaschert - ich habe zugleich
alle Briefe der Freunde, die mir keine neue mehr schreiben konnen y
als Akten der in der Erden-Instanz geschlossenen Prozesse inro-
tuliert und hingelegt. - So etwas sollte der Mensch stets depo-
nieren und alle Freudenblumen aufkleben, trotz ihrer Vertrock-
nung, in einem Krauterbuche; nicht einmal seine alten Fracks,
Pikeschen und Bratenrocke (die iibrigen Kleiderstucke charak-
io terisieren wenig) sollte er verschenken oder versteigern, sondern
hinhenken sollt' er sie als Hiilsen seiner ausgekernten Stunden,
als Puppengehause der ausgeflognen Freuden, als Gewandfall
oder tote Hand, die der Erinnerung heimfallt von den gestorbenen
Jahren —
— Sobald ich heute am Tage, der so lang war als dieses Buch,
mit dieser Leichenbestattung fertig war: so ging ich in die Nacht
heraus, die so kurz ist wie die des Lebens . . . und hier steh' ich
unter dem Himmel und fuhP es wieder wie allemal, da(3 jede iiber-
stiegne Treppe hienieden sich zur StafFel einer hohern verkiirzt
30 und daB jeder erkletterte Thron zum FuBschemel eines neuen
einschrumpft. - Die Menschen bewohnen und bewegen das groBe
464 DIE UNSICHTBARE LOGE
Tretrad des Schicksals und glauben darin, sie steigen, wenn sie
gehen,. . . Warum will i.ch schon wieder ein neues. Buch schreiben
und in diesem die Ruhe erwarten, die ich im alten nicht fand? —
Ein buschichter Felsen, der sich iiber einen Steinbruch biickt,
halt mich hier mit meiner Schreibtafel, in der ich dieses Buch zu
Ende fuhren will, in der Nacht des Junius empor, den die Maler,
wie den Tod, mit einer Sense malen. — Es ist iiber 11 Uhr; auf
dem erloschnen blauen Himmels-Ozean iiber mir glimmt nur hier
und da ein zitterndes Piinktchen — der Arkturus wirft aus Westen
seine kleinen Blitze auf seine Erden und auf meine - der groBe 10
Bar blinkt aus Norden, und die Andromeda aus Osten - der breite
Mond liegt unter der Erde neben dem Mittage der neuen Welt -
aber die eingesunkne Abendrote (dieser bunte Sonnen-Schatte)
beugt den Tagschimmer der neuen Welt gemildert in die alte her-
ein und wirft ihn iiber zehn iiberlaubte Dorfer urn mich und iiber
den schwarzen, allein fortredenden Strom, diese lange Wasseruhr
der Zeit, die damit ein Jahrtausend urns andre misset. - -
So jammerlich ist der enge Mensch; wenn er ein Buch hinaus
hat, so biickt er zu alien entlegnen Sonnen auf, ob sie ihm nicht
zusehen; - bescheidner ware es, er dachte, er werde bloB von 20
Europa und dessen indischen Besitzungen bemerkt. Ich
wiinsche nicht, daB mich hier ein Cherub, ein Seraph oder nur ein
Berggeist mit meiner Schreibtafel und meinen Narrheiten gewahr
werde. Mich sehe lieber ein Mensch stehen und schreiben : der
wird mild sein und von seinem eignen Herzen lernen, die Schwa-
chen eines fremden tragen; der gebrechliche Mensch wird es
fiihlen und vergeben, daB jeder das Nest, worin er sitzt und quiekt
und welches das einzige ist, woriiber er mit Schnabel und H—
hinaussticht, fur den Fokus des Universums halt, fur eine Front-
loge und Rotunda, die samtlichen Nester aber auf den andern 30
Baumen fur die Wirtschaftgebaude seines Fokalnestes ..... O ihr
guten Menschen! warum ist es moglich, daB wir uns untereinan-
der auch nur eine halbe Stunde kranken? - Ach, in dieser gefahr-
lichen Dezember-Nacht dieses Lebens, mitten in diesem Chaos
unbekannter Wesen, welche die Hohe oder Tiefe von uns ent-
fernt, in dieser verhiilleten Welt, in diesen bebenden Abenden,
AUSLAUTEN ODER SIEBEN LETZTE WORTE 465
die sich um unser zerstaubendes Erdchen legen, wie ist es da mog-
lich, daB der verlassene Mensch nicht die einzige warme Brust
umschlinge, in der ein Herz liegt wie seines und zu der er sagen
kann: »Mein Bruder, du bist wie ich und leidest wie ich, und wir
konnen uns lieben«? - Unbegreif Jicher Mensch ! du sammelst Iie-
ber Dolche auf und treibest sie, mitten in deiner Mitternacht, in
die ahnliche Brust, womit der gute Himmel deine warmen und be-
schirmen wollte ! . . . Ach, ich schaue iiber die beschatteten Blumen-
grunde hih und sage mir, daB hier sechstausend Jahre mit ihren
10 schonen hohen Menschen vorubergezogen sind, die keiner von
uns an seinen Busen driicken konnte - daB noch viele Jahr-
tausende iiber diese Statte gehen und dariiber himmlische, viel-
leicht betriibte Menschen fuhren werden, die uns nie begegnen,
sondern hochstens unsern Urnen, und die wir so gern lieben wiir-
den - und daB bloB ein paar arme Jahrzehende unseinige fliehende
Gestalten vorfiihren, die ihr Auge auf uns wenden und in denen
das verschwisterte Herz fur uns ist, nach dem wir uns sehnen. -
Umfasset diese eilenden Gestalten; aber bloB aus euren Tranen
werdet ihr wissen, daB ihr seid geliebet worden. ...
1 ' - Und eben dieses, daB die Hand eines Menschen iiber so
wenige Jahre hinausreicht und daB die so wenige gute Hande
fassen kann, das muB ihn entschuldigen, wenn er ein Buch macht:
seine Stimme reicht weiter als seine Hand, sein enger Kreis der
Liebe zerflieBet in weitere Zirkel, und wenn er selber nicht mehr
ist, so wehen seine nachtonenden Gedanken in dem papiernen
Laube noch fort und spielen, wie andre zerstiebende Traume,
durch ihr Gefliister und ihren Schatten von manchem fernen Her-
zen eine schwere Stunde hinweg. — Dieses ist auch mein Wunsch,
aber nicht meine HofFnung. Wenn es aber eine schone weiche
1 3° Seele gibt, die so voll ihres Innern, ihrer Erinnerung und ihrer
Phantasien ist, daB sie sogar bei meinen schwachen iiberschwillt -
wenn sie sich und ein voiles Auge, das sie nicht bezwingen kann,
mit dieser Geschichte verbirgt, weil sie darin ihre eigne, ihre ver-
schwundnen Freunde, ihre voriibergezognen Tage und ihre ver-
siegten Tranen wiederfindet: o dann, geliebte Seele, nab* ich an
dich darin gedacht, ob ich dich gleich nicht kannte, und ich bin
466 DIE UNSICHTBARE LOGE
dein Freund, wiewohl nicht dein Bekannter gewesen. Noch
bessere Menschen werden dir beides sein, wenn duden schlimmern
verbirgst, was du jenen zeigst, wenn das GottHche in dir, gleich
Gott, in einer hohen Unsichtbarkeit bleibet, und wenn du sogar
deine Tranen verschleierst - weil harte Hande sich ausstrecken,
die gern sie mit dem Auge zerdriicken, wie man nach dem Regen
alle griinen Spitzen des englischen Gartens niederschleift, damit
sie nicht weiterkeimen. ...
— Der helle Stern oder Tautropfe in der Ahre der Jungfrau
fallt jetzt unter den Horizont. - Ich stehe noch hier auf meiner 10
blumichten Erde und denke : noch tragst du auf deinen Blumen,
alte gute Erde, deine Menschenkinder an die Sonne, wie die Mut-
ter den Saugling ans Licht - noch bist du ganz von deinen Kin-
dern umschlungen, behangen, bedeckt, und indes Geflugel auf
deinen Schultern flatten, Tiermassen um deine FiiBe schreiten,
gefliigelte Goldpunkte um deine Locken schweifen, fuhrest du
das aufgerichtete hohe Menschengeschlecht an deiner Hand durch
den Himmel, zeigest uns alien deine Morgenroten, deine Blumen
und das ganze lichtervolle Haus des unendlichen Vaters und er-
zahlest deinen Kindern von ihm, die ihn noch nicht gesehen 20
haben. Aber, gute Mutter Erde, es wird ein Jahrtausend auf-
gehen, wo alle deine Kinder dir werden gestorben sein, wo der
feurige Sonnen-Strudel dich in zu nahe verzehrende Kreise an
sich wird gewirbelt haben : dann wirst du, verwaiset, mit Stummen
im SchoB, mit Todesasche bestreuet, ode und stumm um deine
Sonne ziehen, es wird das Morgenrot kommen, es wird der Abend-
stern schimmern, aber die Menschen alle werden tief schlafen auf
deinen vier Welt-Armen und nichts mehr sehen, . . . Alle werden
es? — Ach, dann lege eine hohere trostende Hand unserem Mit-
bruder, der iulet%t entschlaft, den letzten Schleier ohne Zogern $c
iiber das einsame Auge
Das Abendrot schimmert schon in Norden - auch in meiner
Seele ist die Sonne hinunter und am Rande zucket rotes Licht und
mein Ich wird finster - die Welt vor mir liegt in einem festen
Schlafe und hort und redet nicht - es setzet sich in mir zusammen
eine bleiche Welt aus Totengebeinen - die alten Stunden stauben
AUSLAUTEN ODER SIEBEN LETZTE WORTE
467
sich ab, es brauset, wie wenn an den Grenzen der Erde eine Ver-
nichtung anfinge und ich heruberhorte das Zerbrechen einer Sonne
- der Strom stockt und alles ist stille - ein schwarzer Regenbogen
kriimmt sich aus Gewittern zusammen iiber diese hulf lose Erde.
— Siehe! es tritt eine Gestalt unter den schwarzen Bogen, es
schreitet iiber die Junius-Blumen ungehort ein unermeBliches
Skelett und geht zu meinem Berge heran - es verschlingt Sonnen,
erquetscht Erden, tritt einen Mond aus und ragt hoch hinein in
das Nichts - das hohe weiBe Gebein durchschneidet die Nacht,
halt %wei Menschen an den Handen> blickt mich an und sagt: »Ich
bin der Tod — ich habe an jeder Hand einen Freund von dir, aber
sie sind unkenntlich.«
Mein Mund lag auf die Erde gesturzt, mein Herz schwamm im
Gifte des Todes - aber ich horte noch sterbend ihn reden.
»Ich tote dich jetzt auch, du hast meinen Namen oft genennt und
ich habe dich gehort^ ich habe schon eine Ewigkeit zerbrockelt
und greife in alle Welten hinein und erdriicke; ich steige aus den
Sonnen in euren dumpfen, hnstern Winkel nieder, wo der Men-
schen-Salpeter anschieBet, und streich' ihn ab. . . . Lebst du noch,
' Sterblicher?«
Da zerging mein verblutetes Herz in eine Trane iiber die Qua-
len des Menschen - ich richtete mich gebrochen auf und schauete
nicht auf dieses Skelett Und auf das, was es fiihrte - ich blickte auf
zu dem Sirius und rief mit der letzten Angst : »VerhuIlter Vater,
lassest du mich vernichten? Sind diese auch vernichtet? Endigt das
gequalte Leben in eine Zerschmetterung? Ach, konnten die Her-
zen, die zertrummert werden, dich nur so kurz lieben?«
Siehe! da erttfiel droben dem nachtblauen Himmel ein heller
Tropfe, so grpB wie eine Trane, und sank wachsend neben einer
> Welt nach der andern vorbei - Als er groB und mit tausend Far-
benblitzen durch den schwarzen Bogen drang: so grunte und
bliihte dieser wie ein Regenbogen und unter ihm waren keine Ge-
stalten mehr- und als der Tropfen grpB-glimmend wie eine Sonne
auf fiinf Blumen lag: so uberfloB ein irrendes Feuer die griine
Flache und erhellete einen schwarzen Flor, der ungesehen die
Erde umfasset hatte.Der Flor zog sich schwellend auf zu einem
4^8 DIE UNSIC.HTBARE LOGE
unendlichen Zelte und riB von der Welt ab und fiel zu einem
Leichenschleier zusammen und blieb in einem Grabe. - Da ward
die Erde ein tagender Himmel, aus den Sternen staubte ein war-
mer Regen von Iichten Piinktchen nieder, am Horizont standen
weiBe Saulen aufgepflan{t - von Westen her walleten kleine Wea-
ken heriiber, perlen-hell, grunlich-spielend, rot-gliihend, und auf
jeder Wolke schlief ein Jiingling und sein Atem-Zephyr spielte
mit dem rinnenden Dufte wie mit weichen Bliiten und wiegte
seine Wolke - die Wogen eines lauen Abendwindes spiilten an
die Wolken an und fuhrten sie. - Und als eine Welle in meinen i
Atem floB, so wollt* in ihr meine Seele dahingegeben in ewige
Ruhe auseinanderrinnen - weit gegen Westen erschiitterte eine
dunkle Kugel sich unter einem GewitterguB und Sturm - von
Osten her war auf meinen Boden ein Zodiakallicht wie ein Schat-
ten hingeworfen
Ich wandte mich nach Osten, und ein ruhig-groBer, in Tugend
seliger, wie ein Mond aufgehender Engel lachelte mich an und
fragte: »Kennst du mich? - Ich bin der Engel des Friedens und
der Ruhe, und in deinem Sterben wirst du mich wiedersehen. Ich
liebe und troste euch Menschen und bin bei eurem groBen Kum- 2
mer. - Wenn er zu groB wird, wenn ihr euch auf dem harten
Leben wundgelegen : so nehm* ich die Seele mit ihren Wunden
an mein Herz und trage sie aus eurer Kugel, die dort in Westen
kampft, und lege sie schlummernd auf die weiche Wolke des
Todes nieder.«
AchI ich kenne einige schlafende Gestalten auf diesen Wol-
ken 1 . . .
»AIIe diese Wolken ziehen mit ihren Schlafern nach Morgen -
und sobald der groBe gute Gott aufgeht in der Gestalt der Sonne:
so wachen sie alle auf und leben und jauchzen ewig.« 3
O siehe ! die Wolken gen Osten gliihen hoher und drangen sich
in ein Glut-Meer zusammen - die steigende Sonne nahet sich -
alle Schlummernden lacheln lebendiger aus dem seligen Traum
dem Wachen entgegen -
O ihr ewig geliebten kenntlichen Gestalten ! wenn ich in eure
groBenhimmeltrunknen Augenwieder werde schauen konnen
AUSLAUTEN ODER SIEBEN LETZTE WORTE 469
Ein Sonnenblitz schlug empor - Gott ruhte flammend vor der
zweiten Welt - alle geschlossene Augen fuhren auf. —
Ach ! auch meine ; nur die Erdensonne ging auf- ich klebte noch
auf der streitenden Abend-Kugel - die kiirzeste Nacht war uber
meinen Schlummer vortibergeeilet, als ware sie die letzte des Le-
bens gewesen.
Es sei! Aber heme richtet sich mein Geist auf mit seinen irdi-
schen Kraften - ich erhebe meine Augen in die unendliche Welt
tiber diesem Leben — mein an ein reineres Vaterland gekniipftes
• Erdenherz schlagt gegen deinen Sternenhimmel empor, Unend-
licher,.gegen das S ternenbi/d de'mev grenzenlosen Gestalt, und ich
werde groB und ewig durch deine Stimme in meinem edelsten
Innern: du wirst nie vergehen. - —
Und sower mitmirsicheinerStundeerinnert,woihmderEngel
des Friedens erschien und ihm teuere Seelen aus der irdischen
Umarmung zog; ach, wer sich einer erinnert, wo er zu viel ver-
lor - der bezwinge das Sehnen und sehe mit mir fest zu den Wol-
ken auf und sage: Ruhet immerhin auf eurem Gewolke aus, ihr
entriickten Geliebten! Ihr zahlt die Jahrhunderte nicht, die zwi-
20 schen eurem Abend und eurem Morgen verflieBen, kein Stein
liegt mehr auf eurem bedeckten Herzen als der Leichen stein /und
dieser driicket nicht, und euer Ruhen storet nicht einmal ein Ge-
danke an uns —
Tief im Menschen ruht etwas Unbezwingliches,das der Schmerz
nur betaubt, nicht besiegt. - Darum dauert er ein Leben aus, wo
der beste nur Laub statt Fruchte tragt, darum wacht er fest die
Nachte dieser westlichen Kugel hinaus, wq geliebte Menschen
uber die Hebende Brust in ein weit entlegenes Leben wegziehen
und dem jetzigen bloB das Nachtonen der Erinnerung hinter-
1 30 lassen, wie durch Islands schwarze Nachte Schwanen als Zug-
vogel mit den Tonen von Violinen fliegen — Du aber, den die
zwei schlafenden Gestalten geliebt und in dem sie mir ihren und
meinen Freund zuruckgelassen, du mein mit ewiger Hochachtung
geliebter Christian Otto, bleibe hienieden bei mir!
HESPERUS
ODER
45 HUNDPOSTTAGE
EINE LEBENSBESCHREIBUNG
Motto
Die Erde 1st das Sackgalkhen in der groBen Stadt Gottes - die dunkle
Kammer voll umgekehrter und zusammengezogner Bilder aus einer
schdnern Welt - die Kiiste zur Schopfung Gottes - ein dunstvoller
Hof um eine bessere Sonne — der Zahler zu einem noch unsichtbaren
Nenner - wahrhaftig, sie ist fast gar nichts
Auswahl aus des Teufels Papieren
Erstes Heftlein
VORREDE ZUR DRITTEN AUFLAGE
Zwei lange Vorreden folgen dieser dritten auf dem FuBe nach,
die zweite zur zweiten Auf lage und die erste zur ersten. Mach* ich
nun diese dritte wieder lang; - und wohl auch gar die iibrigen
vielen zu den kiinftigen Auflagen: so sen' ich nicht ab, wie ein
Leser der letzten nur je durch die Gasse von Vorzimmern zum
historischen Bildersaale gelangen soil; er stirbt auf dem Wege
zum Buch.
Ich berichte denn kurz : in dieser Auf lage wurde das Notigste
to undLeichteste verbessert. Zuersthab* ichmich haufig ins Deutsche
iibersetzt aus dem Griechischen, Lateinischen, Franzosischen und
Italienischen; und zwar iiberall, wo es der Sprachreiniger mit der
gehorigen Achtung fur die Sachen selber verlangte. # Einmal
miissen wir Schreiber alle uns der Worter-Alien-Bill oder Frem-
denvertreibung von Campe, Kolbe und andern bequemen, und
selber unser geliebter Goethe wird, so sehr er auch umergiert und
eminiert«, am Ende in irgendeiner kiinftigen Auflage z.B. eben
beide Worter, die er in der letzten 1 auf einer Zeile zum Worte
kommen laBt, zum Buche hinauswerfen miissen. 1st es nicht
to Zeit, den fremden, lange genug in Deutschland eingelagert ge-
wesenen Volkern endlich auch ihre noch langer dagebliebnen
Echo oder Worter nachzuschicken?
Nur sei Kolbe oder jeder Purist ein billiger Mann und mute uns
nicht zu, gemeinschaftliche Kunstworter des gebildeten Europa,
z. B. der Musik, der Philosophie, in unbekannte inlandische, zu-
mal in Fallen umzusetzen, wo die verdolmetschende Hand den
ganzen Schmetterlingstaub bunter Anspielungen abgreifen und
abpfliicken wiirde. Zum Beispiel der Name Purist selber sei ein
1 Dessen samtliche Werke. B. 3 S. 68,
47<S HESPERUS
Beispiel. Gesetzt, man hieBe Arndt einen polkischen Deutschlands-
Puristen, und Kolbe setzte dafiir politischen Sprachreiniger oder
Sprachreinen : so gabe der kleine Einfall an der Obertragung das
biBchen Geist auf, das er etwa besessen.
Indes wenn der Verfasser dies auch nicht so wie einige Sprach-
einsiedler ausraumte, welche gleich der Luftrohre alles Fremd-
artige mit unangenehmem Husten und Spucken ausstoBen und
nur die vaterlandische Luft behalten : so suchte er wenigstens den
Gletschern nachzuahmen, welche fremde Korper, als Stein und
Holz, von Jahr zu Jahr allmahlich aus sich herausschieben. Wie
sehr ich dies in der Ausgabe dieses Hesperus auf jeder Seite getan,
beweiset das mit den neuen eingeschriebnen Verbesserungen
durchschoBne alte Druckexemplar; und ich wiinschte wohl, Herr
Kolbe reisete einmal nach Berlin und besahe das Exemplar. We-
nigstens will ich die deutsche Gesellschaft allda, die vor einigen
Jahren mich in sich aufgenommen, ersuchen, in die Verlagshand-
lung zu gehen, um selber zu sehen, was ihr Mitglied gemacht,
welche Durchstriche und welche Ersatz worter.
Wer sich eigentlich an der deutschen Sprache und an denen,
welche keine andere verstehen, am starksten versundigt, dies sind :
die Naturgeschichtschreiber, welche, wie z.B. Alexander von
Humboldt, den ganzen lateinischen Linne mitten in unsere Sprache
hineinstellen ohne andere deutsche Abzeichen als hinten die Auf-
schwanzung in deutsche Endigungen oder Schwanzfedern, wo-
mit sie aber dem bloBen Deutschsprecher so wenig kenntlich
werden als ein Mann einem Fremden hinten durch den bloBen
Zopf. Hat unsere unerschopfliche Sprache nicht ihre Krafte zur
Schopfung eines deutschen Linne schon gezeigt, wenn wir einen
Wilhelmi und noch mehr den herzdeutschen und sprachdeutschen
Oken lesen? :
Sonst tibrigens wird die deutsche Sprache sogar durch die
groBte Gastfreiheit gegen Fremdlinge niemals verarmen und ein-
kriechen. Denn stets zeugt sie (wie alle Worterbucher beweisen)
aus ihren immer frischen Stammbaumen hundertmal mehre Kin-
der und Enkel und Urenkel, als sie fremde Geburten an Kindes
Statt annimmt; so daB nach Jahrhunderten die aus unsern fort-
VORREDE ZUR DRITTEN AUFLAGE - 477
treibenden Wurzelwortern aufgegangne Waldung die nur als
Flugsame aufgekeimten Fremd-Worter ersticken und verschatten
muB, zuletzt als ein wahrer Lianenwald aufgebaumt, dessen
Zweige zu Wurzeln niederwachsen und dessen aufwarts ge-
pflanzte Wurzeln zu Gipfeln ausschlagen. Wie fremd-durchwach-
sen und verwildert wird dagegen nach einigen Jahrhunderten z. B.
die englische Sprache dastehen, mit dem vaterlandischen, aber
kraftlosen Stamm voll eingeimpften Wortgebiisches, keines Schaf-
fens, nur des Impfens fahig und aus dem doppelten Amerika mehr
o neue Worter als Waren abholend ! -
Das zweite, aber leichtere, was fur diese dritte verbesserte Auf-
lage des Hesperus geschehen, war natiirlich, daB ich durch den
ganzen Abendstern langsam hinging mit dem Jatemesser in der
Hand und alles Genitiv- oder Es-Schmarotzer-Unkraut der
Doppelworter, wo ichs nur fand - und dies war leider schon auf
dem Titelblatte der Hundposttage der Fall -, aufmerksam heraus-
stach. Ich stand aber viel dabei aus; der alten Prozesse der uber-
reichen Sprache mit sich selber haften zu viele auf ihren Gutern,
und ich muBte daher manches eingenistete Es-Gesindel da lassen,
o wo es sich zu lange angesiedelt hatte und sich auf Zeugen und
Ohren berief. Noch bis auf die Stunde dieser Vorrede wartet der
Verfasser der Morgenblatt-Briefe iiber die Doppelworter nicht
etwan auf eine durchgreifende Prilfung (was wohl zu friih ware),
sondern vor alien Dingen auf eine umfassende Lesung derselben,
welche freilich der zerteilende Archipelagus von auseinander
Hegenden Inselblattern so lange erschwert, als die Zeitschrift ihren
Lesekreis noch nicht durchlaufen. Dann aber hofP ich vom
Sprachforscher, wenn er sie vollstandig im Hause vor seinem
Richterstuhle hat, grundliche Widerlegung und Zustimmung.
o Endlich drittens wurde nach dem zweimaligen Verbessern von
zwei Auflagen (denn die erste erhielt groBe Verbesserungen, und
zwar vor ihrem Drucke) ein drittes vorgenommen, das gegen
Harten, Dunkelheiten, MiBverstand und andere tJberlangen und
Oberkiirzen der Einkleidung loszugehen hatte.
Aber Himmel, wie oft muB nicht ein Schreibmensch an sich
bessern, der kaum iiber ein halbes Jahrhundert alt ist! Lebte er
478 , HESPERUS
sich vollends in ein Methusalems-Jahrtausend hinein und schriebe
dabei : der Methusalem bekame so viele Bande von Verbesserungen
nachzuschieBen, daB das Werk selber ihnen nur als Vorwerk,
Anhangsel oder Erganzblatt beizugeben ware.
Seit mehren Jahren haBt der Verfasser in seinen altern Werken
einen Fehler in hohem Grade, den er bei Ernst Wagner, Fouque
und andern haufig wiederholt oder nachgeahmt angetroffen, nam-
lich den Fehler der eignen schriftstellerischen Austrommelsucht
oder Vorsprecherei der Empfindungen, welche der Gegenstand
haben und zeigen soil, aber nicht der Dichter. Z. B. »erhaben u
ruhig antwortete Dahore.« - Wozu erhaben beifugen, da es iiber-
fliissig, anmaBend und vorausnehmend ist, sobald die Antwort
wirklich erhebt, oder, wenn sie es nicht tut, alles noch erbarm-
licher ausfallt? Der Dichter, der auf diese Weise das Vor-Echo
seiner Personen ist, nimmt sich einige neuere Trauerspieldichter
wie Werner, Milliner u. a. zum Muster, welche fur den Schauspieler
bei jeder Rede die Buchbinder-Nachrichten vorsetzen: »mit riih-
rendem Schmerze - mit einem Seufzer schmerzlicher Erinnerung
- aus der Tiefe des Schmerzes herauf« - Iauter Macht- oder Un-
machtspriiche, die nur ein pantomimischer Tanz notig hat und *
befolgen kann, die aber kein Stuck von Shakespeare, von Schiller
und Goethe braucht, weil ja die Rede selber reden lehrt.
Obrigens nab* ich jetzo, um ein Viertel-Jahrhundert alter und
gealtert, nicht den Mut, dem ersten jugendlichen Ausstromen des
Herzens ein anderes Bette und einen schwachern Fall und Zug zu
geben. Der spatere Mensch halt zu leicht das Andern am jiingern
fur ein Bessern desselben; aber wie kein Mensch den andern er-
setzen kann, so kann auch nicht einmal derselbe Mensch sich in
seinen verschiedenen Alterstufen vertreten, am wenigsten der
Dichter. Die beste eheliche Liebe ist nicht das, was die jungfrau- ^
liche war; und so gibt es auch in der Begeisterung und in der Dar-
stellung eine jungfrauliche Muse. Ach alles erste im Dichten wie
Leben ist, was ihm auch sonst abgehe, so unschuldig und gut; und
alle Bluten kommen so rein weifi auf die Welt, worin nachher »die
Sonne«, wie Goethe schon von korperlichen Farben sagt, »kein
WeiBes duldet«. Darum sollen alle heiBe Worte meiner Begeiste-
VORREDE ZUR DRITTEN AUFLAGE 479
rung fur Emanuels Sterben und Viktors Lieben und Weinen und
fur Klotildens Schweigen und Leiden stets im Hesperus unge-
kiihlt und unverandert stehen bleiben. Sogar das Jetzo soil dem
Sonst nichts nehmen. Denn ob ich gleich sek 25 Jahren durch
einige Nachahmungen und Nachspiele des Buchs ordentlichmich
selber satt bekommen: so uberwind' ich doch den OberdruB an
dieser Selbersattheit durch die HofTnung, daB der schreibende
Jiingling spater wieder auf lesende Jiinglinge und Jungfrauen
trefFen und daB kiinftig auch fur altere Leser mehr vom Nach-
to geahmten als voa den Nachahmungen iibrig bleiben wird.
Und so lege denn dieser Abendstern - der friiher der Morgen-
stern meiner ganzen Seele gewesen - seinen dritten Umlauf urn
die Lesewelt in dem vollern Lichte eines bessern Standes gegen
Sonne und Erde zuriick!
Baireuth den 1. Jenn. 1819.
Jean Paul Fr. Richter.
VORREDE ZUR ZWEITEN AuFLAGE
Noch nab' ich von dieser Vorrede weiter nichts zustande ge-
bracht als einen leidlichen Entwurf, den hier der Leser unge-
schminkt bekommen soil. Vielleicht neb* ich durch das Geschenk
dieses Entwurfs auch den Vorhang auf, der noch immer an meiner
literarischen Arbeitloge herunterhangt, und ders der Nachwelt
versteckt ? wie ich darin arbeite als mein eigner dienender Bruder
und als Meister vom schottischen Stuhl. Ein Entwurf ist aber bei
mir kein Predigtentwurf in Hamburg, den der Hauptpastor am
Sonnabend ausgibt und am Sonntag ausfiihrt - er ist kein Glieder- i
mann, keine Akademie, kein Kanon, wornach ich schafTe - er ist
kein Knochenskelett fur kiinftiges Fleisch; - sondern ein Ent-
wurf ist ein Blatt oder ein Bogen, auf welchem.ich mirs bequemer
mache und mich gehen lasse, indem ich darauf meinen ganzen
Kopf ausschiittele, um nachher das Fallobst zu sichten und zu
saen, und das Papier mit organischen Kiigelchen und mit Lagen
von Phonixasche bedecke, damit ganze schimmernde Fasanereien
daraus aufsteigen. In einem solchen Entwurfe halt* ich die unahn-
lichsten und feindlichsten Dinge bloB durch Gedankenstriche
auseinander. Ich rede mich in dergleichen Entwiirfen selber an :
und duze mich wie ein Quaker und befehle mir viel; ja ich bringe
darin haufig Einfalle vor, die ich gar nicht drucken lasse, weil ent-
weder kein Zusammenhang fur sie auszumitteln ist, oder weil sie
an sich nichts taugen.
Und nun wird es Zeit sein, daB ich dem Leser einen solchen
Entwurf wirklich darbiete, welches diesesmal der Entwurf der
gegenwartigen Vorrede selber ist. Er ist uberschrieben :
VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE * 48 1
Architektonik und Bauholz fur die Vorrede
zur zweiten Auf Jage des Hesperus
»Mache sie aber kurz, da der Welt der Gang durch zwei Vor-
zimmer in die Passagierstube des Buchs ohnehin lang wird -
Scherz' anfangs - Selten schiebt einer auf der literarischen Kegel-
bahn alle neun Musen - Der SchluB aus der Reflexion - Bringe
viele Ahnlichkeiten zwischen dem Titel Hesperus und dem Abend-
sterne oder der Venus heraus, dergleichen etwa sein miissen, daB
meiner wie diese voll spitzer hoher Berge ist, und daB beide ihrer
Unebenheit ihren groBern Glanz verdanken, ferner daB der eine
wie die andere im Durchgang durch die Sonne (des Apollo) nur
wie schwarze Flecke erscheinen - (In deinem Briefkopierbuch
muBt du mehre solche Anspielungen gemacht haben) - Die Welt
erwartet, daB der Abendstern bei der zweiten Auf lage unten als
Luzifer oder Morgenstern heraufkomme, und daB der verklarte
Leib des Papiers eine verklarte Seele behause * laB es passieren und
orientiere die Welt. - Finde Pedanten, die sich von Worten, nicht
von .Sachen erhalten und fiittern, den Aftermotten ahnlich, die
Wachskuchen fressen und verdauen, aber keine Honigfladen. -
I20 Niemand gleicht so sehr als die Pedanten den Dohlen, die zugleich
diebisch und gesc/iwdtpg sind ; sie verwassern und kapern. - In die
kritische Holle werden gerade Leute nicht geworfen, die der Tal-
mud auch von der jiadischen losspricht, namlich die Armen, die
Zahlunfahigen und die, welche am Durchfalle umkommen. - Sei
ein Fuchs und streichle die kritischen Billard-Markors, welche
Verlust und Gewinn ansagen.« —
Letztes versteh* ich selber nicht, weil der Entwurf schon im
Winter geschrieben wurde. Ich kann vielmehr ohne Ironie be-
kennen, daB mich die kritischen Quartal- oder Landrichter beim
p Leben gelassen und mir weder einen spanischen Mantel, noch ein
Demutkleid, noch ein Blut- und Harenhemd umgeworfen haben.
Diese Nachsicht der Kritiker fiir einen Bucherschreiber, der wie
ein Katholik mehr gute Werke verubt, als er zur Seligkeit braucht,
ist gewifi nicht ihre schlechteste Eigenschaft, da sie damit so wohl-
tatig auf unsere leeren Tage wirken. Denn man muB jetzt froh
48 2 * HESPERUS
sein, wenn nur vier oder funf neue Gleichnisse auf die Ostermesse
abfahren, und wenn zur Michaelismesse nur einige Blumen,
welche Novitaten sind, feil stehen. Unser literarisches Kiichen-
personale weiB uns dasselbe goutee unter dem Scheine sechs ver-
schiedner Schiisseln auf das Tischtuch und in den Mund zu spielen
und belustigt uns zweimal im Jahr mit einer Nachahmung des
beriihmten Kartoffel-Gastmahls in Paris: anfangs kam bloB eine
KartofFelsuppe - dann schon mit anderer Zubereitung wieder
Kartoffeln - das dntte Gericht hingegen bestand aus umgearbeite-
ten Kartoffeln - auch das vierte - als fiinftes konnte man nun i
wieder Kartoffeln servieren, sobald man nur zum sechsten neu
brillantierte Kartoffeln bestimmte - und so ging es durch 14 Ge-
richte hindurch, wobei man rioch von Gliick zu sagen hatte, daB
wenigstens Brot, Konfekt und Likor den Magen aufrichteten und
aus Kartoffeln bestanden.
Tadel ist eine angenehme Zitronensaure am Lob; daher wer-
den beide von der Welt nur miteinander gleichsam in einem
Sauerhonig verteilt; so wie nach dem Talmud auf den Rauch-
opferaltar einige Finger voll Teufelsdreck mit geworfen wurden.
Das einzige folglich, was ich an den Rezensenten nach dem vori- 2
gen Lobe aussetzen will, und womit sie wirklich anstoBen, ist
dieses, daB sie selten (ihr Herz ist gut) viel von der Sache oder
Schrift verstehen, woriiber sie richten; und selbst dieser Tadel
passet nur auf den groBern Teil.
»Web es ein,« (fahrt der Entwurf fort) »daB du nicht daraus
kommen kannst, was die jetzige Enthullung und Enthiilsung der
weiblichen Arme", Busen und Riicken bedeuten soli, so wie sonst
die Pfauen gerade mit ahn lichen glanzenden Teilen, mit Halsen,
Fliigeln und Kopfen, die nicht abgerupfet waren, in der Braten-
schiissel auftraten. - Es wird daher gut sein, wenn du vermutest, 5
daB die schalenlosen Damen heimliche Jesuitinnen und Frei-
maurerinnen sind, weil in beiden Orden die Mysterien und Ver-
hiillungen mit EntbloBung anfangen; oder gib auch diese unbe-
1 Ein Jude schied sich sonst von seiner Frau, wenn sie pnit nackten Armen
erschien; es ist aber schwer, die jetzigen haufigen Ehescheidungen in Paris
daraus herzuleiten.
VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE 483
fiederten Glieder irgendeinem Darben schuld, wie ein Kiichlein
aus einem Ei, woraus man nur einige Tropfen EiweiB wegschopfte,
mit federlosen Stellen auskriecht - Drohe wenigstens, daB Damen
und Krebse am Hebsten in der Mause gefangen und gesotten wer-
den.« —
- Das ist einer von den Fallen, wo von ich oben sagte, daB ich
darin Einfalle des Entwurfs, aus Mangel an Zusammenhang mit
der ganzen Sache, aufgeben und wegwerfen miiBte; denn wirklich
hat die ganze Gliedermause nichts mit der Vorrede gemein als das
10 Jahr der Geburt.
»Von andern Autoren« (fahrt deren Entwurf fort) »muB abge-
gangen und iiber den Beifall, den du erbeutet, nur stumm weg-
geschlichen werdcn, damit die Welt sieht, wie du bist. - Man er-
wartet von einer Vorrede zur zweiten Auflage eine kleine Pro-
duktenkarte oder ein Ernteregister alles des Nachflors, der die
zweite iiber die erste erhebt: gib ihnen das Register !« -
Gern ! - Erstlich nab' ich verbessert alle Druckfehler - dann
alle Schreibfehler - dann viele Dissonanzen der Sprache - auch
Wort- und Sachschnitzer genug; die Einfalle aber und die poe-
10 tischen Tulpen nab' ich selten ausgerissen. Ich sah, wenn ichs tate,
so bliebe vom Buche (weil ich die ganze Manier ausstriche) nicht
viel mehr in der Welt als der Einband und das Druckfehler- Ver-
zeichnis. Der Theolog hasset juristische Anspielungen - der Ju-
rist theologische - der Arzt beide - der Mathematiker alle vorigen
- ich liebe sie alle; was soil man da lassen oder nehmen? - Der
Frau miBfallt Satire, dem Manne erweichende Warme (denn Kdlte
halt er an Buchern wie an Schokoladentafetn fur Proben des Werts)
- und das Publikum selber hat iiber ein Kapitel 45 Meinungen,
wie Cromwell vier widersprechende Briefe an denselben Korre-
.0 spondenten diktierte, bloB um seinen Schreibern den wahren zu
verhehlen, den er fortschickte: welcher Meinung hangt in
solchem Streit ein Autor an? - Am schicklichsten seiner eignen,
wie die Welt der ihrigen. -
Obrigens erlebt mein Werklein schwerlich so viele gedruckte
Auflagen, als ich davon in meiner Stube geschriebene verbesserte
veranstalte - und darum sind groBe Anderungen daran, wenn
484 HESPERUS
nicht entbehrlicher, doch schwieriger. Am Plane der Geschichte
selber war - gesetzt auch, ich hatte vergessen wollen, daB es eine
wahre ist - darum wenig umzubessern, weil das Werk ist wie
meine Hose, die kein Schneider, sondern ein Strumpfwirkerstuhl
gemacht, und woran eine einzige aufgehende Masche des rechten
Schenkels das ganze Gestrick des linken aufknopft. Denn es ist
ein wesentlicher, aber unleugbarer Fehler des Buchs - den ich
Ieicht aus dem Mangel an Episoden erklare -, daB, sobald ich aus
dem ersten Stockwerk (oder Heftlein) nur irgendeinenbriichigen
Quader ausziehe, sofort im dritten alles wackeltundzuletztnach-
fallt. Allerdings steh* ich dadurch nochweitvon.denbessernneuen
Romanen zuriick, denen man ohne den geringsten Schaden der
Komposition und Feuerfestigkeit betrachtliche Stiicke ausbrechen
und einbauen kann, bloB weil sie nicht, wie mein Buch, einem
blofien Hause, sondern einer ganzen Spielstadt aus Nurnberg
gleichen, deren lose abgehenkte Hauser das Kind in seinem Spiel-
schrank aufschichtet, und deren Musaik aus Hutten das liebe
Kleine Ieicht zu seiner Lust gassatim zusammenstellt, wie es nur
mag. Einer wahren Historie klebt immer das VerdrieBliche an,
daB dergleichen nicht zu machen ist. ;
Gleichwohl entschadige ich mein Werk fur kunstlerische An-
derungenund f^erhesserungenhinhnglich dutch wahre- Vergrofie-
rungen desselben, durch historische Zusatze. Da ich zum Gliicke
seit einigen Jahren unter den Personen selber lebe und hause, die
ich abgeschildert: so bin ich als Zirkelgrad dieses schonen Fami-
lienzirkels ganz instand gesetzt, aus lebendigen Zeugen-Rotuln
tausend Berichtigungen und Erlauterungen nachzutragen, die
sonst kein Mensch erfuhre, und die gleichwohl die etwas dunkle
Geschichte gewaltig erhellen. Der Kunstrichter schlage nur die
zwei nachsten Kapitel des Buchs, oder die fernsten, oder andere =
auf.
Man will mich gefallig bereden, ich hatte in den Zusatzen den
Oberzahligen-WitzvermiedenunddenleuchtendenNaphthaboden
meines Abendgestirnes, der weder auszugieBen noch zu versenken
war, geschickt gewassert durch frische Historie. — Der Himmel
geb' es! Ich habe schlechte Hoffnung; aber lieb sollte es mir sein,
VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE
485
wenn die Rezensenten mich versichern wollten, ich hatte in mei-
nem Pantheon-Pandamonium meine dichten Bilder, obwohl nicht
versteigert oder verdeckt, doch aber weiter auseinander gehenkt.
»Oberhaupt« (verfolgt der Entwurf) »nimm lieber das histo-
rische Okuliermesser als das kritische Jatemesser in die Hand !«
Eben sagt' ich, daB ichs getan.
»Was aber jene verdorrten falben Menschen anlangt, vor denen
nichts grofi ist als ihr Bild, und deren Magen vor jeder schonern
Bewegung des erhobnen Herzens in eine umgekehrte gerat, kurz-
» die alles anekelt (ausgenommen das Ekelhafte), so stelle dich an,
als merktest du sie gar nicht einmal, um so mehr, da sie den Pa-
tienten gleichen, die der Bandwurm benagt, und welche nach me-
dizinischen Beobachtungen sich vor jeder Musik, besonders Or-
geln, erbrechen und ekeln - Denke lieber an die guten Menschen,
die du kennst und liebst, und an die guten, die du nur Hebst —
und daher werde am Ende der Vorrede ernsthaft und dankbar und
freue dich!« — -
Wahrlich, das hatt' ich getan schon ohne den Entwurf! - Wie
konnt* ich gegen die Schonung unempfindlich bleiben, womit
> man im ganzen die aphroditographischen Fragmente von meinem
Abendstern abfassete, der mit so merklichen Aberrationen oder
Abweichungen und in einer so wenig planetarischen Ellipse um
seine Sonne lauft, daB er leicht, wie es oft dem Hesperus am Him-
mel geschieht, fur einen Haar-, Bart- und Schwanzstern zu nehmen
ist? - Und wie hart und kalt miiBte die Seele sein, welche ohne
Ruhrung und ohne Freude iiber den kiirzesten frohen Tag, ja nur
iiber eine frohe Sekunde und Terzie bliebe, in die sie dieleidenden
Menschen flihren konnte - und iiber die ausgebreitete Verwandt-
schaft hoher Wtinsche und heiliger Hoffnungen und freundlicher
|o Gefuhle — und iiber den holden FriedenschluB, worin die Zanker
und Krieger auf der ersten Welt des prosaischen Lebens einander
auf der iweiten Welt der Dichtkunst in gemeinsamen Erkennungen
die Hande geben und zu Briiderri werden? -
Ich gebe dir, guter Asteriskus und Nebenplanet des sanften
Abendsternes iiber mir, wieder die Wunsche vor drei Jahren fur
jede Seele auf den Weg, die du erfreuen kannst ! Nur gehe fur kein
486 HESPERUS
Auge als ein Regengestirn auf, nur mache keines irre, daB es den
Mondschein der Dichtkunst fur den Morgen der Wahrheit nimmt
und die Morgen-Traume zu friih abdankt! - Aber in die Marter-
kammer und durch das Gefangnisgitter der verlassenen Seelen
wirf einen erfreulichen Schein - und wem seine gluckliche Insel
auf den Meerboden der Ewigkeit entfiel, dem verklare die dunkle
tiefe Gegend — und wer vergeblich in einem entblatterten Para-
diese umher- und hinaufsieht, dem zeige ein kleiner Strahl aus dir
unten auf dem Boden unter dem gelben Laube irgendeine be-
deckte siiBe Frucht der vorigen Zeit — und das Auge, dem du gar 1
nichts zeigen kannst, dieses ziehe sanft hinauf zu deinem Bruder
und zum Himmel, worin er glanzt. - Ja wenn ich einmal zu alt
bin, so troste mich auch!
Hof y den i6ten Mai 1797.
Jean Paul Fr. Richter.
VORREDE, SIEBEN BlTTEN UND BESCHLUSS
Vorrede
Ich wollte mich anfangs ereifern iiber einige Heere von Lesern,
mit denen ich in diesem Buche nichts anzufangen weiB ; und wollte
mich vorn an den Hesperus als Pfortner stellen und vorzuglich
Leute mit der groBten Unhof lichkeit fortschicken, die nichts tau-
gen - fur welche, wie fur einen Prosektor, das Herz nichts ist als
der dickeste Muskel, und welche Gehirn und Herz und alles In-
nere, wie Formen der Gipsstatuen ihr eingefulltes Gemengsel von
o Scherwolle, Heu und Ton, nur darum tragen, um ^oA/gegossen
auszufallen. - Ich wollte sogar mit ehrlichen Geschaftleuten kei-
fen, die, wie der groBe Antonin, den Gottern danken, daB sie die
Dichtkunst nicht weit getrieben - und mit solchen, vor denen sich
der Kapellmeister Apollo auf einer Strohfiedel horenlassen soil,
und seine neun Diskantistinnen mit dem Bier- und StrohbaB -
ja sogar mit der lesenden Schwesterschaft der Ritterromane, die
so lieset, wie sie heiratet, und die sich unter den Buchern, wie
unter den Gesichtern der Herren, nicht die schonen weiblichen,
sondern die wilden mannlichen ausklaubt. —
o Aber ein Autor sollte kein Kind sein und sich seine Vorrede
versalzen, da er nicht alle Tage eine zu machen hat. Warum habe
ich nicht lieber in der ersten Zeile die Leser angeredet und bei der
Hand genommen, denen ich den Hesperus freudig gebe, und die
ich mit einem Freiexemplar davon beschenken wollte, wenn ich
wiiBte, wo sie wohnten? - Komm, liebe miide Seele, die du etwas
zu vergessen hast, entweder einen triiben Tag oder ein uber-
wolktes Jahr, oder einen Menschen, der dich krankt, oder einen,
der dich Iiebt, oder eine entlaubte Jugend, oderein ganzes schweres
Leben; und du, gedruckter Geist, fiir den die Gegenwart eine
o Wunde und die Vergangenheit eine Narbe ist, komm in meinen
488 HESPERUS
Abends tern und erquicke dich mit seinem kleinen Schimmer, aber
schlieBe, wenn dir die poetische Tauschung fliichtige suBe
Schmerzen gibt, daraus : »Vielleicht ist das auch eine, v, as mir die
langern tiefern macht.«- Und dich, hohererMensch,dei unserLe-
ben, das nur in einem Spiegel gtfchvet wird, kleiner findet als sich
und den Tod, und dessen Herz ein verhiillter groBer Geist in dem
Totenstaube anderer zerfallener Menschenherzen heller und rei-
, ner schleift, wie man den Demant im Staube des Demants poliert,
darf ich dich auch in meinen Abend- und Nachtstern auf eine An-
hohe, so wie ich sie aufzuwerfen vermag, herniederrufen, damit *
du, wenn du um sie, wie um den Vesuv, morganische Feen und
Nebel-Gruppierungen und Traum-Welten und Schatten-Lander
in der Tiefe' Ziehen siehest, vielleicht zu dir sagest: »Und so ist
alles Traum und Schatten um mich her, aber Traume setzen
Geister voraus, und Nebel Lander, und der Erdschatten eine Sonne
und eine ^felt«? -
Aber zu dir habe ich nicht den Mut, zu dir, edler Geist, der des
Jahrhunderts miide ist und des Nachwinters der Menschheit, dem
zuweilen, aber nicht. immer, das Menschengeschlecht wie der
Mond zuriickzuwandeln scheint, weil er den Zug der Wolke, die 2
darunter hinfliegt, fur den Gang des himmlischen Korpers selber
ansieht, und der voll erhabner Seufzer, voll erhabner Wunsche
und mit schweigendem Ergeben zwar neben sich eine wiirgende
Hand und das Fallen seiner Brtider hort, aber doch das aufge-
richtete, auf dem ewig heitern Sonnenangesicht der Vorsehung
ruhende Auge nicht niederschlagt, und den das Ungluck, wie der
Blitz den Menschen, zwar entseelt, aber nicht entstellt; edler Geist,
ich habe freilich nicht den Mut, zu dir zu sagen; »Wurdige mich,
auf mein Schattenspiel zu schauen, damit du uber den Abendstern,
den ich vor dir voruberfuhre, die Erde vergessest, auf der du 3
stehest, und die sich jetzo mit tausend Grabern wie ein Vampyr an
das Menschengeschlecht anlegt und Opferblut saugt.« Und
doch nab* ich an dich unter dem ganzen Buche gedacht, und die
Hoffnung, mein kleines Nacht- und Abendstiick vor nasse, auf-
gerichtete und feste Augen zu bringen, war der tragende Maler-
stock der muden Hand gewesen.
VORREDE, SIEBEN BITTEN UND BESCHLUSS 489
Da ich mich jetzt zu ernsthaft geschrieben, so muB ich von den
sieben versprochenen Bitten, worunter nur vier es sind, drei weg-
lassen. - Ich tue also nur die
Erste Bitte, den Titel )>Hundposttage« so lange zu vergeben, bis
ihn das erste Kapitel erklart und entschuldigt hat - Und die
Zweite, allemal eiri ganzes Kapitel zu lesen, und kein halbes,
weil das groBe Ganze aus kleinern Ganzen, wie nach den Ho-
moiomerien des Anaxagoras der Menschenkorper aus unzahligen
kleinen Menschenkorpern besteht - Und die
1 Siebente Bitte, die halb aus der zweiten flieBet, aber nur die
Kunstrichter angeht, mir in ihren fliegenden Blattern, die sie Re-
zensionen nennen, mit keiner Publikation meiner Hauptbegeben-
heiten vorzugreifen, sondern dem Leser einige Oberraschungen,
die er doch nur einmal hat, zu lassen. - Und endlich die
Funfte Bitte, die man aus dem Vaterunser schon kennt.
Der BeschluB
Und so werde denn sichtbar, kleiner stiller Hesperus! - Du
brauchst eine kleine Wolke, um verdeckt zu sein, und ein kleines
Jahr, um deinen Umlauf vollfiihrt zu haben! - Mogest du der Tu-
20 gend und Wahrheit, wie dein Ebenbild am Himmel der Sonne,
naher stehen, als die Erde alien dreien ist, in die du schimmerst,
und mogest du wie jenes nur dadurch dich den Menschen ent-
ziehen, daB du dich in die Sonne hullest! Moge dein EinfluB
schoner, warmer und gewisser sein, als der des Kalender-Hes-
perus ist, den der Aberglaube auf den Dunst-Thron dieses Jahres
setztj - Du wiirdest mich zum zweitenmal glucklich machen,
wenn du fur irgendeinen abgebliihten Menschen ein Abendstern y
fur irgendeinen aufbliihenden ein Morgenstern wiirdest! Gehe
unter mit jenem und auf mit diesem; flimmere im Abendhimmel
30 des erstern zwischen seinen Wolken und uberziehe seinen zuruck-
gelegten bergaufgehenden Lebenweg mit einem sanften Schim-
mer, damit er die entfernten Blumen der Jugend wieder erkenne
und seine veralteten Erinnerungen zu Hoffnungen verjunge! -
Kiihle den frischen Jiingling in der Lebenfruhe als ein stillender
490 HESPERUS
Morgenstern ab, eh' ihn die Sonne entziindet und der Strudel des
Tages einzieht! - Fiir mich aber, Hesperus, bist du nun wohl
untergegangen - du zogest bisher neben dem Erdball wie mein
Nebenplanet, wie meine zweite Welt, auf die meine Seele ausstieg,
indes sie den Korper den StdBen der Erde lieB - aber heute fallt
mein Auge traurig und langsam von dir und dem weifien Blumen-
flor, den ich um deine Kusten angepflanzet, auf den naBkalten
Boden herab, wo ich stehe - und ich sehe uris alle von Kiihle und
Abend umgeben - wek von den Sternen abgerissen — von Jo-
hanniswurmchen belustigt, von Irrwischen beunruhigt - alle ein- »<
ander verhiillt, jeder einsam und sein eignes Leben nur fuhlend
durch die warme pulsierende Hand eines Freundes, die er im
Dunkeln halt.
Ja, es wird zwar ein anderes Zeitalter kommen, wo es licht
wird, und wo der Mensch aus erhabnen Traumen erwacht und die
Traume - wiederfindet, weil er niehts verlor als den Schlaf. -
Die Steine und Felsen, welche zwei eingehullte Gestalten, Not-
wendigkeit und Laster, wie Deukalion und Pyrrha hinter sich
werfen nach den Guten, werden zu neuen Menschen werden. -
Und auf dem Abendtore dieses Jahrhunderts steht: Hier geht 2
der Weg zur Tugend und Weisheit; so wie auf dem Abendtor zu
Cherson die erhabene Inschrift steht: Hier geht der Weg nach
Byzanz.
Unendliche Vorsicht, du wirst Tag werden lassen. -
Aber noch streitet die zwolfte Stunde der Nacht: die Nacht-
raubvogel ziehen; die Gespenster poltern; die Toten gaukelnj
die Lebendigen traumen.
In der Fruhlings-Tag- und Nachtgleiche 1794.
Jean Paul.
I.HUNDPOSTTAG
Unterschied zwischen dem i. und 4. Mai - Rattenschlachtstiicke - Nacht-
stiick - drei Regimenter in kiinftigen Hosen - Starnadel - Ouverture und
geheime Instruktion dieses Buchs
Im Hause des Hofkaplans Eymann im Baddorfe St.Lilne waren
zwei Parteien : die eine war den 30. April froh, daB der Held dieser
Geschichte, der junge Englander Horion y den 1 . Mai aus Gottingen
zuriickkame und in der Kaplanei bliebe - der andern wars nicht
recht, sie wollte haben, er sollte erst den 4. Mai anlangen.
Die Partei des ersten Maies oder des Dienstags bestand aus dem
Kaplans-Sohne Flamin, der mit dem Englander bis ins zwolfte Jahr
in London und bis ins achtzehnte in St. Liine erzogen worden, und
dessen Herz mit alien Aderzweigen in das britische verwachsen
und in dessen heiBer Brust wahrend der langen Trennung durch
Gottingen ein Herz zu wenig gewesen war - ferner aus der Hof-
kaplanin, einer gebornen Englanderin, die in meinem Helden den
Landsmann liebte, weil der magnetische Wirbel des Vaterlandes
noch an ihre Seele liber Meere und Lander reichte - endlich aus
ihrer altesten Tochter Agathe, die den ganzen Tag-alles auslachte
o und Iieb hatte, ohne zu wissen warum, und die jeden, der nicht
gar zu viele Hauser weit von ihr wohnte, mit ihren Polypenarmen
als Nahrung ihres Herzens zu sich zog.
Die Sekte des vierten Maies konnte sich mit jener schon messen,
da sie auch ein Kollegium von drei Gliedern ausmachte. Die An-
hanger waren die kochende Appel (Apollonia, die jiingste Toch-
ter), deren Kuchen-Ehre und Back-Belobebrief dabei litt, daB der
Gast.friiher ankam als die WeiBhefen; sie konnte sich denken,
was eine Seele empfindet, die vor einem Gaste stent, die Hande
voll Spick- und Nahnadeln, neben der Platte der Fenstervorhange,
o und ohne sogar die Frisur des Hutes und des Kopfes, der darunter
soil, nur halb fertig zu haben. Der zweite Anhanger dieser Sekte,
der am meisten gegen den Dienstag hatte reden sollen - ob er
49^ HESPERUS
gleich am wenigsten redete, weil ers nicht konnte und erst kurz-
lich getauft war — , sollte am Freitag zum ersten Male in die Kirche
getragen werden; dieser Anhanger war das Patchen des Gastes.
Der Kaplan wuBte zwar, daB der Mond seinen Gevatterbitter,
den P. Ricciolum, bei den Erden-Gelehrten herumschicke und
sie als Paten seiner Flecken ins Kirchenbuch des Himmels bringe;
aber er dachte, es ist besser, sich seinen Gevatter schon in einer
Nahe von 50 Meilen zu nehmen. Der Aposteltag des Kirchgangs
. und der Festtag der Ankunft des Herrn Gevatters waren also
schon ineinander gefallen ; aber so fuhrte das Wetter (das hubsche) :
den Gevatter vier Tage eher her! -
Der dritte Junger des Freitags war im Grunde der Haresiarch
dieser Partei, der Hofkaplan selber: die Kaplanei, worin Horion
ein einstweiliges Hof lager haben sollte, war ganz voll Ratten,
ordentlich ein Tanzsaal und WafTenplatz derselben, und diesen
wollte der Kaplan sein Haus vorher abjagen. Wenige Hofkaplane,
die Hektik im Leibe und Ratten im Hause hatten, machten daher
so viel Gestank, als dieser in St.Liine gegen die Bestien. Mit
wenigen Wolkendavon waren alle Hofdamen aus Europa hinaus-
zurauchern. Ziindete der Hektiker nicht so viel vom Hufe seines 1
Gaules an, als er davon abgesagt hatte? - Nahm er nicht ein
solches Nagetier selber gefangen und seifte dasselbe mit Wagen-
teer und Fischtran ein und lieB den Arrestanten fort, damit er als
Parias in den Lochern auf- und abginge und Ratten edlerer Kasten
durch sein Salbol zu entlaufen notigte? - Ging er nicht ins GroBe
und nahm gar einen Bock in die Kost, von dem er nichts verlangte,
als daB er stank und den geschwanzten Klausnern miBfiel? - Und
waren nicht alle diese Mittel so gut wie umsonst?
— Denn der Henker relegiere Jesuiten und Ratten ! - Indessen
wird doch den Leuten hier schon auf dem Bogen C die Moral dar- 3
gereicht, daB es gegen beide, so gut wie gegen Zahnschmerzen,
Seelenleiden und Wanzen, tausend gute Mittel gebe, die nichts
helfen.
Wir wollen nun samtlich weiter in die Kaplanei eindringen und
uns um die Eymannische Familien-Geschichte so genau bekum-
mern, als wohnten wir drei Hauser weit von ihr. Horion - der
I. HUNDPOSTTAG 493
Akzent mu6 auf die erste Silbe kommen - oder Sebastian - ver-
kurzt gar Bastian, wie ihn die Eymannischen nannten - oder
Viktor - wie ihn der Lord Horion, sein Vater, nannte (denn ich
heiB* ihn bald so, bald so, wie es grade mein prosaisches Silben-
maB begehrt) - Horion hatte den lieben Pfarrleuten durch den
Italiener Tostato, der fur die ganze Gegend ein wandelnder Auer-
bachs-Hof war, und der auch St.Liine zueilte, die kleine miind-
liche Luge zustellen lassen, er komme am Freitag; er wollte sie
erstlich recht uberraschen, und zweitens wollt* er ihnen verschamt
io die Hande binden, die seinetwegen zuriisten, waschen und auf-
tragen wollten, und drittens dacht* er, eine mundliche Liige sei
doch kleiner als eine geschriebene. Seinem Vater aber schrieb er
die Wahrheit und setzte seinen Eintritt in die Kaplanei auf den
i. Mai oder den Dienstag an. Der Lord hielt sich in der Residenz-
stadt Flachsenfingen auf, wo er dem Fiirsten moralische Augen-
. leder und Augengtdser zugleich anlegte und den Blick desselben
sowohl lenkte als schdrfte; aber er war selber blind, obwohl nur
physisch. Daher mufite sein Sohn einen Augenarzt von Gottingen
mitbringen, der ihn im Hause des Kaplans am Dienstag operieren
20 sollte. Da er seinen Viktor zum Doktor Medicinae machen lieB:
so wunderten sich meines Wissens viele Gottinger daruber, daB
ein so vornehmer Jungling das Doktor-Kopfzeug, diesen Ptutos-
Helm y der nicht, wie der mythologische, den Trager, aber doch
andere unsichtbar macht, aufsetzte und den Doktorring, diesen
Gygesringy der nur andern die Unsichtbarkeit verleiht, ansteckte;
aber war denn den Gottingern die Augenkranklichkeit seines Va-
ters unbekannt oder unzulanglich?
Der Lord schrieb dem Hofkaplan, daB er und sein Sohn mor-
gen kommen wiirden; der Kaplan iiberlas die Hiobs-Post still
jo dreimal hintereinander und steckte sie mit komischer Ergebung
in den Briefumschlag zuriick und sagte : »Wir haben nun hinlang-
liche Hoffnung, daB morgen unser Doktor gewiB eintrifft samt den
andern - hiibschen LusttrefTen und Brunnenbelustigungen sen'
ich entgegen; Frau! wenn der morgen einwandelt und meine ge-
samten Ratten tanzen wie Kinder vor ihm her - zu essen haben
wir ohnehin nichts-und aufzusetzenhab' ich auch nichts, denn vor
494 HESPERUS
Donnerstags jag* ich dem Flachsenfinger Windbeutel 1 nicht einen
Haarbeutel ab... Und du lachst dazu? Wird nicht unsereiner
mitten im April noch in April geschickt?« Aber die Kaplanin fiel
ihm mit doppelten Ausrufzeichen der Freude an die Achsel und
lief sogleich davon, um zu diesem Rosenfeste ihrer guten Seele
die kleine Bruder- und Schwestergemeinde der Kinder zu Ziehen.
Derganze Familienzirkel zerfiel nun in drei erschrockene und in
drei erfreuete Gesichter.
"Wir wollen uns bloB unter die frohen setzen und zuhorchen,
wie sie den Nachmittag als Gesichtma-ler, als Gewandermaler, als 10
Galerieaufseher am Gemalde des geliebten Briten arbeiten. - Alle
Erinnerungen werden zu Hoffnungen gemacht, und Viktor soil
nichts geandert mitbringen als die Statur. Flamin, wild wie eiri
englischer Garten, aber fruchttragender,erquickte sichundandere
mit der Schilderung von Viktors sanfter Treue und Redlichkeit
und von seinem Kopf und pries sogar sein Dichterfeuer, das er
sonst nicht hochschatzte.Aga the erinnerte an seine humoristischen
Rosselspriinge, wie er einmal mit der Trommel eines durch-
passierenden Zahndoktors das Dorf vergeblich vor sein Theater
zusammengetrommelt habe, weil er vorher die ganze fahrende 20
Apotheke dieses redlichen wahren Freund Heins ausgekauft hatte
- wie er oft nach einer Kindtaufe sich auf die Kanzel postieret und
da ein paar andachtige Zuschauer in der Werkeltag-Schwarte so ,
angeprediget habe, daB sie mehr lachten als weinten - und andern
SpaB, womit er niemand lacherlich machen wollte als sich, und
niemand lachend als andere. Weiber billigen es aber nie (sondern
nur Manner), wenn einer wie Viktor zur britischen Ordenzunge
der Humoristen gehoret - denn bei ihnen und Hof lingen ist schon
Witz Laune - das billigen sie nicht, daB Viktor (wie z.B. Swift
und viele Briten) gern zu Fuhrleuten, Hanswursten und Matrosen 30
herunterstieg, indes ein Franzose Iieber zu Leuten von Ton hinauf-
kriechu - Denn die Weiber, die stets den Burger mehr als den
Menschen achten, sehen nicht, daB sich der Humorist weismacht,
alles, was jene Plebejer sagen, souffliere er ihnen, und daB er ab-
sichtlich das unwillkiirliche Komische zu kunstlerischem adelt,
1 Er zielt auf den Essenkehrer seiner Periicken.
I. HUNDPOSTTAG 495
die Narrheit zu Weisheit, das Erden-Irrhaus zum Nationaltheater.
Ebensowenig begriff ein Amtmann, ein Kleinstadter, ein GroB-
stadter, warum Horion seine Leserei oft so jammerlich wahle aus
alten Vorreden, Programmen, Anschlagzetteln von Reisekiinst-
lern, die er alle mit unbeschreiblichem Vergnugen durchlas - bloB
weil er sich vordichtete, diesen geistigen Futtersack, der bloB
unter den Lumpenhacker gehorte, nab' er selber gefertigt und ge-
fullt aus satirischer Riicksicht. — In der Tat, da die Deutschen
Ironie selten fassen und selten schreiben: so ist man gezwungen,
10 vielen ernsthaften Buchern und Rezensionen boshafte Ironie an-
zudichten, um nur etwas zu haben.
- Und das ist ja nichts anders, als was ich selber versuche, wenn
ich bei Terminen in Gedanken die Gerichtstube zum Komodien-
haus erhebe, den Rechtsfreund zum juristischen Le Kain und
Kasperl und die ganze Verhandlung zur alten griechischen Ko-
modie; denn ich raste nicht, bis ich mir weisgemacht, ich hatte den
guten Leuten den ganzen Termin nur einstudieren lassen als Gast-
rolle und ware also wirklich ihr Theaterdichter und Direktor. So
trag* ich im Grunde meinen stummen Kopf munter als ein ko-
zq misches Taschentheater der Deutschen durch deren edelste Be-
hausungen (z. B. der Universitat, der Regierung) und erhohe ganz
im stillen - hinter der herabgelassenen Gardine der Gesichthaut-
Komisches der Natur zu Komischem der Kunst. —
Ich komme zuriick. Die Kaplanin erzahlte nun so viel von Vik-
tor, als alle schon wuBten. Aber dieses Wiederholen der alten Ge-
schichte ist eben der schonste Reiz des kauslichen Gesprachs. Wenn
wir siiBe Gedanken uns selber oft ohne Langweile wiederholen
konnen, warum soil sie nicht auch der andere ofters in uns er-
wecken diirfeh? - Die gute Frau schilderte ihren Kindern, wie
30 sanft und weich, wie zartlich und weiblich ihr lieber Sohn sei
(denn Viktor nannte sie immer seine Mutter) - wie er sich uberall
auf sie verlieB - wie er immer scherzte, ohne jemand zu necken,
und immer alle Menschen, sogar die fremdesten, liebte - und wie
sie vor ihm besser als vor irgendeiner Matrone ihr gedrucktes
Herz aufschlieBen konnte und wie gern er mit ihr weinte. - Ein
Hofapotheker mit einem Bimsstein-Herz -Zezwe/schreibter sich
49<> HESPERUS
- sah dieses ZerflieBen der warmsten Seele sogai einmal fur eine
Tranenfistel an, weil er glaubte, keine andere Augen konnten
weinen als kranke. . . . Lieber Leser, ist dir jetzo nicht wie dem
Lebensbeschreiber, der nun den Eintritt dieses guten Viktors in
die Kaplanei und Lebensbeschreibung kaum erwarten kann ? Wirst
du ihm nicht die freundschaftliche Hand reichen und sagen;
»Willkommen, Unbekannter! - Siehe, dein weiches Herz offnet
unseres schon unter der Schwelle! O du Mensch mit Augen voll
Tranen, glaubst denn du auch wie wir, daB in einem Leben, dessen
Ufer vollhangen von Erschrocknen, die sich an Zweige, von Ver- 10
zweifelten, die sich an Blatter halten, daB in einem solchen Leben,
wo uns nicht bloB Torheiten,sondern auch Schmerzen umzingeln,
der Mensch ein nasses Auge bewahren miisse fur rote, ein be-
klommenes Herz fur ein blutendes, und eine leise Hand, die den
schweren dicken Leidenkelch dem Armen, der ihn leeren muB,
trauernd halt und langsam nachhebt? - Und wenn du so bist: so
rede und lache, wie du willst; denn die Menschen soil keiner be-
lachen als einer, der sie recht herzlich liebt.« —
Nachmittags schickte der Obrist-Kammerherr Le Baut - ein
gewtirzhaftes Blatterskelett - den Laufer Seebafi zum Kaplan und 2C
lieB ihn ersuchen - denn das SchloB lag der Kaplanei nahe gegen-
iiber — , den Bock nur so lange wegzustellen, bis sich der Wind
drehte, weil seine Tochter kame. »Trauter Herr SeebaB!« (ant-
wortete geriihrt der Ratten-Kontroversist) »meinen untertanigen
Empfehl wieder, und Sie sehen mein Elend. Morgen erfreuen
mich der Lord und sein Sohn und sein Augenarztmitihrer Gegen-
wart, und der Star wird hier gestochen. Nun stinkt gegenwartig
das ganze Haus, und die Ratten setzen ihren Nachttanz noch ge-
lassen im Geruche fort; ich beteure Ihnen, Herr SeebaB, wir
konnen Teufelsdreck nehmen und damit die Kaplanei bis zum 3 <
Dachstuhl ausfiittern, nicht einen Schwanz treiben wir dadurch
fort; es gefallt ihnen vielmehr. Ich meines Ortes riiste mich schon
darauf, daB sie morgen unter dem Stiche an dem Starstecher und
an dem Patienten hinaufspringen. - So erging' es uns alien, mel-
den Sie im Schlosse, aber heute wollt* ich noch vortreffliches
Rosenholzol versuchen.«
I. HUNDPOSTTAG 497
Er holte also einen groGen Hopfensack und zerrte ihn unters
Dach hinauf, urn da im eigentlichen Sinne die Ratten bei der Nase
herumzufuhren in den Hopfensack hinein. Bekanntlichsind Ratten
so arg ersessen auf Rosenholzol als Menschen auf Salbol, das, so-
bald nur sechs Tropfen auf den Scheitel fallen, auf der Stelle einen
Konig oder Bischof daraus macht, welches ich daraus sehe, weil
im ersten Fall ein goldner Reif um die Haare anschieBt und im
zweiten sie gar ausgehen. Der Wehrstand, der Kaplan, iiber-
spriitzte den Sack mit einigem 01 und legte ihn mit seiner Mun-
io dung aufgesperrt und aufgespannt fur die Feinde hin - er selber
stand darhinter und hielt sich hinter einem ebenso eingeolren
Ofenschirm versteckt. Seine Absicht war, hervorzufahren, wenn
die Bestien im Sack saBen, und die ganze Rotte dann wie Bienen
im Schwarmsack wegzutragen. Die wenigen Kammerjager, die
mich lesen, mussen diese Fangart haufig gebraucht haben. -
Aber sie werden nicht dariiber hingepurzelt sein wie der Ka-
plan, dem sich der wohlriechende Ofenschirm zwischen die Schen-
kel stiilpte, und der still lag, wahrend der Feind lief. In einer
solchen Lage labt den Menschen der Pralltriller eines Fluches.
20 Nachdem also der Kaplan einige solcher Triller und Mordanten
geschlagen, sich zur Familie hinabbegeben und ihr im Vorbei-
gehen gesagt hatte : »wenn es im gemaBigten Erdstrich einen gabe,
der von den Windeln an ein Trauerpferd zuritte, der ansassig
ware in Hattos zweitem Mauseturm und in einem Raspelhause
aus Amsterdam und in der Vorholle, wenns so einen Diszipli-
nanten gabe, von dem ihn nur wunderte, wie er noch am Leben
sei: so war* ers allein und weiter kein Teufel« - nachdem er das
heraushatte: so lieB er die Ratten ruhig und — wurd* es selber
recht sehr.
50 In der Nacht fiel nichts Denkwiirdiges vor, als daB er — auf-
wachte und herumhorchte, ob nichts Geschwanztes rumore, weil
er willens war, sich satt zu argern. Da gar nichts von den Bestien
zu vernehmen war, nicht einmal ein Seitensprung: so setzte er
sich auf den FuBboden heraus und preBte das Spionenohr an
diesen. Sein Gliick wollte, daB gerade jetzt die Bewegungen des
Feindes mit Balletten und Galoppaden in sein Gehor einplumpten.
498 HESPERUS
Er brach auf, waffhete sich mit einer Kindertrommel und weckte
seine Frau mit dem Lispeln auf: »Schatz, schlaf wieder ein und
erschrick im Schlafe nicht: ich trommel* ein wenig gegen die
Ratten; denn vonder ZwickauerSammlungnutzlicherBemerkun-
gen fur Stadt- und Landwirtschaft 1785 wird mirs angeraten.«
Sein erster Donnerschlag gab seinen Erbfeinden die Ruhe, die
er seinen Blutfreunden nahm. . . . Da ich aber alle Menschen jetzt
instand gesetzt, sich den Kaplan im Hemd und mit dem Hackbrett
der Soldateska vorzustellen : so gehen wir lieber ans Bette seines
Sohnes Flamin und geben acht, was dieser darin macht. ... ic
Nichts; aber auBer demselben macht er einen Ritt jetzo so spat
und noch dazu ohne Sattel und Weste. Er, dessen Brust eine Aols-
Hohle voll gedriickter Sturme war — jeder gescheite Protono-
tarius in Wetzlar wurde seinen Fischkopf oder Rebhuhnfliigel
reiner abschalen oder sein Samt-Knie reiner abbursten als er — ,
dieser wuBte unmoglich langer auf einem Kopfkissen zu ver-
bleiben, dem heute eine Trommel so nahe kam und morgen ein
Freund. Einen andern freilich (wenigstens den Leser und mich)
wiirde die durchsichtige Nacht, womit sich der April beschloB,
die weite Stille, auf welche die Trommelstocke schlugen, die «
Sehnsucht nach dem Geliebten, mit welchem der Morgen wieder
das ode Herz und das zerstuckte Leben erganzte, alles dieses
wiirde uns beide mit sanften Bebungen und Traumen erfullet haben
- den Kaplans-Sohn aber warf es auf den Gaul hinauf und in die
Nacht hinaus; seine geistigen Erd-Erschiitterungen legten sich
nur unter einem korperlichen Galopp.
Er sprengte uber den Hugel, auf dem er morgen sich mit seinem
Horion wieder verknupfen wollte, zehnmal hinauf und hinab. Er
fluchte und donnerte auf alle seine Leidenschaften - freilich mit
Leidenschaft — , die bisher die Beinsage an ihre verbundnen 3c
Freundschafthande angelegt hatten : »0 wenn ich dich nur wieder
habe, Sebastian,« (sagt' er und riB den Gaul herum) »so will ich so
sanft sein, so sanft wie du, und dich niemals verkennen, oder das
Donnerwetter soil mich hier auf dem Platze....« Beschamt uber
den eiligen Widerspruch ritt er bloB im PaB nach Hause.
Seine Sehnsucht nach seinem wiederkehrenden Freunde druckt'
I. HUNDPOSTTAG 499
er im Stalle dadurch aus, daB er die Scheitelhaare hinaufstiilpte,
den Zopf wie die vierte Geigensaite anzog und dem Schliissel des
Futterkastens den Bart abdrehte. . . .
Nur ein Mensch, der nach einem Freunde gerade so wie nach
einer Freundin schmachtet, verdienet beide. Aber es gibt Men-
schen, die aus der Erde gehen, ohne jedaruber betriibt oder besorgt
gewesen zu sein, dafi sie niemand darin geliebt hatte. Derjenige, der
nach dem Kommer^tentraktat des Eigennutzes, nach dem gesell-
schaftlichen Vertrag der Hoi lichkeit, sogar nach dem Gren{- und
o Tauschvertrag der Liebe nichts Hoheres kennt, ein solcher -ich
wollt' aber, er hatte mich gar nicht vom Verleger.verschrieben -,
dessen fahles Herz nichts weiB von der Bruderunitat befreundeter
Menschen, vom Ineinanderverzweigen ihrer edlern GefaBe und
von ihrer Eidgenossenschaft in Streit und Schmerz ich sen*
aber nicht, weswegen ich von diesem Tropfe so lange rede, da er
nicht einmal in Flamins Sehnen sich hineinzufuhlen weiB, der ein
Iiebendes, achtendes Auge begehrte, weil seine Fehler und seine
Tugenden in gleichem MaBe abstieBen; denn bei andern Men-
schen machen wenigstens entweder die Flecken die Strahlen gut,
o oder die Strahlen die Flecken. —
BloB in furstlichen Pferdestallen ist das Getose fruher und
lauter, als das in der Kaplanei am ersten Wonnemonat war. Ich
frage die erste beste Leserin, ob es je mehr zu bohnen und zu
sieden geben kann als an einem Morgen, wo ein Lord mit dem
Star erwartet wird und sein Sohn dazu und ein Stars techer. Die
mannlichen Rasttage fallen allezeit in die weiblichen Raspeltage;
Vater und Sohn gingen gelassen dem Doktor und dem Stecher
entgegen.
Der erste Mai fing sich, wie der Mensch und seine Weltge-
,o schichte, mit einem Nebel an. Der Friihling, der RafFael der
Norderde, stand schon drauBen und iiberdeckte alle Gemacher
unsers Vatikans mit seinen Gemalden. Ich nab* einen Nebel lieb,
sobald er wie ein Schleier vom Angesicht eines schonen Tages
abgleitet, und sobald ihn groBere als die vier Fakultaten machen.
Wenn er (der am i. Mai war so) wie ein Zugnetz Gipfel und Bache
uberflicht - wenn die herabgedriickten Wolken auf unsern Auen
5<X> HESPERUS
und durch nasse Stauden kriechen - wenn er auf der einen Welt-
gegend den Himmel mit einem Pech-Brodem besudelt und den
Wald mit einer unreinen schweren Nebelbank bestreift, indes er
auf der andern, abgewischt vom nassen Saphir des Himmels, in
Tropfen verkleinert, die Blumen erleuchtet; und wenn dieser
blaue Glanz und jene schmutzige Nacht nahe aneinander voriiber-
ziehen und die Platze tauschen : wem ist alsdann nicht, als sah' er
Lander und Volker vor sich liegen, auf denen giftige und stinkende
Nebel in Gruppen herumziehen, die bald kommen, bald gehen? -
Und wenn ferner diese wei.Be Nacht .mein schwermutiges Auge i
mit dahinfliegenden Dunststromen, mit irrenden zitternden Duft-
. staubchen umzingelt: so erblick* ich trube in dem Dunst das
Menschenleben abgefarbt, mit seinen zwei groBen Wolken an
unserm Auf- und Untergange, mit seinem scheinbar lichten
Raume um uns, mit seiner blauen Miindung iiber uns
Der Doktor kann auch so gedacht haben, aber nicht Vater und
Sohn, die ihm entgegengehen. Flamin wird starker von der ent-
fernten als nahen Natur, mehr von der grofien als kleinen ge-
riihrt, so wie er mehr fur den Staat als die Wohnstube Gefiihl hat,
und sein innerer Mensch windet sich am liebsten an Pyramiden ;
empor, an Gewittern, an Alpen. Der Kaplan genieBet bei der
ganzeri Sache nichts als - Maibutter, und aus seinem Munde geht
bei so vielem moralischen Apparate nichts als - Speichel, beides,
weil er befahrt, der Dampf fress' ihn an und zerbeiBe seinen
Schlund und Magen.
Als sie vom Hiigel des nachtlichen Galopps in ein mit Nebel-
dampf verschiittetes Tal einschritten, zogen ihnen daraus drei
Garnisonregimenter im Doppelschritt entgegen. Jedes Regiment
war vier Mann stark und ebenso hoch- ohne Pulver und Schuhe
~ aber versehen mit fein durchbrochnen Schenkel-Manschetten, ;
namlich mit porosen Hosen, und iiberflussigen Offizieren, weil
keine Gemeine dabei waren. Da ich jetzt in meiner Beschreibung
gar dazu setze, daB beide Stabe, sowohl der Regiment- als der
Generalstab, iiber 600 Kanonen in der Tasche hatten und tiber-
haupt einen ganzen Artillerie-Zug, und daB die Prima Plana ganz
neue, im Kriege ungewohnliche^e/^ Kugeln,'die eher aufkeimten
I.HUNDPOSTTAG 501
als das von Wilden gesaete SchieBpulver, mit der Zunge in die
Flinten steckte: so wuird' ich (ich befiirchte das) die Leser, zumal
die Leserinnen - um so mehr, da ichs noch nicht erraten lasse,
warens Soldaten-Eltern oder, Soldaten-Jungen - ein wenig zu
angstlich machen, wenn ich gar eintunken und vollends den ver-
jdrieBlichen Umstand, daB die Truppen auf den benebelten Hof-
kaplan Feuer zu geben anfingen, hinzu erzahlen wollte, ohne
spornstreichs schon vorher mit der Nachricht vorzusprengen, daB
hinter'der Armee eine Mannstimme rief: Halt!
10 Herausfuhr aus dem letzten TrefFen der Generalfeldmarschall,
der gerade noch einmal so lang war als sein Stuckleutnant - mit
rundem Hut, mit fliegenden Armen und Haaren sturzt' er sich
wiitend auf Flamin zu und erpackte ihn, um ihn umzubringen —
aus HaB weniger als aus Liebe - der Doktor wars - die beiden
Freunde lagen zitternd ineinander, Gesicht in Gesicht gehiillt,
Brust von Brust zurtickgedriickt, mit Seelen ohne Freudenworte,
aber nicht ohne Freudentranen - die erste Umarmung endigte sich
mit einer zweiten -- die ersten Laute waren ihrezwei Namen —
Der Kaplan privatisierte neben der Armee und stand verdrieB-
20 lich auf seinem Isolierschemel mit dem leeren Halse, um den nichts
fiel. »Umhalset euch nur noch einen Augenblick« - sagte er und
wandte sich halb um - »ich muB mich nur dort ein biBchen an die
Haselstaude stellen, will aber gleich wieder da sein und auch auf
meiner Seite den Herrn Doktor mit tausend Freucjen umarmen.«
- Aber Horion verstand den Unwillen der Liebe, er flog aus des
Sohnes Armen in die des Vaters und verweilte lange darin und
machte alles wieder gut.
Mit befriedigter Liebe, mit tanzenden Herzen, mit schwelgen-
den Augen, unter dem aufgebliihten Himmel und iiber den
30 Schmuck der, Erde - denn der.Fruhling hatte sein Schmuck-
kastchen aufgeschlossen und bluhende Juwelen in alle Taler und
auf alle Hugel und bis weit an die Berge geworfen - wandelten
beide selig dahin, und- die britische Hand preBte die deutsche.
Sebastian Horion konnte nichts sagen zu Flamin, aber er sp'rach
mit dem Vater, und jeder gleichgultige Laut machte den mit Blut
und Liebe iiberhauften Busen freier.
502 HESPERUS
Die drei Regimenter hatte jeder aus dem Kopfe verloren; aber
sie waren selber dem Generalfeldmarschall gehorsam nachmar-
schiert. Sebastian, zu menschenfreundlich, um jemand zu ver-
gessen, drehte sich gegen den Nachtrab von kleinen Ohnehosen
herum, die nicht aus Paris, sondern aus Flachsenfingen waren und
als bettelnde Soldatenkinder ihn begleitethatten:»MeineKinder,«
(sagt' er und sah nichts an als sein stehendes Heer) »heute ist fur
euren Generalissimus und euch der merkwiirdige Tag, wo er drei
Dinge tut - Ich dank' euch erstlich ab, aber meine Reduktion soil
euch so wenig wie eine furstliche hindern, zu betteln - zweitens 10
bezahr ich euch den riickstandigen Sold von drei Jahren, nam-
lich jedem Offizier das Traktement von zwei Siebzehnern, weil ,
man jetzo die Gage erhohet hat — drittens lauft morgen wieder
her, ich lasse den samtlichen Regimentern Hosen anmessen.fl
Er kehrte sich gegen den Kaplan und sagte: »Man sollte Iieber
Sachen verschenken als Geld, denn die Dankbarkeit fur dieses
wird zugleich mit diesem ausgegeben, aber in einem Paar ver-
ehrten Hosen halt der Dank so lang wie sein Oberzug selber.«
Das Schlimme dabei wird nur sein, daB der flachsenfingische
Furst und sein Kriegkollegium sich zuletzt in die Hosen mengen, 20
da beide unmoglich verstatten konnen, daB regelmaBige Truppen
mehr auf als in dem Leibe haben, namlich etwas. In unsern Tagen
sollt' es endlich dem dummsten Montierung- und Proviant-
kommissar einleuchten - aber in der Tat gibt es kluge -, 1) dafl
unter zwei Soldaten der hungrige stets dem satten vorzuziehen
sei, weil schon von ganzen Volkern bekannt ist, daB sie desto
tapferer sind, je weniger sie haben - 2) daB, so wie in Blotzheim 1
unter zwei gleich tugendhaften Junglingen der armere gekront
wird, ebenso der arme Untertan billig dem reichen trotz aller
gleichen Tapferkeit dennoch .vorgezogen und allein angeworben 5 o
werde, weil der arme Teufel besser mit Hunger und Frost be-
kannt ist - daB 3) jetzt, da auf alien Stufen des Throns wie auf
Wallen Kanonen stehen (wie die Sonne ihren Glanz von tausend
speienden Vulkanen empfangt) und da in einem guten Staate das
1 Im obern Elsa8, v/o alle drei Jahre bloB der beste Jiingling Kranz und
Schaumunze und die Verwaltung der Aue empfangt.
I.HUNDPOSTTAG 503
mannliche Stammholi zu Lactstocken abgetrieben wird, das Volk
mit Nutzen in zweierlei Hausarme zerfalle, in beschiitzte und in
schiitzende — Und 4) soil der Teufel den holen, der murrt. —
Als meine drei geliebten Menschen endlich vor der Kaplanei
ankamen, war das ganze aufgeloste Heer ihnen heimlich nachge-
riickt und wollte die Hosen. Aber noch etwas GroBeres war ihnen
aus Flachsenfingen nachgefahren - der blinde Lord. Kaum hatte
den jungen Gast die Britin nicht hoflich, sondern freudig herein-
gelachelt, kaum hatte Agathe zum erstenmal ernsthaft sich hinter
10 die Mutter, und die alte Appel sich hinter die Kochtopfe ver-
steckt: so tat der aufraumende Eymann einen langen Sprung vom
Fenster hinweg, an welches vier Englander - kerne Auslander,
sondern Pferde - herantrabten. Jetzt hel erst alien die Frage ein,
wo der Augenarzt sei; und Sebastian hatte kaum die Zeit, darauf
zu antworten, es komme keiner nach, denn er selber operiere
seinen Vater. In den engen Zwischenraum, den sich der Vater von
der Wagenture zur Stubentiire durchfuhren lieB, muBte der Sohn
die Luge drangen, oder vielrriehr die Bitte um die Luge, die die
Familie^Seiner Herrlichkeit anhangen sollte, »der Sohn ware noch
10 nicht da, sondern bloB der Okulist, dem der letzte SchlagfluB die
Sprache genommen«.
Ich und der Leser stehen unter einem solchen Gedrange von
Leuten, daB ich ihm noch nicht einmal so viel sagen konnen, daB
der Doktor Kuhlpepper dem Lord das linke Auge mit der plum-
pen Starnadel so gut wie ausgestochen; - um also das rechte des
geliebten Vaters zu retten, hatte Sebastian sich auf die Kur jener
Verarmten gelcgt, die schon mit den Augen im Orkus wandeln,
und nur noch mit vier Sinnen auBerhalb des Grabes stehen. -
Als der Sohn die teure, mit einer so langen Nacht bedeckte
30 Gestalt, fur die es kein Kind und keine Sonne mehr gab, er-
blickte: so schob er sein Hand, deren Puis von Mitleid, Freude
und HofFnung zitterte, der Eymannischen unter und reichte sie
eilend hin und druckte die vaterliche unter dem fremden Namen.
Aber er muBte zur Haustiire wieder hinaus, damit seine bebende
Retterhand auszitterte, und er hielt drauBen das vor HofTnung
pochende Herz mit dem Gedanken an, daB die Operation nicht
504 HESPERUS
geraten werde - er sah lachelnd an dem zwolfspannigen Kadetten-
korps auf und ab, damit die Ruhrung und die Sehnsucht aus der
bewegten Brust entwichen. Drinnen hatt* unterdes die Kaplanin
aus dem Blinden einen noch Blindern gemacht und ihm vorge-
logen quantum satis ; sobald eine Luge, pia fraus, ein -dolus bonus,
eine poetische und juristische fictio auszufertigen ist: so stellen
sich die Weiber von selber als expedierende Sekretare und Hof-
buchdruckerinnen hinzu und helfen dem ehrlichen Mann. »Ich
wiinschte sehr,« - sagte der Vater beim Eintritt des Sohnes-»die
Operation ginge jetzo vor sich, ehe mein Sohn angekommen ist.« 10
Die Kaplanin holte den beklommenen Sohn zuriick und entdeckte
ihm den vaterlichen Wurisch. Er trat leise unter die verlegene Ge-
seUschaft. Das Zimmer wurde verschattet, die Starlanzettevorge-
holt und das kranke Auge festgemacht. Alles stand mit banger
Aufmerksamkeit um den ruhigen Blinden. Der Kaplan guckte mit
einer lacherlichen Angst und Qual auf das schlafende Wochen-
kind, um mit ihm bei dem kleinsten Schrei sogleich aus dem
Starstechzimmer hinauszulaufen. Agathe und Flamin hielten sich
weit vom Patienten, und beide mit gleichem Ernst. Die edle
Mutter Flamins naherte sich mit ihrem von Freude und Sorge und 20
Liebe zugleich ergriffenen Herzen und mit ihren iiberflieBenden
Augen, die dem erschiitterten Herzen gehorchten. Viktor weinte
bang und froh neben dem stummen Vater, aber er zerquetschte
heftig jeden Tropfen, der ihn storen konnte. - So teilt jede Ope-
ration durch das Steigen der Zurustungen dem Zuschauer Herz-
klopfen und Bangen mit. Nur der verhullte Brite - ein Mensch,
der sein Haupt wie ein hohes Gebirge kalt und heiter uber
eine Feuerzone hob - dieser hielt der kindlichen Hand ein
schweigendes Angesicht ohne Zuckung vor; er blieb vor dem
Schicksal gefaBt und stumm, das jetzt entscheiden wollte, ob 30
seine ode Nacht langen sollte bis ans Grab, oder nur bis an diese
Minute —
Das Schicksal sagte: es werde Licht, und es ward. - Das un-
sichtbare Schicksal nahm eines Sohnes angstliche Hand und schloB
damit ein Auge auf, das einer schonern Nacht als dieser ungestirn-
ten wiirdig war: Viktor driickte die reife Starlinse- diese auf die
I. HUNDPOSTTAG 505
Schopfung geworfene Dampfkugel und Wo Ike - in den Boden des
Augapfels hinab; und so, da ein Atom drei Linien tief versenket
war, hatte ein Mensch die UnermeBlichkeit wieder und ein Vater
den Sohn. Gedriickter Mensch ! der du zugleich ein Sohn und ein
Kneckt des Staubes bist, wie klein ist der Gedanke, die Minute,
der Bluts- oder der Tranentropfen, der dein weites Gehirn, dein
weites Herz uberschwilltl Und wenn ein paar Blutkiigelchen bald
deine Montgolfiers-Kugeln, bald deine Belidors-Druckkugeln
werden, ach wie wenig Erde ist es, die dich hebt und driickt! -
10 »Viktor! du? - Du hast mich geheilt, mein Sohn?« (sagte der
errettete Mensch und nahm die noch mit dem Arbeitzeuge be-
waffnete Hand) - »Leg weg und bind mich wieder zu ! Ich freue
mich, daB ich dich zuerst sah.« - Der Sohn konnte vor Running
nicht. - »Verbinde mich! das Licht schmerzt. - Du warst es?
Rede!« - Er band stumm das geoffnete Auge unter den frohen
Tranen des seinigen wieder zu. Als aber der Verband der schonen
stoischen Seele alles verdeckte, seine Errotung und seine Er-
gieBung: so wars dem zu gliicklichen Sohne nicht mehr moglich,
- sich langer zu fassen - er uberlieB sich seinem Herzen und klam-
20 merte sich mit seinen Tranen an das umhullte Angesicht, dem er
hellere Tage wiedergegeben hatte; und als er an seiner zitternden
Brust die schnellern Schlage des vaterlichen Herzens und die
festere Umarmung des Dankes fuhlte: dann war das beste Kind
das gliicklichste Kind. - Und alle waren uber seine Freude froh
und wiinschten mehr dem Sohne als dem Vater Gluck —
Zwolf Kanonen gingen drauBen los aus ebenso vielen Stuben-
schliisseln — Sie erschieBen diese Historic —
Denn jetzt ist sie wahrlich aus - nicht ein Wort, nicht eine
. Silbe weiB ich mehr - ich habe uberhaupt in meinem Leben gar
30 keinen Horion und kein St. Liine gesehen oder gehort oder ge-
traumt oder nur romantisch ersonnen - der Teufel und ich wissen,
wie es ist,- und ich meines Orts habe ohnehin jetzt bessere Dinge zu
machen und zu eroffnen, namlich:
506 HESPERUS
Die Ouverture und die geheime Instruktion
Ein andrer hatte dumm gehandelt und gleich mit dem Anfang
angefangen; ich aber dachte, ich konnte allemal noch sagen, wo
ich hause - im Grunde am Aquator; denn ich wohne auf der Insel
St.Johannis, die bekanntlich in den ostindischen Gewassern liegt,
die ganz vom Fiirstentum Scheerau umgeben sind. Es kann nam-
Iich guten Hausern, die ihre ordentliche literarische Strazza (den
MeBkatalog) und ihr ordentliches Kapitalbuch (die Literatur-
zeitung) halten, nichts weniger unbekannt sein als mein neuestes
Landeserzeugnis, die unsicktbareLoge;em Werk,zudessenLesung i
mein Landesherr seine Landeskinder und selber die Schriftsassen
(es ware nicht ausdriicklich gegen die Rezesse) noch mehr noti-
gen sollte als. zum Besuche der Landesuniversitat. In diese Loge
nab* ich nun den auBerordentlichen Teich gesetzt, welcher unter
dem Namen ostindischer Ozean bekannter isr, und in den wir
Scheerauer die wenigen Molukken und andere Inseln hineinge-
fahren und -geflastert haben, auf denen unser Aktivhandel ruht.
Wahrend daB die unsichtbare Loge in eine sichtbare umgedruckt
wurde, haben wir wieder eine Insel verfertigt - das ist die Insel
St. Johannis, auf der ich jetzt hause und spreche. 20
Der folgende Absatz durfte anziehend werden, weil man darin
dem Leser aufdeckt, warum ich auf dieses Buch den tollen Titel
setzte: Hundposttage.
Es war vorgestern am 29. April, daB ich abends auf- und ab-
ging auf meiner Insel - der Abend hatte sich schon in Schatten
und Nebel eingesponnen - ich konnte kaum auf die TeMor-Insel
hinubersehen, auf dieses Grabmal schoner untergesunkner Friih-
linge, und ich hiipfte mit dem Auge bloB auf den nahen Laub-
und Blutenknospen herum, diesen Flugelkleidern des wachsenden
Fruhlings - die Ebene und Kiiste um mich sah wie eine Anzieh- 5 o
stube der Blumengottin aus, und ihr Putzwerk lag zerstreuet und
verschlossen in Talerri und Stauden herum - der Mond lag noch
hinter der Erde, aber sein Strahlen-Springbrunnen sprtitzte schon
am ganzen Rande des Himmels hinauf- der blaue Himmel war
endlich mit Silberflittern durchwirkt, aber die Erde noch schwarz
I. HUNDPOSTTAG 507
von der Nacht gemalt - ich sah bloB in den Himmel. . . als etwas
platscherte auf der Erde. . . .
Ein Spitzhund tats, der in den indischen Ozean gesprungen
war und nun losdrang auf St. Johannis. Er kroch an meine Kiiste
hinauf und regnete wedelnd neben mir. Mit einem blutfremden
Hunde ist eine Unterredung noch saurer anzuspinnen als mit
einem Englander, weil man den Charakter und Namen des
Viehes nicht kennt. Der Spitz hatte etwas mit mir vor und
schien ein Bevollmachtigter zu sein. Endlich machte der Mond
jo seine Strahlen-Schleuseri auf und setzte mich und den Hund unter
Licht.
»Sr. Wohlgeboren
des Herrn Berg-Hauptmann 1 Jean Paul
auf
Fret St. Johannis.«
Diese Aufschrift an mich hing vom Halse der Bestie herunter
und war an eine Kiirbisflasche, die ans Halsband gebunden war,
angepicht. Der Hund willigte ein, daB ich ihm sein Felleisen ab-
streifte, wie den Alpenhunden ihren tragbaren Konvikttisch. Ich
» zog aus dem Kurbis, der in Marketenderzelten oft mit Geist ge-
fullt worden, etwas heraus, was mich noch besser berauschte -
ein Biindel Briefe. Gelehrte, Verliebte, MiiBige und Madchen sind
unbandig auf Briefe erpicht; Geschaftleute gar nicht.
Das ganze Biindel - Name und Hand waren mir fremd - drehte
sich um den Inhalt, ich ware ein beruhmter Mann und hatte mit
Kaisern und Konigen Verkehr', und Berghauptmanner meines
Schlages gab' es wohl wenig, u. s. w. Aber genug ! Denn ich mii Bte
nicht eine Unze Bescheidenheit mehr in mir tragen, wenn ich mit
1 Es ist bekannt, wie wenig ich vom Bergwesen verstehe; ich habe daher
30 Ursache zu haben geglaubt, bei meinen Obern um einen Sporn anzuhalten,
der mich antriebe, daB ich in einer so wichtigen Wissenschaft etwas tate -
und so ein Sporn ist eine Berghauptmannstelle allemal.
* AuBer den zwei Kaisern Silluk und Athnach und den vier Konigen Sgol-
ta, Sakeph Katon etc. bin ich weiter mit keinen umgegangen; und das nur als
Primaner, weil wir Juristen mit Teufels Gewalt hebraisch lernen muBten;
worin eben die gedachten sechs Potentaten als Akzente der Worter vor-
kommen. Vielleicht meint aber der Briefs teller die groBen, scharfen, gekron-
ten Akzente der Volker.
508 HESPERUS"
der Unverschamtheit, die einige wirklich haben, so fort exzer-
pieren und es aus den Briefen extrahieren wollte, daB ich der
scheerauische Gibbon und Moser ware (zwar im biographischen
Fache nur, aber welche Schmeichelei !) - daB jeder > der ein Leben
besaBe und es von mir biographisch abgeschattet sehen wollte,
damit fortmachen sollte, ehe ich von irgendeinem koniglichen
Hause zum Historiographen weggepresset wiirde und gar nicht
mehr zu haben ware - daB es mir gleichwohl wie andern Berghaupt-
leuten ergehen konnte, vor denen das zerstreuete Publikum oft
nicht eher den Hut abgenommen, als bis sie schon in eine andere -io
Gasse, d.h. Welt, hinein gewesen, u.s.w. Wer besorgt^ letztes
mehr als ich selber? Aber auch diese Besorgnis bringt einen be-
scheidnen Mann nicht dazu, daB er hinabkriecht und den Ein-
blaser seines Lobredners macht; wie ich doch getan haben wurde,
wenn ich fort ausgezogen hatte. MeinemGefuhle sind sogar die
Schriftsteller verhaBt, die mit dem Endtriller: »Bescheidenheit
verbiete ihnen, mehr zu sagen« unverschamt erst dann nach-
kommen, wenn sie alles schon gesagt haben, was jene verbieten
kann.
Jetzo wagt sich der Korrespondent mit seiner Absicht hervor, 20
mich zum Lebensbeschreiber einer ungenannten Familienge-
schichte zu machen. Er bittet, er intrigieret, er trotzt. »Er konne«
- (schreibt er weitlauftiger, aber ich abbreviere alles und trag*
iiberhaupt diesen Briefauszug mit auBerordentlich wenig Ver-
stand vor; denn ich werde seit einer halben Stunde von einer ver-
dammten Ratten-Bestie ungemein argerlich gekratzt und genagt)
-»mir alles gerichtlich dokumentieren,durfe mir aber keine andere
Namen der Personagen in dieser Historie melden als verfalschte,
weil mir nicht ganz zu trauen sei - er klare mir schon alles mit der
Zeit auf- denn an dieser Geschichte und deren Entwicklung ar- 30
beite das Schicksal selber noch, und er handige mir hier nur die
Schnauze davon ein und werde mir ein Glied nach dem andern,
so wie es von der Drechselbank der Zeit abfalle, richtig iiber-
machen, bis wir den Schwanz hatten - daher werde der briefliche
Spitz regelmafiig weg- und anschwimmen wie eine poste aux
anes, aber nachschifFen durf ' ich dem Brieftrager nicht - und so«
1. HUNDPOSTTAG 509
(schlieBet der ^Correspondent, der sich Ane/unterzeichnet) »werde
mir der Hund wie ein Pegasus so viel Nahrungsaft zutragen, daB^
ich statt des dunnen VergiBmeinnichts eines Almanachs einen
dicken Kohlstrunk von Folianten in die Hohe zoge.«
Wie glucklich er seine Absicht erreicht habe, weiB der Leser,
der j a eben aus dem ersten Kapi tel dieser Geschichte herkomrnt, das
der Spitz von Eymanns Ratten bis zur Kanonade auf einmal in der
Flasche hatte. -
Ich schrieb Herrn Knef nur so viel im Kiirbis zuriick: »Etwas
to Tolles schlag* ich selten ab. - Ihre Schmeicheleien wiirden mich
stolz machen, wenn ichs nicht schon ware; daher schaden
Schmeichler wenig. - Ich finde die beste Welt bloB im Mikrokos-
mus ansassig, und mein Arkadien langt nicht uber die vier Gehirn-
kammern hinaus; die Gegenwart ist fur nichts als den Magen des
Menschen gemacht; die Vergangenheit besteht aus der Geschichte,
die wieder eine zusammengeschobene, von Ermordeten bewohnte
Gegenwart, und bloB ein Deklinatorium unsrer ewigen waag-
rechten Abweichungen vom kalten Pole der Wahrheit, und ein
Inklinatorium unsrer senkrechten von der Sonne der Tugend ist -
jo Es bleibt also dem Menschen, der in sich gliicklicher als auBer
sich sein will, nichts iibrig als die Zukunft oder Phantasie, d.h.
der Roman. Da nun eine Lebensbeschreibung von geschickten
Handen leicht zu einem Roman zu veredeln ist, wie wir an Vol-
tairens Karl und Peter und an den Selbstbiographien sehen : so
ubernehm' ich das biographische Werk, unter der Bedingung,
daB darin die Wahrheit nur meine Gesellschaftdame, aber nicht
meine Fiihrerin sei.
In Besuchzimmern macht man sich durch allgemeine Satiren
verhaBt,weil sie jeder auf sich ziehen kann; personliche rechnet
30 man zu den Pflichten der Medisance und verzeiht sie, weil man
hofft, der Satiriker falle mehr die Person als das Laster an. In
Biichern aber ist es gerade umgekehrt, und es ist mir, falls einige
oder mehrere Spitzbuben in unsrer Biographie, wie ich hoffe,
Rollen haben, das Inkognito derselben ganz Iieb. Ein Satiriker ist
hierin nicht so unglucklich wie ein Arzt. Ein lebhafter medizi-
nischer Schriftsteller kann wenige Krankheiten beschreiben, die
5IO HESPERUS
nicht ein lebhafter Leser zu haben meine ; dem Hypochondristen
impfet er durch seine historischen Patienten ihre Wehen so gut
ein, als wenn er ihn ins Bette zu ihneh legte; und ich bin fest ver-
sichert, daB wenige Leute von Stande lebhafte Schilderungen der
Lustseuche lesen konnen, ohne sich einzubilden, sie hatten sie, so
schwach sind ihre Nerven und so stark ihre Phantasien. Hingegen
ein Satiriker kann sich Hoffnung machen, daB selten ein Leser
seine Gemalde moral ischer Krankheiten, seine anatomischen Ta-
feln von geistigen MiBgeburten auf sich anwenden werde; er kann
froh und frei Despotismus, Schwache, Stolz und Narrheit ohne i
die geringste Sorge malen, daB einer dergleichen zu haben sich
einbilde; ja ich kann das ganze Publikum oder alle Deutsche einer
asthetischen Schlafsucht, einer politischen Abspannung, eines
kameralistischen Phlegma gegen alles, was nicht in den Magen
oder Beutel geht, beschuldigen; aber ich traue jedem, der mich
lieset, zu, daB er wenigstens sich nicht darunter rechne, und wenn
dieser Brief gednickt wurde, wollt' ich mich auf eines jeden m-
neres Zeugnis berufen. - Der einzige Spieler, dessen wahren
Namen ich in diesem historischen Schauspiel haben muB, zumal
da er nur den Einblaser macht, ist der - Hund. 21
Jean Paul.«
Ich habe noch keine Antwort und auch noch kein zweites Ka-
piteh' jetzo kommt es ganz auf den Spitzhund an, ob der der ge-
lehrten Welt die Fortsetzung dieser Historie schenken will oder
nicht.
- Ists aber moglich, daB ein biographischer Berghauptmann
bloB einer verdammten Ratte wegen, die noch dazu in keinem
Journal arbeitet, sondern in meinem Hause, eben vom Publikum
weglaufen und alle Zimmer durchdonnern muB, um das Aas in
Angst zujagen?... 3 c
...Spitiius Hofmann heiBet der Hund; der war die Ratte und
kratzte an der Tiire mit dem zweiten Kapitel im Kiirbis. Ein
ganzes voiles Proviantschiff, das die gelehrte Welt ausnaschen
darf, hah' ich vom Halse Hofmanns abgehoben : und es tun sich
fur den Leser, der das Gescheute so gern lieset wie das Dumme,
heute - denn nunmehr ists gewiB, daB ich fortschreibe - freudige
I. HUNDPOSTTAG 511
Aussichten auf, die ich aus einem gewissen Gefuhle der Beschei-
denheit nicht abzeichne . . . Der Leser sitzt jetzt in seinem Kanapee,
die schonsten Lese-Horen tanzen urn ihn und verstecken ihm
seine Repetieruhr - die Grazien halten ihm mein Buch und
reichen ihm die Heftlein - die Musen wenden ihm die Blatter urn
oder lesen gar alles vor — 'er lasset sich von nichts storen, sondern
der Schweizer oder die Kinder miissen sagen, Papa ist aus - da
das Leben an einem FuB einen Kothurn und am andern einen
Sokkus tragt, so ists ihm lieb, daB eine Lebensbeschreibung audi
to in einem Atem lacht und weint - und da die Schonschreiber immer
mit dem Moralischen ihrer Schriften, das niitzt, etwas Unmora-
lisches, das vergiftet, aber reizt, zu verbinden wissen, gleich den
Apothekern, die zugleich Ar^eien und Aquavit verzapfen, so ver-
gibt er mir gern fiir das Unmoralische, das vorsticht, das Religiose,
das ich etwa habe, und umgekehrt - und da diese Biographie in
Musik gesetzt wird, weil Ramler sie vorher in Hexameter setzt
(welches sie auch mehr bedarf als der harmonische GeBner), so
kann er, wenn er sie gelesen hat, aufstehen und sie auch spielen
oder singen. . . . Auch ich bin fast ebenso gliicklich, als las' ich das
20 Werk - der indische Ozean schlagt die Pfauenrader seiner be-
leuchteten Wellenkreise vor meiner Insel - mit allem steh' ich auf
dem besten FuBe, mit dem Leser, mit dem Rezensenten und mit
dem Hund - alles ist schon zu den Hundposttagen da, ein Dinten-
rezept von einem Alchemiker, der Gansehirt mit Spulen war
schon gestern da, der Buchbinder mit bunten Schreibbuchern
erst heute - die Natur knospet, mein Leib bluht, mein Geist tragt
- und so hang* ich uber den Loh- und Treibkasten (d. h. uber die
Insel) meine Bliiten, durchschieBe den Kasten mit meinen Wur-
zelfasern, kann es (ich Hamadryade) aus meinem Laubwerk her-
30 aus nicht wahrnehmen, wie viel Moos die Jahre in meine Rinde,
wie viel Holzkafer die Zukunft in das Mark meines Herzens und
wie viel Baumheber der Tod unter meine Wurzel setzen wird,
nehme alles nicht wahr, sondern schwinge froh - du gutiges
Schicksal! - die Zweige in dem Winde, lege die Blatter saugend
an die mit Licht und Tau gefullte Natur und errege, vom allge-
meinen Lebenodem durchblattert, so viel artikuliertes Gerausch,
512 HESPERUS
als notig ist, daB irgendein trubes Menschenherz unter der Auf-
merksamkeit auf diese Blatter seine Stiche, sein Pochen, sein
Stocken vergesse in kurzen sanften Traumen warum ist ein
Mensch zuweilen so gliicklich?
Darum: weil er zuweilen ein Literatus ist. Sooft das Schicksal
unter seinem Schleier das Lebenstromchen eines Literatus, das
uber einige Horsale und Biicherbretter rinnt, aus dem grofien
Weltatlas in eine Spezialkarte hineinpunktiert: so kann es so den-
ken und sagen : »WohIfeiler und sonderbarer kann man doch kein
Wesen gliicklich machen, als wenn man es zu einem literarischen
macht : sein Freudenbecher ist eine Dintenflasche - sein Trom-
metenfest und Fasching ist (wenn es rezensiert) die Ostermesse-
sein ganzer paphischer Hain geht in ein Bucherfutteral hinein -
und in was anderm bestehen denn seine blauen Montage als in
(geschriebnen oder gelesenen) Hundposttagen?« Und so fiihrt
mich das Schicksal selber in den
2. HUNDPOSTTAG
Vorsundflutliche Geschichte - Viktors Lebens-ProzeG-Ordnung
Beim Tor des ersten Kapitels fragen die Leser die Einpassieren-
den : »Wie heifien Sie? — Ihren Charakter? — Ihre Geschafte?« - 2C
Der Hund nimmt fur alle das Wort. Vom Yl.Januar - d.h.
Herrn Januar, nicht heiligen Januar, sondern der flachsenfingische
Fiirst hieB so - wurde in den jiingern Jahren die groBe Tour oder
Reise um die schone und die groBe Welt gemacht. Er teilte uber-
. all an Fremde Geschenke aus, die ihn ein einziges don gratuit
seiner Untertanen kosteten, und unterstiitzte und bedauerte viele
gedriickte Bauern in Frankreich, die es so schlimm hatten wie
seine in Flachsenfingen. Fur das wehrlose weibliche Geschlecht
tat er, wie alle reisende Fiirsten, fast noch mehr: man kann von
der groBern Zahl derselben sagen, daB sie, wie Titus oder wie ein 30
ostlicher Weltumsegler, zwar zuweilen einen Tag verlieren, aber
selten eine Nacht, ohne gliicklich zu machen und folglich zu -
2. HUNDPOSTTAG 5 1 3
werden. Der Regent muB iiberhaupt diejetzige Entvolkerung
Frankreichs vorausgesehen haben; denn er setzte sich ihr bei Zei-
ten entgegen und hinterlieB in drei gallischen Seestadten drei
Sonne, und auf den sogenannten sieben Inseln nur einen. Der
erste hieB der Walliser, der zweite der Brasilier, der dritte der
Asturier, der auf den sieben Inseln der Monsieur oder Mosje :
wahrscheinlich sollten die Namen auf Prinzen von Wallis, von
Brasilien und Asturien hinspielen. Er lieB die Kinder bloB in der
Unwissenheit ihres Standes und in keiner schlimmern erziehen :
man sollte sie zu kunftigen Mitarbeitern seiner Regierung formen.
Januar war zwar sinnlich und ein wenig schwach, aber - auBer
wo erfurchtete - auBerst menschenfreundlich.
Der Lord Horion war dem Fiirsten Januar zweimal auf seiner
Reise begegnet; das erstemal durchschnitt er die furstliche Pla-
netenbahnaIsHaarkomet,daszweitemala!ssonnennaherSchwanz-
komet. Ich will sagen : Horion sah gerade, als er eine Abkomm-
lingin aus Januars Hause liebte, die in London wohnte, den
Fiirsten zum zweitenmal und nahm ihn und den Hofstaat des-
selben in seinem Hause zu London auf. Ober diese sehr weit-
10 lauftige Verwandte des Fiirsten werfen meine Nachrichten - aus
zu groBer Riicksicht auf Staats- und Familienverhaltnisse - einen
unzeitigen Schleier. Sie war bei der Vermahlung mit dem Lord
22 Jahre alt, und ihr ganzes Wesen war (wenn ich den kiihnen
Ausdruck eines Londner Lobredners derselben nehmen darf)
nichts als ein einziges zartes stilles blaues Auge. Das ist alles, was
man dem Publikum zuwendet. -
Der Fiirst lieB sich gern vom Lord besiegen und beherrschen,
den eine sonderbare Mischung von Kalte und Genie zum unein-
geschrankten Monarchen und Kommandeur der Seelen machte.
; o Der Lord hatte noch eine schone Nichte im Hause, deren Reize in
den fiirstlichen Augen einen solchen geistigen Alten vom Berge,
wie er, sowohiy^/^r als ebener machten. -
Aber die Totenglocke warf ihre MiBtone in diese Wohllaute
des Lebens. Die Geliebte des Lords flog aus der rauhen Erde und
lieB ihr seinen ersten Sohn als Andenken und Herzpfand zuriick;
sie starb im 23sten Jahr gleichsam am Leben des Kindes, einige
514 HESPERUS
Tage nach dessen Geburt, und der zarte dunne Zweig brach unter
der reifen Frucht zusammen. Lord Horion schwieg vor dem Ge-
schick. Er hatte sie fiirchterlich geliebt, ohne es zu zeigen; er be-
trauerte sie ebenso, ohne sein tiefes schwarzes Auge zu benetzen.
Der Fiirst fand an der Nichte, d. h. an einer wahren Englanderin,
darum Geschmack, weil er vorher einen ebenso groBen an den
Franzosinnen gefunden hatte; und aus diesem Grunde hatt* er
umgekehrt diese geliebt, hatt' er vorher jene gekannt. Der nach-
herige Obrist-Kammerherr Le Baut hatte dieselbe Gesinnung,
und was noch mehr ist, gegen dieselbe Person; und wie die in-
dischen Hof leute alle Wunden ihres Herrn nachahmen, so machte
Le Baut mit einem Amors-Pfeil die des seinigen nach und ver-
setzte sich eine der starksten damit.
— Diese Londoner Historien konnen nicht lange mehr dauern,
und wir Iangen dann alle in unserm St. Liine frohlich wieder an. -
Ein hitziges Fieber befiel den Regenten, das sein Arzt Doktor
Kuhlpepper bloB fiir Kreuz- und Querziige einer unsteten Gicht-
materie hielt. Es war mir bisher noch nicht moglich, es auszu-
mitteln, ob dieser Kuhlpepper mit seinem bekannten Namenvetter
und medizinischen Mitmeister in London etwan naher verwandt :
ist. Das Fieber heizte Januarn so sehr ein, und der Beichtvater
machte bei dessen Gewissen statt der Loschanstalten so viele
Brennanstalten, daB er in der Todesnot einen formlichen Schwur
ableistete, bei keinem Madchen mehr an Entyolkerung und Re-
volution zu gedenken. Dieselbe Schwache, die seinen Aber-
glauben und Kinderglauben starkte, diente seiner Sinnlichkeit;
als er wieder auf war, wuBt' er gar nicht, was er machen sollte.
Die Nichte und seine Eidleistung waren in seinen Gehirnkammern
Wandnachbarn. Ein geschickter Exjesuit aus Irland, der bloB fur
Gewissenszweifel lebte und selber conscientiam dubiam hatte, ;
sprang dem Zweifler bei und macht' ihm faBlich: »sein Geliibde
miiss* er, zumal vor der Lossprechung davon, gewissenhaft hal-
ten, ausgenommen den s'undlichen und unmoglichen Punkt,
der darin sei, den namlich, den er ohne Einwilligung seiner Ge-
mahlin weder geloben diirfte, noch erfiillen konnte.« Mit andern
Worten, der Jesuit verhielt ihm nicht, er habe im Fieber nur dem
2. HUNDP OSTTAG 5 I 5
unverhe irate ten Geschlechte abgeschworen und sein Zolibat ledig-
lich auf Nonnen eingeschrankt, mithin verbiet' ihm sein Geliibde
zwar nicht den doppelten Ehebruch (den hebe der Beichtstuhl),
aber auBerst streng den einfachen. Januar war zu fromm, um sich
nicht des einfachen ganzlich zu enthalten.
Es ist schwer, die Verbindung zu untersuchen, in welcher seine
jetzo groftere Liebe gegen seine vier GroB- oder Kleinfursten in
Gallien mit seinem erfiillten Geliibde stand; kurz, er gab dem
Lord das Geschaft und die Vollmacht, die vier Menschen aus
o Gallien abzuholen nach London, weil er seine geliebte anonyme
kleine Nachwelt mit nach Deutschland nehmen wollte. Es war
ungewiB, liebt* er in den Muttern die Kinder so herzlich - oder in
den Kindern die Mutter. Der Lord ging gern wie Kotzebue (aber
anders) nach dem Untergange der Geliebten nach Frankreich.
Endlich kam, nicht von ihm, sondern von den Hofmeistern des
Wallisers, des Brasiliers, des Asturiers, die trube Nachricht, daB
in einer Nacht, wahrscheinlich nach einem gemeinschaftlichen
Plane verbundner Prinzenrauber, die drei Kinder entfuhrt wor-
den - nicht lange darauf wurde vom Lord diese Trauerpost nicht
:o nur bestatigt, sondern auch mit der neuen vergroBert, daB der
Monsieur oder Mosje auf den sieben Inseln nicht mehr - auf ihnen
sei.
Das Schicksal gibt dem Menschen oft den Wundhalsam friiher
als die Wunde: Januar erhielt den funften Sohn, den ich allezeit
bloB den Infanten nennen will, noch eher als die Nachricht seines
eingebiiBten Kindersegens. Der Obrist-Kammerherr von Le Baut
hatte sich mit der Mutter des Infanten (der Nichte des Lords) ver-
mahlt; aber er datierte seine Vermahlung um drei Quatember
zuriick, anstatt sie um emen spater anzusagen. Ich habe nie den Zu-
.0 sammenhang dieses Anachronismus (Zekverrechnung) mit dem
fiirstlichen Geliibde einzusehen vermocht. Obrigens so gefahr-
lich Jenner den Eheherren seines Hofes durch sein Votum wurde,
und so unschadlich den Vatern: so war doch das tugendhafte
Vertrauen, das die Eheherren auf die ihnen ankopulierte weibliche
Tugend setzten, so unbegrenzt, daB sie ohne Anstand diese Tu-
gend in sein entbundnes Feuer fiihrten. Ja sie setzten sich sogar
5 16 HESPERUS
uber den Verdachi hinweg, daB sie es etwan taten, damit sie, wenn
er seine Krone auf den Putztisch ihrer Gemahlinnen ablegte, mit
der blanken Mauer-Krone (corona muralis) wie mit einem Joujou
spielen und mit ihrem Glanze Leuten in die Fenster blenden
konnten: denn lieber will ein Hofmann seine Gemshlm bewafiren
als bewahren*
— Es wird gleich angehen, rufen Puppenspieler; es wird gleich
auswerden, ruf ' ich. -
Als endlich der Lord mit leeren Handen ankam, war er sehr
betroffen - nicht von der Gegenwart des Infanten, sondern - von i
der Adoption desselben, namlich von der Vermahlung Le Bauts.
Aber dieser Obrist-Kammerherr war- und das bedachte niemand
weniger als Horion - ein feuriger Freund des Fursten : das machte
ihn fahig, fur diesen (wie Cicero verlangt) sogsr das zu begehen,
was er nie fur sich began gen hatte - etwas wider die Ehre. Es ist
iiberhaupt flir einen Hof- und Weltmann, dessen Ehre der hohe
Posten oft der schlimmsten Witterung bloBstellt, ein ungemeines
Gliick, dafl diese Ehre, sei sie auch noch so empflndlich bei klei-
nen StoBen 1 , doch groBe Ieicht verwinder, und wenn nicht mit
Worten, doch mit Taten ohne Nachteil anzutasten ist: etwas %
Ahnliches bemerken die Arzte an Rasenden, oder vielmehr an
deren Haut, die zwar die Ieiseste Betastung verspurt, auf welcher
aber dennoch keine Blasenpflaster ziehen. - Der Fiirst wurde durch
einen dreifachen Bast an Le Baut gekniipft, durch Dankbarkeit,
durch Sohn und Frau: der Lord zausete den Bast auseinander. Er
entbloBete namlich vor seiner Nichte das kammerherrliche Herz
und deckte ihr den Giftsack darin auf und einen dramatisch durch-
gefiihrten P/an, den sie bisher fiir Nacksickt angesehen hatte.
Alles Edle und Stolze entbrannte in ihr vor Scham und Zorn; und
sie floh vor den erdriickenden Erinnerungen.mit ihrem Kinde und y
mit der Aussicht eines zweiten aus der Stadt auf ein Landgut des
Lords.
Nun ging der Fiirst mit dem Lord und seinem Hofstaat (sogar
mit dem Doktor Kuhlpepper) nach Deutschland zuruck. Le Baut
1 Hire Ehre leidet z . B. dabei, u r enn ihr Wagen einem andern Wagen von
Stande nicht vortahrt.
2. HUNDPOSTTAG 517
verweilte noch einige Zeit, urn die Nichte zu beruhigen und zu
bereden zur Reise. Aber es war ihr nicht nur unmoglich, alle ihre
senkrecht laufenden Wurzeln aus dem Lande der Freiheit zu Zie-
hen und nach Deutschland mitzugehen, sie trennte sich auch -
nicht bloB durch Meere, sondern - durch einen Scheidebrief vom
schmutzigen Gunstling ab. Sie muBte dem Kammerherrn ihr
zweites Kind, seine wahre Tochter, lassen; aber das erste, den
Infanten, befestigte sie an ihrer Mutterbrust. Le Baut litt es auch
gern und dachte, nach der Baurede gehort das Baugerust ohnehin
10 in den Ofen des Hauses.
Aber als er unter dem deutschen Thronhimmel erschien, stand
seine Sonne (Januar) in der Sommer-Sonnenwende, die von ab-
nehmender Warme. allmahlich zu kalten Stiirmen iiberging. Ja-
nuars Liebe konnte leichter steigen und fallen als stehen, und das
groBte Verbrechen war bei ihm - Abwesenheit. Le Baut muBte
jetzt ohne Frau und Kind schon darum gegen den Lord verlieren,
weil dieser als Schatzmeister und Kiistenbewahrer zweier in Lon-
don gelassener Schatze unter Jenners Thronhimmel auftrat. Aber
es gab tiefere Grunde. Der Lord regierte den Regenten leicht,
20 weil er ihn weder an eignen noch fremden Lastern ziigelte, son-
dern an eignen Tugenden. Erstlich begehrte er nichts von ihm,
nicht eihmal Diat und Keuschheit. Zweitens hob er keine Vettern
in den Sattel, sondern schlimme daraus; er trug ihn wie einen Ha-
bicht auf der beschuhten Faust, aber der Falkenier'er tats nicht,
urn den Fiirsten auf Tauben und Hasen zu werfen, sondern um
ihn immer wach und lakm zugleich zu machen. Drittens machten
seine Festigkeit und seine Feinheit einander wechselseitig gut;
uber Veranderliche regieret am besten der Unveranderliche. Vier-
tens war er nicht der Gunstling, sondern der Gesellschafter, blieb
30 immer ein Brite und ein Lord und des Landes wohltatiger Bienen-
vater, indes Januar der IFeisel und im Weiselgefangnis war. Fiinf-
tens gehorte er unter die wenigen Menschen, denen man gleich
sein muB, um ihnen ungehorsam zu sein; und einer, der das
Taschenspielerkunststuck machen wollte, ihm ein SchloB unver-
sehens an den Mund zu werfen, hatte leicht eines an Bein- und
Handschellen der Seele. Sechstens hatt' er emen guten Kase. Das
5l8 HESPERUS
letzte braucht nicht weitlauftigerklartzu werden; in Chester hatt'
er einen Pachter, der einen Kase Heferte, dergleichen es weiter
keinen in Europa gibt ; Fursten aber ist im ganzen ein auBerordent-
licher Kase lieber als eine auBerordentliche Dankadresse des
Landschaftsyndikus. -
Bei einem Zusammentreffen solcher Unsterne wurde freilich
dem Kammerherrn der Absagebrief, der anfangs mit sympathe-
tischer Dime auf Jenners Gesicht geschrieben war, allmahlich
immer leserlicher - doch las er ihn wochentlich etliche Male durch ,
um recht zu lesen - er konnte jetzo keinem SchoBhunde eine 10
Stelle mehr verschaffen, namlich einen SchoB - seine Empfehl-
schreiben wurden Uriasbriefe - als er nun gar durch den Lord die
Charge eines Obrist-Kammerherrn erstand, hielt ers fur hohe
Zeit, gegen seine Kniegicht das Bad auf seinem Rittergut St.Liine
jahraus, jahrein zu brauchen, und zog ab, nachdem er vorher
dem ganzen Hof geloben miissen, bald genesen zuruckzukom-
men. -
- Eigentlich ware jetzt diese Vor-Geschichte versprochner-
maBen aus, so daB ich gut in der neuern dieses Werkes weiter-
gehen konnte, mtiBt' ich nicht des Hofkaplans wegen durchaus 20
noch dieses nachholen:
Die einzige Stelle, die Le Baut gleichwohl am Hofe noch be-
setzen konnte, war die Pfarrei in St. Liine. Er fand als ihr Patronat-
herr damit den Ratten-Kontradiktor Eymann ab, der ihm in Lon-
don die mundliche Vokation zur Hofkaplanei abgebettelt hatte,
und der sie nicht mehr kriegen konnte. Daher nennen ihn die
Hundposttage immer den Hof ka plan, wiewohl er in der Tat nur
ein Landpastor ist.
Aus dem kleinen Umstande, daB Eymann als Reiseprediger mit
in Jenners Gefolge ging, entspann sich viel. Eymann machte auf 30
dem Landgut des Lords seiner jetzigen Frau mit dem Hals- und
Brustgehenke seiner von der Schwindsucht durchgrabenen Herz-
kugel ein kleines Prasent, das angenommen wurde. Beide zeugten
noch in England ihren Flamin. Die Lady Hebte in der Hofkapla-
nin eine wiirdige Mitschwester ihres Geschlechts und eine wiir-
dige Mitburgerin ihres Vaterlands; sie drang in sie mit heiBen
2. HUNDPOSTTAG 519
Bitten, in England zu bleiben, und als alle abgeschlagen waren,
erbat und erzwang sie es von ihr, daB wenigstens ihr Flamin - um
doch ein halber Brite zu werden - so lange in der Gesellschaft des
Infanten und Viktors bleiben durfte, bis das freundliche Kleeblatt
'auf einmal in die deutsche Erde verpflanzet wiirde.
Die Pfarrerin war stark genug, fur die schonere Erziehung
ihres Flamins den GenuB seines Anblicks hinzugeben, und lieB
ihn unter den Augen der Liebe und in den kleinen Armen der
kindlichen Freundschaft zuruck. Dieselbe erziehende Hand - Da-
10 hore hieB der Lehrer - richtete und begoB die drei edlen Blumen,
die aus einerlei Beete und Ather dreierlei Farben sogen und sich
mit unahn lichen Staubfaden und HoniggefaBen ausbildeten. Da-
hore hatte das Herz aller Kinder in seiner weichen Hand, bloB
weil seines niemals brausete und ziirnte, und weil auf seiner jun-
gen Gestalt eine ideale Schonheit und in seiner reinen Brust eine
ideale Liebe wohnte. Die drei Kinder liebten und umarmten sich
unter seinen Augen warmer, wie vor der Venus Urania die Gra-
zien einander umschlingen: sie trugen sogar alle einen Namen,
wie die Otaheiter aus Liebe ihre Namen tauschen.
20 Als sie einige Reife hatten, kam der Lord, um sie samt Dahore
nach Deutschland einzuschiffen. Aber vor der Abfahrt bekam der
Infant die Blattern und wurde blind - und Dahore mufite mit ihm
zur angstlichen weinenden Lady umkehren. Viktor hatte sich
lange und sprachlos an den Hals des kranken Freundes gehangen
und um Dahores Knie geschlungen und wollte von den zwei Ge-
* liebten nicht scheiden; aber der Lord schied sie. - Flamin und
Viktor wurden dann in Flachsenfingen erzogen, jener zum Ju-
risten, dieser zum Arzte.
- Es sind in der Kiirbisflasche Spitzius Hofmanns einige Un-
30 wahrscheinlichkeiten; aber der Hund muB fur das stehen, was er
liefert. Jetzo geht die Historie wieder geradeaus.
Der Lord entfernte sich, unter dem Kanonenlosen der loche-
richten Garnison, mit Viktor in ein anderes Zimmer, und sein
erstes Wort war: »Binde mich ein wenig auf und lasse deine Hand
in meiner, damit ich deine Aufmerksamkeit bemerken kann ; denn
ich habe dir viel zu sagen.« Guter Mann! wir merken es alle, daB
520 HESPERUS
du zartlicher bist, als du scheinen willst, und wir loben es alle;
nicht Kalte^ sondern Abkuhlung ist die grofiere Weisheit; und
unser innerer Mensch soil, wie ein heiBer MetallguB in seiner
Form, nur langsam erkalten, damit er sich zu einer glattern Ge-
stalt abrunde: eben darum hat ihn die Natur - wie man fiir Bild-'
metall die Form erw&rmt - in einen heifien Korper gegossen.
Er fuhr fort: »lch habe, mein Teurer, in meiner Blindheit nur
leere Briefe an dich diktieren konnen; ich wollte erst fiir deine
Ankunft meine Geheimnisse aufsparen. Eine kleine Pulverver-
schworung beobachtet mich.« Viktor unterbrach ihn mit der Fra- i<
ge, wie er so plotzlich blind geworden. Der Lord antwortete un-
gern : »Das eine Auge war es wahrscheinlich schon vor deiner Ab-
reise nach Gottingen, aber ich wuBt* es nicht.«
»Aber das andere?« sagte Viktor. Ober das Angesicht des Lords
strichder kalte Schatten eines begrabnen Schmerzes; er sah den
Sohn lange an und antwortete wie zerstreut und eilig: »Auch! -
Ich sehe dich an, du kommst mir viel langer und groBer vor.« -
»Das ist vielleicht« (versetzt' er, denn er erriet ihn) »Auget>-Tau-
schung der empfindlichern Netzhaut 1 , - Sie sprachen von der
Pulververschw6rung.« - »Diese hat erfahren,« (sprach der Lord *<
weiter) »daB der Sohn des Fiirsten nicht in London sei; sie ver-
mutet sogar, daB die Blattern absichtlich damals inokuliert wur-
den - und der Fiirst spricht taglich von dem Augenblick, wo ich
ihm seinen Sohn wiederbringe : er weiB vielleicht jene Vermutun-
gen. Ich muBte meine Abreise nach London auf meine Heilung
verschieben. Jetzo reis* ich in kurzem ab nach England, wo der
Sohn nicht ist, und hole seine Mutter; ihn bringe ich anders wo-
her und mit ebenso guten Augen, als du mir gegeben hast.«
»Dann«, fuhr Viktor heraus, »wird der beste Mann nicht ge-
stiirzt, wohl aber seine Feinde.« v
»Nein, ich bin vorher gesture um mich wie du auszudriicken.
- Aber du hast mich unterbrochen. Ich habe nie den Mut gehabt,
andere Leute zu unterbrechen als Toren. - Denn meine Abwesen-
heit will man eben,«
1 Nach dem Starstechen bildet die empfindlichere Netzhaut alles grofler
vor.
2. HUNDPOSTTAG J2I
Ich als bestallter Historiograph frage nichts nach allem und
unterbreche, wen ich will. Einer, den man unterbricht, kann zwar
spaBen, aber nicht mehr beweisen. Der auf den Plato gepelzte So-
krates, der keinen Sophisten ausreden lieB, war eben darum selber
einer. In England, wo man noch Systeme unter den Weinglasern
duldet, kann sich ein Mann so sehr ausbreiten wie ein Royalbogen ;
in Frankreich, wo sich die Brille der Weisheit in glanzende Spitzen
zersplittert, muB einer so kurz sein wie ein Besuchblatt. Hundert-
mal schweigt der Weise vor Gecken, weil er dreiundzwanzig
10 Bogen hraucht, urn seine Meinung zu sagen - Gecken brauchen
nur Zeilen, ihre Meinungen sind herauffahrende Inseln und han-
gen mit nichts zusammen als mit der Eitelkeit .... Noch merk* ich
an, daB zwischen dem Lord und seinem Sohne eine hofliche feine
Behutsamkeit obwaltete, die irt einem so nahen Verhaltnisse nur
aus ihrem Stande, aus ihrer Denkart und ihrer haufigen Abtren-
nung zu beurteilen ist. -
»Aber meine Gegenwart ist vielleiclit noch schlimmer. Die
Prinzessin«
(Die Braut des Fiirsten, da seine erste Gemahlin bald und kin-
20 derlos starb, wie Spitz sagt)
»Die Prinzessin bringt einen Strom von Zerstreuungen mit,
worin er keine Stimme als die, die zum Vergnugen lockt, mehr
horen wird. Ein unterbrochner EinfluB ist ein verlorner. Auch
bin ich bis zu einem gewissen Punkte dieses Spieles so miide, daB
ich den neuen Verbindungen, in die mich diese neue Erscheinung
zoge, gern entfliehe. SoIIte sie ihn nicht lieben, wie man sagt, so
konnte sie ihn um So Ieichter beherrschen; und dann ware meine
Abwesenheit wieder nicht gut. - Mich beiseite! aber was nimmst
du vor, solang' ich weg bin?«
30 Nach einer Viertelpause antwortete er selber. »Du wirst sein
Leibarzt, Viktor !« Viktors Hand zuckte in der vaterlichen. »Du bist
ihm schon versprochen, und er sehnet sich nach dir, bloB weil ich
dich oft genannt habe. Er kann es nicht erwarten, zuerfahren, wie
jemand aussieht, dessen Vater er so gut kennt. Als Leibarzt kannst
du ihn mit deiner Kunst und mit deiner Laune so lange fremden
Fesseln entziehen, bis ich wiederkomme; dann leg' ich ihm noch
5Z2 HESPERUS
sanftere an und gehe auf immer zuriick. Meine Verbindung hatte
bisher bloB die Absicht, fremde abzuwenden, besonders eine ge-
wisse« - (Mit voller Brust und andrer Stimme) »Mein Geliebter!
Es ist auf der Erde schwer, Tugend, Freiheit und Gluck zu erwer-
ben, aber es ist noch schwerer, sie auszubreiten; der Weise be-
kommt alles von sich, der Tor alles von andern. Der Freie muB
den Sklaven erlosen, der Weise fur den Toren den ken, der Gliick-
liche fur den Ungliicklichen arbeiten.«
Er stand auf und setzte Viktors Ja voraus. Dieser muBte ihm
also unter dem Gehen seinen RednerfluB zutropfeln. Er flng mit ic
gehauftem Atem an : »Ich verabscheue aufs heftigste den Samiel-
wind der Hof Iuft« ...
Bei mir hats der Lord zu verantworten, daB der Sohn hier die
conjunctio concessiva »{war« auslasset: wer sich die Erwartung
des Gehorsams merken lasset, erhalt ihn wenigstens unter einer
stolzern Einfassung .—
«die iiber lauter liegende Menschen streicht und den zu Pulver
macht, der aufrecht bleibt - Ich wolk', ich war' in einem Vor-
zimmer an einem Courtage; ich wollte zu alien in Gedanken sa-
gen : wie hass* ich euch und euern tollen Sauerhonig von Lust- ^
und Plag-Partien — die verdammten Wart- und Ruderbanke
eurer Spieltische - die vollen Schlachtschusseln hingerichteter Pro-
vinzen, ich meine eure Spiel- und Speiseteller - Aber ich weiB
schon, ich driicke mich nie mit Starke aus iiber die knechtischen
lauernden Hofaustern, die nichts zu bewegen und aufzuschlieBen
wissen - das Herz ohnehin nicht - als ihr Gehause, um etwas hin-
einzunehmen...«
»Ich habe dich noch nicht unter brochem, sagte der Lord und
stand eiri wenig still.
»Inzwischen«, fuhr der Sohn fort, »wate ich mit groBter Lust ^
zur Austerbank hinab . . O mein teurer Vater, wie konnt* ich nicht
gehen! Warum lieB-ich nicht bisher Ihr krankes Auge aufgebun-
den, damit Sie auf meinem Gesichte keine einzige Einwendung
gegen Ihre Wiinsche erblickten ! - Ach, um jeden Thron stehen
tausend nasse Augen, die von verstummelten Menschen ohne
Hande hinaufgerichtet werden: droben sitzt das eiserne Schicksal
2. HUNDPOSTTAG 523
in Gestalt eines Fiirsten und streckt keine Hand aus - warum soil
kein weicher Mensch hinaufgehen und dem Schicksal die starre
Hand fiihren und mit einer unten tausend Augen trocknen?« -
Horion lachelte, als wollt* er sagen: Jiingling!
»Aber nur urn einige prozessualische Weitlauftigkeiten und
Fristen bitt* ich Sie, damit ich Zeit bekomme - stoischer und
narrischer zu werden. Narrischer, mein' ich, vergniigter. Ich
mochte unter den guten Leuten um uns und neben meinem Fla-
min und jetzt im Fruhling des Kalenders und in dem meiner Jahre,
10 und eh* das Lebenschiffim Alter einfriert, nur noch zwei Monate
lachen und zu FuB gehen. Stoisch muB ich ohnehin werden.
Wahrhaftig, wenn ich nicht Epiktets Handbuch als einen Schlan-
genstein an mich und meine Wunden legte, damit der Stein den
moralischen Gift heraussaugt, sondern wenn ich mit einer Brust
voll Krebsschaden aus dem Hause ginge: was wiirde denn der
Hof von mir denken?... Ach, ich meine es doch ernsthaft: der
arme innere Mensch - von dem Wechselfieber der Leidenschaften
ausgetrocknet - vom Herzklopfen der Freude ermattet - vom
Wundfieber der Leiden gliihend - braucht wie ein andrer Kranker
20 Einsamkeit und Stille und Ruhe, damit er genese.« Wenn er das
Wort Ruhe nannte, war sein Inneres bis zur Auflosung bewegt;
so sehr hatten schon die Leidenschaften sein Blut umgewiihlt und
sein Herz erschiittert.
Jetzo gingen beide in schweigender Einigkeit wieder zu Ey-
mann. »Ich habe eine Bitte fur meinen Flamin.« - »Welche?« sagte
der Lord. - »Ich weiB sie noch nicht, aber er schrieb mir, er werde
sie mir bald sagen.« - »Meine an ihn ist,« sagte der Lord, »daB er,
wenn er angestellt werden will, mehr die Pandekten als die Taktik
und statt des Rapiers die Feder liebe.« - Der Sohn wurde zu hof-
30 lich vom Vater behandelt, als daB er zur Bitte um seine Geheim-
nisse - besonders um das, wo Jenners Sohn sei - den Mut be-
sessen hatte. Ich behandle den Leser ebenso fein, und ich hoffe, er
hat ebensowenig den Mut; denn wenn sich jemand versteckt er-
klart, so. ist nichts unhoflicher als eine neue - Frage.
Der Lord fuhr nun geheilt zum Fiirsten zuruck.
524 HESPERUS
3. HUNDFOSTTAG
Freuden-Saetag — Wartturm - Herzens-Verbruderung
Der Lord war der weggenommene Damm, der bisher vor der
Flut der Erzahlungen, Fragen und Freuden gestanden hatte. Die
erste Untersuchung, die das Pfarramt vornahm, war, obs noch
der alte Bastian sei. — Und der wars mit Haut und Haar, sogar das
linke Seitenhaar hatt' er noch wie sonst kiirzer als das rechte. Wenn
der Fleischerknecht heimkommt aus Ungarn, so wundert er sich,
daB seine Sippschaft die alte ist - dkse wundert sich, daB er es
nichtmehrist. Hierfreute man sich uber die doppeke Unverander- 10
lichkeit. Auf jedem Gesicht lag der Heiligenschein der Freude,
aber auf jedern mit andern Strahlen. Die Entziickung sieht auf
einem sanften Gesicht, wie Viktors seinem, wie die Tugend aus. —
Die alte Appel, die in ihrem Leben nichts durchblattert hatte als
den Psalter Davids und den Psalter im Ochsenmagen, legte vor
den Kupferpfannen ihr Vergnugen dadurch an den Tag, daB sie
ungemein zuschiirte. Das Wiener Tierspital von einem alten Mops
und Kater, die einander nicht mehr haBten - wie sich im alten
Menschen die gute und bose Seele aussohnen -, und die Vogel-
sammlung unter dem Ofen, die einen schwarzgebeizten Gimpel 20
stark war, nahmen Anteil genug an der allgemeinen Unruhe und
stellten sich vor und lieBen gern - das tate kein Ambassadeur -
das Recht der ersten Visite fahren. Agathe driickte ihre Freude
bloB mit ihren Lippen aus, indem sie damit schwieg und sie an
ihres Bruders seine driickte. Am Hofkaplan will mans riihmen,
daB er den invaliden Mops, der an den Kinterfiifien das Podagra
und an den VorderfuBen das Chiragra hatte, ruhig in seinem
Wohn- und Schlafkorb wieder unter den Ofen schob, die Saulen-
ordnung der Sessel ohne Keifen herstellte und den kleinen Bastian
unter der freudigen Sprachenverwirrung wiegte, damit er sie nicht 30
vermehrte, wenn er erwachte. Aber im erhaben geschlifTnen Her-
zen der Landsmannin, der Kaplanin, gingen die Freudenstrahlen
der Familie in einen Brennpunkt zusammen und verbreiteten in
ihrer ganzen Brust die Lebenwarme der Liebe. - Viktor lachelte
3' HUNDPOSTTAG 525
sie so sehr in sein Gesicht hinein, daB sie sich mit nichts zu retten
wuBte als mit seiner kiinfrigen Stube, die sie ihm zu offnen und
.zu zeigen befahl. Agathe flog mit dem Schliissel-Gelaute voran,
und dem Gaste zogen nicht mehr Leute hinterdrein, als im Hause
waren, und wollten samtlich sehen, was er dazu sagte.
Er ubergab sich der ganzen freundschaftlichen Handhabung,
nicht mit dem eiteln Selbstgefiihl eines ausgebildeten Fremdlings,
sondern mit einer vergniigten, folgsamen, fast kindlichen Ver-
wirrung - er kummerte sich nichts darum, daB er wie ein Kind
10 aussah, so sanft, so froh und so ohne Anspriiche. In solchen Stun-
den ists schwer, zu sitzen - oder eine Historie anzuhoren - oder
eine zu erzahlen Jedes fing eine an; aber der Kaplan sprang
dazwischen: »Wir haben ganz andere Dinge zu sagen,« Aber es
kamen keine ganz andere Dinge. — Jedes wollte den Fremdling
unter vier Ohren genieBen, aber die sechs bleibenden Ohren
waren nicht wegzubringen. - Meine Beschreibung seiner Ver-
wirrung ist selber verwirrt; aber es geht mir allemal so : z. B. wenn
ich Eiligkeit schildere, so tu' ichs unbewuBt selber mit der groB-
ten. - Wars einem solchen Herzen wie seinem, das in den Federn
20 der Liebe wiegend hing, noch notig, daB es in jedem zersagten
Fensterstock, in jedem glatten Pflastersteinchen, in jeder vom
Regen gebohrten vertieften Arbeit auf dem Haustiirstein seine
Knabenjahre musivisch abgebildet sah, und daB er in denselben
Gegenstanden Alter und Neuheit genoB? Diese Knabenjahre, die
ihm aus einem Schatten erschienen, wohnend auf St.Liinens Flu-
ren, zwischen frohen Sonntagen in lauter Blumen und bei ge-
liebten Gesichtern, diese Knabenjahre hatten einen dunkeln Spie-
gel in Handen, in dem die dammernde Perspektive seiner Kinder-
jahre zuriicklief - und in dieser entfernten Zauber-Nacht stand
50 schimmernd Dahore, sein un verge Blicher Lehrer in London, der
ihn so geliebt, so geschont, so veredelt hatte. »Ach,« dacht* er,
»du unbelohntes, fur die Erde zu warmes Herz, wo schlagst du
jetzt, warum kann ich nicht meine Seufzer mit deinen vereinigen
und zu dir sagen: Lehrer, Geliebter? O! der Mensch sieht es oft
spat ein, wie sehr er geliebt wurde, wie vergeBlich und undankbar
er war, und wie groB das verkannte Herz.« .. Was seine stille
526 HESPERUS
Freude am meisten ernahrte, war der Gedanke, daB er sie ver-
diene durch seinen kindlichen Gehorsam gegen seinen Vater und
durch seinen EntschluB zu kiinftigen Herkules-Arbeiten am Hofe
- denn ihm fiel in jede groBe Freude der Zweifel wie ein bitterer
Magentropfen hinein, ob er sie verdiene; ein Zweifel, der regieren-
den Hausern, Woiuoden, Patriarchen und Hochmeistern in der
Kindheit geschickt benommen wird. Der bessere Mensch findet
die Freude erst nach einer guten Tat am suBesten, das Osterfest
nach einer Passionswoche.
Die Leserinnen werden jetzo horen wollen, was auf Mittag ge- u
kocht war; aber die Dokumente dieses Posttags, die mir halb auf
der Achse, halb zu Wasser einlaufen, besagen erstlich, daB nie-
mand Appetit hatte - die Freude nimmt ihn mehr als der Gram -,
ausgenommen die drei Regimenter, die wie Veteranen in den
Feind einhieben, namlich in den Tafel-Abhub; zweitens, daB das
Mahl noch magerer war als der Gast selber. Man will aber samt-
Hche Lesegesellschaften hi'emit auf das unbeweglicke Fest des 4ten
Maies einladen, auf den Freitag, wo erst Viktors Ankunft und
seines Patchens Kirchgang anstandig gefeiert wird.
Die Pfarrerin zog den umzingelten Geliebten nachmittags aus 2c
dem musikalischen Zirkel so vieler Tone und kaperte ihn ihrem
Manne, dessen Direktrice und Lady Maire sie war, vor den Augen
weg und fiihrte ihn in sein Zimmer, um da vor ihm allein sich zu
betriiben, sich zu erfreuen und sich auszureden wie eine Mutter;
lang eingeschlossene Seufzer und veraltete Tranen drangen jetzt
aus dem geoffneten Mutterherzen in das fremde weiche iiber, das
ja der beste Freund ihres Sohnes war. Sie klagte bei ihm iiber
Flamins Aufbrausen, das Viktor sonst immer gestillet; »iiber seine
Liebe zum Soldatenwesen, da er doch ein Gelehrter sei« - und
endlich iiber seine Gesellschaft. »Er treibe sich namlich mit einem 3°
Hof junker Matthieu — Sohn des Ministers von Schfeunes -herum,
einem wusten, uberall beliebten, iiberall verschlimmerten, pfiffi-
gen, kiihnen, spottischen Menschen, der, wenn es seinDienster-
laube, entweder driiben bei den Kammerherrlichen oder hier bei
ihrem Sohne liege ; der Himmel wisse iiberhaupt, was er im Schilde
fiihre bei 'seinen Besuchen in einem biirgerlichen Hause.« Sie
3. HUNDPOSTTAG 527
freuete sich, claB Viktor seinen alten Freund von den Fangeisen
und Fangzahnen dieses Wiistlings wegfiihren wiirde. Viktor
druckte ihr geruhrt die Hand und sagte: »Ich mochte sein Herz
kaum mit dem besten Bundgenossen teilen - nicht einmal ver-
lieben diirfV er sich, wenns auf mich ankame - bloB mich und
eine Person muBt* er lieben, die ihn gar nicht richtig schildert —
namlich Sie.« Er setzte noch viel MiBtrauen in die Zeichnung von
den Sonnenflecken Matthieus, weil die Weiber selten exzentrische
Menschen fassen, und weil zwar Madchen oft wilde Manner lieben,
10 aber die (durch die Ehe aufgeklarten) Frauen allemal sanfte.
Er brachte das Herz verehelichter Weiber leichtlich in sein Zug-
garn durch eine gewisse wohlwollende Galanterie gegen sie, die
ein Deutscher nur fur ledige aufhebt. Alte Damen und alte Tabak-
pfeifen aber bekleben leicht an mannlichen Lippen. Die jiingern
Tauben lockte er durch sein komisches Salz an sich, wie man Tur-
teltauben durch anderes fangt; ein Bonmot ist ihnen ein dictum
probans, ein Pasquino ein magister sententiarum, und die kri-
tische Lastergeschichte ist ihnen Kants Kritik der reinen Vernunft,
die verbesserte Auf lage. Auch mit seinerh medizinischen Doktor-
20 ring hakelte er weibliche Seelen an sich an; als Arzt macht' er auf
' korperliche Mysterien Artspruch, und diesen gehen dann leicht
die geistigen nach.
Abends, als das Waldwasser des ersten Jubels verlaufen war,
waren endlich drei gescheute Worte moglich; auch keifte der
Pfarrer jetzt weniger : denn die Freude hatte ihn vormittags bissig
gemacht. Der Zorn und Korper werden miteinander gestarkt, da-
her durch die Freude - daher hat man im Januar und Februar, wo
die Hunde die langere Wut bekonimen, die kurze des Zorns - da-
her brummen Wiedergenesende starker um sich, so wie Leute
30 unter starken Geistes-Anspannungen, z. B. Hundpostschreiber -
daher ist man in den Ermattungen nach Migrane oder nach dem
Rausche sanfter als ein Lamm.
Gegen Abend trug sich schon etwas von Bedeutung zu. Apol-
lonia fegte ihre Blutverwandtschaft und ihren Gast mit Kehr-
wischen noch friiher hinaus dls Spinnen und Staub. - Es sollte
am 4ten Mai die heutige Ankunft des bisherigen Fluchtlings recht
528 HESPERUS
anstandig gefeiert werden. - Flamin und Viktor gingen voraus
durch den Pfarrgarten, dessen Merkwiirdigkeiten und curiosa so
erheblich sind, daB der Korreferent dieser Akten sich wunscht,
er konnte mir den Garten durch die Hunds-Stafette klarer schil-
dern. Der Kaplan hatte viele Beete nicht zu Langvierecken ab-
gestampft, sondern sie zu lateinischen Buchstaben in Doppel-
Fraktur, als Anfangbuchstaben seiner Familie, geschweift und
umgebogen. Sein eignes E hatt' er mit Rettich ausgesaet, Apollo-
niens A mit Kapuzinersalat, Flamins F mit Kohlrabi, Sebastians
S mit SuBholz oder Glycyrrhiza vulgaris. Wer nicht zu saen war, io
dem blieb allezeit noch ein Platz und almanac royal auf Kiirbissen
und Stettinerapfeln leer, die ein durchbrochenes Papier mit dem
ausgeschnittenen Namen umflocht, der nach Abschalung dieses
Einbands grun oder rot auf der bleichen Frucht erschien. Viktor
fragte, als er bei einem K aus Tulpen voriiberging, seinen Flamin
um die Bedeutung. »Warum fragst du?« fragte dieser; und die
nachkommenden gesprachigen Pfarrleute vertrieben die Ant-
wort. — Ober der Pfarrwiese stand (man setzte nur uber den Bach)
ein Hiigel und darauf ein alter Wartturm, in dem nichts war als
eine Holztreppe, wie oben darauf nichts als ein bretterner Deckel 20
statt des italienischen Dachs; beides hatte der. Kammerherr
machen lassen, damit die Leute - (er nicht; denn die Gefiihllosig-
keit der Magnaten arbeitet fur das Gefuhl der Minoriten) - sich
droben ein wenig umschauen konnten. Man sah da die Saulen-
ordnung des Schopfers, die Schweizerberge, stehen, und den
Rhein mit seinen Schiffen ziehen. Am Turm waren zwei von der
Natur ineinander gewundne Lindenbaume hinaufgestiegen, um
oben mit ihrem Gestrauche, das man zu einer grunen Nische aus-
gehohlet und mit einer Grasbank unterbauet hatte, zuweilen einen
geruhrten Eilander zu facheln. Das liebende Personale erstieg die 50
Zinne und brachte in der landlichen Brust eine Ruhe mit, die dar-
in sanft den auBern stillen Himmel nachmalte, der diese Guten
mit seinen verhullten Sonnen umzog. Noch eine Wolke gltihte
sich ab, aber sie zerfloB, ehe sie ausbrannte.
Jetzt konnten die Supplementbande der allgemeinen. Welt-
historie von St.Liine bequem nachgeliefert werden. Eymann
3. HUNDPOSTTAG 529
konnte seine Foliobande gravaminum (Beschwerden) uber die
Konsistorialrate und Ratten einreichen. Auf einmal wurde unten
Agathe wie ihre heilige Namenbase angerufen vom Blasbalgtreter
loci, der Dorfs-Lehnlakai und Pfarrkutscher war. Wenn einige
Autores sagen, der Kutscher war blind und der Gaul taub: so
kehren sie die Sache gerade um. Der Kerl war taub. Er hatte in
seinem mouchoir de Venus - das Schnupftuch ist beim Pobel die
Brieftasche und der Briefumschlag, weil ihm ein Brief so wichtig
und selten ist wie einem Rezensenten ein guter — heute eine Brief-
10 schaft an Agathen ausgekundschaftet und ausgewickelt, die er
gestern mit des Lords seiner hatte abgeben sollen. Aber Kutscher
halten den Herrn nur flir die Nebensonne und Nebenpartie des
Pferds, und die Frau gar nur fur ein Schmarotzer-Gewachs des
Stalls; daher bedeutet »GIeich!« bei ihnen ein oder ein paar Tage;
und »morgen vormittags« bedeutete auf dem Regensburger An-
sagzettel der Abstimmgegenstande ein oder ein paar Jahre. —
Agathe eilte lieber hinunter, hielt den Brief gegen die Hchtere
Abendgegend und entzifferte etwas, was sie mit funkelnden Augen
im Galopp die Treppe hinauftrug. »Sie kommt morgen!« rief sie
10 auf Flamin zu; denn sie schien in jedem ihrer Freunde beinahe nur
den Gesellschafter und den Freund ihrer andern Freunde zu lie-
ben. Klotilde (Le Bauts einzige Tochter von der ersten Frau, der
Niece des Lords) ging namlich aus dem Frauleinstift in Maienthat,
wo sie erzogen worden, zum Vater zuruck.
»Nehmen Sie sich in acht,« sagte die Kaplanin, »sie ist sehr
schon.« - »Dann«, sagt' er, »denk' ich vielmehr darauf, mich nicht
in acht zu nehmen.«-»Oberhaupt« (fuhr sie fort) »sammelt sich
jetzt alles Scheme um Sie« (er wollte sie hier durch einen schmei-
chelnden Blick verwirren und abstrafen, aber vergeblich) - »die
>° italienische Prinzessin kommt zu Johannis auch, und diese soil so
reizend seih, als wenn sie gar keine Prinzessin ware, sondern nur
eine Italienerin.« Sie tat hier den meisten Prinzessinnen unrecht;
aber eine gewisse Ironie uber ihr eignes Geschlecht war der ein-
zige Fehler der Kaplanin, fur die es wie fur mehre Mutter beinahe
keine Stiefsohne und beinahe nichts als Stieftochter gab. Er er-
widerte, er hoffe, daB noch wenige Prinzessinnen, selbst in Ameri-
530 HESPERUS
ka, kopuliert worden, in die er sich nicht vollstandig verschossen
hatte - und das bloB aus Mitleid mit so einem armen zarten Tier-
chen oder Wappentiere, das unter die Siegelpresse und dann auf
die Vertrage gedruckt werde, welche oft die einzigen Kinder die-
ser Ehen waren - »die jungen Landesmutter stehen wahrlich wie
Bienenmutter in ihrem Weiselgefangnis feil und passen ab, in
welchen Korb sie der Landes- oder Bienenvater noch heuer ver-
handle.«
Eine Frau kanns von einem Mann, den sie hochachtet, gar nicht
begreifen, daB er sich verliebt, wenns nicht in sie ist, und sie kanns i
kaum erwarten , bis sie seine Geliebte zu Gesichte bekommt- eben-
so erpicht ist sie auf dieses Mannes Manier in seiner Liebe, ob sie
namlich aus der niederlandischen oder aus der fran^osischen oder
der italienischen Schule her sei. Die Kaplanin fragte ihren ver-
traulichen Gast auch daruber. »Mein Harem«, fing er an, »langt
von dieser Wane bis zum Kap und um die ganze Erdkugel herum
- Salomo ist nur ein gelber Strohwitwer gegen mich - ich habe
sogar seine Weiber darin, und von der Eva an mit ihrem Sodoms-
Borsdorfer-Apfel bis zur neuesten Eva mit einem Reichsapfel und
bis zur Marquise mit einem bloBen Fruchtstuck sind sie alle in 2
meiner Haft und Brust.« Eine Frau entschuldigt die Achtung fur
ihr Geschlecht damit, daB sie mit darin ist; die Weiber selber
haben nicht einmal einen Begriff Von den Eigenheiten ihres Ge-
schlechts. »Was sagt aber die Favoritsultanin dazu?« fragte die
Grofiinquisitorin.
»Die?« - stockt' er, weniger verlegen als in die Fulle auf bluhen-
der Traume versunken. »Freilich diem - (fuhr er fort :) »ich setze
inzwischen meinen Kopf 7um Pfande, jeder Jiingling hat zwei
Perioden oder doch Minuten. In der ersten setzt er selber seinen
Kopf zum Pfande, er wolle lieber sein Herz in seinem Thorax oder 3
Oberleib verschimmeln lassen und seinen poples oder die Knie-
kehle erlahmen, als daB er beide fiir eine andre Frau bewegte als
fur die allerbeste, fiir einen wahren Engel, fiir eine ausgemachte
Quinterne - er dringt durchaus auf den hochsten Gewinst aus dem ■
Ehelotto, in der ersten Periode namlich - denn die zweite kommt
auch und hinterbringt ihm nur so viel, die weibliche Quinterne
3 . HUNDPOSTTAG 5 3 1
wiirde natiirlich eine mannliche fodern, und falls er die
ware . . .
Ein dummer Auszug, ein Ambe bin ich, sag' ich und lasse die
Periode gar nicht ausreden; aber ich werde doch fortpassen auf
die Quinterne.. Was kame dabei heraus, daB man ein Mensch
ware, wenn man kein Narr ware? - Zog* ich nun die gedachte
Quinterne, welches ich nun wohl ohne iibermaBige Hoffnung
voraussetzen darf, so wiird* ich nicht gleichgultig dabei sein, son-
dern selig - O du Heber Himmel! stehendes FuBes miiBt' ich fri-
[o siert und silhouettiert werden - ich machte Verse und Pas, und
beide mit ihren herkommlichen pedibus (FiiBen) - ich buckte
mich ofter als ein andachtiger Monch, um Verbeugungen und (wo
abzugrasen ware) um StrauBer zu machen - Leib, Seele und Geist
setzte ich an mir aus so vielen Fingerspitzen und Fuhlfaden zu-
sammen, daB ich es schon spiirte (die Quinterne spiirte es gar
noch eher), wenn unsre zwei Schatten zusammenstieBen - ein
schmales betastetes Endchen Band ware eine gute Ableitkette des
elektrischen Athers, der in Blitzen aus mir schosse, da sie negativ
geladen ware und ich positiv - vollends gar ihr Haar beriihren,
to das konnte keine geringere Entziindung geben, als wenn eine
Welt in das aufgebundne eines Bartkometen geriete. . . .
Und doch, was ist denn das alles, wenn ich Verstand habe und
bedenke, was sie verdient, diese Gute, diese Treue, diese Unver-
diente - Was waren nicht vollends dumme Verse, Seufzer,
Schuhe (die Stiefel taY ich weg), ein oder ein Paar druckende
Hande, ein aufopferndes Herz fur ein kleines Gratial und don gra-
tuit, wenn damit ein Geschopf abgefunden werden sollte, das, wie
ich immer mehr sehe, vom schonsten Engel, der den Menschen
durch das Leben fuhrt, alles besitzt, etwa die Unsichtbarkeit aus-
io genommen - das alle Tugenden hat und alle in Schonheiten ver-
kleidet - das schimmert und erquickt wie dieser Fruhlingabend,
und doch wie er seine Blumen und Sterne verbirgt, ausgenommen
den der Liebe - dessen allmachtige und doch leise Harmonika des
Herzens ich so gern horen, in dessen Augen ich so aufierordent-
lich gern die Tropfen der weichern Seele und den Blick der hohern
sehen mochte, neben dem ich so gern stehen bleiben mochte unter
532 HESPERUS
der ganzen fiiehenden opera buffa und seria des Lebens, so gern,
sag' ich, damit der arme Sebastian doch, wenn am heiligen Abend
des Lebens sein Schatten immer langer wiirde, und die Gegend
um ihn selber zu einem weiten Schatten zerflosse und er selber,
damit ich doch beide Schattenhande« - (die eine hielt gerade Fla-
min) - »beschauen und ausrufen konnte :« — (stockend)
»der alte Balgtreter kommt auch mit was in einer!«
Da er weder seine Running mehr hinter Scherz, noch die Merk-
male derselben in seinen Augen hinter einige tief hangende Lin-
denblatter verdecken konnte : so wars in der Sekunde, wo seine ic
Stimme unter ihr erliegen wollte, ein rechtes Gliick, daB er uber
die Warte hinausschauete und den Kutscher wieder heranschrei-
ten sah. Dieser rief unten: »von SeebaBen hatt' ers gekriegt, aber
den Augenblick erst.« Agathe lief leidenschaftlich hinab und un-
ten, nach Lesung eines Blattchens, iiber die — Wiesen hiniiber.
Der Balgtreter stieg, gleich einem Barometer vor dauerhaftem
Wetter, langsam hinauf und brachte sich und den zuriickgelang-
ten Zettel, trotz alles obern Winkens, mit seinen Hebelarmen
keine Minute fruher auf den Turm. Im Zettel stand mit Klotildens
Hand: »Komm in deine Laube, Geliebtel« 2c
Alle Augen liefen jetzt der Lauferin nach und flatter ten mit ihr
durch das Helldunkel des Abends in den Pfarrgarten, um dessen
Laube man doch niemand sah. Kaum hatte Agathe die Offnung
der letzten ins Auge bekommen, als ihr Eilen Fliegen wurde -
und als sie beinahe an ihr war, flog eine weiBe Gestalt mit ausge-
breiteten Armen heraus und in ihre hinein, aber die Laube ver-
hullte das Ende der Umarmung, und lange standen alle wartende
Augen vergeblich auf der Klause der Liebe.
Die Kaplanin, die sonst alien Madchen nur Standeserniedri-
gungen, nicht Standeserhohungen gewahrte, erteilte jetzo Klotil- 30
den alle sieben Weihen und lobte sie so sehr — vielleicht auch da
sie ihre Landsmannin von mutterlicher Seite war -, daB Viktor
die Lobrednerin und die Gelobte hatte zugleich umarmen mogen.
- Der Kaplan setzte zu ihrem Lobe noch dazu, er habe ihr Namens-
Initial-K mit Tulpen gleichsam wie einen Titel rotgedruckt, und
der Buchstabe auf dem Beete glanze, wenn er bliihe, weitund breit.
3. HUNDPOSTTAG 533
Der Ehe- und Saemann fiel jetzt immer mehr in den Spharen-
gesang der Nacht mit dem Schnarrwerk seines Hustens ein; end-
Hch machte er sich mit der enthusiastischen Freundin Viktors fort
und lieB die beiden Freunde allein in der schonen Nacht mit den
zwei vollen Herzen zuruck, die ineinander sich zu ergieBen
lechzten.
Flamin hatte diesen ganzen Tag erne schweigende riihrende
Sanftmut gezeigt, die selten in sein Inneres kam, und die zu sagen
schien: ich habe etwas auf dem Herzen. Als die Warte oder war,
so verheimlichte Viktor, der von liebenden Traumen voll und
weich geworden, seine in Tranen stehenden Augen nicht mehr,
er schlug sie frei auf vor dem altesten Liebling seiner Tage und
zeigte ihm jenes offne Auge. welches sagt: blicke immer durch
bis zum Herzen hinunter, es ist nichts darin als lauter Liebe...
Stumm gingen die Wirbel der Liebe um beide und zogen sie naher
- sie offneten die Arme fur einander und sanken ohne Laut zu-
sammen, und zwischen den verbrliderten Seelen lagen bloB zwei
sterbende Korper — hoch vom Strome der Liebe und Wonne tiber-
deckt, driickten sich auf eine Minute die trunknen Augen zu; und
als sie wieder aufgingen, stand die Nacht erhaben mit ihren in
ewige Tiefen versunknen Sonnen vor ihnen, die MilchstraBe ging
als der Ring der Ewigkeit um die UnermeBHchkeit, die scharfe
Sichel des Erdenmonds ruckte schneidend in die kurzen Tage und
Freuden der Menschen. -
Aber in dem, was unter den Sonnen stand, was der Ring um-
zog, was die Sichel angriff, war etwas hoher, fester und heller als
diese - es war die unvergangliGhe Freundschaft in den vergang-
lichen Hullen.
Flamin, anstatt durch diesen erschopfenden Ausdruck unsrer
sprachlosen Liebe befriedigt zu sein, wurde jetzt ein Iebendes
fliegendes Feuer. »Viktor! in dieser Nacht gib mir deine Freund-
schaft auf ewig und schwore mir, daB du mich nie in meiner Liebe
zu dir storen willstk - »0 du Guterl ich hab' dir ja langst mein
Herz gegeben, aber ich will gern heute wieder schworen.« - »Und
schwore mir, daB du mich niemals in Ungliick und Verzweif lung
stiirzen willst.« - »Flamin ! das tut mir zu weh.<( - »0 ich fleh* dich
534 HESPERUS
an, schwore es und hebe deine Hand auf und versprich mir, wenn
du mich auch hast unglucklich gemacht, daB du mich doch nicht
verlassest und nicht hassest<<. . . . (Viktor preBte ihn an sich) »Son-
dern wir gehen hieher, wenn wir uns nicht mehr aussohnen kon-
nen - o es tut mir auch wehe, Viktor! - hieher und umfassen uns
und stiirzen uns hinab und sterben«- »Ja!« (sagte Viktor erschopft
leise) »o Gott! ist denn etwas vorgegangen?« - »Ich will dir alles
sagen: nun leben und sterben wir miteinander« - »0 Flamin! wie
lieb* ich.dich heute unaussprechlich!« - »Nun lass' ich dich mein
ganzes Herz sehen, Viktor, und offenbare dir alles.« — i
Aber eh' ers konnte, muBt* er vorher sich durch Verstummen
ermannen, und sie schwiegen lange, in den innern und den auBern
Himmel vertieft.
Endlich konnt* er anfangen und ihm erzahlen, daB jene KIo-
tilde, uber die er heute gescherzt, sich mit unausloschlicher Schrift
in sein Inneres geschrieben - daB er sie weder vergessen noch be-
kommen konne - daB das schleichende Fieber einer furchtsamen
wahnsinnigen Eifersucht aufreibend in ihm brenne - daB er mit
ihr zwar kein Wort iiber seine Liebe nach ihrem eignen Verbote
sprechen diirfe, als bis ihr Bruder (der Infant) wieder da und dabei a
sei - daB sie aber, nach ihrem Betragen und nach Matthieus Ver-
sicherungen, vielleicht einige fur ihn habe - daB ihr Stand die
ewige Scheidemauer zwischen beiden bleibe, so Ian g' er dtn juris ti-
schen Weg anstatt des militarischen zu seinem Steigen einschlage -
und daB er auf dem letzten, wenn der Lord ihm seine Hand dazu
biete, schneller zu Klotilden auf ahnliche Stufen kommen wiirde -
und daB die Bitte, von der er in seinen Briefen an Viktor ge-
sprochen, eben die sei, alles dem Lord wieder zu erzahlen und
seinen Beistand zu begehren. - Im Grunde konnte nur sein wilder
Arm den Degen besser als die Gerechtigkeitwaage halten. Eine ;
fiirchterliche Anlage zur Eifersucht, die schon von kiinftigen Mog-
lichkeiten Zuckungen bekommt, war die Hauptursache. Viktor
freuete sich, daB er seinen Gefiihlen die beste Sprache geben
konnte, namlich Handlung, und sagte ihm alles mit Entziicken
iiber sein Zutrauen und iiber das AuBenbleiben befiirchteter
Neuigkeiten zu. - So gingen sie, von neuem aneinander befestigt,
4. HUNDPOSTTAG 535
zur Ruhe, und das Zwillinggestirn - dieser fortbrennende ver-
schlungne Name der Freundschaft - schimmerte in Westen zu-
winkend aus der irdischen Ewigkeit heriiber, und das Herz des
Lowen war zu seiner Rechten angeziindet. . . .
Auf diese Erde sind Menschen gelegt und an den FuBboden be-
festigt, die sich nie aufrichten zum Anblick einer Freundschaft,
welche um zwei Seelen nicht erdige, metallene und schmutzige
Bande Iegt, sondern die geistigen, die selber diese Welt mit einer
andern und den Menschen mit Gott verweben. Solche zum
o Schmutz Erniedrigte sind es, die, gleich den Reisenden, den Tern-
pel, der um die Alpenspitze hangt, von unten fur bodenlos und
schwebend ansehen, weil sie nicht in der Hohe auf dem groBen
Raurne des Tempels selber stehen, weil sie nicht wissen, daB wir
in der Freundschaft etwas Hoheres als unser Ich, das nicht die
Quelle und der Gegenstand der Liebe zugleich sein kann, achten
und lieben, etwas Hoheres, namlich die Verkorperung und den
Widerschein der Tugend, die wir an uns nur billigen, aber an an-
dern erst lieben,
Ach konnen denn hohere Wesen die Schwachen von Schatten-
o Gruppen strenge berechnen, die einander festzuhalten suchen,
von Nordwinden auseinander gedrangt - die voneinander die edle
unsichtbare Gestalt an sich driicken wollen, woriaber dick und
plump die Erdenlarve hangt - und die einander in Graber nach-
fallen, worein die Beweinten ihre Weinenden ziehen?
4. HUNDPOSTTAG
SchattenriG-Schneider - Klotildens historische Figur - einige Hofleute und
ein erhabner Mensch
Eigentlich wollte Klotilde - erfuhr Sebastian am Morgen -
bis nach Johannis im Stifte bleiben : aber da ihre beste Freundin
o und Stift-Genossin Giulia voraus fortgegangen war, nicht zu den
Eltern, sondern unter die Erde, so muBte sie das verwundete Auge
durch eine schnellere Abreise wegziehen von dem Grabhiigel, der
5 3<> HESPERUS
wie eine Ruine iiber dem verlornen Herzen ruhte. Ohne Qepack
war sie dem blumenlosen Golgatha ihrer verwundeten Seele ent>
flohen, und ihr stand noch ein zweiter Anblick desselben, eine
zweite Abreise und die Wiederholung der alten Tranen bevor.
Nie-wurde einegroBe Schonheit von einer kleinen unbefangner
gelobt als von Agathen Klotilde. Sonst schatzen Madchen an
Madchen nur das, Herz ; die zerstiebenden Reize eines fremden
Gesiehts haben so wenig Wert in ihren Augen, daB sie ihrer kaum
erwahnen mogen. JiingHngen wirft man richtig vor, daB sie gern
schone Jiinglinge zu ihren Freunden auslesen; bei Madchen hin- i
gegen wollen ihre Lobredner viel daraus machen, daB sie die weib-
liche Schonheit als einen zu lockern und niedrigen Mortel und
Leim der Freundschaft ganzlich verschmahen, und daB daher
einer schonen Frau das Herz der allerhaBlichsten teurer sei als das
Gesicht der schonsten auf den fiinf Erdgiirteln und Erdscharpen.
Agathe war anders : sie lief schon am Morgen ins SchloB, um die
Freundin anzukleiden.
Flamin macht' es noch arger: er konnt' es nicht erwarten, daB
die Wirklichkeit selber Klotildens Madonnenbild in Viktors Ge-
hirnkammern aufhing; er kam ihr mit der Federzeichnung eines z
Malers zuvor, die wenigstens nicht - kalt ist; denn Maler schrei-
ben im asthetischen und im kalligraphischen Sinne selten gut. Der
Maler hatte, bloB um Klotilden zu sehen und zu zeichnen, fast alle
Sonntagmorgen auf einem Berg von Maienthal gelegen, wo er die
glanzende Landschaft um das Stift auf seine Blatter trug, und den
schonen Kopf, der aus dem achten Fenster heraussah^ in sein Herz.
Sogar Flamin, der sonst die prosaischen Buchdruckerstocke iiber
die lebenden Olgemalde der Dichtkunst stellte, fand an der fol-
genden Madonna oder Klotilde des Malers Geschmack:
»Wenn mein Ich ein einziger Gedanke ist und brennt, und wenn 3
ich r von Flammen umweht, die Hand in Farben tauche, um mich
darin abzukiihlen - wenn dann die hohe Schonheit 1 , die ewig in
mir strahlet, ihr Spiegelbild auf die Wellen, die Himmel und Erde
zitternd malen, herunterfallen lasset und den klaren Strom, ent-
flammt, wenn alsdann ein dem Himmel entsunknes Pallasbild auf
x Das Ideal des Schonen.
4. KUNDPOSTTAG
537
dem Strome ruht, eine Lilienhiille und eines aufgeflognen Engels
weggelegte Fliigeldecke -.eine Gestalt, deren unbefleckte Seele
kein Leib, sondern der Schnee umwallet, der urn den Thron Got-
tes Iiegt, und aus dem die Engel ihre fliichtigen Reisekorper 1 bauen
— und wenn die zarteste Bekleidung zu grob und hart und ein hol-
zerner Rahmen um diesen geisrigen Hauch auf dem Antlitz wird,
um diesen zitternden Blumensammet von Fleisch, um diese Haut
aus weiBen Rosen, von roten durchglommen - wenn dieser Wi-
derschein meiner leuchtenden Seele auf die Farbenflache fallt; so
jo wendet sich jeder um und denkt: Klotilde ruht am Ufer und
schlummert Und hier ist meine Kunst aus; denn ach, wenn sie
erwacht, und wenn erst die Seele diese Reize wie Schwingen be-
wegt - wenn die verschlossene Lippenknospe zum Lacheln^uf-
bricht, und der Busen einen halben Seufzer einatmet und blode
nicht ausatmet - wenn die Seufzer, in Gesange verhiillet, aus die-
sen Lippen, die wie zwei Seelen einander uberschweben, aber nicht
beruhren, wie Bienen aus Rosen ziehen — wenn sich das Auge
zwischen Glanz und Tranen bewegt - wenn dann endlich die
■Gottin der himmlischen Liebe zu ihrer Tochter tritt und elektrisch
Ixo ihr stilles Herz beriihrt und sagt: liebe auch! und wenn nun alle
Reize erbeben und auf bliihen, zogern und schmachten, hoffen.und
zagen, und sich das traumende Herz tiefer in seine Bliiten ver-
schlieBet und zitternd sich hinter eine Trane vor dem Glucklichen
versteckt, der es errat und verdient. . . . dann verstummt die Gliick-
Hche, der Gluckliche und der Maler.«
Viktor sah den Glucklichen neben sich, der sein Freund war,
mit feuchten Augen an und sagte: »Das warst du wert!« - Aber
nun stachen ihn zwanzig Spornrader, Agathen nachzufolgen ins
SchloB, die Federzeichnung des Malers - die Kleiderordnung -
L die Verwandtschaft - die Begierde, die jeder Mensch hat, die Hul-
din und Infantin seines Freundes zu sehen — die Begierde, die
nicht jeder hat, aber er, jemand zum ersten Male (lieber als zum
achten Male) zu sprechen - am meisten der gestrige Abend. Fla-
mins Feuer hatte Viktors Brust gestern ganz voll Zunder ge-
brannt, durch welchen lauter Funken liefen - er hatt' ihm alles
1 Wie die Rabbinen nach Eisenmengers Judentum P. II.7. glauben.
538 HESPERUS
gleichgultig vorstellen sollen, weil der Kampf gegen die Liebe sich
vom Kampfe fur sie in nichts unterscheidet als in der Rangord-
nung. Aber der Leser glaube ja nicht, jetzo werde (wie in einem
entmannten und entmannenden Roman) in der Biographie der
Teufel losgehen und der Held ins Schlofi rnarschieren und da vor
Klotilden hinfallen und kniefaHig flehen : »Sei die Heldin !« und
sich mit ihr herumzanken aus Liebe und mit dem vorigen Pastor
fido aus HaB und werde wirklich nichts anders machen als den
asthetischen selbstsiichtigen empfindsamen - Schuft. Wenn ich
letztes wtinschte, so konnt* ich mich nur damit entschuldigen, daB n
ich dann etwan zu eiriigen biographischen Mordtaten und Duellen
kame; ich hoffe aber, ich werde schon ohne Nachteil der Moral
und ehrlich es zu einem und dem andern Mord- und Totschlag in
diesen Blattern treiben - wenigstens im letzten Bande, wo jeder
asthetische Schnitter seine Leute ausholzet und die Halfte in die
Oubliette oder Familiengruft des Dintenfasses wirft.
Viktor hatte zu viel Jahre und Bekanntschaften, urn so ohne
Respekt-Tage und Doppel-Uso-aufdemPlatze-noch vordem
Abendessen - cito citissime - was hast du, was kannst du - ver-
liebt zu werden. Sein Sehnerve zerfaserte sich taglich in feinere z<
zartere Spitzen und beriihrte alle Punkte einer neuen Gestalt, aber
die wunden Fuhlfaden krummten sich leichter zuriick; in jedem
Monate machte ein ungesehenes Gesicht, wie neue Musik, einen
stdrkern und kuriern Eindruck. Er konnte sich nur in die Liebe
hinein - reden, nicht hineinschauen. BloB Worte, von Tugend
und Empfindung beflugelt, sind die Bienen, die den Samenstaub
der Liebe in solchen Fallen von einer Seele in die andre tragen.
Eine solche bessere Liebe aber wird vom kleinsten unmoralischen
Zusatz vernichtet; wie konnte sie sich zusammensetzen und her-
auflautern in einem besudeltenHerzen, das der Hochverrat gegen 3-
einen Freund erfullte?
Viktor wollte schon um halb zehn Uhr ins SchloB, aber die
Kammerherrin hatte die Augenbraunen und den Seidenpudel noch
nicht ausgekammt. - SeebaB brachte ein Billet an Flamin:
»Ich sehe Sie, mein Teuerster, heute nicht. Mich binden drei
Grazien an; und die dritte haben Sie selber geschickt. Sagen Sie
4. HUNDPOSTTAG
539
Ihrem britischen Freunde, er soli mich Heben, da ich Sie liebe.
Ohne Sympathie kann wohl die Chirurgie bestehen, aber nicht
die Freundschaft.
Ihr
Matthieu.«
Ein narrisches Billet! Als Viktor horte, daB Agathe die dritte
Grazie sei : so war ihm ein groBes Loch in den Vorhang des Thea-
ters geschnitten, auf welchem Matthieu Flamins Freund und
Agathens - ersten Liebhaber machte. Nichts ist fataler als ein
i Nest, worin lauter Bruder oder lauter Schwestern sitzen; gemischt
zu einer bunten Reihe muB das Nest sein, Briider und Schwestern
namlich schichtweise gepackt, so daB ein ehrlicher Pastor fido
kommen und nach dem Bruder fragen kann, wenn er bloB nach
der Schwester aus ist; und so muB auch die Liebhaberin eines
Bruders durchaus und noch notiger eine Schwester haben, deren
Freundin sie ist, und die der Henkel und Schaft am Bruder wird.
Unsre turkische Anstandigkeit verlangte also, daB Matthieu mit
seinem Operngucker nach Flamin zielte, um Agathen zu sehen;
und daB Klotilde diese besuchte, da Flamin als Mann ohne Ahnen,
Lo aber von Ehre durchaus seine biirgerlichen Besuche dem kammer-
herrlichen Hause nicht aufdrang. Klotilde kam oft; und war da-
durch in einem mir bis jetzt unaufgelosten Widerspruch mit
ihrem weiblich-erhabnen Charakter;
Flamin tauchte Matthieus Bild in einen ganz andern Farbekessel
als der Mutter ihren: ein liiderliches Genie war er und nichts
Schlimmers. Er machte alles in der Welt nach, und ihn konnte
man nicht nachmachen - er konnte alle Spieler der Flachsenfinger
Truppe nachspielen und travestieren und die Logen dazu - er
verstand mehr Wissenschaften als der ganze Hof, ja mehr Spra-
lo chen, bis sogar auf die Stimmen der Nachtigall und des Hahns,
welche er so tauschend nachmachte, daB Petrarca 1 und Petrus
davongelaufen waren - er konnte bei den Weibern tun, was er
wollte, und jede Hofdame entschuldigte sich mit der andern -
denn es gehorte einmal zum Ton in Flachsenfingen, seine Treue
1 Petrarca mied (wie deutsche Rezensenten) die Nachtigallen und suchte
die Frosche.
540 HESPERUS
einmal auf die Probe gesetzt zu haben. - Man sagt, die Liebe gegen
ihn wurde wie ein S trump j 'bei der Wade zu stricken angefangen,
es ist aber grundfalsch - es ist daher bei so einer ununterbrochnen
MaBigkeit in Hoflustbarkeiten kein Wunder, daB er starker und
gesunder war als der ganze ausgebrannte abgedampfte Hof - nur
stechend war er zu sehr und zu philosophisch und fast zu schel-
misch.
Ich, Viktor und der Leser haben noch immer nur eine unbe-
stimmte verwischte Kreidenzeichnung von Matthieu im Kopf.
Meinem Helden gefiel er ein wenig, wie jeder exzentrische Mensch i
einem exzentrischen; es war sein Fehler, daB er der Kraft zu lekht
die ihngen, sogar moralische, verzieh. - Mit verdoppelter Neu-
gierde trat er seinen Weg ins SchloB oder vielmehrin dessen gro-
Ben Garten an, der an jenes seinen Halbzirkel von grunen Schon-
heiten anschlieBt. Er lief im Hafen eines Laubenganges ein und
freuete sich, wie der durchlocherte Schatten der Lauben, um deren
Eisen-Gerippe sich weiche Zweige wie sanftes Haar um Haar-
nadeln wickelten, blendend uber seinen Korper glitt. Neben sei-
nem Laubengange strich ein anderer gleich. Er ging versaeten
schwarzen Papier schnitzeln als Wegweisern nach. Das Gefluster i
des Morgenwindes warf von einem Zweige ein Blattchen feines
Papier herab, das er nahm, um es zu lesen. Er war noch uber der
ersten Zeile: »Der Mensch hat dritthalb Minuten, eine, um einmal
zu lacheln. . .«, als er an einen fast waagrechten Zopf anstieB, der
eine schwarze Herkules-Keule war, verglichen mit meinem oder
des Lesers geflochtenen Haar-Rohrchen. Den Zopf stiilpte ein
niedergekrempter Kopf empor, der in einem horchenden Zielen
aus einer Lauben-Nische eine weibliche Silhouette ausschnitt,
deren Urbild im Neben laubengang mit Agathen sprach. Auf Vik-
tors Gerausche kehrte die Person, der man das Halbgedcht durch 3
die Nische entwendete, sich verwundert herum und erblickte den
Inhaber des Zyklopen-Zopfes mit der Silhouettenschere und den
Helden der Hundposttage. Der Inhaber druckte, ohne weiter ein
Wort zu sagen, seine Kiinstler-Hand durch das Gestrauch und
langte ihr ihren SchattenriB oder Schattenschnitt hinaus. Agathe
nahm ihn lachelnd; aber die Ungenannte schien jenen Ernst, der
4. HUNDPOSTTAG
541
sich auf weiblichea G^sichtern in nichts von- der Verachtung
nnterschefdet als in der Zv/eideutigkeit, gegen den Form- und.
Geskhterschncider anzunehmen, weil er den. Verdacht des Hor-
chens durch seine Schere zu sehr erweckte. Viktor konnte von der
Ungenannten noch nichts als die Lange wahrnehmen, die, ob-
gleich ein wenig vorgebogen gehalten, doch uber das Gewohn-
liche ging. Der Gesichterschneider drehte sich mit zwei blitzen-
den schwarzen Augen gegen Viktor herum, empfing ihn recht
artig, wuBte dessen Namen, sagte seinen eignen Matthieu -
• und hatte beim achten Schritt schon vier gute Einfalle gehabt.Der
fiinfte war, daB er meinen Helden ungebeten dem Paar in der
Seitenlaube vorstellte.
Das Laubsprachgittcr horte auf, eine wciblichc Gestalt trat her-
vor, und Viktor war dariiber so betroffen^ daB er, der wenig von
Verlegenheiten wuBte, oder durch sie nur geistreicher wurde,
seine Anzugpredigt ohne das Exordium anfing. Und das war -
Klotilde.
Als sie drei Worte sagte: horte er so sehr auf die Melodic, nicht
auf den Text, daB er nichts davon verstand...
1 - Hier liegt auf dem schneeweiBen Grund von Schweizerpapier
eben die Silhouette neben mir, die Matthieu von ihr mit der Schere
genommen. Mein Korrespondent will haben, ich soil Klotilden
ungemein schon vorschildern (er sagt, hundert Dinge sind sonst
in dieser Historie nicht zu begreifen), und deswegen schickte er
mir (weil er meiner Phantasie nicht trauet) wenigstens ihren
SchattenriB. Und der soil auch unter dem Schreiben in einem fort
angesehen werden, um so mehr, da er einem schonsten andern
v/eiblichen Engel, der je aus einem unbekannten Paradies in diese
Erde hereingeflogen, gleichsam aus den Augen oder vielmehr aus
• dem Gcsicht geschnitten ist - ich meine das Fraulein von**,
jetzige Hofdame in Scheerau; ich weiB nicht, ob sie alle Leser
kennen.
Viktor kam es vor, als wenn auf einmal sein Blut heraus-
gedrungen ware und mit warmen Beriihrungen auBen auf der
Haut seine Zirkel beschriebe. Endlich brachte Klotildens kaltes
Auge, das nicht der trunkne Stolz auf Reize, sondern der niichterne
542 HESPERUS
zuriicktretende und nur dem weiblichen Geschlechte eigne auf
Unschuld regierte, und - ihre Nase, die zu viel Besonnenheit ver-
riet, seinen neuen Adam wieder auf die Beine, auf den sich schon
der alte gesetzt hatte. Er pries sich gliicklich, daB er Flamins
Freund sei und mithin auf ihre Aufmerksamkeit und ihren Urn-
gang einige Rechte habe. - Gleichwohl war ihm noch immer, als
wenn alles, was sie tate, zum ersten Male in der Welt geschahe,
und er gab auf sie acht wie auf einen operierten Blindgebornen
oder auf einen Omai oder einen Li-Bu. Er dachte immer: »Wie
sollt* ihr wohl das Sitzen lassen - oder das Darreichen eines Frucht- i
tellers - oder das Essen einer Kirsche - oder das Niedersehen in
ein Briefchen?« Ich bin noch ein argerer Narr neben der besagten
Hofdame.
Endlich kam in den Garten Le Baut nach der ersten Toilette,
und seine Frau nach der zweiten. Der Kammerherr - ein kurzes,
biegsames, geschniirtes Ding, das vor dem Teufel in der ftolle
den Hut abziehen wird, wenns hineintritt - empfing den Sohn
seines Erbfeindes ungemein verbindlich, und doch mit Wiirde,
zu welcher ihm aber nicht sein Herz, sondern sein Stand die Krafte
gab. Viktor hegte, eben weil er sich ihn beleidigt dachte, zuvor- 2
kommendcs WohlwoIIen fur ihn. Obgleich Le Bauts Zunge fast
wie seine Zahne falsch und eingesetzt waren und mithin die aus
Zahn- und Zungenbuchstaben gemachten Worter auch: so gefiel
er doch mit seineri weder plumpen, noch unhof lichen Schmeiche-
leien - wozu auch seine Stellungen und Absichten gehoren -
unserm aufrichtigen Viktor, welcher feine Schmeichler, als
Schwache, nicht hassen konnte. Die Kammerherrin - die schon
in den Jahren war, die eine Kokette zu verhehlen sucht, ob sie
gleich die vorhergehenden noch eher zu verbergen hatte - nahm
unsern gutmeinenden Helden mit der aufrichtigsten Stimme auf, 3
die noch aus einem falschen Judasbusen gekommen, und mit dem
Hstigsten Gesicht, auf dem nie die Tauschungen der Liebe (wie es
schien) Platz zu einer Miene hatten finden konnen.
Die neue Gesellschaft nahm auf einmal Viktors Verlegenheit
weg. Er bemerkte zwar bald die besondern Fecht- und Tanz-
Stellungen des Bundesgegeneinander:KIotilde schien gegenalle
4. hundPosttag
543
zuriickhaltend und gleichgultig, auBer gegen ihren Vater nicht -
die Stiefmutter war fein gegen den Kammerherrn, hochmiitig
gegen die Stieftochter, verbindlich gegen Viktor und leicht- und
gehorchend-kokett gegen Matthieu - dieser war gegen das Ehe-
paar abwechselnd schmeichlerisch und spottend, gegen Klotilde
eiskalt und gegen meinen Helden so hoflich, wie Le Baut gegen
alle. Gleichwohl war Viktor froher und.freier als alle, nicht bloB
weil er im Freien war — da ein Zimmer allemal wie ein Stockhaus
auf ihm lag und ein Sessel wie ein FuBblock -, sondern weil er
I io nnttx feinen Leuten war, die (trotz der spitzigsten Verhaltnisse)
dem Gesprache vier Schmetterlingfliigel geben, damit es - als
Gegenspiel der klebenden Raupe, die sich in jedem Dorn auf-
spieBet - ohne Getose in kleinen Bogen iiber Stacheln fliege und
nur auf Bliiten falle. Er war der groBte Freund feiner Leute und
feiner Wendungen; daher ging er so gern in die Gesellschaft
eines Fontenelle, Crebillon, Marivaux, des ganzen weiblichen Ge-
schlechtes und besonders des ahstandig koketten Teils desselben.
Man werde nicht irre ! Ach an seinem Flamin, an seinem Dahore,
an groBen, iiber die feinen, feigen, leeren Mikro-Kosmologen der
Lo groBen Welt erhabnen Menschen hing gliihend seine ganze Seele;
aber eben darum suchte er zur groBern Vollkommenheit die
kleinern als Gebrame und Eckenbeschlage mit so vielem Eifer auf.
Vier Personen hatten jetzt auf einmal vier Sehrohre auf seine
Seele gerichtet; er nahm gar nichts in die Hand, weil er zu gut-
mutig und zu freudig war, um der Spion eines Herzens zu sein;
und erst nach Verlauf einiger Tage beobachtete er an einem Ge-
sellschafter das zuriickgebliebene Bild in seinem Kopf. Er verbarg
sich nicht - und wurde doch falsch gesehen; gute Menschen kon-
nen sich leichter in schlimme hineindenken als diese in jene - er
\,o erriet besser, als er erraten wurde. BloB Klotilde verdient eine
Schutzrede, daB sie meinen Helden bis nach dem Essen - unter
welchem Le Baut, der groBte Erzahler dieses erzahlenden Jahr-
hunderts, seine Rolle durchfiihrte - fur zu boshaft und satirisch
hielt. Sie muBte aber fast; - eine Frau errat leicht die menschliche,
aber schwer die gottliche (oder teuflische) Natur eines Mannes,
schwer seinen Wert und leicht seine Absichten, leichter seine
544 HESPERUS
innere Farbengebung als seine Zeichnung. - Matthieu gab AnlaB
zu ihrem Irrtum, aber audi (wie ich sogleich berichten werde)
zur Zuriicknahme desselben. Dieser Evangelist, der ein viel
groBerer Satirikus war als sein Namenvetter im Neuen Testament,
stellte fast ganz Flachsenfingen auf seine Privat-Pillory,'den Fiir-
sten, den Hof bis zu Zeuseln nieder - nur den Minister (seinen
Vater) und seine vielen Schwestern muBt' er leider auslassen, des-
gleichen die Personen, mit denen er gerade sprach. Was man Ver-
leumdung an ihm nannte, war im Grunde tibertriebneHerrnhuterei.
Denn da der heilige Makarius befiehlt, daB man sich aus Demut i
zwanzig Unzen. Boses beilegen miisse, wenn man dessen funf habe
- das Gute aber umgekehrt -, so suchen redliche Hofseelen, weil
sie sehen, daB keiner diese bescheidne Sprache fuhren will, in jedes
Namen sie zu reden; und schreiben dem, dessen Demut sie re-
prasentieren wollen, allezeit funfzehn Unzen mehr Boses und weni-
ger Gutes zu, als er wirklich hat. Hingegen bei gegenwartigen
Personen haben sie diese stellvertretende Genugtuung nicht notig.
Daher ist das Leben solcher Hof-Edeln ganz dramatisch; denn da
nach Aristoteles die Komodie die Menschen schlechter, und die
Tragodie sie besser malt, als sie sind, so lassen gedachte Edle in :
jener nur Abwesende, in dieser nur Gegenwartige agieren. Ich weiB
nicht, ob diese Vollkommenheit hinreicht,- einen wirklichenFehler
des Evangelisten gutzumachen, welches der war, daB er, wie die
Romer an Luperkalien, zu oft nach dem weiblichen Geschlecht
Hiebe fiihrte. So sagte er heute z.B.: Madchen und Himbeere
hatten schon Maden, eh' sie nur reif waren - die weibliche Tu-
gend ware das gluhende Eisen, das eine Frau (wie auch sonst bei
den Ordalien) vom Taufstein (Tauftag) bis zum Altar (Trautag)
zu tragen hatte, um unschuldig zu sein u.s.w.
Nichts flel Klotilden — und so hab' ichs allemal bei den Besten •.
ihres Geschlechts gefunden - empfindlicher als Satire auf ihr gan-
zes Geschlecht* aber Viktor erstaunte iiber ihre dem Geschlecht
und der Welt-Erfahrenheit gleich sehr eigne Kunst, es zu verber-
gen, daB .sie - dulde und verachte.
Des Evangelisten Beispiel machte, daB auch Viktor anfmg zu
phosphoreszieren auf alien Punkten seiner Seele - der Funke des
4. HUNDPOSTTAG
545
Witzes umlief den ganzen Kreis seiner Ideen, die einander wie
Grazien bei der Hand faBten, und sein elektrisches Glockenspiel
iibertraf des Junkers Entladungen, welche Blitze waren und nach
Schwefel stanken. Klotilde, die sehr beobachtete, miBtrauete den
Lippen und dem Herzen Sebastians.
Der Hof junker hielt ihn fur seinesgleichen und fur verliebt in
Klotilde; und das aus dem Grunde, »weil der lustigere oder ern-
stere Ton, worin ein Mann in einer Gesellschaft verfalle, ein
Zeichen sei, daB ein weiblicher Zitteraal darin in seinen Busen
to eingeschlagen«. Ich muB es gestehen, Viktors uberwallende Seele
lieB ihn nie jenen Ausdruck der Achtung fur Weiber treffen, der
sich nicht in unzeitige Zartlichkeit verirrt, und den er oft gebilde-
ten Weltleuten beneidete; seine Achtung sah leider allemal wie
eine Lieberklarung aus. - Die Kammerherrin hielt ihn fur so falsch
wie ihren Cicisbeo ; Leute wie sie begreifen kein anderes Wohl-
wollen als hof Iiches oder einfadelndes.
Man behielt unsern Helden den ganzen Tag und den halben
Abend druben.
Den ganzen Tag war er nicht imstande - obgleich die unsicht-
Lo baren Augen seines innern Menschen voll Tranen standen iiber
Klotildens edle Gestalt, iiber ihre verborgne Trauer um die kalte
hinabgesenkte Freundin, iiber ihre riihrende Stimme, wenn sie
bloB mit Agathen sprach - gleichwohl war er nicht imstande, nur
ein ernsthaftes Wort zu sagen: gegen Fremde zwang ihn seine
Natur allemal im Anfang einige satirische und andere Hasen-
spriinge zu machen. Aber abends, da man im feierlichen Garten
war, da sein gewohnlicher Schauer vor der Leerheit des Lebens
durch die Lustigkeit heftiger wurde - das wurde jener dadurch
allezeit; hingegen durch ernsthafte, traurige, leidenschaftliche
I30 Gesprache nahm er ab - und da Klotilde ihm bloB eine sehr kalte,
gleichsam von seinem Vater auf ihn angewiesene Hoflichkeit ge-
wahrte und den Unterschied zwischen ihm und dem Matthieu, der
keine zweite Welt und keinen dafur organisierten innern Men-
schen annahm, nicht in seiner ganzen GroBe erriet: so wurd' ihm
beklommen urns sehnende Herz, zu viele Tranen schienen seine
ganze Brust anzufiillen und durchzudriicken, und sooft er zu dem
546 HESPERUS
groBen tiefen Himmel aufblickte, sagte etwas in seiner Seele:
schier dich gar nichts um den feinen Cercle und rede heraus !
Aber es gab fur ihn nur eine Seele, an der jene Erhohtritte wie
an Pedalharfen geschaffen waren, die jedem Gedanken einen ho-
hern Spharenton erteilen, dem Leben einen heiligen Wert und
dem Herzen ein Echo aus Eden; diese Seele war nicht sein sonst
so geliebter Flamin, sondern sein Lehrer Dahore in England, den
er ach schon lange aus seinen Augen, aber nie aus seinen Traumen
verloren. Der Schatten dieses groBen Menschen stand, gleichsara
an die Nacht geworfen, flatternd und aufgerichtet vor ihm und i.
sagte: »Lieber, ich sehe deininneres Weinen, dein frommes Seh-
nen, dein odes Herz und deine ausgebreiteten bebenden Arme;
aber alles ist umsonst: du findest mich nicht und ich dich nicht.«
Er schauete an die Sterne, deren erhebende Kenntnis sein Lehrer
schon damals in seine junge Seele angeleget hatte; er sagte zu Klo-
tilden : »Die Topographie des Himmels sollte ein Stuck unserer
Religion sein; eine Frau sollte den Katechismus und den Fonte-
nelle auswendig lernen.« Er beschrieb hier die astronomischen
Stunden seines Dahore und diesen selber. -
Aus Klotildens Angesicht brach eine groBe Verklarung, und 2I
sie zeichnete mit Worten'und Mienen ihren eignen astronomischen
Lehrer im Stifte ab — daB er ebenso edel sei und ebenso still - daB
seine Gestalt so gut besser mache wie seine Lehre - daB er sich
Emanuel nenne und keinen Geschlechtnamen fiihre, weil er sage :
»am verrliegenden Menschen, an seinem so eilig versinkenden
Stammbaum sei zwischen dem Geschlechtnamen und Taufnamen
der Unterschied zu klein« - daB leider seine veredelte Seele in
einem zerknickten Kdrper lebe, der schon tief ins Grab einhange-
daB er nach der Versicherung ihrer Abtissin der sanfteste und
grofite Mensch sei, der noch aus Ostindien (seinem Vaterlande) 5
gekommen, wiewohl man iiber einige Sonderbarkeiten seiner
Lebensart in Maienthal wegzusehen habe. —
Matthieu, dessen Witz die Schonheitlinie, den Giftzahn, den
Sprung und die Kalte den Schlangen abborgte, sagte leise und un-
befangen: »Es ist gut fiir seinen siechen Korpe^r, daB er hier nicht
Astronom und Nachtwachter zugleich wurde; er suchte vor eini-
4. HUNDPOSTTAG
547
gen Jahren darum an, um ein Sehrohr und ein Horn.« — Klotilde
wurde zum ersten Male von einer ziirnenden Rote iiberflogen, wie
der Morgen vor dem Regen : »Wenn Sie ihn« (sagte sie schnell)
»bloB aus meiner Schilderung kennen, so konnen Sie diese Son-
derbarkeit unmoglich unter den seinigen suchen.« Aber der Kam-
merherr trat dem Junker bei und sagte, Emanuel sei wirklich vor
funf Jahren mit diesem Gesuche abgewiesen worden. Klotilde sah
den einzigen, dessen Aufmerksamkeit nicht ironisch war, unsern
Viktor, den der Widerschein ihrer Verklarung schmuckte, wie
10 um Hiilfe an und fragte mchr hoffend als behauptend: »Sollte man
so etwas einem solchen Kopfe zutrauen?« - »Meinem Kopf eher«
- (versetzte er, um auszuweichen ; denn er, der dem jetzigen Papste
widersprochen hatte, konnte oft unmoglich schonen Lippen
wider sprechen, zumal einer mit so vieler HorTnung auf sein Nein
vorgelegten Frage derselben) - »sooft ich nachts durch Dorfer
gehe: so hor' ich den leiblichen Nachtwachter lieber als den geist-
lichen. In der horchenden stillen Nacht, unter dem ausgebreiteten
Sternenhimmel liegt im homiletischen Eulengesang des Nacht-
wachters etwas so Erhabnes, daB ich mir hundertmal ein Horn
> wunschte und sechs Verse.« -
Der Kammerherr und sein Associe hieltens fiir verfehlte Persi-
flage ; letzter setzte die seinige - vielleicht um Klotilden, zum Vor-
teil seiner mit Unterzieh- Busen und Unterzieh-SteiB bewaflheten
Herzens-Zarin, zu miBfallen - unverschamt fort und fiihrte an:
das beste Mittel, den namhaften Namenlosen traurig zu machen,
sei ein sehr lustiges, eine Komodie - freilich ruhrte ihn noch star-
ker ein Possenspiel, wie er selber an ihm in Goethes moralischem
Puppenspiel oder Jahrmarkt gesehen.
Da flog dem betroffenen Viktor ein neues Gesicht und eine
| 3 o neue Stellung an ; denn er war gerade wie Emanuel. Ein Jahrmarkt
mit seinen hinab- und hinauflaufenden Menschen-Bachen - mit
dem Vor- und Zuriickspringen der Gestalten wie an einer Bilder-
uhr - mit der fortsummenden Luft, in der Geigengeschrei und
Menschengezank und Viehgeblok zu einem einzigen betaubenden
Brausen zusammenflieBen - und mit den Buden-Warenlagern,
die ein musivisches Bild des kleinen, aus Bediirfnissen zusammen-
548 HESPERUS
geflickten Lebens reichen ein Jahrmarkt machte durch alle
diese Erinnerungen an die groBe frostige Neujahrsmesse des Le-
bens Viktors edlen Busen schwer und voll; er versank siiBbetaubt
in das Getose, und die Menschen-Reihen um ihn schlossen seine
Seele in ihre stillern Phantasien ein. Das war die Ursache, warum
ihnGoetheshogarthischesSchwanzs tuck ernes Jahrmarkts (so wie
Shakespeare) immer melancholisch zuriicklieB; so wie er iiber-
haupt gerade im Niedrigkomischen das hohe Ernsthafte am Iieb-
sten fand - (Weiber sind nur zum umgekehrten Funde fahig) -
und ein komisches Buch ohne jeden edlern Zug und Wink (z.B. 10
Blumauers Aneis) konnt* er so wenig wie La Mettries ekelhaft
lachendes Gesicht ertragen, oder die Gesichter auf den Titel-
kupfern des Vademekums. —
Er vergaB sich und die Nachbarschaft wie ein wahrer Junglmg,
breitete die Arme halb aus und sagte mit einem Auge, in dem man
die sehnsuchtig an einem Bilde Emanuels arbeitende Seele sah:
»Nun kenn* ieh dich, du Namenloser! du bist der hohe Mensch,
der so selten ist. Ich versichere Sie, Herr v. Schleunes, an
Herrn Emanuel ist was!... Nein, unter diesem Leben im Plug
sollte doch das Ding, das so prestissimo hinschieBt aus einem 2C
Regenschauer in den andern und von Gewolke zu Gewolke, doch
nicht in einem fort den Schnabel aufsperren zum Gelachter. . .Ich
las heute wo: der Mensch hat nur dritthalb Minuten, und nur eine
zum Lacheln « Er war ganz in seine Gefuhle verirrt: sonst
hatt' er mehr zuruckbehalten, besonders die letzte Zeile aus dem
im Garten gefundnen Blattchen. Klotilde wurde iiber irgend et-
was betroffen. Er hatte jetzo gern das Blattchen hinausgelesen.
Sie erzahlte ihm nun diejenigen Sonderbarkeiten von ihrem Leh-
rer, in die sie sich besser zu finden wuBte: daB er ein Pythagoraer
sei - nur in weiBen Kleidern gehe - mit Floten sich einschlafern 5C
und wecken lasse - keine Hiilsenfruchte und Tiere esse - und oft
die halbe Nacht unter den Sternen gehe.
Er ruhte, in stummes Entzucken iiber den Lehrer verloren, mit
enthusiastischen Augen auf den freundschaftlichen Lippen der
Schulerin, die der Geschmack an einem erhabnen Sonderling
adelte. Sie fand hier den ersten Mann, den sie in einen ungeheu-
4- HUNDPOSTTAG 549
chelten Enthusiasmus fiir ihren pythagorischen Liebling setzte;
und alle ihre Schonheiten wandten sich bliihend nach Emanuels
Bild, wie Blumen nach der Sonne. Zwei scheme Seelen entdecken
ihre Ver'wandtschaft am ersten in der gleichen Liebe, die sie an
eine dritte bindet. Das voile begeisterte Herz verschweigt und
verhullt sich gern in einem Putzzimmer, das lauter ungleichartige
hegt; aber wenn es darin sein zweites antrifft, so muB es daruber
sein Verstummen und VerhuIJen und das Putzzimmer vergessen.
Viktors Quecksilber seiner morgendlichen Lustigkeit war um
10 zehn Grade gefallen. In seiner dammernden Seele ragte nichts her-
vor als der Zettel, den er lesen wollte und auch schon las drauBen
auf der Gasse; und vorher schied er.
Das Blatt war aus Klotildens fiiegendem Stammbuch geflattert
und von — Emanuel geschrieben.
»Der Mensch hat hier dritthalb Minuten, eine zu lacheln - eine
zu seufzen - und eine halbe zu lieben; denn mitten in dieser Minu-
te stirbt er.
Aber das Grab ist nicht tief, es ist der leuchtende FuBtritt eines
Engels, der uns sucht. Wenn die unbekannte Hand den letzten
20 Pfeil an das Haupt des Menschen sendet : so biickt er vorher das
Haupt, und der Pfeil hebt bloB die Dornenkrone von seinen Wun-
den ab. 1
Und mit dieser Hoffnung zieh aus Maienthal, edle Seele; aber
weder Weltteile, noch Graber, noch die zweite Welt konnen zwei
Menschen zertrennen oder verbinden; sondern nur Gedanken
scheiden und gatten die Seelen. -
dein Leben hange voll Bluten! Aus deinem ersten Paradies
miisse ein zweites, wie mitten aus einer Rose eine zweite, sprieBen !
Die Erde miisse dir schimmern, als standest du iiber ihr und sahest
J 30 ihrem Zug im Himmel nach! - Und wie Moses starb, weil ihn
Gott kiiBte: so sei dein Leben ein langer KuB des Ewigen! Und
dein Tod werde meiner
Emanuel.«
1 Vielleicht eine Anspielung auf das fur die Phantasie liebliche Marchen,
daB in Neapel ein Kruzifix, da darin Alphons 1439 belagert wurde, den Kopf
vor einer Kanonenkugel neigte, die also nur die Dornenkrone nahm. Voyage
d'un Francois, T. VI. p. 303.
550 HESPERUS
»0 du guter, guter Geist!« (rief Viktor) »fch kann dich nun
nicht mehr vergessen — du muBt, du wirst rnein schwaches Herz
annehmen!« Von seinen innern Saiten waren jetzt die Dunsttrop-
fen, die ihren Klang aufhielten, abgefallen. Sein Kopf wurde eine
helle Landschaft, in der nichts stand als Emanuels glanzende Ge-
stalt. Er kam mit einem selig bewegten Angesicht spat im Pfarr-
haus an; und in dieser Glut stellte er vor seinen Zuschauern das
Bild von Klotilden auf, dem er von einem Engel alles, sogar Flu-
gel gab, welche ein kurzes Verweilen drohten. Seine Freundschaft
erhob ihn iiber den Argwohn eines Argwohns so sehr, daB er «
seinem Freunde keine warmere und zartere Probe derselben zu
geben glaubte als durch das starkste sympathetische Lob Klotil-
dens; FlaminsLiebe gegen sie ging durch die Freundschaft in seine
Seele iiber. Die Empfindung fur die Geliebte eines Freundes fiihrt
eine unnennbare SiiBigkeit und moralische Zartheit jnit sich. Fiir
Viktor steh' ich in diesem funkte, daB er zwar begrifF, wie ein
Freund dem andern die Liebe zum Opfer bringen, aber nicht be-
griff, wie der andere das Opfer annehmen konne; allein fiir Fla-
min sag' ich nicht gut, daB er kalt und Menschenkenner genug
ist, um die Preismiinzen, die Viktor auf Klotilden schlagt, und "
worauf er ihr schones Angesicht und sein Wappen setzt, immer
fur ebenso viele Munzen de confiance und fiir Pfander der briider-
lichen Treue anzusehen. Er war zu brausend und zu ehrgeizig,
um die Wahrheit zu sehen, ja nur anzuhoren: denn sein ofFen-
herziger Freund mufite manchen zartlichen Tadel unterdriicken,
der ihn zu sehr gekrankt hatte, weil er zuviel Ehrgeiz und Feuer
und zu wenig Selbervertrauen hatte. Daher heftete sich ein
Schmeichler wie Matthieu mit seinen Efeu-Hakchen desto fester
in die Risse dieses Felsen ein. Da er ein wenig barsch den namen-
losen Emanuel einen Schwarmer nannte: so sagte Viktor von 3=
diesem heute wenig. Flamin konnte - weil er entweder ein Jurist
oder ein hitziger Kopf, oder beides war - nichts so wenig aus-
stehen als Poeten, Philosophen, Hofleute und Enthusiasten -
einen ausgenommen, der alles das auf einmal war, seinen Sebastian
Viktor.
5. HUNDPOSTTAG 5)1
5. HUNDPOSTTAG
Der dritte Mai — der auf der Musik sitzende Abbate - die Nachtigall
Ich muB iiberhaupt voraus bemerken, daB ich sehr clumm ware,
wenn ich die Menge von Unwahrscheinlichkeiten in dieser Histo-
ric nicht merkte; aber ich merke sie samtlichgut; ja ich habe solche
- z. B. die in Klotildens Betragen, oder die des medizinischen Dok-
torats des Helden - noch eher als der Leser selber wahrgenommen,
weil ich alles eher - gelesen habe. Ich schob es daher nicht langer
auf, sondern ging mit der heutigen Hofmanns-Post meinen Kor-
10 respondenten an, mir das nachstemal durch den Hund in seiner
Portratbuchse zu schreiben, woran wir alie waren. - Ich schriebs
ihm geradezu, er wiiBte den Henker davon, obwohl ich, von den
Lesern und ihrer Tyrannei - ich muBt* ihm sagen (sagt* ich), sie
waren Leute von Verstand, denen ein Lebensbeschreiber, ja ein
Roman-Bauherr nicht mit Dichtertruge kommen durfte, sondern
die sagten, wie der Areopag : »Das nackte historische Faktum her,
ohne alle weitere poetische Einkleidung.« - Und es nahme mich
iiberhaupt wunder (fuhr ich fort), daB er noch nicht wiiBte, daB
sie soviel, teils Verstand, teils vierblatterigen Klee 1 , in sich hatten,
20 daB sie die groBten Verfasser und Trauerdichter, wenn diese fein
sein und sie durch asthetische Gaukeleien entweder wie Schropfer
in Furcht oder wie Bettler in Mitleiden setzen wollten, daB sie
diese kaltbliitig sich abarbeiten HeBen und sagten : »Wir lassen uns
nicht fangen.« - Gleichwohl waren die Rezensenten noch toller
und gescheiter und vielleicht die besten jetzigen Skotometer (Dun-
kelmesser), zumal da sie so elende Photometer (Lichtmesser)
waren. - Und endlich sagt' ich meinem historischen Adjutanten
gerade heraus, er hatte keinen Schaden davon, ich jedoch, daB
man mich in mehre Sprachen iibersetzte und darin fur jede Un-
30 wahrscheinlichkeit des Textes in das GeiBelgewolbe einer Note
hinunteizoge und da sehr striche, indes ich nicht den Mund auftun
durfte, wenn der verdolmetschende Spitzbube, der meinen Kiir-
1 Dieser Klee macht, zufallig gefunden, daB man nicht mehr zu tauschen
ist. Bisher fan den ihn nur — Fiirsten und Philosophen.
552 HESPERUS
bisflaschenkeller wie ein FaB Wein aus einem Land ins andre
fiihre,den Weinunterwegeswie alle Fuhrleute mit Wasser auBen
begosse und innen nachfullte. — Er sollte mir nur wenigstens, bat
ich, Antwort geben, damit ich sie den Lesern zeigen ktinnte als
einen Beweis, daB ich ihm geschrieben. —
Im nachsten Huridposttag mochten also in jedem Falle groBe
Dinge zu erwarten sein, -
Noch dazu fallt der vierte Mai hinein mit seinen, wie es scheint,
wichtigen zwei Dankfesten fur die Ankunft der zwei Sebastiane,
des kleinen in der Welt, des groBen im Baddorfe. Sogar Klotilde i
ist morgen dabei; und Viktor ist recht begierig (ich selber), sie in
der Sonne der Liebe zu sehen neben Flamin : denn driiben schienen
alle ihre Schonheiten ein vom Strahl der Liebe noch nicht ge-
troffnes und gereiftes Herz zu umbliihen, wie Blumenblatter die
weifien Her^bldtter vor der Sonne iiberbauen. - Matthieu kam
heute zum Abschied, weil er morgen in die Stadt zuruckfuhr. Er
gefiel unserm Helden immer weniger; und eine Pagengeschichte,
die er von sich erzahlte, erneuerte Viktors EntschluB, die Bitte der
Pfarrerin um die Verscheuchung eines solchen Menschen fruhe
zu erfullen.
Matthieu hatte als Page den Dienst bei der Oberhofmeisterin,
ich glaube den groBen und den kleinen. Gleichwohl muBt* er ein-
mal einen Abbate und Gewissensrat in ein Kabinett derselben
bestellen, das der Betstuhl und die heilige Statte in einem Grade
sein sollte, den freilich ihr dummer eifersiichtiger Mann nicht be-
griff. Nun war im Nebenzimmer ein musikalischer Armsessel, den
man im Grunde mit nichts spielte als mit dem SteiB: sobald man
sich hineinsetzte, fing er seine Ouvertilre an, und ich saB einmal
beim Fiirsten Esterhazy in so einem. Unser Matz - so nennt ihn
das ganze biirgerliche Flachsenfingen; einige Kanzeleiverwandte :
heiBen ihn auch den Evangelisten - bestellte den Abbate um zwei
Stunden zu bald; setzte aber, damit der Mann mit der tonsurierten
Periicke nicht vom Passen ermattete, vorher den musizierenden
Sessel hinein, als Ruhebank und Ankerplatz fur matte Expektan-
ten. Gegen drei Uhr nachts, als die Gesellschaft fort war, ausge-
nommen den Oberhofmeister, senkte der stehenssatte Gewissens-
5- HUNDPOSTTAG
553
rat seinen Rumpf endlich in den mit Favorit-Arien ausgepolster-
ten Sorgestuhl und weckte mit seinen Hosen die ganze Trauer-
musik und deren Mordanten darin auf, ohne die geringste Mog-
lichkeit, das Kabinett-Standchen dieses Weckers zu stillen. Der
Ehegemahl ging endlich, wie ein Hering, den Finalkadenzen nach
und zog den mitten im Kontrapunkt und in Pralltrillern seBhaften
Gewissensmann aus seinem Orgelstuhl und versalzte ihm den
Wachtelruf, glaube ich, durch kommandierte Priigel. Die Ober-
hofmeisterin erriet leicht den Meister vom Stuhl^ Matzen; aber so
» sehr gewohnlich ist Verzeihung am Hofe - nicht blofi vergangne
Beleidigungen werden dort von guten Weiberseelen vergeben,
sondern auch luhiinftige -, daB die Hofmeisterin sich doch nicht
eher an Matzen rachte - ob cr gleich noch dritthalb Wochen ihr
diente - als eben nach dritthalb Wochen . . .
Viktor ziirnte iiber Flamins Gelachter; er Hebte Laune, aber
keine Neckerei. Sein versiiBtes Blut fing durch diese Essigmutter
allmahlich zu versauern an gegen diesen Matz, dessen kalte iro-
nische Galanterie gegen die ehrliche Agathe ihn schon emporte,
deren phlegmatischer, gleichsam verheirateter Puis ubrigens in
» dessen Ab- und in dessen Anwesenheit dieselben Schlage tat. Noch
mehr Sodbrennen und Saure sammelte sich in Viktors Herzen,
weil er - der alles duldete, Eitle, Stolze, Atheisten, Schwarmer -
gleichwohl keine Menschen dulden konnte, die die Tugend fur
eine Art von feiner Proviantbackerei ansehen, die Wollust fiir er-
laubt, den Geist fiir einen Almosensammler des Leibes, das Herz
fiir eine Blutspritze und unsere Seele fiir einen neuen Holztrieb
des Korpers. Dieses aber tat Matthieu, der noch dazii Nei'gung zum
Philosophieren hatte, und der den Freund Viktors, welcher ohne-
hin gegen die ganze Dichter- und Geisterwelt so kalt war wie ein
. Staatsmann, mit seinem philosophischen Krebsgifte anzustecken
drohte.
Abends suchte er ein wenig naher an Flamins Gehor in die
zweite Trompete der Fama gegen den entfernten Pseudo-Evan-
gelisten zu stoBen. Im Garten stieB er darein. Er nahm die Hand,
deren die Matthaische nicht wiirdig war, in seine bessere und fing
rnit der herzlichsten feinsten Schonung, die man sogar der wahren
554 HESPERUS
Freundschaft fur einen unechten Freund gewahren muB, seinen
Bildersturm an. Denn indem er die Kammerherrin tadelte, daB sie
auf Agathen Blicke von ihrem Wipfel herunterwiirfe, die nichts
Reineres waren, als was sonst Affen vom ihrigen auf die Leute
schickten; und indem er den Hof junker tadelte, daB er wie vicle
Edelleute erst unter Edelleuten den ketzerischen Geruch eines
Biirgerlichen am meisien (vielleicht durch Kiilfe des Gegensatzes)
verspiirte, und daB seine Worte und Mienen im Schlosse wie Eis-
spitzen ans gute warme Herz Agathens anflogen: so war der
Tadel dieses Maifrostes gegen die Schwester nur ein Vorwand, in 10
welchen er die Anmerkung einhiillte, daB der Hof junker Flamins
Freund nicht sein wurde, wenn er nicht Agathens Liebhaber
ware. -
Flamins Schweigen (das Zeichen seiner Entriistung) gab dem
Strom seiner Beredsamkeit einen neuen schnellern Abhang; noch
dazu ritf eine in Le Bauts Garten dichtende Nachtigall alle Echo
der Licbe aus seiner Seele wach. Daher ergrifTer freilich Flamins
beide Hande in jener Oberwallung, die immer seine Schritte zum
Ziele in Spi tinge umsetzte und dadurch das ganze Ziel uberrennte.
- Viele Plane verunglucken, weil das Herz dem Kopfe nacharbei- 20
tet, und weil man beim Ende der Ausfuhrung weniger Behutsam-
keit aufwendet als beim Anfange derselben. Er sah seinen Ge-
liebten an, die Flotenkehle der Nachtigall setzte den Text seiner
Liebe in Musik, und unbeschreiblich geriihrt sagte er : »Du Bester!
dein Herz ist zu gut, um nicht von denen uberlistet zu werden, die
dich nicht erreichen. O wenn einmal die Schneide des Hof-Tons
blutig iiber die Adern deiner Brust wegzoge« - (Flamins Miene
sah wie die Frage aus: bist du denn nicht auch satirisch?) »o wenn
der, der keine Tugend und Uneigenniitzigkeit glaubt, auch einmal
keine mehr bewiese; wenn er dich sehr betroge, wenn die vom JO
Hof gehartete Hand, einmal Blut und Tranen wie ein Zitronen-
quetscher aus deinem Herzen driickte : dann verzweif le doch nicht,
nur an der Freundschaft nicht - denn deine Mutter und ich Iieben
dich doch anders. O wahrlich, zu der Zeit, wo du sagen muBtest:
warum hab' ich nicht meinem Freunde gehorcht, der mich so
warnte, und meiner Mutter, die mich so liebte - da darfst du zu
6. HUNDPOSTTAG
555
mir kommen, zu dem, der sich niemals andert, und der deinen Irr-
tum hoher schatzet als eigennlitzige Behutsamkeit; dann fuhr' ich
dichweinend zu deiner Mutter und sage zu ihr: nimm ihn ganz,
nur du bist wert, ihn zu lieben.« - Flamin sagte gar nichts darauf.
- »Bist du traurig, mein Flamin?« - »VerdrieBlich!« - »Ich bin
traurig; die Klagen der Nachtigall tonen mich wie kunftige and,
sagte Viktor. - »GefaIlt dir diese Nachtigall, Viktor?« - »Unbe-
schreiblich, wie eine Freundin meines Innersten.« - »So irret man,
Matt/iieu singt«y versetzte schnell Flamin. Denn der Evangelist
10 unterschied sich von einer Nachtigall in nichts als der GroBe. -
Und dann ging Flamin empfindlich und dock mit einem Hand-
druck davon.
6. HUNDPOSTTAG
Der dreifache Betrug der Liebe - verlorne Bibel und Puderquaste -
Kirchgang - neue Konkordaten mit dem Leser
Knefs Antwort ist elend: »Aus dem vom 6ten dieses von Ew.
Wohlgeboren Erlassenen ersehe, daB das Publikum Geschmack
hat und einige Feinheit - welches inich gar nicht wundert, da man
solches den Goldplatten, die erst zwischen einem Buch von Per-
20 gament und dann zwischen zwei von Rindsblattern diinn und fein
geschlagen werden, ahnlich behandelt und es ebenso von einem
Buch ins andre tut und darin durch den Druck der PreB-Bengel
so fein macht wie Kavalierpapier. Wenns Publikum noch ein paar
Jahre so fortlieset, so kanns zuletzt gescheiter werden als Deutsch-
land selber. Anlangend die Unwahrscheinlichkeiten in unserem
Werke, so waren dergleichen freilich mehre zu wunschen, weil
ohne diese eine Lebensbeschreibung und ein Roman schlecht ge-
fallen, da ihnen der Reiz fehlet, womit uns das deutsche Hospital-
und NarrenschirTvollromantischer Originalromane sosehranzieht
1 30 - welches Schiff als Absonderungdruse widerlicher Werke mit
Recht die Leber der gelehrten Republik genannt werden mag,
und der Buchladen der Gallengang. Aber in Rucksicht der Un-
wahrscheinlichkeiten besorge selber nur gar zu sehr, daB auch die
55<5 HESPERUS
wenigen, worauf wir fuBen, am Ende verschwinden. Der ich
u. s. w.«
Der Schaker, merkt man leicht, will nur mich und den Leser
gern mit Hasenschwanzen behangen. Fur mich aber ists doch ein
herrliches Dokument, daB ich das Meinige getan und an den
Schelm geschrieben habe. -
Gewisse Menschen sind, wenn sie abends sehr warm und freund-
schaftlich waren, am Morgen sehr finster und kalt - wie Mauper-
tuis* Halbsonnen, die nur auf der einen Halfte brennen, und die
uns verschwinden, wenn sie die erdige vorkehren -; und waren 10
sie kalt, so werden sie warm. Flamin vergaB am Morgen entweder
den warmen Abend oder die Nachtkalte. Heute ist das Kirchgang-
fest! - Droben bei Sebastian riickt* er, wie ein deutscher Poli^ei-
Puritaner und Purist, mit Speiteufeln und Musketenfeuer aus
gegen den Kirchgang - gegen Kindtaufschmause - gegen das
Holzfallen zu Weihnachten und Pfingsten - gegen Feiertage und
gegen alien SpaB der Menschen.
Viktor wurde von unserm Jahrhundert durch mchts so erziirnt
als durch dessen stolze Kreuzpredigten gegen unmodische Tor-
heiten, indes es mit unmodischen Lastern in Subsidientraktaten 20
steht. Er holte mit einem weiten Atern aus und bewies, daB das
Gluck eines Staates, wie eines Menschen, nicht im Reichtum, son-
dern im Gebrauche des Reichtums, nicht in seinem kaufmanni-
schen, sondern moralischen Werte bestehe - daB die Ausscheurung
des altertumlichen Sauerteigs und unsre meisten Institutionen und
Novellen und Edikte nur die furstlichen Gefalle, nicht die Morali-
tat zu erhohen suchten, und daB man begehre, die Laster und die
Untertanen brachten, wie die alten Juden, ihre Opfer rmr in einer
Stadt, namlich in der Residenzstadt - daB die Menschheit von je-
her sich die Nagel nur an den nackten Hdnden, nicht an den ver- 3 o
hiillten Fufien^ die oft dariiber selber herunterkamen, beschnitten
habe - daB Aufwand- und Prachtgesetze den Fiirsten selber noch
notiger waren, wenigstens den hochsten Standen, als den tiefsten
- daB Rom seinen vielen Feiertagen viel von seiner Vaterland-
liebe verdanke. . . . Flamin hatte fiir die kleine Perlenschrift der
hauslichen Freude, fiir AufguBbliimchen des Vergniigens keine
6. HUNDPOSTTAG 557
Augen; dafur hielt seine Seele mit einem Brutus gleichen Schritt,
wenn er grofi ans Bild des Pompejus trat und mit einem Seufzer
iiber das Schicksal die Parzenschere in das groBte Herz der Erde
trieb, das seinen Wert mit seinem Recht verwechselte. Viktor
hatte em geraumiges Herz fiir die unahnlichsten Gefuhle.
Ich kann es nicht oft genug wiederholen, daB heute der Kirch-
gang ist. Ich will ihn der Nachwelt abzeichnen, aber nicht mit je-
ner Kiirze, womit ein Zeitungschreiber den Leichenzug eines
Konigs auf drei Bogen bringt, sondern ein wenig umstandlicher.
10 Zu den pomphaften Anfangbuchstaben dieses Tages hatte das
Pfarrhaus ganz andre Griinde in petto, als man meines Wissens
unserem Zeitalter noch zu entdecken beliebte : betrugen wollten
drei Teilnehmer einander, allemal zwei einen.
Betrugen wollte erstlich die Pfarrfrau den Helden, der nicht
wuBte, daB heute der Geburttag seines Vaters war, und daB dieser
- freimiitig von ihr eingeladen - heute auf fiinf Minuten lang
komme. Sie lieB am Morgen ihre zwei Tochter Garn sieden, da-
mit sie dem Viktor- nichts beichteten, wenigstens keine Wahrheit ;
denn es ist ein bekannter Aberglaube, daB das Garn am weiBesten
20 gesotten werde, wenn man dabei recht liigt. Daher sollte man
auch, wenn die Weiber liigen, behutsamer sein und fragen, ob sie
mit ihren poetischen Tauschungen etwas anderes weiftbrennen
wollen als Garn. Ihr geliebter Viktor sollte - das war ihr Plan -
ihrem Manne, dessen Wiegenfest heute auch einfiel, den gewohn-
lichen Gliickwunsch bringen und ihn nachher halbieren und dem
. Lord hinlangen miissen, der mit seinem eignen Geburttag aus-
stieg.
Betrugen wollte zweitens Sebastian und sie den alten Kaplan,
der vergessen, daB er geboren worden - welches ihm schon bei
3 o seinem ersten Geburttage begegnet war. Die Menschen behalten
einen fremden Lebenslauf besser als den eignen : wahrhaftig, wir
achten eine Geschichte, die einmal die unsrige war, und welche die
Hiilse der verflognen Stunden ist, viel zu wenig, und doch werden
die Zeittropfen, durch die wir schwimmen, erst in der Feme der
Erinnerung zum Regenbogen des Genusses. Die Manner wissen,
wenn alle Kaiser geboren und alle Philosophen gestorben sind -
558 HESPERUS
die Weiber wissen aus der Chronologie bloB das, wenn ihre
Manner, die ihre Regenten und klassischen Autoren sind, beides
taten. Viktor, dessen feines Gefuhl von zu groBen Aufmerksam-
keiten fur ihn versehret wurde, war froh, daO Eymanns Schultern
die Halfte der heutigen Ehre tragen muBten.
Betrugen wollte drittens der Pfarrherr so gut als einer, und
zwar jeden. Da fur ihn dieser Festtag - wie die drei hohen Feste
der Kloster - zugleich Rasiertag war, an welchem die gescheitsten
Kopfe die dummsten Gesichter machen : so schnitt der Barbier mit
der Rasier-Lanzette in des Seelensorgers Haut wie in eine Birken- ic
rinde sein Andenken ; aber dieses wenige Blut, das ausquoll, fiihrte
dem Pfarrer einen kliigern Gedanken zu als das, was der Bader
darin lieB, welches doch den Nervensaft absonderte, der nach den
seichtesten Denkern die Gelenkschmiere unsrer geistigen Bewe-
gungen, die Goldauflosung unsrer reichhaltigsten Ideen und der
Geist unsers Geistes ist. Dieser kliigere Gedanke, den ich so lobe,
war der, sich auf dem linken Arm zur Ader zu lassen — es dem
ganzen Hause zu verhalten - abends dem Lord Gliick zu wun-
schen und jedem — und am Ende den Armel auszuziehen und die
Wunde zu zeigen, wie ein Romer, und zu sagen: gratuliert doch 20
zur AderlaB! - Er setzte es durch, und der Scherer muBte stau-
nend etwas anderes zerhacken als das Kinn. Der Blessierte gab ihm
das Geleite bis an die Hofture, nicht sowohl aus Hoflichkeit, als
damit ers nicht der ganzen Hausgenossenschaft vortriige, sondern
den Vorfall iiberhaupt bei sich behielte, ausgenommen in Hau-
sern, wo ein Bart war und ein Ohr. Dennein Geschichtschreiber sei
immerhin der Monaqeiger der Zeit - und folglich sei der Zeitung-
setzer der Stundenieiger derselben - mithin ein Weib ihr Sekun-
denieiger: so ist doch der Bartputzer beides, das Weib und der
Sekundenieiger.
Als Flamin und Viktor hinuntergingen ins Wohn-, Putz-,
Sommer- und Winterzimmer, stach unter lauter frohen Gesich-
tern ein verdrieBliches vor, das dem wie besessen umhersetzenden
Pfarrer gehorte : er konnte zweierlei unmdglich ausspiiren, seine
Bibel und seine Puderquaste. Drei Minuten vorher hatt' er so ge-
jammert: »Bin ich und mein elendes Leben denn zu einer wahren
6. HUNDPOSTTAG 559
Passionhistorie ausersehen? Man gebe mir einen Glikktopf, aus
dem jeder andere ganze Konigreiche herauskrebsen wiirde - so-
bald mich der bose Feind nahe merkt, so legt er seinen Unrat
hinein; und diesen heb' ich dann statt der Krebse und Konig-
reiche heraus, und weiter nichts. - Es war* heme htibsch gewor-
den, sah der Teufel - wir hatten bis abends um vier Uhr keine
Lust gehabt, sondern Hundearbeit - dann war's losgegangen,
das Essen im Gartenhaus, das Gratulieren und Salutieren und
wahrer SpaB. . . . Euch ist er auch noch beschert; mir aber schenkt
o nur, wenn der Piaster und die Bibel nicht erscheinen, etwas RuB
und Asche (die etwa vom Abendschmause nachbleiben), damit
ich damit dem Fuchs (Pferd) das GebiB abbiirste - und abends
kann ich neben dem Gartenhause den Rettich ausjaten.«
Hier muBte er mit der niedergelassenen Flagge seines Kopfes,
mit der Trottelmutze, den eintretenden Briten salutieren - als da-
durch aus der Mtitze ein Haar-Buschel aushel, der zwar nicht die
gesuchte Bibel, aber der gegebene Piister war. Es muB namlich
die Denk- und Lese-Welt, der man oft die wichtigern Tatsachen
nicht hinterbringt, am wenigsten um diese kommen, daB der Hof-
10 kaplan - so wie Menschen aus Menschen gerissen werden, um die
iibrigen zu IibertrefTen und zu beherrschen — gerade so die Haare,
die sein Kamm auszupfte, in einen Pelz-Faszikel oder Haar-Ver-
ein zusammenwickeltej um damit die iibrigen, die noch standen,
einzupudern, welches nun wohl vom erhabensten Geist und Pen-
tameter nicht anders zu benamsen ist als ein Haarpiister. Gleich-
wohl wurde Eymanns Gesicht langer als die Miitze: er lieB diese
Spritze des Farbenpulvers des Kopfes kalt daliegen und sagte:
»Mach* ich nicht die Bibel ausf iindig : so sell* ich nicht ab , wie mich
dieser Schopf allein herausziehen will.«
jo Wie vor Luther die Bibel, wurde jetzt die Cansteinische mit
ihren schwarzen Kafer-Fliigeldecken gesucht. Wenn etwas diesen
harten Schlag noch herber machen konnte, so wars dies, daB Ey-
manns Baffchen - gleich seiner Vernunft - zwischen den ver-
lornen kanonischen Blattern wie zwischen einer Serviettenpresse
lag: denn die Geistlichen — besonders der Papst — machen das
Bibelwerk gern zur Glanzpresse und zum Schmuckkastcrien ihres
560 HESPERUS
auBern Menschen. Ob er gleich noch acht Bibeln, sogar die ein-
faltige Seilerische Bibel-Chrestomathie, im Hause hatte und in der
Wochenldrche heute gar keine brauchte : so war es doch besser
und menschlicher - d. h. narrischer -, daB er den Kopf seines
Sakristei-Pedells, des Schulmeisters, aus dem Fenster pfirFimd den
Gottesdienst - wie eine Aufklarung - durch ein viertelstiindiges
Interim verschob, als daB er statt der Stunde des Lautens nichts
Geringers anderte als Bibel und BafFchen*
Lieber Himmel! wie man gleich Exegeten und Kennikottisten
suchte und lachelte! - »Dieses Forschen nach der Bibek, sagte u
Sebastian, »gerekht einem Geistlichen zur Ehre, zumal da er die
biblischen Wahrheiten nur beim Taglic/it, nicht bei Scheiterhau-
fen-Fac/celn sucht.«
Die Monche haben, wie die Anziinder der oflentlichen Later-
nen, eine Letter und viel OI 7 aber mit dem 0\ loschen sie die Lam-
pen aus und den eignen Durst, und mit der Leiter reichen sie die,
die wieder anziinden, dem — Galgen.
Als der Kaplan vor dem ruhigen Kopf des sechswochentlichen
Kindes vorbeiging, den schon die heutige Tressenhaube preBte:
so ging er aus Arger uber dessen Gleichgultigkeit wieder zuriick, 2C
hob seinen geputzten Kopf empor mit der rechten Hand und fuhr
in den Schacht des Wiegenstrohes ein mit der linken und wollte
da die Bibel - die gewohnlich das Kopfkissen und die Amulett-
Unterlage der Kinder (besonders der Dauphins), ist - ausgraben,
indem er sagte: »Der miserable kleine Fratz lage bei unserem
Elend nur kalt da, mir nichts dir nichts, wenn ich ihn nicht auf-
storte.« - Und hier fiel etwas, nicht wie ein SchuB, sondern wie
ein Buch, wiewohl mans durch meinen Kiel bis ins dreiBigste -
Jahrhundert horen kann. Eymann sprang denkend ins zweite
Stockwerk und fand zu seinen FiiBen eine erschmissene - Maus 3C
unter seiner gesuchten Bibel. Den protestantischen Reichskreisen
konnen die Studenten- oder Doktor Luthers-Mausfallen niemals
unbekannt gewesen sein, zu denen man nichts braucht als ein Buch,
und die fiir Mause sind, was symbolische Biicher fur Kandidaten.
Sebastian zog die Leiche beim Schwanze unter der biblischen
Quetschform und Seilerischen Bibelanstalt hervor, schwenkte
6. HUNDPOSTTAG 5<?I
den Kadaver gegen das Licht und hielt diesen Leichensermon ex
tempore: »Armer Schismatiker! dich erschlug das Alte und Neue
Testament, aber du und die Testamente sind auBer Schuld! - Sei
nur froh, daB die Bibel dich nicht gar zu Asche sengte, wie einen
portugiesischen Israeliten; aber du fielest in aufgeklarte Zeiten,
wo sie nichts nimmt als Pfarrdienste. Es ist echter Witz, wenn ich
frage: da sonst die Bibel die Feuerbriinste, worein man sie warf,
ausloschte: warum denn Autodafes nicht auch?« —
Ich laure hier langst der Welt auf, um sie zur Untersuchung zu
x ° notigen, warum ein Maus-Sterbefall sie mehr interessiert als eine
erschossene Armee in der allgemeinen Weltgeschichte, ein ver-
lorner fremder Haarpuster mehr als Christinens verlegte Krone . . .
Daher kommt dieses Interesse, woher es bei denen kommt, denen
die Sache wirklich begegnet: weil ich sie weitlauftig erzahle, d.h.
weil die Leser gleich den dabei interessierten Helden miihsam
einen Augenblick der kindischen Historie um den andern iiber-
leben. Viele kleine Schlage durehlochern den festesten Menschen
so sicher als ein groBer, und es ist einerlei, ob sie das Schicksal
oder ein Autor tut. So ist also der hiesige Mensch so nahe an den
20 Zeiger der Zeit gestellt, daB er ihn riicken sehen kann; darum
wird uns eine Kleinigkeit, wenn sie viele Augenblicke einnimmt,
so groB, und das kurze Leben, das, wie unsre gemalte Seele im
orbis pictus, aus Punkten besteht, aus schwarzen und goldnen, so
lang. Und darum steht iiberall, wie auf diesem Blatte, unser Ernst
so nahe an unserem Lachen!
Flamin ausgenommen, riickten sie alle in die Kirche, Pat' und
Patchen : es war eine sogenannte Wochen-Betstunde, die in jedem
vernunftigen Herzogtum und Markgraftum wird beibehalten wer-
den, wo man noch darauf sieht, daB der Pfarrer wochentlich ein
50 paarmal erfriert, und daB er, so wie Novizen zur Ubung der Obe-
dienz verdorrte Stecken begieBen mussen, den Samen des gott-
lichen Wortes in leere Kirchenstuhle wirft, wie Melanchthon in
leere Topfe. In den deutschen Landern - meines und wenige aus-
genommen - gehoren zwei Jahrhunderte dazu, um eine voll-
standige Narrheit abzuschaffen - eines, um sie einzusehen - noch
eines, um sie abzuschaffen. Die Einsichten eines Konsistoriums
562 HESPERUS
werden allemal ein Jahrhundert friiher verniinftig als die Befehle
(Cirkularia) desselben.
Im Eymannischen Gitterstuhle, dessen Tiire mit der Sakristei
Hirer fast einen rechten Winkel machte, fand Sebastian alle Blu-
men, wenigstens die Blatterskelette derselben wieder, die um seine
schonen Kindertage gebliihet hatten — uneigentliche und eigent-
liche — , und die eigentlichen, die beschmutzt unter dem FuB-
schemel des Chorstuhls sich verkrochen, schlugen zu Blumen der
Erinnerung wieder aus. Er dachte an seine kindischen Leiden darin
— worunter die Lange der Predigt - und an seine kindischen Freu- 10
den, unter welche die Lange des Praludiums und Eymanns Knien
auf der Mitte der Kanzeltreppe gehorte. Er schob das holzerne
Gitterfenster zuriick und fand in dessen holzernem Gleise seinen
Namenzug V. S.H. von eignen Handen eingesagt. Vom Kinde
zum Jungling ist so weit! Und der Mensch verwundert sich uber
die Feme. »Ach damals« — sagte Horion, und wir wollens mit ihm
sagen - »war dir noch alles unendlich, und nichts klein als dein
Herz — ach in jener warmen erquickenden Zeit, wo der Vater uns
noch Gott der Vater und die Mutter die Mutter Gottes ist, driickte
sich noch die von Geistern, Grabern und Sturmen beklemmte 20
Brust getrostet an eine menschliche - alle vier Weltteile waren in
diese Kirche eingepfarret, alle Strome hieBen Rhein und alle
Furs ten y^nner — ach I diesen schonen stillen TagfaBteein goldner
Horizont der unendlichen Hoffnung ein und ein Ring aus Morgen-
rot. - Jerzo ist der Tag dahin und der Horizont hinab und bloB
das Gerippe noch da: der Gitterstuhl.«
Aber wenn wir schon jetzt in den Mittagstunden des Lebens so
denken und seufzen: wie wird uns nicht am Abend, wo der
Mensch seine Blumenblatter zusammenlegt und unkenntlich wird
wie andre Blumen, am Abend, wo wir unten am Horizont in 50
Westen stehen und ausloschen, wird uns da nicht, wenn wir uns
umwenden und den kurzen, mit ertretenen HofFnungen bedeckten
Weg iiberschauen, wird dann uns der Garten der Kindheit, der in
Osten, tief an unserm Aufgange, und noch unter einem alten bias-
sen Rote liegt, nicht noch holder anblicken, noch magischer an-
schimmern ? aber audi noch weicher machen? - Und darauf legt
6. HUNDPOSTTAG 563
sich der Mensch nicht weit vom Grabe nieder auf die Erde und
hofft hienieden nicht mehr.
Fur Eymann muBt' es riihrend sein, daB er, da er jahrelang
fremde Kindbetterinnen in der Kirche einsegnete, einmal einer
nahern seine Wunsche geben konnte. Viktor kroch in alie Kna-
bensonntage und ihre Tauschungen dadurch zuriick, daB er heute
- wie im zehnten Jahr - unter dem Singen der ganzen Gemeinde
in die Sakristei zum Pfarrer ging und ihn fragte um die Blattseite
des Lieds. Es labte ihn als Kind, daB es vier gehende Wesen im
o Tempel gab, den Pfarrer, den Schulmeister und den Renteimeister
des Gotteskastens und ihn: gibt es etwas Erhabeners, dacht* er,
als einen Klingelbeutelvater mit einer langen waagrechten Ba-
lancierstange allein einherwandelnd durch lauter befestigte Sta-
men?
Nach der Kirche ring sich das Fest an mit bloBen Vorarbeiten
dazu, wie ein FriedenschluB mit den Schliissen iiber den neutralen
Ort, iiber den Rang u. s. w. Die Welt muB nur nicht denken, daB
eher als um funf Uhr nachmittags etwas angehe, oder daB jemand
fruher aus der prosaischen Wochen-Einkleidung in die poetische
10 festliche wischen oder sich ruhig neben einen Nachbar nieder-
lassen konne - sondern nach der ProzeBordnung der Lust muB
jetzt alles hinauf -, hinabrennen - Apoltonien, dieser Majorin do-
mus, gehorchen - die Bohnenstangen und Samen-Diiten aus dem
Gartenhause tragen - entpuppte SchmetterKnge daraus facheln
und aufgewachte Brummfliegen - das vorgeschossene Gezweig
von den Fenstern zuriickbinden - die Orangerie, die aus hun-
dert Bliiten eines Pomeranzenbaums bestand, aus dem Pfarrhause
in die Garten-StraBe herunterheben, desgleichen ein invalides
Klavier, dessen Sangboden nicht so oft als sein Saitenbezug ge-
3 o sprungen war... Der ernsthafte Flamin wurde vom larmenden
Sebastian zu diesen Haupt- und Staatsaktionen mit gezwungen,
und z wischen ihnen muBte in dieser Vorjagd der Freude das ge-
qualte Eymannische Gesicht arbeiten, an das Viktor die notigsten
Ermahnungen hielt: »Herr Gevatter, wir konnen nicht ernsthaft
und fleiBig genUg sein - es kann von diesem Feste noch an Orten
gesprochen werden, wo es EinfluB hat - aber ein Mittelweg
564 HESPERUS
zwischen Fiirstenpracht und belgischer Knauserei wird, denk'
ich, das vorteilhafteste Licht auf uns werfen.« - Es ging alles gut -
sogar das Gewolk zerwarf sich - Klotilde wollte kommen - der
Primas des Festes, dem zu Ehren der Kirchgang war, der kleine
Sechswochner, memorierte laut an seiner RoIIe, die er nach funf
Uhr zu machen hatte, und die, wie bei mehren Helden von Fest-
lichkeiten, in nichts bestehen sollte als in Schlafen. —
Das Memorieren bestand darin, daB er in einem fort wachte
und schrie nach dem Busen, in dem der Schopfer ihm das erste
Manna in der Lebenswiiste bereit gelegt. Aber nicht eher als um k
funf Uhr stillte die Mutter ihn mit dem mutterlichen Schlaftrunk
und lie 3 den kleinen Sprecher Kehldeckel und Augendeckel mit-
einander schlieBen. Anfangs hatt' ichs beinahe - aus Achtung
gegen die Pfarrerin - unterdriickt, daB sie saugte und so, gleich-
sam wie ein Walfisch noch unter die Sdugetiere gehorig, an ihrem
Busen ein andres Kind ernahrte als den Amor; aber ich schmei-
chelte mir nachher, eine Person, die weder eine Theater- noch
eine Kronprinzessin ist, werde nicht so strenge als andre beurteilt
werden, wenn sie Kinder hat oder Milch. . . .
Eh ich sage, daB Klotilde kam, will ich sie, da sie acht Quar- 20
tiere hat - wiewohl mancher Magnat, der sechzehn adlige Quar-
tiere hat, doch noch ein siebzehntes gemauertes sucht, wo er
schlaft -, ein wenig entschuldigen, daB sie in ein burgerliches
ging; es kommt ihr aber in der Tat nichts zustatten, als daB sie
auf dem Lande war, wo oft das alteste Blut keinen bessern Urn-
gang habhaft wird als biirgerlichen, wenns nicht etwan Vieh ist,
das auch einige nicht unkluge Kavaliere wirklich vorziehen. . . .
Es schlagt funf Uhr - die Schonste tritt herein - der Mond
hangt wie ein weiBes Bliitenblatt aus dem Himmel auf sie herab -
das freudige schuldlose Blut in St.Liine steigt wie die Flut unter 3 o
ihm auf- alles ist umgekleidet. ...
Aber das sechste Kapitel ist aus....
- Und da der Spitz mit dem siebenten noch nicht da ist: so
konnen ich und der Leser ein verniinftiges Wort fniteinander
reden. Ich gestehe, er schatzt mich und mein Tun lange, er sieht
ein, alles ist im schonsten biographischen Gange, der Hund, meine
6. HUNDPOSTTAG 565
Wenigkeit und die Helden dieser Hundtage. - Ich habe auch nie
abgeleugnet, daB er immer mehr von dem Glanz und Blitze dieser
FuBgeburt werde geblendet werden; da ich so sehr daran wichse,
reibe und bohne, mehr als an einem Menschenstiefel oder mili-
tarischen RoBhuf in Berlin - Ja ich brauche aus keiner Tasse voll
KafFeesatz es mir erst wahrsagen zu lassen (denn ich erseh' es
schon aus der menschlichen Natur und aus dem KafFee, den ich
trinke), daB das noch das Geringste ist, und daB die eigentliche
Lesewut den guten Schelm erst dann befallen wird, wenn in die-
to sem Werke, woran wie an der Basselisse zwei Arbeiter auf einem
Stuhle seBhaft weben, die historischen Figuren dieser Basselisse
samt ihrer Gruppierung von dem FuBballen bis zur Wirbelnaht
hervorsteigen werden Jetzt ist ja kaum noch eine Ferse, ein
Schienbein, ein Strumpf fertig gewiirkt . . .
Aber wenn zwanzig bis dreiBig Ellen am Werke werden ab-
gewoben sein : dann konnen ich und mein Beisitzer das erwarten,
was ich hier schildern will: des Teufels vollig wird der Leser sein
mit Eilen - einen Hundposttag hinauszubringen, lasset er sechs
Schiisseln kalt werden und den Nachtisch warm - Doch was will
20 dies sagen; einleibhafter romischer Konig reitedurch die StraBe,
und ein Kanonendonner fahre hinterdrein, er horts nicht - seine
Ehehalfte gebe in seinem Lesekabinett einem ehelichen Uberbein
das beste Abendessen , er siehts nicht - das Uberbein selber hake ihm
Teufelsdreck unter die Nase, es gebe ihm scherzend mit einem
Waldhammer leichte Hiebe, er spurts nicht. . . so auBer sich ist er
iiber mich, ordentlich nicht recht bei Sinnen. —
Das ist nun das Ungluck, dessen GewiBheit ich mir vergeblich
zu verbergen suche. Ists einmal da, und bring* ich ihn ungluck-
licherweise in jene historische Hellseherei, wo er nichts mehr hort
30 und sieht als meine mit ihm in Rapport gesetzte Personen, weder
seinen Vater noch Vetter : so kann ich versichert sein, daB er einen
Berghauptmann noch weniger hort- denn Geschichte will er, und
von mir weiB er gar nichts mehr - ja ich will setzen, ich brennte
die buntesten Feuerwerke des Witzes ab, ja es hingen aus meinem
Maul philosophische SchluBketten, wie aus eines Taschenspielers
seinem Bander, in Zaspeln heraus: hulFs mir was? -
566 HESPERUS
Dennoch miissen Bander heraushangen und Feuerwerke ab-
brennen; es soil aber so werden: Wie von jedem Jahre so viel
Stunden ubrigbleiben, daB aus den Oberbleibseln von vier Jahren
ein Schalttag zu machen ist - und wie mir selber nach vier Hund-
posttagen allezeit so viel Nachschriften, so viel Witz und Scharf-
sinn ganz unniitz als Ladenhuter liegen bleiben, daB daraus recht
gut ein eigner Schalttag zu machen ware: so soil er auch gemacht
werden, sooft vier Hund-Dynastien voruber sind ; nur dies braucht
es noch, daB ich vorher mit dem Leser folgenden Grenz- und
Hausvertrag abschlieBe und ratifiziere, also und dergestalt: i<
I. DaB von seiten des Lesers dem Berghauptmann auf St. Jo-
hannis fur ihn und seine Erben zugestanden und bewilligt werde,
von nun an nach jedem vierten Hundposttage einen witzigen und
gelehrten Schalttag, in dem keine Historie ist, zu verfertigen und
drucken zu lassen.
II. DaB von seiten des Berghauptmanns dem Leser bewilligt
wird, jeden Schalttag zu uberschlagen und nur die Geschichttage
zu lesen — wofur beide Machte entsagen alien beneficiis juris -
restitutioni in integrum - exceptioni laesionis enormis et enor-
missimae - dispensation! - absolutioni etc. Auf dem KongreB zu 20
St.Johannis den 4ten Mai 1793.
So lautet das echte Instrument des so bekannten Hund-Ver-
trags zwischen dem Berghauptmann und Leser, und diese Renun-
ziationsakte kann und muB in zukiinftigen MiBhelligkeiten beider
Machte von einem Mediateur oder einem Austragalgericht einzig
zum Grunde gelegt werden.
* 7. HUNDPOSTTAG
Der groBe Pfarr-Park - Orangerie - Flamins Standes-Erhohung - Fest-
Nachmittag der hauslichen Liebe - Feuerregen - Brief an Emanuel
Den Lord ausgenommen, sitzt schon alles im Pfarrgarten und 30
passet auf mich; aber den Garten kennt noch kein Henker. Er ist
eine Chrestomathie von alien Garten, und doch nicht groBer als
7. HUNDPOSTTAG 567
die Kirche. Viele Garten sind wie er zugleich Kiichen-, Blumen-,
Baumgarten; aber er ist noch ein Tiergarten - wie er denn die
ganze Fauna von St.Lune enthalt - und noch ein botanischer -
mit der vollstandigen Flora des Dorfs ist er bewachsen - und ein
Bienen- und Hummelgarten - sooft sie gerade hineinfliegen. In-
dessen sollte man doch solche kleinere Vorziige gar nicht nam-
haft machen, wenn ein Garten wie er einmal den hat, daB er der
grbBte englische ist, durch den je ein Mensch schritt. Er verbirgt
nicht nur sein Ende - wie jeder Park gleich jeder Kasse tun muB -,
a sondern auch seinen Anfang und scheint bloB die Terrasse zu
sein, von der man in das hineinsehen kann, was man nicht uber-
sehen, aber wohl wie Cook umfahren kann. Im englischen Pfarr-
garten sind nicht einzelne Ruinen, sondern ganze zerschlagene
Stadte, und die groBten Fiirsten haben sich um die Wette beeifert,
ihn mit romantischen Wiisten und Schlachtfeldern und Galgen
zu versorgen, an die noch dazu (das treibt die Tauschung hoher)
wahre Spitzbuben gebunden sind als Fruchtgehange. - Die Ge-
baude und Gestrauche verschiedener Weltteile sind darin nicht
in eine widersinnige Nachbarschaft zusammengetrieben, sondern
o durch ordentliche Meere oder Wasserpartien nett auseinander ge-
stoBen, welches bei dessen GroBe leicht gewesen, da er iiber neun
Millionen Quadratmeilen halt - und mit welchem Geschmack
iiberhaupt diese Massen aneinander gelagert sind, mogen die
Leser daraus ermessen, daB alle Lords und alle Rezensenten der
Literaturzeitungen und die Leser selber in den Garten gezogen
sind und oft sechzig Jahre darin bleiben. -
Der Pfarrer denkt, mit ihm auch als hollandischem Garten
einige Ehre einzulegen, besonders durch eine Periicke aus Wasser,
die nicht an einem Peruckenstock, sondern an einem Blechauf-
o satze hangt, und die so Iockig springt, daB schon mehre Stadt-
pfarrer wunschten, sie konnten sie aufsetzen. Schmetterling-
Glaskasten wendeten die Nachtkalte von friihzeitigen Rosen aus
Seide ab und von Friihgurken aus Wachs. Gurken, die aus wahren
Gurken bestanden, legte er unter alien Pastoren am friihesten ein,
um in die Angst zu geraten, sie konnten erfrieren; denn diese
Angst muBt' er haben, um sich zu freuen, wenn eine Glasflasche
5 68 HESPERUS
in seinem Hause zerbrochen wurde: er konnte dann den Eis- oder
Glasberg, der in den Weinen leider jahrlich mit unserem Durste
steigt, in den Garten tragen und mit dieser Mistglocke die Herz-
blatter iiberbauen. - Um wichtigere Beete fiihrte er einen bunten
musivischen Scherbenrand; seine Familie war seine Randelma-
schine, ich meine, sie muBte ihm die wenigen Porzellantassen zer-
brechen, die er brauchte, um mit diesem bunten Streuzucker an-
sehnlichere Partien zu heben, wie ein Fiirst sich mit den bunten,
durch die Knopflocher seiner Vorzimmer gezognen Ordensban-
dern einfasset und beringet. Da er die Tassen nicht gani um die 1
Beete setzen konnte, sondern erst durch seine Scheidekiinstler
zerlegt: so muB ein Rezensent, der bei ihm isset, meinen Wink
benutzen, um sichs zu erklaren, wenn ein solcher Lungensiichtiger
nicht vor Zorn auBer sich ist, sobald sehr kostbares Geschirr zer-
brochen' wird; denn bloB bei elendem ist er seiner nicht machtig.
Jede Ehefrau sollte ein solches Beet als Arndts Paradiesgartlein,
als Schadelstatte fur Porzellan von gednderter Fagon abstechen,
zum Besten ihrer Seele, um bei Sinnen zu bleiben, wenn eine Tasse
fallt - »Schatz!« wiird* ich sagen, »halte dieses Ungliick wie eine
Christin aus, es niitzt dir entweder dort in der Ewigkeit oder hier 2
- im Garten.«
Nahe an einem Hause nehmen sich die hollandischen Garten-
schnorkel mit ihrer hauslichen Winzigkeit besser aus als die er-
schiitternde Natur mit ihrer ewigen Majestat. Eymanns geschnitz-
ter Pfarrgarten war im Grunde bloB eine fortgesetzte Wohnstube
ohne Dach und Fach.
Als der Pfarrer unsern Viktor im Garten herumzerrete, hatte
der Gast beinahe vergessen, das Ideenmagazin im Garten zu
loben, bloB weil er zu neugierig und zu warm der Ankunft KIo-
tildens und ihrem Benehmen gegen seinen Freund entgegensah. 3 <
Zum Gliicke fiel es'ihm ein, daB der Pfarrer auf Rauchopfeir und
Rauchfasser sich spitze; er hinterging ein Lorbeer-hoffendes Herz
so ungern, daB er sich eben darum gern zu Personen von einigem
Werte hielt ? um seinem menschenfreundlichen Hange,zu loben,
ohne Kosten der Wahrheit nachzugeben.
Viktor freuete sich auf Flamins und Klotildens Zusammen-
7. HUNDPOSTTAG 569
kommen: wie schon, dacht* er, wird auf sein und ihr stolzes Ge-
sicht der Mondschein der weichen Liebe fallen ! - Und er hielt eine
reichliche Duldung und Liebe fur ihre Liebe vorratig. Denn er
hatte nicht nur so viel Einsicht in die Flucht unsrer Freuden, daB
er kaum uber die tollsten zankte: sondern er konnte auch dem
HandwerkgruB (oder der Methodologie) zweier Liebenden mil
Vergnugen beiwohnen. »Es ist sehr toll« - sagt* er in Gottingen -
»jeder gute Mensch tut seine Arme teilnehmend auf, wenn er
Freunde oder Geschwister oder Eltern in den ihrigen sieht; wenn
o aber ein Paar verliebte Schelme vor uns am Seile der Liebe her-
umtanzen, und war's auf dem Theater, so will kein Henker Anteil
nehmen - sie miiBten denn in einem Romane tanzen. Warum
aber? - Sicher nicht aus Eigennutz, sonst blicbe das holzerne Herz
im Menschenklotz auch bei fremder Freundschaft, bei kindlicher
Liebe fest genagelt - sondern weil die verliebte Liebe eigennutzig
ist, sind wirs auch, und weil sie im Roman es nicht ist, sind wirs
auch nicht. Ich meines Orts denke weiter und mache mir von
jedem verliebten Gespann, das mir begegnet, weis, es ware ge-
druckt und eingebunden, und ich hatte es vom Bucherverleiher
■o fiir schlechtes Lesegeld. Es gehort zur hohern Uneigenniitzig-
keit, sogar mit dem Eigennutz zu sympathisieren. - Und vollends
mit euch armen Weibern! WiiBtet ihr oder ich denn in eurem
vernahten, verkochten, verwaschnen Leben oft, daB ihr eine
Seele hattet, wenn ihr euch nicht damit verliebtet? Manche von
euch brachte in langen Tranenjahren ihr Haupt nie empor als am
sonnenhellen kurzen Tage der Liebe, und nach ihm sank das be-
raubte Herz wieder in die kuhle Tiefe: so liegen die Wasser-
pflanzen das ganze Jahr ersauft im Wasser, bloB zur Zeit ihrer
Bliite und Liebe sitzen ihre heraufgestiegenen Blatter auf dem
jo Wasser und sonnen sich herrlich und - fallen dann wieder hinab.«
Endlich trat Klotilde mit der Pfarrerin in einem Gesprache
herein. Sie hatte einen Florhut mit einem schwarzen Spitzen-Fall-
gitter auf, das mit einem durchbrochnen Schatten ihr schones An-
gesicht zugleich verschonerte, teilte und verbarg. Aber ihr Auge
vermied Flamins Auge und schlich ihm nur zuweilen denkend
nach. Er bewies, daB gerade Leute vom groBten Mute den klein-
57° HESPERUS
sten gegen Schonheit zeigen - er tat ihr nicht einen Schritt ent-
gegen. Sie fragte unsern Viktor angelegentlich iiber die Ankunft
und iiber das Befinden des Lords. Sie legte ihm dann mit der ge-
wohnlichen medizinischen Unbestimmtheit ihres Geschlechts die
Frage vor, ob eine solche Operation ofters so leicht gerate, und
ob er vielen schon so viel wiedergegeben als seinem Vater; er ver-
neinte beides, und sie seufzete unverhohlen. Seine ehrerbietige
Entfernung von ihr ware durch die, worin sein Freund sich von
ihr hielt, grofier geworden, hatt* er ihr nicht etwas zu geben ge-
habt — Emanuels Zettel. Er konnte ihn nicht stehlen, da er ihr neu- i
lich schon die erste Zeile vorgesagt; zweitens muBt* er ihn unter
vier Augen - nicht z.B. durch Agathen - zustellen, weil :er ihre
bis an die auBerste Grenze getriebne Diskretion kannte. Klotilde
gehorte unter die - dem Lebensbeschreiber und dem Helden be-
schwerlichen - Personen, die gern alles Kleine verbergen, z.B.
was sie essen, wohin sie morgen gehen, die auf den Freund toll
werden, wenn er ausplaudert, sie batten voriges Jahr am Thomas-
tage leichte Kopfschmerzen gehabt. Bei Klotilden kams nicht von
Furcht, sondern von der dunkeln Ahndung, daB der, der gleich-
giiltige Mysterien ausschwatze, endlich wichtige sage. Er fiihlte, 2 <
ihres Stolzes ungeachtet, gegen sie einen machtigen Zug zur Auf-
richtigkeit. Er fuhrte sie allein dem Pomeranzenbaume zu und
gab ihr dort - indem er ihr durch seine ofTenherzige Leichtigkeit
die beschwerliche Verbindlichkeit fur ein Geheimnis ersparte —
das Blatt zuriick. Sie erstaunte, sagte aber sogleich: ihr Erstaunen
gehe bloB ihre eigne Nachlassigkeit an - d.h. sie glaubte ihm,
hatt' aber irgendeinen Verdacht gegen ihre SchloBgenossen und
gegen die Art, wie es in die Laube gekommen. Sie machte sich die
Orangerie zunutze und drangte ihr beseeltes Angesicht in die
Pomeranzenbluten. Viktor konnte unmoglich so dumm allein 3=
dort stehen - er, noch ein wenig betroffen iiber das Erstaunen und
am Ende iiber einen fast zu groBen Stolz, wurde auch liistern nach
dem Pomeranzenweihrauch und hielt ihr darin.sein Gesicht ent-
gegen. Er hatte aber wissen sollen, daB einer, der an etwas riecht,
nicht auf das Etwas blicke, sondern geradeaus. Er war also kaum
mit seinen Geruchnerven in den Bliiten, so schlug er seine Augen
7. HUNDPOSTTAG 571
auf, und Klotildens groBe standen ihm offers entgegen; sie waren
gerade in der wirksamsten und hochsten Erhebung von 45 , man
mag nun Augen oder Bogenschiisse meinen. Er drehte seine Aug-
apfel gewaltsam auf die Blatter nieder, sie trat, noch kluger, von
der betaubenden Orangerie zuruck.
Gleichwohl war sie nicht verlegen ; er hielt es fur Unrecht gegen
Flamin,ihre Gesinnungen gegen ihn selber zu beobachten; aber
so viel merkte er doch, daB die Sternwarte, auf der man die Stern-
bedeckungen ihres Herzens beobachten wollte, hoher sein miisse,
» als gegen andre Weiber notig ist. Die Gewohnheit, bewundert
zu werden, hatte sie gegen die Vorspieglung des Eindrucks ihrer
Reize, mit der sich die Manner so oft die Aufmerksamkeit der
weiblichen Eitelkeit erwerben, fest gemacht. Sie war, wie gesagt,
nicht verlegen : sondern erzahlte ihrem Zuhorer noch etwas von
Emanuels Charakter, was sie neulich vor so unheilige Ohren aus
Achtung fur ihren Lehrer nicht bringen wollte - daB er namlich
gewiB glaube, er werde nach einem Jahre in der Johannis-Mitter-
nacht sterben. Viktor konnte leicht erraten, daB sie es selber glau-
be; aber das erriet er nicht, daB diese Stolze aus bloBer Weichheit
, des Herzens ihren Termin, zu Johannis aus Maienthal zu'ziehen,
beschleunigt habe, um nicht dem geliebten Menschen an dem
Namentage des kiinftigen Sterbetages zu begegnen. Zufolge ihrer
Erzahlung hatte dieser Emanuel eine hart erhabne Stellung unter
den Menschen : er war allein, an seiner Brust waren groBe Freunde
gewesen - aber alles war ihm unter die Erde gegangen - darum
wollt* er auch sich darunter verhiillen. Die Jahre geben den stiir-
mischen uberkraftigen Menschen eine schonere Harmonie des
Herzens, aber den verfeinerten kalten Menschen nehmen sie mehr,
als sie geben; jene Kraftherzen gleichen den englischen Garten,
3 die das Alter immer griiner, voller, belaubter macht; hingegen der
Weltmann wird, wie ein franzosischer, durch die Jahre mit aus-
gedorrten und entstellten Asten iiberdeckt.
Viktor wurde angstlicher; jedes Wort, das er ihr abgewann,
hielt er fur Tempelraub an seinem Freund, da ohnehin der letzte
nicht so gut als er die Kunst verstand, mit einer Frau in ein Ge-
sprach zu kommen. Jener hatte nicht den Mut zu glanzen, weil
572 HESPERUS
er dadurch um ihren Beifall mit seinem Freunde zu wetteifern
besorgte. Sein Flamin kam ihm heute langer, schoner, besser vor;
und er sich kiirzer und diimmer. Er wiinschte tausendmal, sein
Vater ware schon da, damit er ihm Flamins Bitte, ihm Klotildens
Besitz leichter zu machen, mit dem groBten Feuer iibergeben
konnte.
Endlich kam er, und Viktor atmete wieder voll. Der gute,
Mensch sucht oft durch aufopfernde Taten sein Gewissen wieder
mit seinen Gectanken auszusohnen. Mit herzklopfendem Enthu-
siasmus wartete er auf die Minute der Einsamkeit. Ein Garten ver- i
einzelt und verbindet Leute auf die leichteste Weise, und nur dar-
in sollte man Geheimnisse verteilen; Viktor konnte bald in einer
Laube, die sich an vier Kastanienbaumen mit Bliiten-Geader uber
den Menschen zusammennistete, mit geriihrtem Zittern seinen
Vater umfassen und fiir seinen Freund sprechen und gluhen mit
Zunge und Herz. Des Lords Uberraschung war groBer als dessen
Running. »Hier« (sagt' er) »ist deine Bitte auf eine andere Art
langst erfiillt; ich wollte dir aber das Vergniigen der Botschaft
aufheben« - und damit gab er ihm ein allerhochstes Handbillet,
worin der Fiirst den praktizierenden Advokaten Flamin zum Re- 2c
gierungrat beruft.
Ein allerhochstes Handbillet ist das Tetragrammaton und Gna-
denmittel, das die iibernaturlichen Wirkungen und Staats-Wun-
der tut; und der durchlauchtige Schreib-Daumen ist gleichsam
ein zauberischer Diebs-Daumen, der die verschiedenen Rader der
Staats-Repetieruhr, das Heberad, das Zifferblattrad, oft bloB den
Zeiger voraus- oder zuruckstoBet, je nachdem er eine Stunde
friiher oder spater begehrt. Daher steigen oft Minister hinauf und
schneiden sich einen solchen Diebs-Daumen fiir ihre Taschen ab.
Sebastian wird von der Freude wie von Habakuks Engel beim y
Schopfe erfaBt und durch den Garten gefiihrt und mit seiner No-
velle an den ersten besten getrieben - an den Kaplan, welcher mit
einem narrischen Gesicht beschwor, es waren nur Finten von
Viktor; aber der verhaltene Jubel sprengte ihm fast die zugebun-
dene Ader auf. Viktor hatte keine Zeit, zu widerlegen; sondern
eilte mit einer solchen Botschaft an das rechte Herz, in das sie ge-
7. HUNDPOSTTAG 573
horte - ans miitterliche. Die Mutter konnte ihren Mund zu nichts
als einem seligen Lacheln ofFnen, in das die Augen ihre Freuden-
tropfen gossen. In der Natur ist keine Freude so erhaben ruhrend
als die Freude einer Mutter iiber das Gluckeines Kindes. Aber der
Sohn, in dessen heutiger Seele dieser Sonnenblick des Schicksals
notig war, wurde in der Oberraschung nicht sogleich gefunden.
Der Lord sprach unterdessen mit Klotilden wie mit seiner
Tochter und gab ihr einen Brief von ihrer Mutter und die Nach-
ncht seiner nahen Abreise. Sein von Achtung geleitetes und von
» Feinheit verschonertes mannliches Wohlwollen veredelte ihre
Aufmerksamkeit auf seine Mienen, und als sie aus dem warmen
leisen Gesprach mit glanzenden Augen ging, war ihre hohe Ge-
stalt, die sich sonst cin wenig buckte, von einer Begeisterung zum
erhabnen Wuchse aufgerichtet, und sie stand unendlich schon in
dem Tempel der Natur, wie eine Priesterin dieses Tempels. — Der
Lord entfernte sich von ihr. - Sie fand Flamin am Tulpen-K, und
die Gottin des Gliicks erschien ihm in der holdesten menschge-
wordnen Gestalt, urn ihm ihr Geschenk zu liefern. Freilkh setzte
ihn hier die Zeitung und die Zeitungtragerin in gleiches Ent-
zucken.
Die Freude hatte den ganzen Bienen-Garten in einem Schwarm-
sack zum Chaos zusammengeruttelt. Die schaumende Wein-
garung muBte sich erst zum hellen stillen Entziicken abarbeiten.
Der Lord ging der mit so vielen Ripienstimmen besetzten Dank-
barkeit aus dem Wege und an seinen Wagen, als ihn die Mutter
mit ihrer stummen Herzensfulle erreichte; aber sie konnte nichts
aus der froh beschwerten Brust auf die Lippen heben als die de-
miitigen Worte: »heute sei sein Geburttag, iind sein Sohn wiss*
es nicht und habe auch mit einer Entziickung uberrascht werden
, soIlen.« Er wollte ihr mit einem dankbaren Lacheln entfliehen und
sagte, dai3 er zum Fiirsten zuriickzueilen habe, der vielleicht auf
eben diesen Tag eine so giitige Riicksicht genommen wie sie;
allein Sebastian holte mit dem gefundnen Freund ihn an der Gar-
tenschwelle ein, und der eilende Lord verspatete sich noch durch
eine schnelle Umarmung seines Sohnes. Erst als er weg war, faBte
die Mutter, die ihre Liebe zu entladen suchte, Viktors Hand zart-
574 HESPERUS
Hch an und yergaB die Abrede und fragte: »0 Teuerster! warum
haben Sie ihm denn nicht Gliick gewiinscht zu seinem Geburt-
tage? Denn ich konnte ja nicht.« Jetzo verstand und fuhlte ererst
die schnelle Umarmung des Vaters und breitete die Arrhe nach
ihm aus undwollte sie erwidern.
Dariiber traf auch der alte Pfarrer aus dem Garten ein und sagte
wie narrisch: »Ich wollt*, er ware Regierungrat«; aber die Frau
sagte, ohne darauf zu antworten, mit iiberflie Bender Stimme und
Liebe zu ihm: »So ein Wiegenfest hast du noch nicht erlebt wie
heute, Peter !« Agathe sah sie fragend und zurechtweisend an. n
»Fahre nur damit heraus« - sagte sie und umfmg die zwei Kinder
und zog beide in die vaterliche Umarmung hinein -»und wiinscht
eurem guten Vater lange Tage und noch drei begliickte Kinder.«-
Der Vater konnte nichts sagen und streckte die Hand nach der
Mutter entgegen, um die Gruppe des liebenden Edens zu runden.
Viktors sympathetisches Blut haufte sich in sein Herz, um es in
Liebe aufzulbfcen, und er dachte das stille Gebet : »ReiBe nie diese
verschlungnen Arme, du Allgiitiger, durch ein Ungluck ausein-
ander !« - Aber Flamin zog sich bald aus der Verkettung und sagte
zu Viktor mit dem dankbarsten Handedruck : »Du weiBt nicht, wie 20
unrecht ich dir immer tue.« Der Kaplan dachte, er werde alien
seine Ruhrung verstecken, wenn er sage: »Ich wollt', ich hatt*
euch nicht betrogen. - Ich habe zur Ader gelassen, es ist aber
dumm - hatt' ichs nur gewuBt! - hatt' ichs nur nicht! - Wahr-
lich, da sehts selber!« - Und als diese Maske nicht hinreichte,
seine ganze geriihrte Seele zu bedecken, rief er der armen ver-
gessenen Apollonia, die an der Haustiir den erwachten Bastian
schwenkte, iiberlaut zu, herzukommen. Allein diese Arme, deren
bloB entfernte freudige Teilnahme an der allgemeinen Annahe-
rung unsern Viktor im Innersten ruhrte, zogerte scheu, bis die }0
Mutter kam und sie schadlos hielt durch alles, was den Muttern
nie vergolten wird. Aber erst als die Pfarrerin ihr Kind in ihren
Armen und an ihren Lippen hatte, fuhlte sie, daB die gefangnen
Flammen ihrer Gefuhle ihre Offhung fanden und ihr Herz seine
Erleichterung. -
O ! daB der Mensch gerade zu der Zeit die schonste Liebe emp-
7* HUNDPOSTTAG 575
fangt, wo er sie noch nicht versteht - O, daB er erst spat im
Lebensjahre, wenn er seufzend einer fremden Eltern- und Kinder-
liebe zusieht, hofFend zu sich sagt: »Ach meine haben mich gewiB
auch so geliebt« - ach daB alsdann der Busen, zu dem du mit dem
Danke fur ein halbes Leben, fur tausend verkannte Sorgen, fur
eine unaussprechliche, nie wiederkehrende Liebe eilen willst,
schon zerdriickt Hegt unter einem alten Giabe und das warme
Herz verloren hat, das dich so lange geliebt!...
In der hauslichen Gliickseligkeit sind die windstillen, zwischen
io vier engen Wanden vorgetriebnen bequemen Freuden nur der zu-
falligste Bestandteil : ihr Nerven- und Lebensgeist sind die lodern-
den Feuerquellen der Liebe, die aus den verwandten Herzen in-
einander springen. -
Die unwillkiirliche Oberraschung hatte die willkiirlichen ver-
eitelt. Aber die Freudenflut hatte alle Personen zusammenge-
stromt; und sie blieben noch in der vertraulichen Nahe, als jene
wieder verlaufen war. Man setzte sich zum Gastmahl im Garten-
haus. Selten sind Schmause so wie dieser durch zwei auBerordent-
liche Vorziige gewiirzt, durch Mangel an Essen und Mangel an
20 Platz. Nichts reizt den Appetit so sehr als die Besorgnis, er finde
nicht satt. Es war von Sebastian ausgesonnen, daB fur jeden Gast
nur das Leibgericht besorgt wurde - fiir den Pfarrer farcierte
Krebse und Erdapfelkase - fiir Flamin Schinken - fiir den Helden
das Gemiise vom guten Heinrich. - Jeder wollte jetzo das Leib-
gericht des andern, und jeder subhastierte seines. Sogar die Damen,
die sonst wie die Fische essen und nicht essen, bissen an. Der
zweite berauschende Bestandteil, den sie in ihren Freudenbecher
geworfen hatten, war der Tisch samt Gartenstube, wovon jener
die Kost, diese die Kostganger nicht faBte. Sebastian hatte sich
3 o samt Agathen an ein Filialtischchen, das man auBen ans Fenster
des Speisesaales gestoBen, begeben, bloB um drauBen mehr hin-
einzularmen und zu klagen als zu essen. Dieser Mutwille war im
Grunde die verdeckte Bescheidenheit,welchebefiirchtete,drinnen
auf Kosten der andern Gaste, des Lords wegen, gefeiert zu werden.
Sein eignes Alleinsein - vielleicht in einem schmerzlichen Sinn -
make ihm die blode Appel vor, die als Herd-Vestalin erst von zu-
57<> HESPERUS
riickgehenden Speisen den Riickzoll aB, bloB um zu versuchen,
wie es andern geschmeckt. Er konnte den Gedanken dieser Ab-
trennung nicht langer erdulden, sondern nahm Wein und das
Beste vom Nachtisch und trug es ihr in ihr Kuchen-Winterquar-
tier hinein. Da er dabei auf seinem Gesicht statt seiner Munterkeit
gegen Madchen, von def sie eine zu demutige Auslegung hatte
machen konnen, den groBten hof lichen Ernst ausspannte : so war
er so gliicklich, einer von der Natur selber zusammengedruckten
Seele — die hier in keinem andern Blumentopf ihre Wurzeln her-
umtreibt als in einem Kochtopf, und deren Konzertsaal in der 10
Kiiche, und deren Spharenmusik im Bratenwender ist - einen
goldnen Abend gegeben zu haben und ein geluftetes Herz und
eine frohe lange Erinnerung. Kein Boshafter werfe einer solchen
guten Schneckenseele seine Faust in den Weg und lache dazu, wie
sie sich hinuberqualt - und der Aufgerichtete biicke sich gern und
hebe sie sanft uber ihre Steinchen weg —
Klotilden anlangend, so gings vor dem Essen recht gut; aber
nachher recht schlecht. Ich rede von Sebastian, der nach der beim
Lord eingelegten Bittschrift froher und leichter war und mit Klo-
tilden wahrhaftig so freimutig sprach, als ware sie eine - Braut. 20
Denn er hatt' es schon im Hannoverischen gesagt: »es gebe kein
langweiligeres und heiligeres Ding als eine Braut, besonders eines
Freundes seine; lieber woll* er an die murben Pandekten in Flo-
renz oder an einen Wiener heiligen Leib im Glasschrank streifen
und tippen als an sie.« - Oberhaupt wars schwer, sich in Klotilde
zu verlieben; ich weiB, der Leser hatt' es nicht getan, sondern sich
kalt wieder fortgemacht. »Ihre griechische Nase unter der fast
mannlich breiten Stirne«, hatt' er gesagt, » - diese Schwester-Nase
aller Madonnen und dieses seltne Grenzwildpret auf deutschen Ge-
sichtern -, ihre stillen, aber hellen Augen, die auBer sich nichts 5Q
suchen, dieser britische Ernst, diese harmonische denkende Seele
erheben sie uber die Rechte der Liebe. - Wenn diese majestatische
Gestalt auch lieben wollte: wer hatte den Mut, ihr seine darauf
zu bieten, und wer ware so eigenniitzig, um das Geschenk eines
ganzen Himmels einzustecken, oder so stolz, um sein Herz
als Dampfkugel in ihres zu schieBen und damit diese stille
7- HUNDPOSTTAG 577
sinnende Heiterkeit zu benebeln?« - Der Leser lieset sich selber
gern. -
Aber nach dem Essen gings anders. Unter Viktors Gehirn-
hauten hatte irgendein Poltergeist im innern Schriftkasten alle
Lettern seiner Ideen so untereinander geworfen, daB er bisher
lustig, aber unzufrieden war - er hatte versucht, Agathens Haare
auf- und abzulocken, ihre Doppelschleifen in ungleiche und eben
darum wieder in gleiche Halften- zu zerren - aber es hatt' ihm
nicht wie sonst gefallen — die heutigen Zwischenspiele der haus-
to lichen Liebe hatten seine ganze scherzende Seele aus den Fugen
gezogen, und es war ihm, als wenn er, entfernt von der jetzigen
Freude, wenigstens auf einige Minuten froher sein wurde in ir-
gendeiner stillen Ecke, und besonders sehnt' er sich, die Sonne
untergehen zu sehen.
Dazu kam noch mehr: der Anblick von Klotildens warmerer
Liebe gegen Agathe - der Anblick seines Freundes, der durch
seine schweigende Zartlichkeit, durch seine mildereStimme, durch
eine an heftigen Menschen so unwiderstehliche Ergebenheit jedem
Herzen befahl : liebe mich ! - und endlich der Anblick der Nacht . . .
to Er war schon Jangst traurig, als er noch lustig schien. Jetzo
brachte die Mutter den kleinen Held des heutigen Vormittags in
den lauen Abendhimmel heraus. Sie standen alle auBerhalb der
Garten-Stiftshutte, im ersten Tempel des andachtigen Menschen.
In die Wolken floB das Abend-Blut der versinkenden Sonne, wie
ins Meer das Blut seiner in der Tiefe sterbenden Riesen. Das
lockere Gewolke langte nicht zu, den Himmel zu decken; es
schwamm um den Mond'herum und lieB sein bleiches Silber aus
den Schlacken blicken.
Das rote Gewolke schminkte den Saugling. Jeder fassete leise
10 seine weichen Hande, die schon aus der Kissen-Knospe und
Wickelbander-Verpuppung brachen. Klotilde - anstatt an den
Kleinen korperliche kokette Liebkosungen zu verschwenden, wie
manche Madchen vor oder fur Mannspersonen tun - goB einen
fortstromenden Blick voll herzlicher Liebe auf den neuen Men-
schen nieder, band seine schneidenden Hemd-Armel auf, ver-
bauete ihm den angeschielten Mond und sagte spielend: »Lachle
578 HESPERUS
her und liebe mich, Sebastian! <{ Sie konnte unmoglich metapho-
rische Rikoschet-Schusse in diese Zeile laden; auch wuBte der
groBe uneingewickelte Sebastian recht gut, daB sie keinen Doppel-
sinn vorausgesehen; ja er kannte die Regel, daB man aus der
Angstlichkeit, womit einige gewisse Gedanken aus ihrem Spre-
chen bannen, die Gegenwart derselben in ihrem Kopfe errate.
Gleichwohl hatt' er doch nicht den Mut, zu lacheln wie die andern,
oder das von ihr beriihrte Handchen in seines zu nehmen. Sie
kehrte skh zu ihm und sagte: »Aber wie lernt das Kind unsere
Sprache, wenn $s nicht schon eine kannFn 1
. , Ich nab* es bloB aus Liebe zu den Weltweisen mit Schwa-
bacher drucken lassen.
»Also muB«, antwortete er, »die pantomimische Sprache gerade
so viel bezeichnen wie die Ohrensprache. - Sooft ich einen Taub-
stummen zum Abendmahl gehen sehe, denk' ich daran, daB aller
Unterricht nichts in den Menschen bringe, sondern nur das Da-
gewesene bezeichne und ordne. — Die Kindesseele ist ihr eigner
Zeichenmeister, der Sprachlehrer der Kolorist derselben.« - »Wie,«
fuhr sie fort, »wenn dieser schone Abend einmal wieder vor die
Erinnerung dieses Kleinen kame? Warum sieht das sechste Jahr :
schoner in der Erinnerung aus als das zwolfte, und das dritte noch
schoner?« - Eine schone Frau unterbricht man nicht so leicht wie
einen Exdekan ; sie durfte also darauf kommen : »Herr Emanuel
sagte einmal, man sollte den Kindern in jedem Jahre ihre ver-
gangnen erzahlen, damit sie einmal durch alle Jahre durchblicken
konnten bis ins zweite neblichte hinein.« Mir ist, als hort* ich die
oben gedachte Hofdame leibhaftig sprechen, unter deren diinnen
Blonden mehr Philosophic blieb als unter manchem Doktor-Filz-
hut, wie Quecksilber im Flor beklebt und durch Leder rinnt. -
Viktor antwortete mit der gewohnlichen Teilnahme seines guten ;
Herzens : »Emanuel steht nahe am Menschen und kennt ihn — Den
umgaukelten Menschen fuhren zwei Prospektmalerinnen durch das
ganze Theater, die Erinnerung und die Hoffnung - in der Gegen-
wart ist er angstlich, das Vergniigen wird ihm nur in tausend lilli-
putische Augenblicke eingeschenkt wie dem Gulliver; wie soil
das berauschen oder sattlgen? - Wenn wir uns einen vergniigten
7- HUNDPOSTTAG 579
Tag vorstellen, so drangen wir ihn in einen einzigen freudigen
Gedanken; kommen wir hinan, so wird dieser Gedanke unter den
ganzen Tag verdunnt.« -
»Daran denk' ich,« versetzte sie ,»sooft ich durch Wiesen gehe:
in der Feme stehen Blumen an Blumen - aber in der Nahe sind sie
alle durch Gras auseinander geriickt. - Aber am Ende wird doch
audi die Erinnerung bloB in der Gegenwart genossen.« . . . Viktor
dachte bloB iiber die Blumen nach und sagte vertieft: »Und in der
Nacht sehen die Blumen selber wie Gras aus« - als es plotzlich zu
:° tropfen anfing.
Sie traten alle feierlich in das Gartenhaus, auf dessen Dache
der Regen aufschlug, indes in die offnen Fenster der auf- und zu-
gedeckte Mond wie ein Gietscher seine Schneeblitze hineinwarf-
der laue Bliiten-Atem der ganzen leuchtenden Landschaft hauchte
jeden menschlichen Seufzer, jeden schweren Busen heilend an. -
In dieser engen Nahe, durch die mit dem Monde abwechselnde
Nacht abgeschieden von der Natur, muBte man zur Nachbar-
schaft, zum alten Klaviere fliichten. Klotildens Stimme konnte die
FIoten-Begleitungdes auBern Regen-Gelispels sein. Die Pfarrerin
w bat sie darum, und zwar um ihre Lieblingarie aus Bendas Romeo :
»Vielleicht, verlorne Run* ! vielleicht find' ich dich im Grabe wie-
der« etc., ein Lied, dessen Tone wie feine auf losende Diifte in das
Herz durch tausend Offnungen dringen und darin beben und im-
mer starker beben, bis sie es endlich zerzittern und nichts von ihm
in der harmonischen Vernichtung xibrig lassen als Tranen.
Klotilde willigte ohne zogernde Eitelkeit in das Singen ein.
Aber fur Sebastian, in welchem alle Tone an nackte zitternde
Fiihlfaden schlugen, und der sich schon mit den Gesangen der
Hirten auf dem Felde traurig machen konnte, war dieses an einem
solchen Abend fur sein Herz zu viel; wahrend der musikalischen
Aufmerksamkeit der andern muBt' er zur Ttire hinausgehen . . .
Aber hier unter dem groBen Nachthimmel konnen unter hohere
Tropfen ungesehen seine fallen - Welche Nacht! - Hier schlagt
ein Glanz iiber ihn zusammen, der Nacht und Himmel und Erde
aneinanderreiht, die magische Natur drangt sich mit Stromen ein
ins Herz und macht es gewaltsam groBer. - Oben fiillet Luna die
580 HESPERUS
wehenden Wolken-Flocken mit flussigem Silber an, und die ge-
trankte Silberwolle zittert herab, und Glanzperlen rinnen iiber
glattes Laub und stocken in Bliiten, und das himmlische Gefilde
perlt und glimmt — Durch dieses Eden, woriiber ein doppeltes
Schneegestober von Funken und von Tropfen zwischen einem
Staubregen von Blutendiiften spielte und wirbelte, und worin
Klotildens Tone wie verirrte Engel sinkend und steigend urhher-
fiogen, durch dieses Zauber-Gewimmel wankte Viktor geblendet
— iiberstromt - zitternd - und weinend hin und sank miide in die
Laube nieder, wo er heute am Herzen seines Vaters gewesen war. 10
Er iiberdachte das Winterleben dieses guten Vaters unter lauter
Fremdlingen des Herzens und dessen bange Feier des heutigen
Tages und den kalten leeren Raum in der vaterlichen Brust, den
sonst die verlorne Gestalt der Geliebten bewohnet hatte - und er
sehnte sich schmerzlich an das Herz der unsichtbaren Mutter. Er
hob das angelehnte Haupt in den Regen auf, und aus den weiten
offnen Augen fielen fremde Tropfen -nicht allein. Er gliihte durch
sein ganzes Ich, und Nachtwolken sollten es kiihlen. Seine Finger-
spitzen hingen leise ineinander gefaltet nieder. Klotildens Tone
tropften bald wie geschmolzene Silberpunkte auf seinen Busen, 2 <
bald flossen sie wie verirrte Echo aus fernen Hainen in diesen
stillen Garten herein. Er nannte nichts - er dachte nichts - er
sprach sich nicht los, er klagte sich nicht an - er sah es wie im
Traume, wenn bald eine dicke Nacht iiber den Garten rannte,
bald ein Lichtmeer ihr nachschoB.
Aber ihm war, als wollte seine Brust aufspringen, als war' er
selig, wenn er jetzt geliebte Menschen umschlingen und an ihnen
im seligen Wahnsinn seinen Busen und sein Herz zerquetschen
konnte. Ihm war, als war' er iiberselig, wenn er jetzo vor irgend-
einem Wesen, vor einem bloBen Gedankenschatten hingieBen y
konnte all sein Blut, sein Leben, sein Wesen. Ihm war, als miifit'
er in Klotildens Tone schreien und die Arme um Felsen driicken,
um nur das peinliche Sehnen zu betauben. —
Er horte die Blatter tropfen und hielt es noch fur Regen. Aber
der Himmels-Staubbach hatte sich versprungen, und bloB Lunens
Lichtfall ubersprengte noch die Gegend. Der Himmel war tief
7. HUNDPOSTTAG 581
blau. Agathe hatt' ihn unter dem Regen gesucht, und jetzt erst
gefunden. Er wachte auf, ging folgsam und schweigend mit ihr
hinaus und begegnete lauter ausgeheiterten Himmels-Gesichtern
- da zuckten alle seine Nerven, und er muBte sich mit einer stum-
men Verbeugung schmerzjiaft-freundlich entfernen. Jeder hatte
andere Gedanken daruber. Aber die Pfarrerin sagte der Gesell-
schaft, er hore die Musijk gern von feme, nur mache sie ihn
allemal zu melancholisch.
Ach in seinem Zimmer umfing ein gliicklicher trostender Ge-
[o danke seine Seele. Klotildens Grablied und alles befestigte die Ge-
stalt des erhabnen Emanuels vor sein" Auge - diese schien zu sa-
gen : »In einem Jahre bin ich schon unter der Erde, komme nur zu
mir, Armer, ich will dich so lange lieben, bis ich sterbe !« Ohne ein
Licht zu begehren, schrieb er mit stromenden Augen, denen ohne-
hin keines geholfen hatte, dieses Blatt an Emanuel:
»Emanuel I
Sage nicht zu mir: ich kenne dich nicht! - Warum kann der
Mensch auf dem schmalen Sonnenstaubchen Erde, auf dem er
warm wird, und wahrend der schnellen Augenblicke, die er am
to Pulse abzahlt, zwischen dem Blitze des Lebens und dem Schlage des
Todes, noch einen Unterschied machen unter Bekannten und Un-
bekannten? Warum fallen die kleinen Wesen, die einer lei Wundefl
haben, und von denen die Zeit das namliche MaB zum Sarge nimmt,
nicht einander ohne Zogern mit dem Seufzer in die Arme: >Ach
wohl sind wir einander ahnlich und bekannt<? - Warum mussen
erst die Fleischstatuen, worein unsre Geister eingekettet sind, zu-
sammenriicken und einander betasten, damit die darin vermumm-
ten Wesen sich einander denken und lieben? — Und doch ists so
menschlich und wahr: was nimmt uns denn der Tod anders als
o Fleischstatuen - als das geliebte Angesicht unsern Augen - als die
teuere Stimme unsern Ohren und die warme Brust der unsrigen?
...Ach Emanuel! sei fur mich kein Toter! Nimm mich anl Gib
mir dein Herz! Ich will es lieben! — Ich bin nicht sehr glucklich,
mein Emanuel! - Da mein groBer Lehrer Dahore - dieser glan-
582 HESPERUS
zende 'Schwan des Himmels, der, vom zerknickten Fliigelgelenk
ans Leben befestigt, sehnend zu andern Schwanen aufsah, wenn
sie nach den warmern Zonen des zweiten Lebens zogen — auf horte
an mich zu schreiben: so tat ers mit den Worten; >Suche mein
Ebenbild! Deine Brust wird so lange bluten, bis du mit einer an-
dern die Narben bedeckst, und die Erde wird dich immer starker
schiitteln, wenn du allein stehst — und nur um den Einsamen
schleichen Gespenster.< — Emanuel, bist du nicht ruhig und sanft
und nachsichtig? — Sehnet sich deine Seele nicht, alle Menschen
zu lieben, und ist ihr nicht ein einziges Herz zu enge, in das sie u
mit ihrer Liebe wie eine Biene in eine eingeschlafene Tulpe ein-
geschlossen ist? - Hast du nicht satt das Repetierwerk unseres
Freuden- und Trauergelautes, die Familienahnlichkeit aller Aben-
de und Zeiten? - Schauest du nicht von dieser dahingerissenen
Erde hinaus auf deinen langen Weg iiber dir, damit dich nicht
ekle und schwindle, wie man eben deswegen aus dem Wagen auf
die Strafie sieht? - Glaubst du nicht an Menschen, um welche die
Bergluft einer hohern Stellung geht, und die oben auf ihrem Berge
mitten in einem stillen Himmel stehen und herunterschauen in die
Donner und Regenbogen an der Erde? - Glaubst du nicht an zc
Gott und suchst seine Gedanken auf in den Lineamenten der Na-
tur und seine ewige Liebe in deiner Brust? Wenn du das
alles bist und denkst, so bist du mein; denn du bist besser als ich,
und meine Seele will sich heben an einem hohern Freund. Baum
des hohern Lebens, ich umfasse dich, ich umstricke dich mit tau-
send Kraften und Zweigen, damit ich aufsteige aus dem zertrete-
nen Kot um mich ! - Ach von einem groBen Menschen konnte ich
geheilt, gestillet, erquickt, erhoben werden - ich Armer, nur an
Wunschen reich - zerruttet vom Kriege zwischen meinen Trau-
men und meinen Sinnen - wund hin- und hergeschlagen zwischen 3 c
Systemen, Tranen und Narrheiten - anekelnd die Erde, die ich
mir nicht ersetzen kann, lachend iiber die weinerliche Komodie
bloB aus Jammer, und der widersprechendste, betrubteste und
Iustigste Schatten unter den Schatten in der weiten Nacht O !
schone, gute Seele, liebe mich I
Horion.«
7. HUNDPOSTTAG 583
Den Kopf auf die Hand gestiitzt, HeB er so lange seine Tranen,
ohne zu denken und ohne zu sehen, rinnen, bis die Natur ein Ende
machte. Dann trat er ans Klavier und sang unter dessen Beglei-
tung die heftigsten Stellen seines Briefes ab; was ihn stark be-
wegte, trieb ihn allezeit zum Singen an, besonders der AfFekt der
Sehnsucht. Was kann es uns verschlagen, daB es Prose war?
Bei der letzten Zeile seines Briefgesanges ging langsam die
Tiire auf: »Du bists?« sagte eine Stimme. »Ach komm herein, Fla-
min !« antwortete er. »Ich wollte nur sehen, ob du zuriick warest«,
10 sagte Flamin und ging. —
- Ich denke, es ist notig, daB ich wenigstens folgendes da-
zwischenwerfe: - daB namlich Viktor zu viel Phantasie, Laune
und Besonnenheit besaB, um nicht, wenn diese drei Saiten zugleich
erschiittert wurden, lauter Dissonanzen anzugeben, die bei mehr
harmonischen Intervallen dieser Krafte 1 weggeblieben waren -
daB er daher mehr Neigung zu Schwarmereien und zu Schwar-
mern hatte als Ansat^ dazu - daB seine negativ-elektrische Philo-
sophic mit seinem positiv-elektrischen Enthusiasmus immer um
das Gleichgewicht zu kampfen hatte - und daB aus dem Aufbrau-
20 sen beider Spiritus nichts wurde als Humor - daB er alle Freuden-
Nelken auf dem namlichen Beete haben wollte, obgleich eine die
Farbe der andern verfalschte (z. B. Feinheit und Enthusiasmus,
Erhebung iiber die Welt und Ton der Welt) - daB daraus auBer
der Laune und hochsten Tolerant auch ein unbewegliches schweres
Gefiihl der Nichtigkeit unserer voriiberstreichenden und mit einer
solchen Kontrarietat der Farben entworfnen innern Zustande
werden muBte - und daB er, den der Schlimme fur doppelseitig
und der Gutmutige fur veranderlich halt, nichts zum Schmucken
und Riinden seines in so viel Holz versteckten neuen Adams oder
30 Palladiums bediirfe als die Sense der Zeit - Zeit also.
1 Gerade der Besitz ungleichartiger Krafte in gleichem Grade macht inkon-
sequent und widersprechend ; Menschen mit einer vorherrschenden Kraft
handeln gleicher nur nach ihr. In Despotien ist mehr Ruhe als in Republiken;
am heifien Aquator ist ein gleicherer Barometerstand als in den Zonen mit
vier Jahrzeiten.
584 HESPERUS
8.HUNDP0STTAG
Gewissens-Examinatorium und Dehortatorium - die Studier-Flitterwochen
eines Gelehrten - das Natural ienkabinett - eingepacktes Kinn - Antwort
von Emanuel 7- Ankunft des Fiirsten
Ich wollte, die Historie ware aus, damit ich sie konnte drucken
lassen; denn ich habe schon zu viele Pranumeranten darauf unter
dem gemeinen Volk. Ein Schriftsteller nimmt in unsern Tagen
Vorausbezahlung auf sein Buch vom schlechtesten Kerl an - der
Schneider tut seinen VorschuB in Kleidern, der Friseur in Puder,
der Hauswirt in Studierstuben. - I(
JedenMorgen hunzte sich Viktor unter der Bettdecke aus wegen
des Abends; das Bette ist ein guter Beichtstuhl und die Audienza
des Gewissens. Er wunschte, der gestrige Garten-Verein hielte
ihn fiir einen wahren Narren anstatt fur einen - Liebhaber. »Ach
wenn gar Flamin selber sich'mit Mifitrauen krankte, und wenn
unsre Herzen, die so lange geschieden waren, schon jetzo wieder
es wiirden!« Hier wurde die Bettlade aus einem Beichtstuhl ein
feuriger Ofen. Aber ein Engel legte sich zu ihm hinein und blies
die Lohe weg: »Was nab* ich denn aber getan? Hab' ich nicht fiir
ihn mit tausend Freuden gesprochen, gehandelt, geschwiegen? 2
Kein Blick, kein Wort ist mir vorzuwerfen - was denn noch sonst?«
Der Engel des Lichts oder Feuers muBte jetzt entsetzlich gegen
die vorwedelnde Flamme blasen.
»Sonst noch? Gedanken vielleicht, die aber, wie Feldmause, der
Seele unter die FiiBe springen und sich wie Ottern anlegen. -
Aber diirfen mir denn die Kantianer ansinnen, daB ich das kleine
Bild der schonsten und besten Gestalt ? die ich in dreier Herren
Landen bisher vergeblich zitierte, einen solchen RafTaels-Kopf,
eine solche Paradieses-Antike zum Fenster hinauswerfe aus der.
Villa meines Kopfes wie Apfelschalen und Prlaumenkerne? Mich 3,
wiird* es von den Kantianern wundern. - Und wenns drinnen
stehen bleiben soil, soil ich denn ein Vieh sein, ihr Katecheten,
und es kalt anglotzen? - Ich mag nicht] Ja ich will mir selber
trauen und von dem schonsten Herzen sogar die Freundschaft
fodern und ihm doch die Liebe lassen.« - Lieber Leser, unter die-
8. HUNDPOSTTAG 585
sem ganzen summarischen Prozefi vor der Gesetzkommission des
Gewissens hab' ich iiber dreiBigmal zu mir gesagt: »Ihr beide, du
und der Leser, seid um kein Haar ehrlicher gegen das Gewis-
sen !«
Er zog sich langsam am Bettzopf aus dem Bette, das er sonst
mit einem Sprunge verlieB: es stockte ein Ideenrad in ihm. Er
las seinen gestrigen Brief und fand ihn" zu sturmisch : »Das ist
eben«, sagte er, »unsre Nichtigkeit, daB alles, was der Mensch fur
ewig halt, in einer Nacht erfriert; iiber unser Gesicht laufen die
10 heftigsten Ziige nicht schneller'und spurloser als iiber unser Herz
- Warum bin ich denn heute nicht, was ich gestern war und viel-
leicht morgen sein werde? - Was gewinnt der Mensch durch
dieses Auf- und Untcrkochen? Und auf was kann er in sich denn
bauen?«
Unterdessen hatte sich das Feuerrad der Erdenzeit, die Sonne,
gieBend heraufgedreht und brannte am Ufer der Erde. - Er riB
das Fenster auf und wollte die unbedeckte Brust im frischen
Morgenwinde baden, und das heiBe Auge im roten Meer Auro-
rens; aber etwas in ihm drangte sich wie ein Nachgeschmack
20 zwischen den GenuB des Morgenlandes. Ein guter Mensch ist
unter den Gewissensbissen kunftiger Handlungen durchaus zum
Genusse verdorben.
Es stieg in ihm eine iibermannende Riihrung langsam auf- die
gestrige Nacht trug wieder ihren leuchtenden Regen, sein brau-
sendes Herz und Emanuels Schatten voriiber - er lief immer star-
ker und zwar in die Quere durchs Zimmer - strickte den Schlaf-
rock knapper an - schiittelte etwas aus dem Auge- tat einen steil-
rechten Sprung — schnellte ein »Nein!« hervor und sagte mit
einem unaussprechlich-heitern Lacheln: »Nein! ich will meinen
30 Flamin nicht betriigen! Ich will sie weder suchen noch meiden
und ihre Freundschaft nicht eher begehren als zur Zeit seines
hochsten Gliicks. Wie dich da 1 , so will ich die himmlische Glanz-
buste anschauen, und nicht begehren, daB sie Warme annehme
und das kalte Gipsauge auf mich wende. Aber du, mein Freund,
1 Die Biiste des Vatikanischen Apollo, an cler er keine andre Gestalt bilden
lernen wollte als seine eigne.
586 HESPERUS
sei glucklich und ganz selig und merke nicht einmal meinen
Kampfk
Jetzt erst erheiterte ihn der Kirchenschmuck des Morgens, und
die Morgenluft floB wie ein kiihles Halsgehenk auf seinem heiBen
Busen umher und legte spielend Haar und Busenstreif zuriick. Er
fiihlte, nun sei er wert, an Emanuel geschrieben und an den Him-
mel geschauet zu haben . . .
Flamin trat ein mit einiger Kalte, die vom erblickten Brief noch
etwas stieg. Viktor war nicht kalt zu machen; bloB als man unten
ihn mit keinem Wort an seine gestrigen Dithyramben erinnerte: ic
tat er aus Besorgnis, erraten zu sein, einen zornigen versteckten
Schwur, wenn sie kame, nicht zu kommen - welches auch zu
machen war, denn sie kam nicht. Sie hatte in Maienthal noch Ge-
pack abzuholen, Freundschaften zu begieBen und noch einmal in
den Zauberkreis ihres geliebten Lehrers zu treten ; und war also
dahin abgegangen.
Die nachsten Wochen tanzten jetzt wie ebenso viele Horen in
Anglaisen und Kotillons vor Sebastian vorbei. Seine Vormittage
hingen voll Fruchte, seine Nachmittage voll Blumen; denn am
Morgen wohnte seine Seele mit ihren Anstrengungen in seinem 20
Kopfe, gegen Abend in seinem Herzen. Abends liebt man Karten-
Gedichte - Aufrichtigkeit - Weiber - Musik recht sehr, morgens
recht wenig; in der Geisterstunde ist jene Liebe am allerstarksten.
Zwei Sorgen ausgehommen - die erste war, ob sein Emanuel
ihm bald genug schreiben wiirde, damit er ihn vielleicht noch be-
suchen konnte, eh* er an die Deichsel des Hof- und Staatswagens
geschirrt ware; die zweite war: letztes zu bald zu werden - hatt'
er jetzt fast nichts zu tun, als glucklich zu sein oder glucklich zu
machen; denn in diese Wochen flelen gerade seine stillen oder
Sabbatwochen ein ... 3 c
Ich weiB nicht, ob sie der Leser schon kennt: sie stehen nicht
im verbesserten Kalender; aber sie fallen regelmaBig (bei einigen
Menschen) entweder gleich nach der Friihling-Tag- und Nacht-
gleiche oder in den Nachsommer.
Bei Viktor war das erste, gerade mitten im Friihling. Ich
brauch' es nicht auszumitteln, ob der Korper, das Wetter, oder
8. HUNDPOSTTAG 587
wer diesen Gottesfrieden in unserer Brust einlaute : sondern schrei-
ben soil ichs, wie sie aussehen, die Sabbat wochen. Ihre Gestalt ist
genau diese : in einer stillen oder Sabbatwoche (manche, z. B. ich,
werden gar nur mit Sabbattagen oder -stunden abgeferrigt)
schlummert man erstlich leicht wie auf gewiegten Wolken -
Man erwacht wie ein heiterer Tag - Man hatte sich abends vorher
gewifi vorgenommen und es deswegen in Chiffern an die Tiire
geschrieben, sich zu bessern und das Jatemesser alle Tage wenig-
stens an ein Unkraut-Beet anzusetzen - Beim Erwachen will mans
to noch und setzet es wirklich durch - Die Galle, dieser auf brausen-
de Spiritus, der sonst, wenn er, statt in den Zwolffingerdarm, in
das Herz oder Herzblut gegossen wird, mit Wolken aufsiedet und
zischt. wird in wenigen Sekunden eingesogen oder niederge-
schlagen, und der erhohte Geistfuhlt ruhig das korperliche Auf-
wallen ohne seines - In dieser Windstille unserer Lungenfliigel
spricht man nur sanfte, leise Worte, man fasset Iiebend die Hand
eines jeden, mit dem man spricht, und man denkt mit zerflieBen-
dem Herzen: ach ich gonnte euchs alien wohl, wenn ihr noch
gliicklicher waret als ich - Am reinen gesunden stillen Herzen
to schlieBen sich, wie an den homerischen Gottern, leichte Wunden
sogleich zu - »Nein!« (sagst du immerfort in der Sabbatwoche)
»ich muB mich noch einige Tage so ruhig erhalten.« - Du ver-
langst zum Stoffder Freude fast nichts als Dasein, ja der Sonnen-
stich einer Entziickung wiirde diesen kuhlen magischen durch-
sichtigen Morgen-Nebel in ein Gewitter verdichten - Du siehst
immerfort hinauf ins Blaue, als mochtest du danken und weinen,
und umher auf der Erde, als wolltest du sagen : »Wo ich auch
heute ware, da ware ich gliicklich !« und das Herz voll schlafender
Sturme tragst du, wie die Mutter das entschlummerte Kind, scheu
10 und behutsam iiber die weichen Blumen der Freude. Aber
die Sturme fahren doch auf und greifen nach dem Herzen! . . .
Ach was mussen wir nicht alle schon verloren haben, wenn uns
die Gemalde seliger Tage nichts abgewinnen als Seufzer! O Ruhe,
Ruhe, du Abend der Seele, du stiller Hesperus des muden Her-
zens, der allezeit neben der Sonne der Tugend bleibt - wenn unser
Inneres schon vor deinem sanften Namen in Tranen zerrinnt:
v 588 HESPERUS
ach ist das nicht ein Zeichen, daB wir dich suchen, aber nicht
haben? —
Viktor verdankte die Sieste seines Herzens den - Wissenschaf-
ten, besonders der Dichtkunst und der Philosophies die beide sich
wie Kometen und Planeten um dieselbe Sonne (der Wahrheit) be-
wegen und sich nur in der Figur ihres Umlaufs unterscheiden, da
Kometen und Dichter bloB die groftere Ellipse haben. Seine Er-
ziehung und Anlage hatte ihn an die Lebens- und Feuerluft der
Studierstube gewohnt, die noch die einzige Schlafkammer (Dor-
mitorium) unserer Leidenschaften und das einzige ProfeB-Haus ic
und der Gliickhafen der Menschen ist, die dem breiten Strudel
der Sinne und Sitten entgehen wollen. Die Wissenschaften sind
mehr als die Tugend ihr eigner Lohn, und jene machen der
Gliickseligkeit teilhaftig, diese nur wurdig; und die Preismedail-
len, Pensionen und positiven Belohnungen und der Invention-
dank, die viele Gelehrte fiir ihr Studieren haben wollen, gehoren
hochstens den literarischen dienenden Briidern, die sich dabei ab-
martern, aber nicht den Meistern vom Stuhle, die sich dabei ent-
ziicken. Ein Gelehrter hat keine lange Weile; nur ein Thron-In-
saB lasset sich gegen diese Nervenschwindsucht hundert Hof- 2 <
Feste verschreiben, Gesellschaftkavaliere, ganze Lander und
Menschenblut.
Du lieber Himmel! ein Leser, der in Viktors Sabbatwochen
eine Leiter genommen hatte und an sein Fenster gestiegen ware :
hatte der etwas anders darin erblickt als ein jubelndes Ding, das
auf den wissenschaftlichen Feldern wie unter seligen Inseln um-
herglkt? - Ein Ding, das entziickt nicht wuBte, sollt' es denken
oder dichten oder lesen, besonders was? oder wen? aus dem gan-
zen vor ihm stehenden kohen Adel der Biicher. - In dieser Braut-
kammer des Geistes (das sind unsere Studierstuben),in diesem 3 c
Konzertsaal der schonsten aus alien Zeiten und Platzen versam-
melten Stimmen hinderten ihn die asthetischen und philosophi-
schen Lustbarkeiten fast an ihrer Wahl; das Lesen riB ihn ins
Schreiben, das Schreiben ins Lesen, das Nachdenken in die Emp-
findung, diese in jenes —
Ich konnte in dieser Schilderung vergnugter fortfahren, wenn
8. HUNDPOSTTAG 589
ichs vorher hatte geschrieben gehabt, wie er studierte : da 6 er nam-
lich nie schrieb, ohne sich iiber dieselbe Sache voll gelesen zu
haben, und umgekehrt, dafi er nie las, ohne sich vorher dariiber
hungrig gedacht zu haben. Man sollte, sagte er, ohne einen heftigen
auBern, d.h. innern AnlaB und Drang nicht bloB keine Verse
machen, sondern auch keine philosophischen Paragraphen, und
keiner sollte sich hinsetzen und sagen: »Jetzt um drei Uhr am
Bartholomaustag will ich doch driiber her sein und folgenden
Satz geschickt priifen.« - Ich kann jetzo fortfahren.
10 Wenn er nun in diesem geistigen Laboratorium, das weniger
der Scheidekunst als der Vereinkunst diente, vom Turmalin an,
der Aschestaubchen zieht, bis zur Sonne, die Erden zieht, und bis
zur unbekannten Sonne, an welche Sonnensysteme anfliegen, auf-
stieg - oder wenn ihm die anatomischen Tabellen der perspekti-
vische AufriB einer gottlichen Bauart waren, und das anatomische
Messer zum Sonnenweiser seiner Lieblingwahrheit wurde: daB
es, um einen Gott zu glauben, nicht mehr bedurfe als zweier
Menschen, wovon noch dazu einer tot sein konnte, damit ihn der
lebende studiere und durchblattere 1 - oder wenn ihn die Dicht-
20 kunst als eine zweite Natur, als eine zweite Musik sanft empor-
wehte auf ihrem unsichtbaren Ather, und er unentschlossen wahlte
zwischen der Feder und der Taste, sobald er in der Hohe reden
wollte kurz, wenn in seiner Himmelkugel, die auf einem
Menschen-Halswirbel steht, der Ideen-Nebel allmahlich zu hellen
und dunkeln Partien zerfiel und sich unter einer ungesehenen Sonne
immer mehr mit Ather fullte, wenn eine Wolke der Funken-
zieher der andern wurde, wenn endlich das leuchtende Gewolk
zusammenriickte : dann wurde vormittags um 1 1 Uhr der innere
Himmel (wie oft drauBen der auBere) aus alien Blitzen eine Sonne,
30 aus alien Tropfen wurde ein GuB, und der ganze Himmel der
1 Ein Sonnensystem ist nur ein punktlertes Profil des Weltgenius, aber ein
Menschenauge ist sein Miniaturbild. Die Mechanik der Weltkorper konnen
die mathematischen Rechenmeister berechnen; aber die Dioptrik des unter
lauter triiben Feuchtigkeiten helle gewordnen Auges iibersteigt unsre alge-
braischen Rechenkammern, die daher von den nachgeafften Augen (von den
Glasern) den Diffusionraum und das enge Feld nicht wegzurechnen ver-
mogen.
59° HESPERUS
obern Krafte kam zur Erde der untern nieder, und . . . einige blaue
Stellen der zweiten Welt waren fliichtig offen.
— Unsere innern Zustande konnen wir nicht philosophischer
und klarer nachzeichnen als durch Metaphern, d. h. durch die Far-
ben verwandter Zustande. Die engen Injurianten der Metaphern,
die uns statt des Pinsels lieber die ReiBkohle gaben, schreiben der
Farbengebung die Unkenntlichkeit der Zeichnung zu ; sie solltens
aber blofi ihrer Unbekanntschaft mit dem Urbilde schuldgeben.
Wahrlich der Unsinn spielt Versteckens Ieichter in den geraumi-
gen abgeiognen Kunstwortern der Philosophen - da die Worte, 10
wie die sinesischen Schatten, mit ihrem Umfange zugleich die Un-
sichtbarkeit und die Leerheit ihres Inhalts vermehren - als in den
engen griinen Hiilsen der Dichter. Von der Stoa und dem Porti-
kus des Denkens muB man eine Aussicht haben in die epikuri-
schen Garten des Dichtens.
- In drei Minuten bin ich wieder bei der Geschichte. - Er muBte,
sagte Viktor, Berg-, Garten- und Sumpfwiesen haben, weil er drei
verschiedne narrische Seelen besaBe, die er auf verschiedene Lan-
dereien zur Weide treiben muBte. Er meinte damit nicht, wie die
Scholastiker, die vegetative, sensitive und intellektuelle Seele - 20
noch, wie die Fanatiker, die drei Teile des Menschen: sohdern
etwas recht.Ahnliches, seine humor is tische, empfindsame und philo-
sophische Seele. Wer ihm eine davon wegnahme, sagt* er, der
mochte ihm immer auch die restierenden gar ausziehen. Ja zu-
weilen, wenn gerade die humoristische auf der umwechselnden
Querbank obenan saB, trieb er den Leichtsinn so weit, daB er den
Wunsch auBerte, in Abraha SchoB wiirde SpaB gemacht, und er
konnte sich auf die zwolf Stiihle mit seinen drei Seelen zugleich
niederlassen. —
Seine Nachmittage iibergab er bald einer stromenden Laune, die 30
ihre rechten Zuhorer nicht einmal fand - bald den Pfarrleuten -
bald der ganzen St.Liiner Schuljugend, deren Magen er (zur
Argernis eines jeden guten Schulmeisters) mehr als ihre Kopfe
verproviantierte, weil er glaubte, in den kurzen Jahren, wo das
Geiferfleckchen sich ausbreitet bis zu einem Teller tuche, nehme
das Vergnugen seinen Weg iiber die Kinderserviette und habe
8. HUNDPOSTTAG 591
keinen andern Eingang als den Mund. Er ging nie ohne eine ganze
Operationkasse voll kleines Geld in der Weste aus : »Ich verteil'
es ohne alien Verstand,« sagt' er; )>aber wenn aus diesem herum-
gesaeten metallischen Samen ganze Freudenabende fur arme Teu-
fel aufgehen; und wenn sie gerade die Unschuldigen so selten
haben : warum will man nicht fiir die geschonte Tugend und fur
die Freude zugleich etwas tun?«
Er sagte, er habe Moral gehort und verlange fiir seine auBer-
gerichtlichen Schenkungen und milden Stiftungen nichts als -
io Verzeihung. Sein Flamin, der ihn fiir eine sorglose Saemaschine
auf Felsen erklarte, verbrachte seine kleinen Ferien bis zu dem
Sessiontisch in gliihenden Hoffriungen, an diesem Tische zu
niitzen, und in Vorhereitungen, um es zu konnen; oft wenn der
hohere Patriotismus mit Heiligenschein und Mosis-Glanz aus dem
Angesicht des geliebten Flamins hervorbrach, so standen Tranen
der freudigen Freundschaft in Viktors Augen, und im Augen-
blick einer lyrischen Menschenliebe schworen sich beide an ihren
Herzen fiir die Zukunft gegenseitige Unterstiitzung im Gutestun
und gemeinschaftliche Aufopferungen fiir die Menschen zu. - Ihr
io Unterschied war bloB wechselseitige Obertreibung - Flamin war
gegen Laster zu intolerant, Viktor zu tolerant - jener verwarf als
Regierungrat wie Anabaptisten alle Feste und wie die ersten
Christen alle Blumen (in jedem Sinn) - dieser liebte gleich den
Griechen beides zu sehr - jener hatte der Ehre Menschenopfer ge-
bracht - dieser kannte keinen Ehrenrauber als das eigne Herz, er
sprang iiber den papiernen HalbTAdel unserer jammerlichen
Ehrenpunkte am Teetisch hinweg und war, spottend iiber den
Spott, nur dem hohen Adel der Tugend untertan. —
Viktor sog sich mit LaubfroschfuBen an jedes Blumenblatt der
3 o Freude an, an Kinder, an Tiere, an Dorf-Luperkalien, an Stun-
den; - am liebsten aber hatt* er den Sonnabend. Hier tat er Streif-
ziige durch die freudige Unruhe des Dorfes, vor Knechten vor-
bei, die ihre Sensen nicht magnetisch, sondern scharfer hammer-
ten, und vor der Ladentiire des Schulmeisters, an der sein Auge
als Schweizer oft eine halbe Stunde stand. Denn er konnte den
St. Lunischen Handelflor recht gut im kleinen GroBavanturhandel
59 2 HESPERUS
des Schulmeisters bemerken, der keine geringere Borse der Kauf-
leute kannte als die in seiner Hosentasche. Aus diesem ostindischen
Hause sah er spat die wohlfeilen Freuden des Sonntags holen —
der Grossierer (der Schulmeister wird gemeint) machte, von den
Negersklaven unterstiitzt, den Sonntagmorgen von St.Liine mit
seinem Sirup suB und mit seinem Kaffee heiB; und sowohl durch
den Tabakbau in Deutschland wurde dieser Handelsherr instand
gesetzt, mit Spiralwiirsten von Lausewenzel die Kopfe der Pfeifen,
als durch den Seidenbau, der Tochter ihre mit Sabbat- Wimpeln
zu versorgen aus seinem Auerbachischen Hofe. - Unsern Helden «
kannte alles. Aus jeder Hundhiitte wedelte ihm ein Hund ent-
gegen, dem er Brot hineingeworfen; aus jedem Fenster schrien
ihm Kinder nach, die er geneckt hatte; und viele Buben, vor
denen er voriiberlief, hielten sich fur gliicklich, wenn sie eine
Miitze auf hatten - sie konnten sie vor dem Herrn abnehmen. Denn
sein erstes Treiben in St.Liine war die Geschichte von St.Liine,
die aus den miindlichen Konduitenlisten der historischen Personen
selber und aus der Reichspostreiterin, aus der Pfarrerin, ge-
schopft werden muBte. Letzte hielt als Plutarchin allemal zwei
Charaktere wie Tiicher zusammen; und ihr Mann las ihm nach zc
bestem Wissen und Gewissen iiber die Kirchen- und Reforma-
tiongeschichte seines Beichtsprengels. Viktor legte sich auf diese
mikrokosmische Weltgeschichte aus zwei Absichten : erstlich, um
sie — welches Brotstudenten auch bei der groBern vorhaben -
rein wieder zu vergessen; zweitens, um im Dorfe so zu Hause zu
sein wie der Bettelvogt oder die Hebamme, woraus er den Vorteil
zu ziehen hofTte, daB er betriibt wurde, wenn ein St. Luner ver-
starb, und frohlich, wenn er vorher heiratete.
— Jetzo schreitet die Geschichte wieder von einem Tage auf den
andern fort, gleichsam auf den Steinchen im Strome der Zeit. - 3 c
So schon war also der Friihling vor ihm vorubergegangen mit
Sabbatwochen, mit den Pfingsttagen, mit weiBen Bliiten, die dem
Lenze allmahlich wie Schmetterlingfliigel ausfielen; - Viktor
hatte den Besuch Le Bauts verschoben, weil er dachte: >>Ich muB
ohnhin bald genug vom weichen SchoBe der Natur herunter und
auf das Hof-Drahtgestell hinauf und auf den Objektentrdger
8. HUNDPOSTTAG 593
(Thron) des Hof-Mikroskops«; - er hatte sich zwar taglich zu-
geredet, bald, noch vor Klotildens Ankunft, hinzugehen, um auf
seine Absichten keinen Verdacht zu laden, aber immer vergeblich
— als plotzlich (denn tags vorher war der i3te Jun.) der I4te er-
schien und mit ihm Klotildens Gepack ohne sie. Nun passierte er
(wie die offiziellen Hundbenchte enthalten) wirklich am 1 5ten den
Bach von St. Liine und ging iiber die Alpen der kammerherrlichen
Treppen und schlug auf Le Bauts Kanapee sein Casars-Lager auf.
Er wuBte, daB heme niemand da war, nicht einmal Matz.
10 »Der Himmel erhalt* uns« (sagt' er) »die Hoflichkeit gesund; es
ware ohne sie nicht nur unter keinen Spitzbuben auszuhalten, son-
dern sie gibt auch Minutensteuer von Freuden, indes die Wohl-
tatigkeit nur Quartalsteuer und Kammerzieler und Karitativ-
subsidien zahlt.« Herr und Frau Le Baut waren so hof lich als nie
(ich schwore darauf, sie hatten etwas von Viktors Hof-Doktorhut
und Doktorkrone ausgewittert) ; nur wuBten sie nicht, was fur ein
Mundstiick auf ein so narrisch gewundnes Instrument, wie Viktor
war, aufzuschrauben sei. Wie alle Studierstuben-Schaltiere sprach
er lieber von Sachen als Personen; Flamin aber umgekehrt. Fiir
20 das Ehepaar gabs in keiner Messiade etwas Erhabeners, als daB jetzt
am Johannistage die italienische Prinzessin kommen wiirde; da-
von konnte kein Sterblicher genug reden, zumal auf dem Dorfe.
Ich weiB nicht, worin es Viktor versah, daB er die meisten Weiber
auf die Meinung brachte, er liebe sie. Genug, die Kammerherrin,
die in ihren Jahren nicht mehr Liebe> sondern den Schein der Liebe
foderte, dachte: »VielIeicht!« Man verkenne sie nicht: sie brachte
zwar allemal die erste Stunde mit einem Manne auf der Sternwarte
der Beobachtung zu; aber die zweite nur dann im Jagdschirm,
wenn die erste gliicklich gewesen, und sie war kalt genug, um
3 o nicht mehr zu hofFen als zu sehen; sie verspottete sogar jeden, der
bei ihr noch einer weiblichen Eitelkeit, Eroberungen zu leicht
vorauszusetzen, anders schmeicheln wollte als offentlicL Genug,
sie beurteilte heute unsern Viktor zu giinstig - in ihrem Sinn -
oder zu ungiinstig - in unserem; wie uberhaupt die bloBen Hof-
leute nur blofie Hofleute erraten. — Von Klotilde sprach man kein
Wort, nicht einmal von der Zeit ihrer Zuriickkehr.
594 HESPERUS
Oberhaupt hatte die Le Baut einen ungeheuren Stolz in sich
gegen ihre Stieftochter zu bestreiten, von dem mir mein Korre-
spondent hatte melden sollen, worauf er sich steifte, ob auf Ver-
haltnisse oder auf Verdienste; denn beides war reichlich da, indem
die Kammerherrin von des jetzigen Fiirsten seligem Herrn Vater
die H — gewesen. - Ich und ein gescheiter Mann habens hin und
her iiberlegt, ob sie dem Casar in der Liebe oder im Ehrgeiz gleiche.
Der gescheite Mann sagt : »In der Liebe«, weil eine Frau die Liebe
nie vergesse, wenn ein Fiirst ihr Lehrer darin gewesen. Des sel.
Herrn Vaters Herz hatte besonders zwei Schonheiten an ihr an- i<
gebetet, die vor Zeiten von den Schotten 1 so gern gefressen wur-
den, namlich den Busen und den SteiB. Die GroBen haben ihre
eignen grossieretes, die den Kleinen nicht traumen. Ich wiird* es
nicht drucken lassen, aber es war am ganzen Hofe bekannt, und
also auch vielen meiner Leser. Da fuhrte der Teufel die Zeit her,
die ihre Sense hammerte und alles wegmahte, was von beiden
Reizen Uberhang in ihr Gebiet gewesen. Nun halt bei Weibern an
Hofen - es sei in einem Schulhof, Packhof oder Viehhof - die
Eitelkeit, sobald der alte Saturn (d.i. die Zeit) diese mit seinem
Sichelwagen und mit dem kleinen Geschiitz aus seiner Sanduhr zc
anfallt, einen der gescheitsten Ruckziige, die ich kenne - die Eitel-
keit lasset sich aus einem Werke oder Gliede nach dem andern
treiben - endlich aber wirft sie sich aus den weichen Teilen in die
festen wie in feste Platte, z. B. in Fingernagel, Stirne, FiiBe u. s. w.,
und da zieht sie der Henker selber nicht heraus. Die Kammer-
herrin muBte sich einen solchen festen Teil erst machen, namlich
eine gorge de Paris und einen cul de Paris: diese vier Gren^hugel
ihres Rekhs muBten taglich gegen die Grenzverruckung der Jahre
aus Achtung fur das Eigentum hergestellt und erhohet werden.
Daraus schlieBet nun der gescheite Mann, daB ihre Seele ihrem 3 o
Korper immer Kaperbriefe schreibe.
Ich bin gerade der GegenfiiBler vom gescheiten Mann und ver-
fechte, daB der Amor nur ihr frere servant, nicht ihr Logen-
meister - ihr Adjutant, nicht ihr Generalissimus ist; - und dies
darum, weil sie noch immer an der Wiederherstellung ihres ersten
1 Hieronym. cont. Jov. L. 2.
8. HUNDPOSTTAG 595
salomonischen Tempels, wo sie sonst am Hofe als Gottin neben
dem Gott angebetet wurde, ihre eigne oder Le Bauts Hand anlegt
- weil sie in diesem nichts heiratete als den Kammerherrnschlussel
und seine Assembleen und seine Hoffnungen des kunftigen Ein-
flusses - weil sie an Klotilden nicht das Gesicht, sondern das Ge-
hirn anfeindet - weil ihre Liebe jetzt ohne Eifersucht ist. Nam-
lich sie stand mit dem Evangelisten Matthieu in einem gewissen
Liebeverstandnis, das sich (nach unserm burgerlichen Gefuhl)
vom Hasse in nichts unterscheidet als in der- Dauer. Liebe-Persi-
o flagen waren ihre Lieberklarungen -ihre Blicke waren Epigramme
- seine Schaferstunden salzte er mit komischen Erzahlungen von
seinen Schaferstunden an andern Orten - und zur Zeit, wo ein
heiliger Mann seinen Psalm abzubeten pflegt 1 , waren beide iro-
nisch. Eine solche erotische Verbindung ist nichts als die Unter-
abteilung irgendeiner politischen.. . Aber zuriick zur Geschichte!
Der Kammerherr wollte seinem Gaste jetzt etwas zeigen, was
einen Doktor und Gelehrten mehr interessierte. Zu dem Zimmer,
worin das Etwas war, kam man durch der Kammerherrin und
durch Klotildens Zimmer. Da man in jener ihrem einen Rasttag
:o hielt: so standen Viktors Augen traumend auf Klotildens Sil-
houette fest, die Matthieu neulich aus dem Nichts geschnitten,
und die die Kammerherrin hier aus Schmeichelei gegen den Schat-
tenreiBer unter Glas aufgehangen hatte. Sonderbarer-, d.h. zu-
falligerweise zersprang jetzo das Glas iiber dem schonen Ange-
sicht, und Viktor und der Vater fuhren zusammen. Denn letzter
war wie die meisten GroBen aus Mangel an Zeit aberglaubig und
unglaubig zugleich; und bekanntlich halt der Aberglaube das Zer-
springen eines Portratglases fur einen Vorboten des Todes des
Urbildes. Der Vater warf sich angstlich die Erlaubnis vor, die er
(o Klotilden gegeben, so lange in Maienthal zu bleiben, da sie doch
da ihre Gesundheit in unniitzen jugendlichen Schwarmereien ver-
derbe. Er meinte ihre Trauer um ihre begrabene Giulia; denn sie
war (erzahlte er) bloB vor Schmerz iiber diese, ohne alles Gepack,
am ersten Mai hieher geeilet; und sogar die Kleider der geliebten
Freundin hatte sie heute mit unter den ihrigen geschickt. Er brach
1 Bayles Dictionnaire art. Francois d'Assise not. C.
59<> HESPERUS
heiter ab; denn Matthieu kam, der Bruder dieser Giulia, der sich
nur zeigen und beurlauben wollte, weil er, wie mehre von der
Stief-Briidergemeine des Hofs, der Prinzessin entgegenreisete.
Viktor wurde stiller und truber; seine Brust quoll ihm auf ein-
mal voll unsichtbarer Tranen, deren Quelle er an seinem Herzen
nicht finden konnte. Und als man noch dazu durch Klotildens
stilles leeres Zimmer ging, wo Ordnung und Einfachheit an die
schone Seele der Besitzerin zu stark erinnerten : so fiel sein plotz-
Hches geruhrtes Verstummen auch andern auf. Er riB die Augen
eiligst weg von einigen Blumenzeichnungen ihrer Hand, von i<
ihrem weiBen Schreibzeug und von der schonen Landschaft der
Oltapete und trat hastig auf das zu, was Le Baut aufsperrte - es
war kein edles Herz, was dieser mit seinem obwohl wie eine Ka-
none gebohrten Kammerherrnschliissel sperren konnte (die Titu-
larkammerherren in Wien heften nur einen hermetisch-versiegel-
ten an), sondern sein Cabinet d'histoire naturelle offnete er. Das
Kabinett hatte rare Exemplare und einige Curiosa — einen Blasen-
stein eines Kindes, %, Zoll lang und «/„ Zoll breit, oder umge-
kehrt - die verhartete Hohlader eines alten Ministers - ein Paar
amerikanische Federhosen - ertragliche Fungiten und bessere 2 <
strombi (z. B. eine unechte Wendeltreppe) -das Modell eines Heb-
ammenstuhls und einer Saemaschine - graue Marmorarten aus
Hof im Voigtland - und ein versteinertes Vogelnest - Doubletten
gar nicht gerechnet — inzwischen zieh' ich und der Leser diesem
toten Geriimpel darin den AfFen vor, der lebte und der das Kabi-
nett allein zierte und - besaB. Camper sollte von diesem lebendi-
gen Exemplar den Kammerherrnkopf wegschneiden und sol-
ches sezieren, um nur zu sehen, wie nahe der Affe an den Menschen
grenze.
Ein GroBer hat allemal irgendeinen wissenschaftlichen Zweig, 3 c
nach dem er nichts fragt, und auf den er sich also vorzuglich legt.
Fur Le Bauts wissen-hungrige Seele wars gleich viel, ob sie in ein
Siegel- oder in ein Gemmen- oder ein Pistolenkabinett eingestellet
wurde. War' ich ein GroBer: so wiird' ich mit dem groBten Eifer
Knopfe - oder Entbindungen - oder Bucher# - oder Niirnberger
Ware - oder Kriege - oder recht gute Anstalten machen, bloB
8. HUNDPOSTTAG 597
aus verdammter langer - Weile, dieser Essigmutter aller Laster
und Tugenden, die unter Hermelinen und Ordensternen hervor-
gucken. Nichts ist ein groBerer Beweis der allgemein wachsenden
Verfeinerung als die allgemein wachsende Langeweile- Sogar die
Damen machen sich hundertmal aus bloBer platter Langerweile
Kurzweile ; und der gescheiteste Mensch sagt seine meisten Dumm-
heiten und der beste seine meisten Verleumdungen bloB einem
Zirkel, der ihn hinlanglich zu langweilen weiB.
Der Hofjunker war der Musterschreiber des Kabinetts, um
10 vielleicht herumzugehen. Viktor tat ihm unrecht durch die medi-
zinische Vermutung, er affektiere einen gewissen schwankenden
weichen Gang vornehmer Debauches; denn er hatt > ihn wirklich,
und das darum, weil er aus ganz andern als Viktors schonen Griin-
den ungern - soft. Aber weiter ! Wenn nicht die Kammerherrin
den Vorhang vor Viktors Seele auseinanderschlagen und darin die
Gesinnungen gegen sich und Klotilde durch den Schrecken, den
ich erzahlen will, erforschen wollte; wenns also das nicht war: so
- kann es nichts als ein sehr boser Geist gewesen sein, der dieser
Kammerherrin die Hand fiihrte zu einer Silberstufe. Hinter der
20 Stufe lag eine vielleicht von abgebrockeltem Arsenik verreckte
Maus. Eine Lesertn, die in ahnlichen Gefahren als Dulderin litt,
stellet sichs vor, wie der Kammerherrin war, als sie mit dem Har-
ten etwas Weiches umgriff und hervorbrachte und dann ersah,
was es war. Eine wahre Ohnmacht war unvermeidlich. Ich gesteh'
es, ich wiirde selber ihre Ohnmacht bloB fur eine verstellte halten,
ware der AnlaB geringer und z. B. der Angriff nicht auf ihre Sinne,
sondern nur auf ihre Ehre gewesen; aber etwas anderes ist eine
Maus. - Oberhaupt muBte sie vor so boshaften Zuschauern, wie
ihr Mann und ihr Cicisbeo ist, diesen fiinften Akts-Mord langst
30 von ihrem Theater wie vom gallischen verbannt haben; ja ich
glaube, sie hatte sich vor einem siegenden Feind ihrer Tugend
durch nichts (eine wahre Ohnmacht ausgenommen) so lacherlich
machen konnen als durch eine scheinbare . Der Schrecken iiber den
postiche-Tod beraubte den Evangelisten des Gebrauchs seiner
Vernunft und Hefi ihm nur den Gebrauch seiner Bosheit und sei-
ner Hande, mit denen er sogleich das Blendwerk und Sparrwerk
598 HESPERUS
ihres Busens,kurz die ganze optische Brust zerriB, um der wahren,
in deren Brette er einen Stein hatte, namlich ihr Herz, Luft genug
zu machen. Aber Viktor drangte ihn weg und spritzte sie, mit
zarterer Achtung fur ihre Reize und fur ihr Leben, durch wenige
Eistropfen wieder empor. Gleichwohl vergab sie dem Junker
alles, was sie erriet, und dankte dem Hofmedikus fiir alles, worin
sie irrte ...
— Lasset mich einen Augenblick wegsehen von diesem HaB-
Gespinste und die schonere Welt um mich mit Erquickung an-
schauen auf meiner Insel, wo kein Feind ist - und das platschernde i<>
Spiel der' Fische und Kinder am Ufer - und die spielende Mutter,
die ihnen Blumen und hiitende Blicke zuwirft — und die groBen
Ahornbaume, die sanft mit tausend Blattern und Mucken flusternd
dem unter den Wellen gaukelnden Baumschlag entgegenschwan-
ken - und wie die warme Erde und der warme Himmel in schla-
fender Liebe aneinander ruhen und ein Jahrhundert urns andre
gebaren ...
Viktor ging, bange vor dem Ende seiner Iandlichen Tage, nach
Haus. - Der Sonnabend (der i6te Junius) eike sanft voruber und
schiittelte ein ganzes Blumenhaupt von befliigelten Samen zu *
neuen Freudenblumen unter dem Eilen auseinander.
Die Sterne glitten leise iiber seine Nacht. Ein freundlicher blauer
Sonntagmorgen Iegte sich schwebend uber das geputzte Dorf-
chen und hielt den Atem an, damit er nicht einmal eine reife Lin-
denbliite oder Dotterblumen-Spreu ausriB. - Viktor konnte das
Fortepianissirno aus dem Schlosse iiber das ausruhende Dorf her-
ubertonen horen und muBte mit der Engbrustigkeit des gliick-
lichen Sehnens seufzen: »Ach wann muB ich auf horen, iiber die-
sem glanzenden stillen Meere, iiber diesem schonen Ankerplatz
des Lebens aufzuschwimmen?« — als das Schicksal antwortete: 30
heute! Denn gerade heute, am Sonntage, kam aus der Residenz-
stadt Flachsenfingen ein leichter Narr (im Grunde zwei) in einer
ebenso leichten Berline an und packte ein Briefchen vom Lord an
ihn aus.
»Den 2isten Junius (Donnerstags) trifft die italienische Prin-
zessin in Kussewitz ein. Den Mittwoch reis* ich ab und prasen-
8. HUNDPOSTTAG 599
tiere dich in St. Liine dem Fursten, der mich bis dahin begleitet.
Doch bitt* ich dich, am Sonnabend darauf dich in die Inset der
Vereinigung 1 zu begeben, weil ich das wenige, was ich dir in St.
Liine aus Mangel an Gelegenheit nicht sagen kann, auf die Insel
verspare. Du wirst mich dort treffen. Der Oberbringer dieses ist
unser Herr Hofapotheker Zeuset, in dessen Hause du deine kiinf-
tige Wohnung als Hofmedikus haben wirst. Lebe wohl I
H.«
»Zeusel?« (fragt der Leser und denkt nach) »ich kenne die Zeu-
io sel nicht !« - Und ich ebenso wenig; aber er sage mir, geht es nicht
zu weit? Und ist es nicht wahre Plackerei, daB der Korrespondent
dieses Werks durch alle Vorstellungen, die ich ihm durch den
Hund tue, gleichwohl nicht dahin zu bringen ist, daB ers in dieser
Historie nur so ordcntlich einrichtete, wie es ja in jedem elenden
Roman und sogar im — Zuchthaus ist, wo jeder neue Ziichtling
den alten gleich in der ersten Stunde seine samtlichen Fata bis zu
den Initialprugeln des Eintritts, von denen der Historiker eben
kommt, schdn vorerzahlt? Beim Himmel! die Leute setzen und
springen ja in mein Werk wie in eine Passagierstube hinein, und
zo kein Teufel und kein Leser weiB, wer ihre Hund' und Katzen sind.
»Ich wollt' «, sagte Viktor und machte sechs Dehnzeichen
darauf als Apostrophen von ebenso vielen weggelassenen Flii-
chen. Denn er sollte jetzt aus der Idylle des Landlebens in die tra-
vestierte Aneisdes Stadtlebens uberziehen; und kein Steig ist doch
elender gepflastert als der von der Studierstube in die Hof-
Schmelzhutten und chambres ardentes, von der Ruhe zum Ge-
wiihl. Zudem hatt' ihm Emanuel noch nicht geschrieben. Klo-
tilde, der Hesperus jener zwei schonen Abende, war gleich dem
Hesperus am Himmel nicht zu sehen iiber St. Liine. Wie gesagt,
3 o erbarmlich war ihm. Nun war noch dazu dieser Zeusel, sein kiinf-
tiger Mietherr, der Hofapotheker, sozusagen ein Narr, ebenso
leicht wie seine Berline oder wie der Hoffurier, mit dem er kam,
aber 53 Jahre alter als der Wagen, namlich 54 Jahr alt, und im
ganzen ein menschliches Diminutiv und Essigalchen an Leib und
1 Sowohl der Hund als ich wissen davon, was das fur eine Inselist,
weiter nichts.
6oO HESPERUS
Seele, iiberall spit{ geschaffen an Kinn, Nase, Witz, Kopf, Lippen
und Achsel. Dieser feine Essigaal — denn der Aal verfocht, er
kenne eine gewisse Feinheit, die nie die Sache eines Roturier ware,
und er leugne nicht, daB sich seine Urahnen nicht Zeusels,sondern
von Swobodas geschrieben - reisete mit dem Hoffurier, der in
Kussewitz das Quartiermeistertum fur die furstliche Braut versah,
dahin ab, um so lange da zu sein, als er da unnotig war. Zeusel
wollte durchaus auf den f lachsenfingischen Hof mit etwas ande-
rem EinfluB haben als mit seiner Klistier-Wasserkunst und durch
anderes auf den Hofstaat wirken als durch Senesblatter; daher i<
kaufte er alle geheime Nachrichten (er besserte sie sogleich in
offentliche um), die er liber neue Lufterscheinungen der Hof luft
einzog, teuer auf, und dann, wenn einige Leute von den Thron-
staffeln herabpurzelten, lachelte er fein genug und bemerkte, er
hoffe, diese hatten ihn fiir ihren Freund genommen und sein Bein
nicht gesehen, das er ihnen aus seiner Apotheke heraus heimlich
untergeschlagen. Er war trotz einiger Herzensgiite ein Liigner
von Haus aus, nicht weil er boshaft, sondern weil er fein sein
wollte; und dampfte seinen gesunden Verstand, um witzig zu
perlen. — 2c
Gegen Viktor, als klinftigen Hofmann und Gonner, wuBt* er
doch nicht den aufrechten Hof-Anstand anzunehmen, der sich
und andere zugleich ehret; aber gegen die Pfarrleute beobachtete
er die ordentliche Hof-Verachtung hinlanglich und zeigte ihnen
genugsam, wie wenig er, ohne Absichten auf den Sohn des Lords,
nur iiber ihre Gartenmauer oder Fensterbriistung geschauet hatte,
geschweige gekommen ware. Viktor haBte an seinem Nachsten
nie etwas anders als den HaB der andern Nachsten; und seine
Achtung alter Stande, seine Verachtung aller <Sra«<&.y-Narren, sein
Groll gegen Zeremonien und seine humoristische Zuneigung zu 3 c
den kleinen Biihnen des Lebens machten den groBten Kontrast
mit dem pharmazeutischen AufguBtierchen und mit dessen Ekel
vor Menschen und mit dessen Biicken vor GroBen.
Viktor gab seinem Hausherrn dreiBig GriiBe an den Italiener
Tostato in Kussewitz mit, der mit ihm von Gottingen aus 1 v t Tag
gereiset und gelacht und getanzt hatte. - Der wegfahrende Apo-
8. HUNDPOSTTAG 6oi
theker HeB in Viktor einen verdrieBlichen sauern Bodensatz zu-
riick; sogar iiber den Blasbalgtreter, der jeden Sonntag den Kaffee
hinauftrug, konnt' er nicht wie sonst lachen. Ich will sagen, war-
um er sonst lachte.
Der Kutscher war dann rasiert, und zwar aus der ersten Hand,
von seiner eignen. Nun hatte das Kinn dieses tragen Bock-Insassen
mehr Maulwurfhiigel - so nenn* ich zierlich die Warzen - vor-
gestoBen, als no tig sind zum Rasieren und Mahen. Inzwischen
hobelte der alte Mann an den Sonntag-Morgen - denn da ziehen
io die gemeinen Leute zugleich den alten Adam und das alte Hemd
aus und lassen Siinden und Bart bloB die Werkeltage wachsen -
mit seinem Messer kiihn zwischen dem Warzen- Chagrin auf und
nieder und schnitt ab. Nun wiirde der Mensch erbarmlich mit
seinem zerpfliigten Gesichtvorgrund ausgesehen haben — so da B
man hatte Blut weinen mussen iiber dasjenige, so iiber das Kinn
dieses steinernen FluBgottes in roten Linien ging -, wenn der
Prosektor wie ein Romer seine Wunden aus Dummheit vor-
gezeigt hatte; aber er zeigte nichts; er zausete, verstandiger, Ta-
bakschwamm in kleine Kappen aus und setzte die Miitzen den
20 wunden Warzen auf und stellte sich so dar.
»Ein Spener, ein Kato der Jiingere«, sagte Viktor, »komm' ein-
mal in meine Stube und lache nicht, wenn ein Balgtreter nach-
kommt mit KafFeetassen und mit sechzehn skalpierten Warzen
und mit einem in Schwamm gebundnen Kinn, das aussieht wie
ein Gartenfelsen mit schon verteiltem Moos bewachsen - ein
Spener lache nicht, sage ich, wenn er kann.<<
Er konnt' es heute selber. Miide des Tags ging er hinaus in den
friedlichen Abend und legte sich mit dem Riicken iiber die Gipfel
eines steilen Bergs heriiber; und als die Sonne, in ein Goldge-
30 wolke aufgeloset, iiber den quellenden Blumenfirnis zitternd zer-
floB und an dem Grasermeere der Berge herunterschwamm - und
als er naher am warmen schlagenden Herzen der Natur anlag, auf
die weiche Erde wie ein ruhender Toter hingesenkt, die Wolken
mit Seufzern in sich herunterziehend, von weit herkommenden
Winden iiberflossen, von Bienen und Lerchen eingewiegt: so
kam die Erinnerung, dieser Nachsommer der Menschenfreude, in
602 HESPERUS
seine Seek und eine Trane in sein Auge und Sehnsucht in die
Brust, und er wiinschte, daB ihn Emanuel nicht verschmahen
moge. — Plotzlich naherten sich kleine Tritte seinen liegenden
Ohren : er fuhr auf, erschrak und erschreckte. Ein schwerer Reise-
wagen taumelte matt herauf; hinten in den Lakaienriemen hatten
statt der Bedienten drei bleiche Infanteristen die Hande gesteckt,
die zusammen nur ein einziges Bein besaBen, das von Fleisch war,
indem sie auf fiinf holzernen StelzfiiBen oder Schuster- Abzeichen
fuBten, die sie nebst noch etwas Langerem von Holz, namlich
drei gut gearbeiteten Bettelstaben, dem Feinde abgenommen hat- k
ten - ein Kutscher ging neben dem Wagen und eine Kammerfrau,
und nahe am aufgesprungnen Viktor stand — Klotilde.
Sie kam aus Maienthal. Ihm verflnsterte diese plotzliche Ober-
strahlung alle in seiner Seele aufgehangenen Gesetztafeln, und er
konnte die Tafeln nicht gleich lesen. Sie schauete ihn mit sanftern
Strahlen an als sonst, und die Sonne Heh einige dazu. Mit einem
Lacheln, als erriete sie seine ersten Fragen, gab sie ihm einen -
Brief von Emanuel. Ein zusammenfahrendes Ach! war seine Ant-
wort; und eh' er sich in zwei Entziickungen schicken konnte: war
der Wagen schon oben und sie darin und alles davon. zc
Er zogerte zitternd, in den stillen blauen ParadiesfluB der schon-
sten Seele, die sich je ergoB, versunken zu schauen. Endlich blickte
er die Zuge einer geliebten Menschenhand, die er noch nicht be-
riihrt hatte, an und las :
»Horion!
Auf eirien Berg steigt der Mensch wie das Kind auf einen Stuhl 7
um naher am Angesicht der unendlichen Mutter zu stehen und sie
zu erlangen mit seiner kleinen Umarmung. Um meine Hohe Hegt
die Erde unter dem weichen Nebel mit alien ihren Blumenaugen
schlafend - aber der Himmel richtet sich schon mit der Sonne un- 3 o
ter dem Augenlide auf- unter dem erblaBten Arkturus glimmen
Nebel an, und aus Farben ringen sich Farben los - der Erdball
walzt sich grofit und trunken voll Bliiten und Tieren in den glii-
henden SchoB des Morgens. —
8. HUNDPOSTTAG 603
Sobald die Sonne kommt, so schau' ich in sie hinein, und mein
Herz hebt sich empor und schwort dir, daB es dich liebt, Ho-
rion!... Durchgliihe, Aurora, das Menschenherz wie dein Ge-
wolk, erhelle das Menschenauge wie deinen Tau und zieh in die
dunkle Brust, wie in deinen Himmel, eine Sonne herauf ! . . .
Ich habe dir jetzo geschworen - ich gebe dir meine ganze Seele
und mein kleines Leben, und die Sonne ist das Siegel auf dem
Bunde zwischen mir und dir.
Ich kenne dich, Geliebter; aber weifit du, wessen Hand du in
10 deine genommen? Sieh, diese Hand hat in Asien acht edle Augen
zugeschlossen - mich uberlebte kein Freund - in Europa verhiilF
ich mich - meine triibe Geschichte liegt neben der Asche meiner
Eltern im Gangesstrom, und am 24Sten Junius des kiinftigen
Jahres gen* ich aus der Welt. . . O Ewiger, ich gehe - am langsten
Tage zieht der gliickliche Geist gefliigelt aus diesem Sonnen-
tempel, und die griine Erde geht auseinander und schlagt iiber
meine fallende Puppe mit ihren Blumen zusammen und deckt das
vergangne Herz mit Rosen zu...
Wehe groBere Wellen auf mich zu, Morgenluft! Ziehe mich in
20 deine weiten Fluten, die iiber unsern A'uen und Waldern stehen,
und fuhre mich im Bliitengewolk' iiber funkelnde Garten und
iiber glimmende Strome und laB mich, zwischen fiiegenden Blii-
ten und Schmetterlingen taumelnd, unter der Sonne mit ausge-
breiteten Armen zerfiieBend, leise iiber der Erde schwebend
sterben, und die Bluthiille falle, zerronnen zu einer roten Morgen-
flocke, gleich dem Ichor des Schmetterlings 1 , der sich befreiet, in
die Blumen herab, und den blauhellen Geist sauge ein heiBer
Sonnenstrahl aus dem Rosenkelch des Herzens in die zweite Welt
hinauf. — Ach ihr Geliebten, ihr Abgeschiednen, seid ihrs, zieht
jo ihr denn jetzt als dunkle Wellen 1 im bebenden Blau des Him-
mels dahin, wogen in jener Tiefe voll iiberhiillter Weiten jetzt
eure Atherhiillen um die verdeckten Sonnen? Ach kommt
1 Den Schmetterlingen entfallen in ihrer letzten Verwandlung rote Trop-
fen, die man sonst Blutregen hieB.
* Wenn man lange ins Himmelblaue schauet : so fangt es an zu wallen, und
diese Luftwogen halt man in der Kindheit fur spielende Engcl.
604 HESPERUS
wieder, wogt wieder, in einem Jahr rinn' ich aufgelost in euer
Herz!
- Und du, mein Freund, suche mich bald! Dich kann auf der
Erde keiner so lieben wie ein Mensch, der bald sterben muB. Du
gutes Herz, das mir diese milden Tage noch zum Abschied in die
Hande driicken, unaussprechlich will ich dich lieben und warmen
- in diesem Jahr, wo ich noch nicht weggehoben werde, will ich
bloB bei dir bleiben, und wenn der Tod kommt und mein Herz
fodert, findet er es bloB an deiner Brust.
Ich kenne meinen Freund, sein Leben und seine Zukunft. In 10
deinen kommenden Jahren stehen dunkle Marterkammern offen,
und wenn ich sterbe und du bei mir hist, werd* ich seufzen: war-
urn kann ich ihn nicht mitnehmen, eh* er seine Tranen vergieBet!
Ach Horion ! im Menschen steht ein schwarzes Totenmeer, aus
dem sich erst, wenn es zittert, die gliickliche Insel der zweiten
Welt mit ihrem Nebeln vorhebt! Aber meine Lippen werden
schon unter dem ErdenkloB liegen, wenn die kalte Stunde zu dir
kommt, wo du keinen Gott mehr sehen wirst, wo auf seinem
Thron der Tod liegt und um sich maht und bis ans Nichts seine
Frostschatten und seine Sensen-Blitze wirft. - O Geliebter, mein 20
Hiigel wird dann schon stehen, wenn deine inhere Mitternacht an-
bricht; mit Jammer wirst du auf ihn steigen und ergrimmt in die
sanften Sternenkranze blicken und rufen 1 : >Wo ist der, dessen
Herz unter mir entzweigeht? Wb ist die Ewigkeit, die Maske der
Zeit? Wo ist der Unendliche? Das verhullte Ich greift nach sich
selber umher und stoBet an seine kalte Gestalt.... Schimmere
mich nicht an, weites Sternengefild, du bist nur das aus Farben-
erden zusammengeworfene Gemalde an einem unendlichen Gottes-
ackertore, das vor der Wuste des unter dem Raume begrabnen
Lebens steht .... Hohnet mich nicht aus, Gestalten auf hohern 3 o
Sternen, denn zerrinn' ich, zerrinnt ihr auch. Ein> ein Ding, das der
Mensch nicht nennen kann, gluht ewig im unermeBlichen Rauche,
und ein Mittelpunkt ohne MaB verkalkt einen Umkreis ohne MaB.
- Doch bin ich noch; der Vesuv des Todes dampft noch iiber
1 Dieser Monolog ist ein Stuck aus einer fruhern schwarzen Stunde, die
jedes Herz von Empfindung einmal ergreift.
8. HUNDPOSTTAG 605
mich hinuber, und seine Asche hiillt mich zu - seine fliegenden
Felsen durchbohren Sonnen, seine Lavagiisse bewegen zerlassene
Welten, und in seinem Krater liegt die Vorwelt ausgestreckt, und
Iauter Graber treibt er auf. . . . O Hoffnung, wo bleibst du?< , . .
Walle trunken um mich, beseelter Goldstaub, mit deinen diin-
nen Fliigeln, ich zerdriicke dein kurzes Blumenleben nicht -
schwelle herauf, taumelnder Zephyr, und spule mich in deine
Bliitenkelche hinab - o du unermeBlicher StrahlenguB, falle aus
der Sonne iiber die enge Erde und fuhr' auf deinen Glanzfluten
10 das schwere Herz vor den hochsten Thron, damit das ewige un-
endliche Herz die kleinen, an Asche grenzenden nehme und heile
und warme!
1st denn ein armer Sohn dieser Erde so ungliicklich, daB er ver-
zagen kann mitten im Glanze des Morgens, so nahe an Gott auf
den heifien Stufen seines Throns?
Fliehe mich nicht, mein Teurer, weil mich immer ein Schatten
umzingelt, der sich taglich verdunkelt, bis er endlich als eine kleine
Nacht mich einbauet. Ich sehe den Himmel und dich durch den
Schatten; in der Mitternacht lachle ich, und im Nachtwind geht
20 mein Atem voll und warm. Denn, o Mensch, meine Seele hat sich
aufgerichtet gegen die Sterne : der Mensch ist ein Engbriistiger,
der erstickt, wenn er liegt und seinen Busen nicht auf hebt. - Aber
darfst du die Erde, diesen Vorhimmel, verachten, den der Ewige
gewiirdigt, unter dem lichten Heer seiner Welten mitzugehen?
Das GroBe, das Gottliche, das du in deiner Seele hast und in der
fremden liebst, such auf keinem Sonnenkrater, auf keinem Pla-
netenboden - die ganze zweite Welt, das ganze Elysium, Gott
selbst erscheinen dir an keinem andern Ort als mitten in dir. Sei
so groB, die Erde zu verschmahen, werde groBer, um sie zu ach-
30 ten. Dem Mund, der an sie gebuckt ist, scheint sie eine fette Blu-
men-Ebene - dem Menschen in der Erdnahe ein dunkler Welt-
korper - dem Menschen in der Erdferne ein schimmernder Mond.
Dann erst flieBet das Heilige, das von unbekannten Hohen in den
Menschen gesenkt ist, aus deiner Seele, vermischt sich mit dem
irdischen Leben und erquickt alles, was dich umgibt: so muB das
Wasser aus dem Himmel und seinem Gewolk erst unter die Erde
606 HESPERUS
rinnen und aus ihr wieder aufquellen, eh' es zum frischen hellen
Trunk gelautert ist. - Die ganze Erde bebt jetzo vor Wonne, daB
alles ertont und singt und ruft, wie Glocken unter dem Erdbeben
von selber erklingen. - Und die Seele des Menschen wird immer
groBer gemacht vom nahen Unsichtbaren —
Ich Hebe dich sehr! -
Emanuel.«
Horion las durch schwimmende Augen: »Ach,« wunscht* er,
»war' ich schon heute mit meinem unordentlichen Herzen bei dir,
du Verklarterk und jetzt fiel ihm erst die Nahe des Johannistages i
ein, und er nahm sich vor, ihn da zu sehen. Die Sonne war schon
verschwunden, die Abendrote sank wie eine reife Apfelblute hin-
ab, er fiihlte nicht die heiBen Tropfen auf seinem Angesicht und
den Eistau der Dammerung an seinen Handen und irrte mit einer
von Traumen erleuchteten Brust, mit einem beruhigten, mit der
Erde ausgesohnten Herzen zuruck.
- Beilaufig! ists denn notig, daB ich eine Schutzschrift aus-
arbeite fiir Emanuel als Stilisten und als Styliten (im hohernSinne)?
Und wenn sie notig ist, brauch' ich darin etwas anders beizubrin-
gen als dieses - daB seine Seele noch das Echo seiner indischen ;
Palmen und des Gangesstromes ist - daB der Gang der bessem
entfesselten Menschen, so wie im Traume, immer ein Flug ist -
daB er sein Leben nicht wie Europaer mit fremdem Tierblut dungt
oder in gestorbnem Fleisch auswarmt, und daB dieses Fasten im
Essen (ganz anders als das Oberladen im Trinken) die Fliigel der
Phantasie leichter und breiter macht - daB wenige Ideen in ihm,
da er ihnen alien geistigen Nahrungsaft einseitig zuleitet (welches
nicht nur Wahnsinnige, sondern auch auBerordentliche Menschen
von ordentlichen abtrennt), ein unverhaltnismaBiges Gewicht be-
kommen miissen, weil die Fruchte eines Baums desto dicker und 3
siiBer werden, wenn man die andern abgebrochen - und der-
gleichen mehr? - Denn, aufrichtig zu sprechen, die Leser, die
eine Schutzschrift begehren, bediirfen selber eine, und Emanuel
ist etwas Besseres wert als einer - peinlichen Defension -
Jetzo sprang dem Helden der Trost wie eine Quelle auf, daB er
8. HUNDPOSTTAG 607
am Donnerstag seine Seelenwanderung durch die Natur, seine
Reise, anhebe: »Beim Henker!« sagt* er aufhupfend, »was hat ein
Christ da notig, daB er Notmunzen schlagt und Trauermantel
umtut, wenn er am Donnerstage nach Kussewitz zur Vbergabe
der italienischen Prinzessin reisen kann - und am Sonnabend nach
der Insel der Vereinigung und noch am namlichen Tage, welches
ein Tag vor Johannis ist, nach Maienthal zu seinem Teuern, zu
seinem Engel?« -
O Himmel, ich wollt*, er und ich waren schon tiber die Reise
o her - wahrhaftig sie kann, wenn mich nicht alle Hoffnungen be-
liigen, vielleicht ganz ertraglich werden! -
- Unter der Wochenbetstunde des Mittwochs rollten zwei
Wagen vor; aus dem vollen traten der Lord und der Fiirst, aus
dem leeren nichts. Die alte Appel hatte sich prachtig angekleidet
und in die Speisekammereingesperrt. Der Kaplan war gliicklicher,
er dozierte im Tempel. Man macht selten ein gescheites Gesicht,
wenn man vorgestellt wird - oder ein dummes, wenn man vor-
stellt. Der Lord fiihrte dem Fiirsten seinen Sohn als ein Unter-
pfand seiner kunftigen Treue in die Hande und ans Herz, aber mit
o einer Wiirde, die ebensoviel Ehrfurcht erwarb, als sie erwies.
Mein guter Held betrug sich wie ein - Narr; er hatte weit mehr
Witz, als unsre Achtung gegen Hohere oder die ihrige gegen
uns verstattet; ein Talent, das auBer dem Hof-Lehndienste sich
auBert, kann als Hochverrat betrachtet werden.
Sein Witz war bloB eine versteckte Verlegenheit, worin ihn zwei
Gesichter und eine dritte Ursache setzten. Erstlich dasfurstliche . . .
- Wenn sich die Lesewelt beschwert, da 8 so allmahlich, wie
sie sehe, ein neuer Name und Akteur nach dem andern in diesen
Venusstern hereinschleiche und ihn so voll mache, bis aus dem
io historischen Bildersaal ein ordentlicher Vokabelsaal werde, in
welchem sie mit einem AdreBkalender in der Hand herumwan-
deln musse : so hat sie wahrhaftig nur zu sehr recht, und ich habe
mich selber schon am meisten dariiber beschwert; denn mir
bleibt am Ende doch die groBte Last auf dem Halse, weil jeder
neue Tropf ein neues herausgezogenes Orgelregister ist, das ich
mit spielen muB und das mir das Niederdriicken der Tasten saue-
608 HESPERUS
rer macht; aber der Korrespondent schickt mir im Kiirbis, ohne
anzufragen, alle diese Einquartierung zu, und der Schnaken-
macher schreibt gar, ich sollt* es nur der Welt sagen, es komme
noch mehr Volk. -
DasfUrstlicheGesichtsetztedenHelden in Verlegenheit, nicht
weil es imponierte, sondern weil es dieses bleiben HeB. Es war ein
Wochentags* und Kurrentgesicht, das auf Miinzen, aber nicht
auf Preismedaillen gehorte - mit Arabesken-Zugen, die weder
Gutes noch Boses bedeuten - von wenigem Hof-Mattgold iiber-
flogen — eingeolet mit einem sanften Ol, das die starksten Wellen «
erdrucken konnte - eine Art siiBer Wein, mehr den Weibern als
Mannern tfinkbar. Von den feinsten Wendungen, die Viktor zu
erwidern gesonnen war, stand nichts zu horen und zu sehen; aber
von passenden leichten desto mehr. Viktor wurde durch den
Kampf und Wechsel zwischen Hoflichkeit und Wahrheit ver-
Iegen. Die geselligen Verlegenheiten entstehen nicht aus der Un-
gewiBheit und Unwegsamkeit des Steigs, sondern auf den Kreu%-
wegen der Wahl und zwischen den zwei Heubiindeln des scho-
Iastischen Esels. Viktor, dessen Hoflichkeit immer aus Mtnschen-
Hebe entsprang, muBte die heutige aus Eigennutz entspringen *c
lassen; aber dieses wollt* ihm eben nicht ein. AuBer dem Vater-
Gesicht, vor dem schon bei den meisten Kindern das ganze Rader-
werk eines freien Betragens knarrt und stockt, macht' ihn drittens
das verlegen und witzig, daB er etwas haben wollte. Ich kanns
einem jeden - einen Hofmann ausgenommen, dessen Leben wie
das eines Christen ein bestandiges Gebet um etwas ist - ansehen,
wenn er zur Tur hereinkommt, ob er als Almosensammler und
Werkheiliger oder als bloBer Freudenklubist einspricht.
Noch ehe die Leute aus der Kirche gingen, fassete Viktor schon
herzliche Liebe zum Fiirsten — die Ursache war, er wollt' ihn lie- 3c
ben, und stande der Teufel selber da. Er sagte oft: gebt mir zwei
Tage oder eine Nacht, so will ich mich verlieben, in wen ihr vor-
schlagt. Er fand mit Vergnugen auf Jenners Gesicht keinen Se-
kunden-, keinen Monatzeiger der Schaferstunden, mit denen ein
guter Casar sonst gern die langweiligen Ehejahre wie mit Flitter-
wochen zu durchschieBen sucht: sondern in seinem Gesichte war
8. HUNDPOSTTAG 609
nichts als Enthaltsamkeit aufgeschlagen, und Viktor pflichtete
lieber dem Geskhte als dem Rufe bei. Er schieBet fehl; denn auf
das mdnnliche Gesicht - ob es gleich, wie gewisse Gemalde aus
Schreib-Lettern, ebenso aus lauter Buchstaben der Physiognomik
gemacht ist - hat doch die Natur die Lesemiitter und Malzeichen
der Wollust sehr klein geschrieben, auf das weibliche aber groBer;
welches ein wahres Gluck fur das erste und starkere und - un-
keuschere Geschlecht ist. Uberhaupt ist Ehebrechen fur Jenner-
Fiirsten nichts als eine gelindere Art von Regieren und Kriegen.
10 Und doch stellen rechtschaffene Regenten die Weiber, sobald sie
solche erobert haben, stets dem vorigen Eheherrn mit Vergnugen
wieder zu. Es ist aber dies dieselbe GroBe, womit die Romer den
groBten Konigen ihre Reiche wegnahmen, um sie nachher damit
wieder zu beschenken.
Da Fiirsten nicht wie die Juristen bose Christen, sondern lieber
keine sind: so nahm Jenner unsern Viktor durch verschiedene
Funken von Religion und durch einigen HaB gegen die gallischen
Enzyklopadisten ein; wiewohl er einsah, daB fiir einen Fiirsten
die Religion zwar ihr Gutes, aber auch ihr Schlimmes habe, da nur
to ein gekronter Atheist, aber kein Theist das unschatzbare privile-
gium de non appellando besitzt, das darin besteht, daB die be-
schwerte Partei nicht (per saltus oder durch einen salto mortale)
an die hochste Instanz auBerhalb der Erde appellieren darf.
Das Gesprach war gleichgiiltig und leer wie jedes in solchen
Lagen. Oberhaupt verdienen die Menschen fiir ihre Gesprache
stummzu sein; ihre Gedanken sind allezeit besser als ihre Ge-
sprache, und es ist schade, daB man an gute Kopfe keinen BarO-
metrographen oder kein Setzklavier anbringen kann, das auBen
alles nachschreibt, was innen gedacht wird. Ich wollte wetten,
jo jeder groBe Kopf geht mit einer ganzen Bibliothek ungedruckter
Gedanken in die Erde, und bloB einige wenige Biicherbretter voli
gedruckter lasset er in die Welt auslaufen.
Viktor stellte an den Fiirsten die gewohnlichen medizinischen
Fragstiicke, nicht bloB als Leibarzt, sondern auch als Mensch, um
ihn zu Iieben. Obgleich Leute aus der groBen und groBten Welt,
wie der Unter-Mensch, der Urangutang, im 25sten Jahre ausge-
6lO HESPERUS
lebt und ausgestorben haben — vielleicht sind deswegen die Ko-
nige in manchen Landern schon im i4ten Jahre miindig -, so
hatte doch Jenner sein Leben nicht so weit zuriickdatiert und war
wirklich alter als mancher Jiingling. - Am meisten bemachtigte
sich der Fiirst des guten warmen Herzens Sebastians durch das
schlichte Betragen ohne Anspriiche, das weder der Eitelkeit noch
dem Stolze diente, und dessen Aufrichtigkeit sich durch nichts von.
der gewohnlichen unterschied als durch Feinheit. Viktor hatte
schon Vasallen neben dem Munde ihres Lehnherrns so stehen
sehen, daB der letzte aussah wie ein Haifisch, der quer einen >
Menschen im Rachen tragt; aber Jenner glich einem Petermann-
chen 1 , das darin einen hiibschen Stater vorweist.
Dem Hofkaplan wars, da er kam, in seinem Erstaunen iiber
einen gekronten Gast unmoglich, Lippe oder FuB zu riihren; er
verblieb unbeweglich in der weiten Wasserhose des Priester-
rocks, der um ihn wie um Marzipan ein Regalbogen geschlagen
war. Das einzige, was er sich erlaubte und erfrechte, war - nicht,
die Bibel (den Mauskloben) wegzulegen, sondern - die Augen
heimlich in der Stube herumzutreiben, um herauszubringen, ob
sie gehorig geheftet, foliiert und uberschrieben sei von den Stu- *
ben-Registratorinnen.
Der Fiirst reisete sogleich mit dem Lord weiter, der seinen Ab-
schied vom Sohne und seine Abschiedpredigten bis auf den ein-
samen Tag auf der Insel der Vereinigung versparen muBte. Der
Sohn bekam zur Nachbarschaft des Fiirsten Lust, wenn er dessen
Betragen gegen seinen Vater iiberdachte; er hatte die doppelte
Freude des Kindes und des Menschen, da sein Vater das eigne
Gluck in das Gluck des armen Landes verwandelte und bloB, um
Gutes zu tun, in dem Thronfelsen sich FuBstapfen austrat, wie
man in Italien die FuBtritte der Engel, die erschienen und be- ?
gliickten, in den Felsen zeigt. Andre Gunstlinge gleichen dem
Henker, der sich im Sande FuBstapfen aushohlt, um fester zu
stehen, wenn er - kopft.
In der ausgeleerten Stube wurde unter Eymanns Gliedern - er
stand noch im Priesterrock-Schilderhaus - der Zeigefinger zuerst
1 So heiBet der Fisch, in dessen Maule Petrus die Steuer Christi gefunden.
ERSTER SCHALTTAG 6ll
wach, der sich ausstreckte und dem Familienzirkel das Bette wies:
»Es ware mit lieber und dienlicher,« sagte er, »hatte man mich mit
diesem Lumpen totstranguliert, als daB ihn der Serenissimus aus-
spioniert.« Er meinte aber seine eigne beschmutzte Halsbinde, die
er selber in das Ehebette - die Kunstkammer und den Packhof
seiner Wasche - geworfen hatte. Wenn man ihm einen Qual-Ein-
fall widersprach, so bewies er ihn so Iange, bis er ihn selber glaub-
te; raumte man ihn aber ein, so sann er sich einige Skrupel aus
und nahm eine andere Meinung an : »Durch die Vorhange muB
10 Seine Durchlaucht unfehlbar den Fetzen gesehen haben«, ver-
setzte er. Endlich bereisete er alle Platze, wo Jenner gestanden
hatte, und visierte nach der Lumpenbinde und untersuchte ihre
Parallaxe. »Ans Blenden der Fenster miissen wir uns halten, wenn
wir ruhig bleiben wollen«, beschloB er und — ich.
Nachschrift. Ich werde allemal nach einem achten Kapitel -
weil ich gerade zwei Hundtage in einer Woche fertig bringe - be-
merken, daB ich wieder einen Monat lang gearbeitet habe. Ich
berichte daher, daB morgen der Junius angeht.
Erster Schalttag
*° Miissen Traktaten gehalten werden, oder ist es genug, daB man sie macht? -
Das letzte. - Heute ubt der Berghauptmann zum erstenmal auf
des Lesers GrUnd und Boden das Recht (Servitus oneris ferendi,
oder auch Servitus projiciendi) aus, das er nach dem Vertrag vpm
4ten Mai wirklich besitzt. Die Hauptfrage ist jetzt, ob ein Hund-
Vertrag zwischen zwei so groBen Machten - indem der Leser alle
Weltteile hat, und ich wieder den Leser - nach dem SchlieBen
noch zu halten ist.
Friedrich, der Antimachiavellist, antwortet uns und stutzt sich
auf den Machiavell: allerdings muB jeder von uns sein Wort so
° lange halten, als er - Nutzen davon hat. Dieses ist so wahr, daB
solche Traktaten sogar nicht gebrochen wiirden, wenn sie nicht
6l2 HESPERUS
einmal — geschlossen waren; und die Schweizer, die noch 171 5
einen mit Frankreich beschworen, hatten ebensogut in alien Kan-
tons die Finger auf heben und beeidigen konnen, daB sie alle Tage
ordentlich - ihr Wasser lassen wollten.
Sobald aber der Nutzen von Vertragen aufhort, so ist ein Re-
gent befugt, deren zweierlei zu brechen - die mit andern Regen-
ten, die mit seinen eignen Landes-Stiefkindern.
Als ich noch im Kabinett arbeitete (schon um 6 Uhr mit dem
Flederwisch, die Sessiontische abzustauben, nicht mit der Feder),
hatt' ich ein gescheites fliegendes Blatt unter der letzten, worin ic
ich die Traktaten-Ouvertiire : au nom de la Sainte Trinite, oder
in nomine sanctissimae et individuae Trinitatis, fiir die Chiffre
ausgeben wollte, welche die Gesandten zuweilen iiber ihre Be-
richte zum Zeichen setzen, daB man das Gegenteil zu verstehen
habe - es wurd* aber nichts aus dem fliegenden Blatt als ein -
Manuskript. In diesem war ich einfaltig genug und wollte den
Fiirsten erst raten, von iVor-Liigen und Not-Wahrheiten der
Traktaten miiBten sie in jeder Breite und Stunde deklinieren und
inhtinieren ; ich wollte die Staatskanzleien in einen Winkel zu mir
heranpfeifen und ihnen in die Ohren sagen: ich wurd' es, und 2 <
hatt' ich nur neun Regimenter in Sold und Hunger, nie leiden,
daB man mir mit dem Wachs und Siegellack der Vertrage Hande
und FiiBe zusammenpichte und mit der Dinte die Flugel verklebte ;
das wollt' ich in die Staatspraxis erst einfuhren — . aber die Staats-
kanzleien lachten mich von weitem in meinem narrischen Winkel
aus und sagten: der Pfeifer muB glauben, wir machens anders.
In den Werken des Herrn Herkommen - des besten deutschen
Publizisten, der aber keine acta sanctorum schreibt - wird es er-
wiesen, daB ein Landesfurst die Vertrage, Privilegien und Bewilli-
gungen zwischen seinem Vorfahrer und den Untertanen gar nicht 3<
zu beachten brauche; - daraus folgt, daB er noch weit weniger
seine eignen Vertrage mit ihnen zu halten vonnoten habe, da ihm
die NutznieBung dieser Vertrage, die in nichts als im Halten oder
Brechen besteht, offenklar als Eigentumer gebuhrt. Herr Her-
kommen sagt das namliche auf alien Blattern und schwort gar
dazu. - Ja kann es einen Dekan oder Rektor Magnifikus geben,
9. HUNDPOSTTAG 613
der so wenig Vernunft annimmt, daB ihm - da doch nach einer
allgemeinen Annahme ein Konig nicht stirbt und mithin Vor- und
Nachfahrer zu einem Mann ineinanderverwachsen - nicht der
SchluB daraus beizubringen ist, daB der Nachfahrer seine eigne*
Vertrage fur die seines Vorfahrers halten und mithin, da beide
nur ein Mann sind, ebensogut wie geerbte brechen konne?
Wer philosophisch daruber reden wollte, der konnte dartun,
daB iiberhaupt gar kein Mensch sein Wort zu halten brauche,
nicht bloB kein Fiirst. Nach der Physiologie riickt der alte Kor-
o per eines Konigs (eines Lesers, eines Berghauptmanns) in drei
Jahren einem neuen zu; - Hume treibts mit der Seele noch weiter,
weil er sie fiir einen dahinrinnenden (nicht gefrornen) FIuB von
Erscheinungen halt. So sehr also der Konig (Leser, Autor) im
Augenblick des Versprechens an dessen Haltung gefesselt ist: so
unmoglich kann er noch daran gebunden sein im nachsten Augen-
blick darauf, wo er schon sein eigner Nachfahrer und Erbe ge-
worden, so daB in der Tat von uns beiden am 4ten Mai hier kon-
trahierenden Wesen am heutigen Mai nichts mehr da ist als unsre
bloBen Posthumi und Nachfahrer, namlich win Da nun gliick-
3 licherweise niemals in einen und denselben Augenblick zugleich
Versprechen und Halten hineingehen: so kann die angenehme
Folge fiir uns alle daraus flieBen, daB iiberhaupt gar keiner sein
Wort zu halten verbunden sei , er mag Kuppel oder Sagespan eines
Thrones sein. Auch die Hofleute (die Thron-Eckenbeschlage)
setzen sich diesem Satze nicht darwider.
Das Publikum wird gebeten, die Vorrede fiir den zweiten
Schalttag zu halten, damit schones EbenmaB da ist.
9. HUNDPOSTTAG
Himmels-Morgen, Himmels-Nachmittag- Haus ohne Mauer, Bette ohne Haus
Ach der arme Bergmann, der Minierer im Steinsalz und der
Insel-Neger haben in ihrem Kalender keinen solchen Tag, als hier
beschrieben oder wiederholet wird ! Sebastian stand Donnerstags
6 14 HESPERUS
schon um 3 Uhr auf dem Flugbrett seines Bienenstocks, urn in
Groftkussewiti in einem Tage anzulanden und wegzusein, eh' man
auf war. Ein Leser, der einen Atlas unten auf dem FuBboden hat,
*kann unmoglich diesen Marktflecken, wo die Obergabe der
Fiirstenbraut vorgeht, mit einem Namenvetter von Dorf ver-
wirren, den die Stadt Rostock zu ihrem unbeweglichen Vermogen
geschlagen. Das ganze Haus hatte ihn lei der so lieb, daC es schon
eine halbe Stunde friiher aus den Morgenfedern, woraus die groB-
ten Fliigel der Traume gemacht werden, heraus war. Unter dem
Getose der Wagenketten, der Hunde und Hahne trennte er sein
sanftes Herz von lauter liebenden Augen, und indem ihn das
Klopfen des einen und das Erweichen der andern verdroB, wurde
alles noch arger; denn der auBere Larm stillt den innern der Seele.
DrauBen schwammen alle Grasebnen und Samenfelder im
Tropfbad des Taus und im kalten Luftbad des Morgenwinds. Er
wurde darin wie heiBes Eisen gehartet; ein Morgenland voll un-
ubersehlicher HofTnungen umzog ihn, er entkleidete seine Brust,
warf sich brennend ins tropfende Gras, wusch sich (aber aus
hohern Absichten als Madchen) das feste Gesicht mit fliissigem
Juniusschnee und trat, mit straffen Fibern bespannt, aus dem ;
Tropfbad in den Anzug zuruck - bloB Haar und Brust steckt* er
in kein Gefangnis.
Er ware gewiB eher abgegangen; aber er wollte dem Monde
ausweichen, den er so wenig mit der Sonne gatten konnte als die
Kinder von beiden, namlich Nachtgedanken mit Morgengedan-
ken. Denn wenn die Morgenwolken um den Menschen tauen,
wenn die liebenden Vogel schreiend durch den Glanznebel schie-
Ben, wenn die Sonne aus der Wolkenglut vorschwillt: so driickt
der erfrischte Mensch seinen FuB tiefer in seine Erde ein und
wachset mit neuem Lebens-Efeu fester an seinen Planeten an.
Langsam watete er durch einen niedrigen Haselstauden-Gang
und streifte ungern ihre erkalteten Kafer ab ; er hielt an sich und
stand endlich, um sich zu verspaten, damit er nicht im nahen
Waldchen ware, wenn gerade die Sonne ihr Theater betr at. Er
horte schon den musikalischen Wirrwarr im Waldchen - Rosen-
wolken waren als Blumen in die Sonnenbahn gebreitet- die Wane
9. HUNDPOSTTAG 6 1 5
des Pfarrdorfs, dieser Hochaltar, worauf sein erster schoner
Abend gebrannt, entflammte sich - die singende Welt der Luft
hing jauchzend in den Morgenfarben und im Himmelblau - Fun-
ken von Wolken hupften vom Goldbarren am Horizont empor -
endlich wehten die Flammen der Sonne uber die Erde herein ....
Wahrlich, wenn ich an jedem Abende den Sonnenaufgang
make und an jedem Morgen ihn sahe : ich wiirde doch wie Kinder
rufen: noch einmal, noch einmal!
Mit betaubten Sehnerven und mit vorausschwimmenden Far-
io benflocken ging er langsam in den Wald wie in einen dunkeln
Dom, und sein Herz wurde groB bis zur Andacht...
- Ich will nicht voraussetzen, daB mein Leser ein so prosaisches
Gefiihl fiir den Morgen habe, um dieses poetische unvertraglich
mit Viktors Charakter zu fin den - ja ich darf seiner Menschen-
kenntnis zutrauen, daB sie wenig Mtihe habe, zwischen solchen
entlegnen Tonarten in Viktor, wie Humor und Empfindsamkeit
sind, den Leitton auszufinden; ich will mich also unbesorgt dem
frohen Anschauen seiner weichen Seele und dem Vertrauen auf
fremden Einklang uberlassen. -
to Der Venusstern und ein Wald bluhen am schonsten am Mor-
gen und Abend; auf beide treffen dann die meisten Strahlen der
Sonne. Daher war unserm Viktor im Walde, als ging' er durch
die Pforte eines neuen Lebens, da er an diesem feurigen Morgen
mit der Sonne, die neben ihm von Zweigen zu Zweigen flog, durch
das brausende Geholze, hinweg unter vollstimmigen Asten, die
ebenso viele bewegte Spiel- Walzen waren, uber das im griinen
Sonnenfeuer stehende Moos und unter dem ins himmlische Blau
getauchten Tannengriin durchwankte. - Und an diesem Morgen
erneuerte sich in seinem Herzen die schmerzhafte Ahnlichkeit von
o vier Dingen - von dem Leben, von einem Tage, einem Jahre,
einer Reise, die einander gleichen im frischen Jubel-Anfang - im
schwulen Mittelstiick - im miiden satten Ende. -
DrauBen im Anfluge, im Hintergrund des Waldchens, rollte
vor ihm die Natur ihr meilenlanges Altarblatt auf mit den Hiigel-
Ketten desselben, mit seinen blendendenLandhausern, die sich mit
Garten wie mit Fruchtschnuren putzten, und mit den Miniatur-
6 1 6 HESPERUS
farben der Bliimchen, die sich an der silbernen Schonheitlinie der
Bache bewegten. Und eine Wolke trunkner, spielender, schwirren-
der Kleinwesen aus Seidenstaub zog und hing iiber das wallende
Gemalde her. - Welchen Weg sollte Viktor im Labyrinth der
Schonheit nehmen? - Alle 64 Strahlen des Kompasses streckten
sich als wegweisende Arme aus, und er hatte soviel Verstand, da 6
er sich keine Stunde vorsetzte, um anzukommen - er wich daher
iiberall rechts und links aus - er stieg in jedes Tal, das sich hinter
einem Hiigel versteckte -er besuchte die durchbrochnen Schatten-
wiirfe jeder Baumreihe - er legte sich zu den Fiifien einer schonern 1
Blume nieder und erquickte sich mit reiner Liebe an ihrem Geiste,
ohne ihren Korper abzuknicken - er war der Reisegefahrte des
gepuderten Schmetterlings und sah seinem Einwiihlen in seine -
Blume zu, und der Grasmiicke folgte er durch Gebiische in ihre
Brutzelle und Kinderstube nach - er lieB sich festmachen durch
den Kreis, den eine Biene um ihn zog, und lieB sie ruhig in den
Schacht seines eignen B lumen strauBes einschlagen - er iibte in
jedem Dorfe, das ihm der bunte Grund vorhielt, die Durchgang-
gerechtigkeit und begegnete am liebsten den Kindern, deren Tage
noch so spielten wie seine Stunden 2
Aber Menschen vermied er —
Und doch sprang aus seinem Herzen eine hohe Quelle der
Liebe, die bis zum entferntesten Bruder drang; und doch war er
so sehr ohne Ichsucht, so ohne jene empfindsame Intoleranz, die
den Grad und die Quelle mit der herrnhutischen gemein hat. —
Der Grund aber war der: der erste Tag einer Reise war ganz an-
ders als der zweite, dritte, achtzigste. Denn am zweiten, dritten,
achtzigsten war er prosaisch, humoristisch, gesellig,-d. h. sein Herz
hing sich wie gehakelter Same iiberall an und schlug die Wurzeln
seines Gliicks in jedem fremden Schicksal ein. Aber am ersten 3
Tage kamen verhiillte Geister aus alten Stunden in seine Seele,
welche verschwanden, wenn ein Dritter sprach - eine sanfte
Trunkenheit, die ihm der Dunstkreis der Natur wie der eines
Weinlagers mitteilte, legte sich wie eine magische Einsamkeit um
seine Seele. .. Warum will ich aber den ersten Tag schildern, eh*
ich ihn schildere?
9» HUNDPOSTTAG 617
In den ersten Stunden der Reise war er heute frisch, froh, gliick-
lich, aber nicht selig; er trank noch, allein er war nicht trunken.
Aber wenn er so einige Stunden mit schopfendem Auge und
saugendem Herzen gewandelt war durch Perlenschnure betaueter
Gewebe, durch sumsende Taler, iiber singende Hiigel, und wenn
der veilchenblaue Himmel sich friedlich an die dampfenden Hohen
und an die dunkeln, wie Gartenwande iibereinander steigenden
Walder anschloB; wenn die Natur alle Rohren des Lebenstromes
offnete, und wenn alle ihre Springbrunnen aufstiegen und bren-
nend ineinander spielten, von der Sonne iibermalt: dann wurde
Viktor, der mit eiriem steigenden und trinkenden Herzen durch
diese fliegenden Strome ging, von ihnen gehoben und erweicht;
dann schwamm sein Herz bebend wie das Sonnenbild im unend-
lichen Ozean, wie der schlagende Punkt des Radertiers im flat-
ternden Wasserkiigelchen des Bergstroms schwimmt. —
Dann losete sich in eine dunkle UnermeBlichkeit die Blume
auf, die Aue und der Wald; und die Farbenkorner der Natur zer-
gingen in eine einzige weite Flut, und iiber der dammernden Flut
stand der Unendliche als Sonne, und in ihr das Menschenherz als
o luriickgespiegelte Sonne. —
Alles ward eins - alle Herzen wurden ein groBtes - ein einziges
Leben schlug - die griinenden Bilder, die wachsenden Bildsaulen,
der Staubklumpe des Erdballs und die unendliche blaue Wolbung
wurden das anblickende Angesicht einer unermeBlichen Seele —
Er mochte immerhin die Augen zuschlieBen : in seiner dunkeln
Brust ruhte noch diese bliihende Unendlichkeit.
Ach wenn er sich in die Wolken hatte hinaufstiirzen konnen,
um auf ihnen durch den wehenden Himmel iiber die uniiberseh-
liche Erde zu ziehen ! - Ach wenn er mit dem Blutendufte hatte
' iiber die Blumen hiniiberrinnen, mit dem Winde iiber die Gipfel,
durch die Walder hatte stromen konnen ! - O jetzt war' er einem
groBen Menschen lieber an das Herz gefallen und trunken und
weinend in seinen Busen versunken, um zu stammeln : »Wie gliick-
lich ist der Mensch!«
Er muBte weinen, ohne zu wissen woriiber - er sang Worte
ohne Sinn, aber ihr Ton ging in sein Herz - er lief, er stand - er
6l8 HESPERUS
tauchte das gliihende Angesicht in die Wolke der Bliitenstauden
und wollte sich verlieren in die sumsende Welt zwischen den
Blattern — er driickte das zerritzte Angesicht ins hohe kuhlende
Gras und hing sich im Taumel an die Brust der unsterblichen
Mutter des Fruhlings.
Wer ihn von weitem sah, hielt ihn fur wahnsinnig; vielleicht
jetzt mancher noch, der es nie selber erfahren hat, daB durch die
ausgehellte selige Brust, wie durch den heitersten Himmel, Sturm-
winde Ziehen konnen, die in beiden in Regen zerflieBen.
In dieser Tagzeit seines Wiedergeburt-Tages gab sein Genius i
seinem Herzen die Feuertaufe einer Liebe, die alle Menschen und
alle Wesen in ihre Flammen fassete. - Es gibt gewisse kostliche
Wonne-Minuten - ach warum nicht Jahre? -, wo eine unaus-
sprechliche Liebe gegen alle menschliche Geschopfe durch dein
ganzes Wesen flieBet und deine Arme sanft fur jeden Bruder auf-
tut. — Das wenigste war, daB Viktor, dessen Herz in der Sonnen-
seite der Liebe war, jedem, der ihm neben einem Berge aufstieB,
gegen die steile Seite auswich — daB er vor keinem, der angelte,
voriiberging, um keinen verscheuchenden Schatten ins Wasser zu
werfen - daB er langsam durch Schafe wanderte und vor dem 2
Kinde, das ihn scheuete, einen Umweg nahm. - Nichts ging uber
die sanfte Stimme, womit er jedem Pilgrim mehr als diesen gliick-
lichen Morgen wiinschte; nichts uber den vorausgeriihrten BHck,
womit er in jedem Dorfe die arme Haut, deren Schwielen und
Narben und Schnittwunden einen Blutschwamm oder schmerzen-
lindernden Tropfen notig hatten, auskundschaften wollte. »Ach
ich weiB es so gut als ein Famulus bei einem Professor der Moral,«
(sagt' er zu sich) »daB es keine Tugend, sondern nur eine Wollust
ist, die Dornenkrone von einer zerritzten Stirne, den Stachel-
giirtel von wunden Nerven wegzunehmen; aber diese unschul- ;
dige Freude wird man mir doch vergonnen, und da auf so vielen
Wegen zersplitterte Menschen liegen, warum streckt auf meinem
keiner seine Hand aus, damit ich etwas hineinlegen konnte fiir
diesen unverdienten Himmel in meiner Brust?«
Er wollte seine Freude einem fremden Herzen zum Kosten ent-
gegentragen, wie die Biene ihren Mund voll Honig in die Lippen
9' HUNDPOSTTAG 619
einer andern iibergibt. Endlich keuchten zwei Kinder daher, da-
von eines als Zugvieh an einem Schiebekarren angestrickt war, und
das andere vornen als schiebender Fuhrmann nachgespannt. Der
Karren war mit sechs Iocherichten Sacken voll Tannenzapfen be-
frachtet, die das arme Gespann zu einem schwindsiichtigen Feuer
zusammenfuhr. Beide vertauschten haufig ihre Amter, um es aus-
zudauern; und der Fuhrmann wollte immerfort sogleich wieder
der Gaul werden. »Ihr guten Kinder! kann denn nicht euer Vater
schieben?« - »Der Baum hat ihm die zwei Beine entzweige-
:o schlagen.« - »So konnte doch euer groBer Bruder in den Wald?«
- »Er muB dort brachen.« - Viktor stand am Brachacker neben
einem Warns mit ebensoviel Farben als Lochern und neben einem
schmutzigen Brotsack, welches beides dem Bruder angehorte, der
in der Feme mit einem halben Postzug magerer Kuhe auf der
Buhne dieses Auftritts ackerte. Eine voile Hand, die sich in
den SchoB des Elends ausleerte, machte Viktors schwere Seele
leichter, wie das voile Auge, das sich jener nachergoB; sein Ge-
wissen, nicht sein Eigennutz war sein Einwender gegen die Grdfie
seiner Gabe - er gab sie doch, aber in kleinen Miinzsorten - die
o Kinder verlieBen ihre Kaufmannsguter, und das eine lief uber das
Feld hiniiber zum Pfluge und das andre ins Dorfchen hinab zur
Mutter. - Der Ackermann zog in der Feme den Hut ab - wollte
Iaut danken, konnte sich aber nur schneuzen - ackerte ohne Hut
heran - aber als er dem Jungling den Dank nachrief, war dieser
schon weit aus dem Gehor-Kreise hinausgefliichtet . . .
- Wiinsche, lieber Leser, nicht diesen oder den kommenden
Zwischenakt des Menschengrams aus den groBen Auftritten der
gliicklichen Natur her'aus, und dein Herz verdiene wie Viktor
durch Geben das Nehmen ! -
a Er kam in seiner gutherzigen Eile bald einem fieberkranken
Schmiedegesellen nach, dessen Reisekoffer oder Mantelsack ein
angefulltes Schnupftuch war; am Stecken trug er noch ein ent-
farbtes elendes Stiefelpaar, das er schonen muBte, weil das andre,
das er an andern Stecken, namlich an den Beinen, schleppte, noch
elender und weniger ohne Farbe als ohne den Boden dazu war.
Als er den Fiebrischen schonend gegriiBet und beschenkt hatte,
620 HESPERUS
so sah er ihm ins bleiche erstorbene Gesicht, und er konnte ihm
einiges Sckmeriengeld nicht versagen . . . Ach das ganze Schmerzen-
geld fur dieses Leben wird erst in einem hoheren ausgezahlt!...
Als er ihn hoflich ausgefragt und sich um seine hungrige Wander-
schaft, um seine Zuchthaus-Kost, um sein Fliichten von Landern
in Lander und um seinen dunnen Zehrpfennig, den ihm die
Meisterin abschlug, wenn der Meister aus war, erkundigt hatte:
so schamte er sich vor dem Allgutigen seines Blumenfeldes von
Entziickungen, welches er nicht mehr verdiene »wie der arme
Teufel da«, und er begabte noch einmal nach - Und als er wieder
ihn erwartete und sein funfzigjahriges Alter ohne Aussicht erfuhr,
und ihn die Beklemmung iiberwaltigte, die ihm allezeit alte, aber
unentwickelte Menschen machten, graue Gesellen, alte Schreiber,
alte Provisores, alte Famuli : so war er etwas entschuldigt, daB er
wieder zuriicklief und dem erstaunten Alten stumm die neuen
Zeichen seiner iiberflieBenden begluckenden Seele gab Und
als er in der neuen Entfernung sein in Liebe zergangnes, gleich-
sam nur um seine Seele schwimmendes Herz immer mehr nach
Wohltun diirsten und einen unbegreif lichen Hang zu neuem
Geben und das Sehnen fuhlte, irgendeinem Menschen heute alles,
alles hinzulegen : so merkt* er erst, daB er jetzt zu weich sei und
zu selig und zu trunken und zu schwach.
Sobald man im Dorfe die gewissen Nachrichten von diesem
Durchgangzoll der Wohltatigkeit in Handen hatte: so legten sich
nachmittags ungefahr 1 5 Kinder in verschiednen Posten an den
Weg, besetzten die engen Passe und stellten Schildwachen und
enfants perdus aus, um Zollverkiirzungen abzukehren . . .
Ein Mensch, der aus drei geraden Stunden sieben krumme kon-
struierte wie Viktor, hat oft Hunger, aber sicher groBern als er; -
er nahm bloB das Leibnizische Monaden-Mahl aus der Tasche, :
Zwieback und Wein, und speisete damit den an den Geist ge-
hangnen ziehenden Magen ab, um die helle, mit Himmelblau und
Himmelrot ausgewolbte See seines Innern durch keine hinein-
geworfne Fleischstiicke dunkel und schmutzig zu machen. Ober-
haupt haBte er Fresser als Menschen von zu grobem Eigennutz,
so wie alle lebendige Speckkammern, wo Fettlagen den Geist,
9. HUNDPOSTTAG 62 1
wie Schneeklumpen eine Hutte, einquetschen. Die Seele, sagt' er,
nimmt von den Inlagen des Korpers, wie der Wein vom Obst,
das neben ihm im Keller ist, den Geruch an, und im mephitischen
Dampfe, in welchem die Seelen der Flachsenfinger iiber den ihre
Kartoffeln und Biere siedenden Braukesseln ihrer Magen zappeln,
miissen wohl die armen Vogelchen besofFen und erstickt in dieses
Tote Meer herunterfallen.
Er brach seinen Zwieback nicht in einem Hause, sondern im
Knochengebaude, d. h. im Sparrwerk eines Hauses, das erst aus
den Handen und Beilen der Zimmerleute vor das Dorf gekommen
war. Indem er durch alle Abteilungen und Unterabteilungen
dieses Baugerippes und auf einmal durch Stube, Ktiche, Stall und
Boden sah: so dachte er: »Wieder ein Schauspielhaus fur eine
arme kleine Menschentruppe, die hier ihre Benefizkomodie, ihre
Gays-Bettleroper abspielet, ohne da6 eine Stimme aus der groBen
Loge schreiet: bis! Ach bis diese Balken der Winterrauch zu
Ebenholz gerauchert hat, wird manche Augenhohle rot gequalet
werden; mancher Nordwestwind des Lebens wird durchs Fenster
an zagende Herzen fahren, und in diese Winkel, die erst dunkel
vermauert werden, wird mancher Riicken mit Quetschwunden
vom Gewehrtragen des biirgerlichen Lebens treten, um den
SchweiB abzutrocknen oder das Blut. - Aber die Freude« (dacht*
er fort und sah an die Stelle des Ofens und des Tisches) »wird
euch Insassen auch ein paar Nelkenbaume vors Fenster setzen
und mit dem Brautwagen der drei heiligen Feste und der Kirmes
und der Kindtaufe vor eurer Haustiire, die erst eingesetzt wird,
vorfahren und abladen. Himmel, wie narrisch, daB ich mir
hier im gegitterten alles das lieber denke, als in den ausgemauerten
Hausern des Dorfes dort sehe/«
Unter dieser Tisch- und Baurede, wobei kein Trinkglas zer-
schlagen wurde, strich die weiBe Brust der Schwalbe tief iiber den
Fuhrweg, und ihr Schnabel lud den geloschten Kalk zu ihrem
Dachstubchen auf. Die Wespe hobelte sich aus dem Sparrwerk
Papierspane zu ihrer Zwiebel-Kugel. Die Spinne hatte ihr Spinn-
haus schon ins groBe hineingekniipft. Alle Wesen zimmerten und
mauerten sich im unendlichen Meere ihre kleinen Inseln; aber der
622 HESPERUS
wiihlende Mensch wendet sich nicht urn und sieht nicht, daB ihm
alles ahnlich ist.
Sebastian verlieB sein holzernes Gasthaus, sein Gerippe von
einem frankfurtischen Roten Hause, trunkner und glucklicher,
als er aus einem ausgemauerten hatte gehen konnen. In gewissen
Menschen breitet sich eine dunkle Wehmut, ein desto groBerer
Seelen-Schatten aus, wenn die Schatten auBer ihnen am kleinsten
sind, ich meine um i Uhr nachmittags im Sommer. Wann nach-
mittags unter der briitenden Sonne Wiesen starker duftend und
mit gesenkten Blattern, Walder sanfter brausend und ruhend da- 10
stehen, und die Vogel darin als stumme Figuranten sitzen: dann
umfaBte im Eden, woniber schwiil das Bliitengewolke auflag,
eine sehnsiichtige Beklommenheit sein Herz - dann wurd' er von
seinen Phantasien unter den ewigblauen Himmel des Morgen-
landes und unter die Weinpalmen Hindostans verweht - dann
ruhte er in jenen stillen Landern aus, wo er ohne stechende Be-
dtirfnisse und ohne sengende Leidenschaften auseinanderfloB in
die traumende Ruhe des Brahminen, und wo die Seele sich in
ihrer Erhebung festhalt und nicht mehr zittert mit der zitternden
Erde, gleich den Fixsternen, deren Schimmer nicht zittert, auf 20
Bergen angeschauet — dann war er zu gliicklich fiir einen deutschen
Kolonisten, zu dichterisch fiir einen Europaer, zu schwelgend fiir
einen Nordpol-Nachbar... An jedem Sommermorgen besorgt'
er, daB er am Sommernachmittagzu weichlichphantasierenwerde.
Das Fasten - der Wein - der Himmel - die Erde hatten heute
seine Herzkammern so freigebig mit dem Schlaftrunk der Wonne
vollgegossen, daB sie, wenn nachgeschiittet wurde, iiberflieBen
muBten durch die Augen. Jene gossen nach; und hinter seinen
verdunkelten Augen, in seinem iiberschatteten, mit dem Griin
der Natur ausgeschlagnen Innern, das gleichsam abendrote Vor- 3°
hange dunkel machten, brach eine Farben-Nacht an, in welcher
alle kleine Gestalten seiner Kindheit neblig aufstiegen - das erste
Spielzeug des Lebens wurde ausgelegt - seine ersten Wonne-
monate spielten wie kleine Engel auf einer Abendwolke, und sie
konnten nicht in ihren Fliigelkleidern um die groBe Wolke flie-
gen, und die Sonne versengte sie nicht. —
9. HUNDPOSTTAG 623
Ach was er langst vergessen, langst verloren - langst geliebt
hatte - Lieder ohne Sinn und Tone ohne Worte - namenlose
Gespielen - beerdigte Warterinnen - verstorbne Bedienten —
diese alle wurden lebendig, aber vor ihnen voraus ging am groBe-
sten sein erster, sein teurester Lehrer Dahore in England tind
sagte zur zerschmolzenen Seele : »Wir waren sonst beisammen.« —
O, dieser ewig geliebte Geist, der schon damals in unserem Viktor
die Flugel sah, die sich nach der andern Welt aufrichten, der schon
damals mehr der Freund als der Lehrmeister seines so weichen, so
1° wogenden, so liebevollen, so ahnungvollen Herzens war, dieser
unvergeBliche Geist wollte nicht weichen, seine Gestalt schlug
den Leichenschleier zuriick, ring an zu glanzen und an zu reden:
»Horion, mem Horion, warst du nicht an meiner Hand, warst du
nicht an meinem Herzen? Aber es ist lange, daB wir uns geliebt
haben, und meine Stimme ist dir nicht mehrkenntlich, kaum noch
mein Angesicht - ach die Zeiten der Liebe rollen nicht zuriick,
sondern ewig weiter hinab.« Er lehnte sich an einen Baum und
trocknete unaufhorlich das Auge, das den Weg nicht mehr fand,
und seine Blicke ruhten fest an den Waldern, die nach St.Liine
'■o gehen, und an den neblichten Bergen, die sich vor Maienthal und
vor seinem zweiten Lehrer stellen . . .
- Kussewitz sprang vor.
Aber zu bald; seine bewegte Seele wollte noch nicht unter
fremde Menschen. Es war ihm lieb, daB er an eine umgestiirzte
Rinne stieB, aus welcher Schafe Salz lecken, und an einen Zaun,
der sie zu nachts behiitet, und an die Hiitte auf zwei Radern, worin
ihr Warter schlaft. Er hatte eine eigne Neugierde und Vorliebe
fur kleine Nachbilder der Hauser; er trat in oder an jede Kohler-
hiitte, in jede Jager- und Vogelhiitte, um sich mit seiner eignen
jo Einschrankung und mit den Parodien unsers kleinen Lebens und
mit dem ErdgeschoB der Armut zu betriiben und zu erfreuen. Er
ging vor nichts Kleinem blind vorbei, woruber der Welt- und
Geschaftmann verschmahend schreitet; so wie er wieder vor
keinem Pomp des biirgerlichen Lebens stehen blieb. Er machte
also ein Tiirchen am Fahr-Bette des Schafers auf: es sah darin so
armselig aus, und das Stroh, das Eiderdunen und Seidensacke er-
624 HESPERUS
setzte, war so niedrig und zerknullt, daB er sich unbeschreiblich
hineinsehnte; er brauchte jetzt eine Taucherglocke, die ihn aus
dem treibenden, driickenden, erhabnen Meere um ihn absonderte.
Ich wollt', man kdnnt' es den europaischen Kabinetten, dem
Reichstag und dem Prinzipalkommissarius verbergen, daB er
sich wirklich hineinlegte. Hier aber ging die Anspannung seiner
Sinne, in welche die Bett-Pforte nur einen kleinen Ausschnitt
vom Himmelblau einlieB, bald in die ErschlafFung des Schlummers
zuriick, und iiber das heiBe Auge sank das Augenlid.
10. HUNDPOSTTAG IC
Zeidler — OszilHeren Zeusels — Ankunft der Prinzessin
Seit einem Posttage schlaft der Held. Die deutschen Reiensoren
sollten mir den Gefallen tun, ihn aufzuschreien.
Aber Schelme sind sie, diese Nachrichter und Maskopeibriider
der Zensoren; sie wecken weder Leser noch Fursten, nur home-
rische Schlafer auf. Die Sonne steht schon tief und guckt gerade
waagrecht in sein Doktor Grahams-Bette^ und er gliiht noch von
ihr...
— Das Schafvieh muBt* es tun durch Bloken und Glocken. Als
in seine aufgehenden Ohren die Turmglocke aus GroBkussewitz, 20
unter Begleitung der Schafglocken, mit einem in Musik gesetzten
Abendgebet eindrang - als in seine aufgehenden Augen der rote
SchattenriB der vergangnen Sonne, die seine heutigen Paradiese
beschienen hatte, und das Abendrot einfiel, dessen Goldblattchen
der Abendwind den Wolken anhauchte - als die wie sein Blumen-
strauB betaute Luft seine Brust erfrischte: so war aer heutige
schwiile Nachmittag um eine ganze Woche zuruckgerollet; Vik-
tor war in eine neue selige Insel herabgefallen; neugeboren und
froh kroch er riickwarts aus seiner fahrenden Habe. »0 ich tolles
Ich !« sagt' er - »ich freue mich aber nicht auBerordentlich dariiber, 30
daB ein halbes Lot Schlafkorner eine ganze gluhende Welt im
Menschen wegbeizen kann, ganz weg - und daB das Umlegen
IO. HUNDPOSTTAG 625
des Korpers der Erdfall seines Paradieses und seiner Holle
wird.«
Auf der LandstraBe sprangen zwei Sanftentrager in kurzem
Galopp zwischen den Tragestangen ihres ledernen Wiirfels dahin.
Er setzte ihnen nach - ihre Last, dacht* er, muB ihnen noch viel
leichter sein als ein ganzes Land und dessen Zepter, die beide
gleichwohl ein Regent, wie ein Gaukler den Degen, tanzend zu
tragen versteht auf der Nase, auf den Zahnen, auf allem. Sie trugen
aber das schwerste Ding in der Welt, worunter oft Stadte und
10 Thronen und Weltteile einbrachen.
»Womit setzt ihr so herum?« fragt* er. - »Mit unserem aller-
gnadigsten Herrn!« — Januar wars — es ist aber den asthetischen
Kunstgriffen, womit ein Autor die Erwartung seiner Leser so
auBerordentlich anspannt, ganz gemaB, daB ichs nicht eher er-
ofFne, was von Jenner in der springenden Sanfte saB, als in dem
folgenden Wort.
Sein Bild wars. Das Bruststiick reisete allemal vor der Braut
voraus, um bei Zeiten in ihrem Schlafzimmer anzukommen und
sich an die Wand an einen Nagel zu begeben. Auf der ganzen
20 empfindsamen Reise hatte der Kubikinhalt der Braut in lauter Zim-
mern geschlafen, an denen der Flackeninhalt des Brautigams wie
eine Kreuzspinne die ganze Nacht herunterhing . . .
Da ich mir durch den Barneren-Traktat, den ich mit dem Vetter
Leser abgeschlossen, das Recht auf keine Weise-abgeschnitten
haben will, auBer den Schalttagen auch noch Extrablatter - Extra-
blattchen - und Pseudo-Extrablatter zu machen, indem ich mirs
vielmehr durch gewisse geheime Separatartikel, die ich bloB im
Kopfe gemacht, wie der Papst gewisse Kardinale, erst erteilt habe :
so will ich das Recht, das mir mein von mir gemachter Neben-
jo RezeB anbeut, auf der Stelle ausiiben.
Extrablattchen tiber obige Bruststiicke
»Ich behaupte,« - sagt* ich auf dem Billard in Scheerau, als ich ge-
rade nicht stieB - »daB Herzoge, Mark- und andre Grafen und
viele vom hohen Adel dumm waren, wenn sie in unsern Tagen -
626 HESPERUS
oder gar in den kunftigen -, wo die Scheitelhaare sich fortmachen,
eh' die Barthaare ankommen - wo manchem Gesicht zur Brille
nichts fehlt als der Sattel dazu - wo besonders der Mann von
Stande froh ist, statt eines Abgusses doch ein Abrifi von einem
Menschen zu sein — nicht weise waren sie,« rekapituliert' ich, »wenn
sie kein besseres Beilager hielten als ein wahres, kein gemaltes
namlich ; wenn ihre Brustbilder auf nichts Besseres - an keine
Brust namlich — gedriickt wiirden als auf zinnerne Deckel von
Bierkriigen, so daB sie auf keine andre Art berauschten als auf die
Ietzte; und wenn sie, da sie iiberall durch Bevollmachtigte han- «
deln, auf Reichbanken,in Sessionsttihlen, in Brautbetten (bei der
Vermahlung durch Gesandte), dachten, es gabe in der Sache einen
treuern und unschuldigern Prinzipalkommissarius als eine Elle
Leinwand, worauf sie selber hingefarbt sind.«. . Da wir gerade in
Menge spielten und ich eben Konig war und im Feuer so fort-
fuhr : »Was Teufel ! wir Konige wissen die in der Tugend und in
der Ehe bildenden Kiinste gescheit genug durch die ^eichnenden zu
ersetzen; und nicht blofi im Billard steht ein Konig ganz muBig da
mit seinem Zepter~Queue!« so sollte und konnte das Feuer wenig
auffallen. 20
Ende des Extrablattchens iiber obige Bruststiicke
Beim Grafen von O - so hieB im Siebenjahrigen Kriege auch ein
beriihmter Offizier und bei Shakespeare die Erde; und das ganze
Gebet einer alten Frau; und nach Bruce liebten die Hebraer diesen
Vokal vorzuglich; das ist aber im Grunde hier unniitze Gelehr-
samkeit - stieg die Prinzessin und der gemalte Eheherr ab. Viktor
wollte sich mit seinem heutigen Anzug und seinem heutigen Her-
zen nicht in den Taumel der Welt mischen - Und ware doch gern
bei allem gewesen.
Aus Kussewitz drangte sich ein rot und weiBes kleines Haus- 3 o
chen hervor, so rot wie ein Eichhornbauer und so frohlich wie
ein Gartenhaus. Er trat hinan und an dessen widerscheinende
Fenster - aber wieder davon zuriick; er wollte ein altes Menschen-
paar, fur das die Glocke die Orgel gewesen, gar hinausbeten
lassen. Als er mit seinem vom Widerschein der heutigen Verr
10. HUNDPOSTTAG 627
klarung erhohten Gesichte hineintrat: wandte ein alter Mann
einen Silberkopf, der wie ein lichter Mond iiber dem Abend seines
Lebens stand, mit lachelnden Runzeln gegen den Gast. Nur ein
Heuchler - der Agioteur der Tugend - ist nach dem Beten nicht
sanfter und gefalliger. Die alte Frau legte zuerst die Miene der
Andacht ab. Viktor begehrte mit seiner siegenden Unbefangenheit
- ein Nachtquartier. Es ihm bewilligen - das konnten nur so zu-
friedne Leute wie diese ; es verlangen — das konnte nur einer, der
so wie er die Wirte floh, weil ihre mit jedem Gast ankommende
3 und abgehende eigensiichtige kalte Teilnahme und Liebe seiner
warmen Seele zu sehr zuwider war. Zweitens zog ihn die Rein-
lichkeit an, die sogar der Schmutzfink mfremden Stuben liebt und
die darin ein Beweis der Zufriedenheit und der - Kinderlosig-
keit ist. Drittens wollt' er im Inkognito und aus dem Gassen-
Gewiihle heute mit seiner von der Natur geweihten Seele
bleiben.
Er wurde bald einheimisch; noch eh* das Essen abgewaschen
und abgeblattet und fertig war, hatt* ers heraus oder vielmehr
hinein, daB der sanfte Greis - Lind mit Namen - ein Zeidler sei.
Letztes glaub* ich; denn sonst war* er nicht so sanft, wie denn in
den meisten Fallen die tierische Gesellschaft weniger verdirbt als
menschliche: daher Plato die Langischen Kolloquia mit den Tie-
ren als das Beste aus Saturns goldner Regierung angibt. Es ist
nicht einerlei, ob man ein Hunde-, ein Lowen- oder ein Bienen-
warter ist; denn unser Tiergarten im Unterleib - nach der plato-
nischen Allegorie - bellt und blokt dem Unisono des auBern nach.
- Als Viktor vollends mit dem Alten um das Haus und um die
Bienenkorbe ging : so kam er wieder ins Tafelzimmer mit dem Ge-
sichte eines Menschen, der in der Kussewitzer Kirche schon einen
Stuhl und im Kirchenbuch eine Blattseite behauptete; wuBt* er
nicht schon, daB der Bienenvater drei Pfarrer undfunf Amtmanner
in Kussewitz zu Grabe begleitet - daB er die erste Hochzeit mit
seiner Mutter (so hieB er die Frau) in dem Alter gemacht, in das
sonst die Silberhochzeit fallt- daB sein Kopf noch das Gedachtnis
und die Haare habe - daB er unter den Sargdeckel schwarze Au-
genbraunen zu bringen gedenke - daB er, Lind, ganz und gar
628 HESPERUS
nicht, wie etwan der alte Gobel und selber der Vogt Sten^ in der
Kirche der Augen wegen die Stellung neben dem Kirchenfenster
zu nehmen brauche, sondern seinen Vers liberal 1 lesen konne, und
da 8 er jahrlich nach Maienthal in die Kirche einmal gehe und ein
Kopfstiickin den kirchlichen Billardsack stoBe, weil der Kirchhof
da alle seine Verwandten von vaterlicher Seite bedecke?
O, diese Zufriedenheit mit den Abendwolken des Lebens er-
quickt den hypochondrischen Zuhorer und Zuschauer, dessen
melancholischer Saitenbezug so leicht in eines alten Menschen
Gegenwart gleich einem Todesanzeiger zu zittern anfangt* und i
ein feuriger Greis scheint uns ein unsterbliches, gegen die Todes-
sense verhartetes Wesen und ein in die zweite Welt wegweisender
Arm! — Viktor besonders sah mit schweren Gedanken in einem
alten Menschen eine organisierte Vergangenheit, gebiickte ver-
korperte Jahre, den Gipsabdruck seiner eignen Mumie vor sich
stehen. Jeder kindische, vergeBIiche, versteinerte Alte erinnerte
ihn an die Eisenhammermeister, die in ihrem Alter wie die Men-
schenseele eine krebsgangige Beforderung erdulden und wegen
ihrer gewohn lichen Erblindung wieder AufgieBer - dann Vor-
schmiede - dann Huttenjungen werden. Der gute Newton, Linne, 2
Swift wurden wieder Huttenjungen der Gelehrsamkeit. Aber so
sonderbar furchtsam ist der Mensch, daB er, der die Seele bei der
groBten vorteilhaften Abhangigkeit von den Organen doch noch
fur einen Selbstlauter ansieht - und mit Recht — , gleichwohl bei
einer nachteiligen besorgt, sie sei bloB der Mitlauter des Korpers -
und mit Unrecht
Da ein Spaziergang um einen fremden Ort einem Reisenden
die beste Naturalisationakte gibt - und da Viktor nirgends fahig
war, ein Fremder zu sein ; so ging er — ein wenig hinaus. In man-
chen Nachten wird es nicht Nacht. Er sah drauBen - nicht weit 3
von den Gartenstaketen des Seniors, nicht des adeligen, sondern
des geistlichen - ein sehr schones Madchen sitzen, in ein latei-
nisches Pfingstprogramm vertieft und daraus mit gefalteten Han-
den betend. Einer vereinigten Schon- und Tollheit widerstand er
nie; er gruBte sie und wollte sie ihr lateinisches Gebetbuch nicht
aufrollen und einstecken lassen. Die gute Seele hatte, da sie ihr
10. HUNDPOSTTAG 629
Gebetbuch und Paternoster verloren, aus dem Pfingstprogramm
„de Chalifis literarum studiosis"ihre AndachtmitLeichtigkeitver-
richtet, da sie weder Lateinisch noch Lesen konnte und das Hande-
falten fur die Maurerische Fingersprache ansah, die man hohern
Orts schon verstehen wurde. Sie wickelte einen sechsten abge-
schnittenen Finger aus einem Papier heraus und sagte, den hatte
das Marienkloster zu Flachsenfingen, an dessen Mutter Gottes ihr
Vater ihn zur Dankbarkeit habe henken wollen, nicht angenom-
men, weil er nicht von Silber sei. - Da Buffon den Fingern des
10 Menschen die Deutlichkeit seiner Begriffe zuschreibt - so daB
sich die Gedanken zugleich mit der Hand zergliedern -: so muB
einer, der eine Sexte von Finger hat, um V* oder Vn deutlicher
denken; und bloB so einer konnte mit einem solchen Supranume-
rar-Schreibfinger mehr in den Wissenschaften tun als wir mit der
ganzen Hand. -
Sie erzahlte, daB ihr Vater sie erst in zwei Jahren heiraten werde,
und daB sein Sohn ihre Schwester bekommen konnte, wenn diese
nicht erst sechs Jahre alt ware - und daB sie beide wie an Kindes
Statt beim Sechsfinger angenommen worden - und daB er seine
20 Bijouteriebude, womit er aus einem graf lichen Schlosse ins andre
wanderte, gerade in dem des Grafen von O habe, nebst Tisch und
Wohnung - und daB er ein Italiener sei, mit Namen — Tostato*
Himmel ! den kannte ja Viktor so gut. Ohne weitere Frage - denn
er ging ohnehin gern mit jedem Madchen und mit jedem Spitz -
hunde ein paar Sabbaterwege und sagte, zwischen einem neuen
und einem schonen Gesichte wiird* er gar keineri Unterschied
machen, wenn er auch muBte - marschierte er mit ihr gerade hin
zum Vater beim Grafen. Er enthulsete immer mehr an seiner klei-
nen Gesellschaftdame : sie war nicht nur auBerordentlich schon,
30 sondern auch ebenso - dymm.
Jetzt aber entlief sie ihm; der flachsenfingische Hofstaat kam
gefahren, und sie muBte das Aussteigen der Damen sehen. Er
hielt sich nahe an den Schwanz des ganzen Corps, der noch auf
der StraBe aufstreifte, indes der halbe Rumpf schon im Schlosse
steckte. Der nachfahrende Schwanz war etwas kurz und diinn,
der Hofapotheker Zeusel y der aus Eitelkeit mit seinen 54 Jahren
63O HESPERUS
und Jugendkleidern und mit seiner stoBenden Kutsche bei der
Sache war. Das kleinste Mannchen von der Welt war im groBten
Wagen von der Weltso wenigfiireinenszunehmen,daBichseinen
Wagen fiir einen leeren Zeremonienwagen anrechne, in welchem
ihn derKutscherwie einendiirrenKernineinerWalnuBschuttelte.
Ich wills weitlauftig beschreiben, wie ihn der Kutscher worfelte
und siebte, und mich dafur in unwichtigern Dingen kurzer fassen.
Wenn ichs freilich dem Kutscher zuschreibe und sage, daB er
dem Kutschkasten durch Steine und Schnelle jenen harten Puls-
schlag zu geben wuBte, daB Zeusel mehr auf der Luft aufsaB als 10
auf dem Kutschkissen : so wird Kastner in Gottingen gegen mich
schreiben und dartun, daB der Apotheker selber durch die Gegen-
wirkung, die er dem Kissen durch seinen Hintern tat, an dem Ab-
stoBen des gleichnamigen Poles schuld war; allein hier ist uns
hoffentlich weniger um die Wahrheit als um den Apotheker zu
tun. Viktor als Hofdoktor nahm von weitem Anteil am Hofapo-
theker und Iachte ihn aus; ja er hatte ihn gern gebeten, sich selber
einsetzen zu dtirfen, damit ers deutlicher sehen konnte, wie der
gewandte Vetturin den Zeuselschen Ball geschickt in die Liifte
schlug. Aber den weichen Nerven Viktors wurden komische *<>
Szenen durch das physische Leiden, das sie in der Wirklichkeit
bei sich fuhren, zu hart und grell - und er begniigte sich damit,
daB er dem springenden Kasten hinten nachging und sich es bloB
dachte, wie drinnen das Ding stieg gleich einem Barometer, um
das heitere Wetter des betrunknen Kutschers anzudeuten - er
make sichs bloB aus (daher ichs nicht brauche), wie das gute Hof-
mannchen bei einem Klimax, wozu es der Kerl trieb, der jede Er-
hebung mit einer groBern endigte, die linke Hand, statt in die
Westentasche, bloB in den Kutschriemen stecken, und in der
rechten eine Prise Schnupftabak seit einer Stunde warmen und 30
drucken muB und sie aus Mangel an Ruh* und Rast nicht eher in
die ode Nase heben kann, als bis der Spitzbube von Kutscher
schreiet: brrrr!
»Fort!« sagte die Dumme zu Viktor und zog ihn zum Vater.
Der Italiener machte seine Windmiihlen-Gestus und Iegte sich an
Viktors Ohr an und sagte Ieise hinein: »dio vi salvi«; und dieser
IO. HUNDPOSTTAG 63 1
dankte ihm noch leiser ins italienische : »gran rnerce«. Darauf tat
Tostato drei oder vier ungemein leise Fliiche in Viktors Gehor.
Er hatte nicht den Verstand verloren, sondern nur die Stimme,
und durch nichts als einen Schnupfen. Er fluchte und kondolierte
daruber, daB er gerade morgen so stockflsch-stumm sein musse,
wo so viel zu schneiden ware. Viktor gratulierte ihm aufrichtig
dazu und bat ihn, er mochte ihn bis auf morgen nicht nur zum
Doktor annehmen, sondern auch zum Associe und Sprecher; er
wolle morgen in der Bude fur ihn reden, um besser und inkognito
10 allem zuzusehen; »wenn Ihr mir heute«, versetzte Tostato, »noch
eine lustige Historie erzahlt.« Da er nun die von Zeusel vorbrachte
mit einer italienischen Systole und Diastole der Hande; und da
Tostato daruber narrisch wurde vor SpaB - der Italiener und
Franzose lachen mit dem ganzen Korper, der Brite nur im Ge-
hirne — : so wars kein Wunder, daB er mit ihm in Handels-Kom-
pagnie trat. Das Doktorat fing er damit an, daB er dem Patienten
den Strumpf auszog und damit den verstimmten Hals umringelte,
weil ein warmer Strumpf mit gleichem medizinischen Vorteil am
FuB und am Halse getragen wird; - mit einem Strumpf band war*
20 es anders.
Jetzo kam ihm die Schonheit und Dummheit der Programmen-
Beterin noch groBer vor; er hatte sie gern gekuBt; es war aber
nicht zu machen : der Bijoutier setzte uberall seinen witzigen Aus-
leerungen nach und hielt die beiden Ohren unter.
Er hatte bei dieser Gelegenheit, als er an die deutsche Kalte
gegen Witz und schone Kiinste dachte, den grundfalschen Satz :
der Brite, der Gallier und der Italiener sind Menschen - die Deut-
schen sind Burger - diese verdienen das Leben - jene geniefien es;
und die Hollander sind eine wohlfeilere Ausgabe der Deutschen
30 auf bio Bern Druckpapier ohne Kupfer.
Er wollte wieder zum Zeidler Lind zuruck: als so spat in der
Nacht - so, daB der Hoffurier die Erscheinung dieses Haarkometen
um eine ganze Stunde zu bald in seinen astronomischen Tabellen
angesetzt hatte - die Pnnzessin samt ihrem Begleit-Dunstkreis
anfuhr. Da er so lange von ihr gesprochen hatte: so brauchte er,
um sie zu lieben, nichts als noch das Rollen ihres Wagens und das
632 HESPERUS
Seidengerausch ihres Ganges zu horen. »Eine furstliche Braut« -
sagt' er — »ist viel eher auszustehen als eine andre; man zeige mir
zwischen einer Kron-Prinzessin, einer Kron-Braut und einer Kron-
Ehefrau einen andern Unterschied, als der Staatskalender angibt.«
Wer noch bedenkt, daB er ihre personliche Abneigung gegen den
Fiirsten kannte, der bei der ersten Vermahlung sie ihrer Schwester
■nachgesetzt hatte — und wer jetzo lieset, daB ihm Tostato sagte,
mit einem Schnupftuch in der Hand sei sie ausgestiegen : der ist
schon so gescheit, daB er sich iiber seine Rede nicht erzurnt: »lch
wollte, diese Krontiere, die einem so schonen Kinde so schone 10
weiche Hande wegschnappen diirfen, wieSchweine den Kindern
die zarten abfressen — ich wollte . . . Aber meine Waren sind doch
morgen nahe genug an^ihr, daB das Schnupftuch zu sehen ist,
Herr Associe?«
Beim Bienenvater, zu dem er heimkehrte, war eine ruhigere
Welt) und sein Haus stand im Griinen, stumm wie ein Kloster des
Schlafes und eine heilige Statte der Traume. Viktor schob auf dem
Dachboden sein Bettchen vor eine Miindung des einstromenden
Mondes, und so uberbauet mit verstummten Schwalben- und
Wespennestern, sah er die Ruhe in Lunens Gestalt auf sein eignes 20
Nestchen niederschweben - aber sie lachelte ihn so machtig an,
bis er sich in unschuldige Traume auflosete. Guter Mensch! du
verdienst die Freuden-B lumens tucke der Traume, und einen
frischen Kopf- und BruststrauB im Wachen - du hast noch keinen
Menschen gequalt, noch keinen gestiirzt, keine weibliche Ehre
bekriegt, deine eigne nie verkauft; und bist bloB ein wenig zu
leichtsinnig, zu weich, zu lustig, zu menschlich!
II. HUNDPOSTTAG
Ubergabe der Prinzessin - KuB-Kaperei - montre a regulateur - Sammliebe
Voltaire, der kein gutes Lustspiel schreiben konnte, ware nicht 30
imstande, den eilften Hundposttag zu machen. —
Bei dem eilften Hundtag bemerk* ich freilich, daB die Natur
1 1 . HUNDPOSTTAG 63 3
Gewachse mit alien Anzahlen von Staubfaden geschaffen, nur
keine mit eilf; und auch Menschen mit eilf Fingern selten.
Inzwischen ist das Leben, gleich den Krebsen, am schmack-
haftesten in den Monaten ohne R.
Darwider sagen einige, die Feder eines Autors gehe wie eine
Uhr desto schneller, je langer sie geht; ich aber wend' es um und
sage, aus Vielschreibern werden vielmehr Schnellschreiber.
Und doch will man Menschen, die das funfte Rad am Wagen
sind, nicht leiden; aber jedem Rustwagen ist ein fiinftes hinten
10 aufgeschnallet, und im Unglikk ist es ein wahres Glikkrad. Rein-
hold las Kants Kritik funfmal durch, eh' er ihn verstand - ich er-
biete mich, ihm verstandlicher zu sein, und verlange nur halb so
oft gelesen zu werden.
Frei heraus zu reden, so heg' ich einige Verachtung gegen einen
Kopf voll Spring- 1 deen y die mit ihren SpringfuBen von einer Ge-
hirnkammer in die andre setzen; denn ich finde keinen Unterschied
zwischen ihnen und den Springwurmern im Gedarm, welche Goeze
vor einem Licht drei Zolle hoch springen sah.
Allerdings hangt der folgende Gedanke nicht recht mit der
20 vorigen SchluB- und Blumenkette zusammen : daB ich besorge,
Nachahmer zu finden, um so mehr, da ich hier selber einer von
gewissen witzigen Autoren bin. In Deutschland kann kein groBer
Autor eine neueFackel anbrennen und sie solangeindie Welthin-
aushalten, bis er miide ist und das Stumpchen wegwirft, ohne daB
die kleinen daruber herfallen und mit dem Endchen Licht noch
halbe Jahre herumlaufen und herumleuchten. So liefen mir (und
andern) in Regensburg tausendmal die Buben nach und hatten
Uberbleibsel von Wachsfackeln, die das Ge$andten-V ersonzle
weggeworfen hatte, in Handen und wollten mich bis zu meinem
30 Hauswirt leuchten fur wenige Kreuzer Stultis sat!
- Viktor eilte am Morgen ins SchloB. Er bekam einen kauf-
mannischen Anzug und die Bude. Um zehn Uhr fiel die »t)ber~
gabe{{ der Prinzessin vor. Die drei Zimmer, worin sie vorgehen
sollte, lagen mit ihren Fliigelturen seinem Kaufladen entgegen.
Er hatte die Prinzessin noch nie gesehen - auBer die ganze Nacht
in jedem Traum - und konnte alles kaum erwarten . . .
634 HESPERUS
Und der Leser auch : schneuzt er nicht jetzt Licht und Nase -
fullt Pfeife und Glas - andert die Stellung, wenn er auf einern so-
genannten Lese-Esel reitet - driickt das Buch glatt auseinander
und sagt mit ungemeinem Vergnugen : »Auf die Beschreibung
spitz' ich mich gewissermaBen«? - Ich wahrlich nicht; mir ist, als
sollt' ich arkebusiert werden. Wahrhaftig ! ein Infanterist, der mit-
ten im Winter Sturm lauft gegen eine feindliche Mauer vom dick-
sten Papier in einer Oper, hat seinen Himmel auf der Erde, mit
einem Berghauptmann meines Gelichters verglichen.
Denn einer, der Kaffee trinkt und eine Beschreibung von irgend- ic
einem Schulaktus des Hofs machen will - z. B. von einem Cour-
tag - von einer Vermahlung (im Grunde von den Vorerinnerun-
gen dazu) - von einer Obergabe -, ein solcher Trinker macht sich
anheischig, Auftritte, deren.Wurde so auBerst fein und fliichtig
ist, daB der geringste falsche Nebenzug und Halbschatten sie
vollig lacherlich macht - daher auch Zuschauer wegen solcher
dazugedachter Nebenstriche iiber sie in natura lachen — er macht
sich anheischig,. sag' ich, solche ans Komische grenzende Aufzuge
so wiederzugeben, daB der Leser die Wurde merkt und so wenig
dabei lachen kann, als spielte er selber mit. Es ist wahr, ich darf 20
ein wenig auf mich bauen, oder vielmehr darauf bauen, daB ich
selber an Hofen gewesen und den angeblichen Klaviermeister ge-
macht (ob dieser eine Maske hoherer Wtirden war oder nicht,
lass' ich hier unentschieden); man sollte also von einem Vorzug,
der mir fast vor der ganzen schreibenden Hanse zuteil geworden,
und dem ich wirklich mein (von einigen) in der Hof-Scientia me-
dia entdecktes Ubergewicht iiber die schriftstellerische so niedrige
SchifFmannschaft gern verdanke, davon sollte man sich fast auBer-
ordentliche Dinge versprechen. - Man wird aber schlimm ab-
fahren; denn ich war nicht einmal imstande, meinem Zogling 30
Gustav den Kron-ProzeB in Frankfurt so ernsthaft vorzutragen,
daB dieser aufhorte zu - lachen. So wuBte auch Yorick niemals so
zu schelten, daB seine Leute davonliefen, sondern sie muBten es
fur SpaB halten.
Mein Ungliick war's gewesen, wenn ich die Obergabe der Prin-
ze ssin — anfangs dacht* ich freilich, es ware dann mehr Wiirde
1 1 . HUNDPOSTTAG 63 5
darin - unter dem Bilde einer mit einem Tiirspan besiegelten
Haus-Obergabe an Glaubiger abgeschildert hatte, oder wie eine
Obergabe dries Feudums durch investitura per ionam - oder per
annulum - oder per baculum secularem 1 . Ich bin aber zum
Gliick darauf gekommen, die Obergabe unter der poetischen Ein-
kleidung einer historischen BenefizkomodiemitderjenigenWurde
abzumalen, die Theater geben. Ich habe dazu soviel und mehr
Einheit des Orts - (drei Zimmer) — , der Zeit - (den Vormittag) -
und des Interesse - (den ganzen SpaB) - in Handen, als ich
10 brauche. Und wenn ein Autor noch dazu - das tu' ich - vorher
die betrubtesten ernsten Werke durchlieset, Youngs Nachtge-
danken - die akatholischen gravamina der Lutheraner - den dritten
Band von Siegwart - seine eignen Liebebriefe; ferner wenn er
sichs noch immer nicht getrauet, sondern gar vorher Homes und
Beatties treffliche Beobachtungen uber die Quellen des Komischen
vor sich legt und durch geht, um sogleich zu wissen, welchen ko-
mischen Quellen er auszuweichen habe : so kann ein solcher Autor
schon ohne Besorgnis der. Prahlerei seinen Lesern die HorTnung
machen und erfullen, da 6 er, des Komischen sich so komisch er-
*o wehrend, vielleicht nicht ohne alle Zuge des Erhabnen Iiefern und
malen werde folgende
historische Benefizkomodie von der Obergabe der
Prinzessin, in funf Akten
(Das halbe Wort Benefiz bedeutet bloB den Nutzen, den ich selber
davon habe.)
Erster Akt. Unter drei Zimmern ist das mittlere der Schauplatz,
wo man spielt, der Handelsplatz, wo man auslegt, der Korre-
lationsaal (regensburgisch zu reden), wo alles Wichtige zeitigt
und reift - hingegen in dem ersten Nachbar- Zimmer steckt der
30 italienische, im zweiten der flachsenfingische Hofstaat, und jeder
1 Ein Konig von Frankreich schickte einmal einem Vasallen ilium bacu-
lum, quo se sustentabat, in symbolum traditionis zu. Du Fresne Gloss. Aus
du Fresne* Glossario ist meines Wissens noch kein guter und brauchbarer
Auszug fur Frauenzimmer gemacht worden.
6$6 HESPERUS
erwartet ruhig den Anfang einer Rolle, fiir die ihn die Natur ge-
schaffen. Diese zwei Zimmer halt* ich nur fiir die Sakristeien des
groBten.
Das Mittelzimmer, d.h. sein Vorhang, der aus zwei Fliigel-
tiiren gemacht ist, geht endlich auf und zeigt dem Associe Seba-
stian, der aus seinem Laden neben der katarrhalischen Firma
hereinguckt, viel. Es tritt auf an der Tiire der Kulisse No. i ein
rotsamtner Stuhl; an der Tiire der Kulisse No. 2 wieder einer, ein
Bruder und Anverwandter von jenem; es sind diese Duplikate die
Sessel, worin sich die Prinzessin setzt im Verfolge der Handlung, 10
nicht weil die Miidigkeit, sondern weil ihr Stand es ausdrucklich
begehrt. Mitten im Handeln ist schon ein langer befranster Tisch
begriffen, der das Mittelzimmer, das selber ein Abteilzeichen der
zwei Kulissen ist, abteilt in zwei Halften. Man sollte nicht erwarten,
daB dieser Sektiontisch sich seines Orts wieder von etwas werde
halbieren lassen, was ein Dummer kaum sieht. Aber ein Mensch
trete in Viktors Laden : so wird er einer Seidenschnur ansichtig,
die, unter dem Spiegeltisch anfangend, iiber den Achatboden und
unter dem Partage-Tisch wegstreichend, aufhort vorn an der
Turschwelle; und so teilt ein bloBer Seidenstrang leicht den 20
Abteiltisch und dadurch das Abteilzimmer und am Ende die
Abteilschauspielergesellschaft in zwei der gleichsten Halften -
lasset uns daraus lernen, daB am Hofe alles tranchiert wird, und
selber der Prosektor wird zu seiner Zeit hingestreckt auf den
Zergliedertisch. Von dieser seidenen Schnur, womit der GroB-
herr seine Giinstlinge von oben dividiert, aber in Bruche, kann
und soil im ersten Akt nicht mehr die Rede sein, weil er - aus
ist ...
Es wurde mir ungemein leicht, diesen Auftritt ernsthaft abzu-
fassen; denn da nach Plainer das Lacherliche nur am Menschen 30
haftet, so war das Erhabene, das in meinem Aufzuge die Stelle des
Komischen einnimmt, in einem Akte leicht zu haben, wo gar
nichts Lebendiges spielte, nicht einmal Vieh.
Zweiter Akt. Das Theater wird jetzo Iebendiger, und auf das-
selbe hinaus tritt nun die Prinzessin an der Hand des italienischen
Ministers aus der Kulisse No. 1 ; beide wirken anfangs, gleich der
1 1 . HUNDPOSTTAG 637
Natur, still auf diesem Paradeplatz, der schon auf dem Papier
zwei Seiten lang ist...
Nur einen Blick vom Theater in die Hauptloge ! Viktor spielt
fiir sich, indem er unter den Lorgnetten, die er zu verkaufen hat,
sich die hohleste ausklaubt und damit die Heldin meiner histo-
rischen Benefizkomodie ergreift . . . Er sah den Beicht- und Bet-
schemelj auf dem sie heute schon gekniet hatte; »Ich wolIt',« (sagt'
er zu Tostato) »ich ware heute der Pater gewesen, ich hatt* ihr ihre
Sunden vergeben, aber nicht ihre Tugenden.« Sie hatte zwar jenes
d regelmafiige Stamen- und Madonnengesicht, das ebensooft hohle*
als voile Weiberkopfe zudeckt; ihre Hofdebiit-Rolle verbarg
zwar jede Welle und jeden Schimmer des Geistes und Gesichts
unter der Eiskruste des Anstandes* aber ein sanftes Kindesauge,
das uns auf ihre Stimme begierig macht, eine Geduld, die sich
lieber ihres Geschlechtes als ihres Standes erinnert, eine mude
Seele, die sich nach doppelter Ruhe, vielleicht nach den miitter-
lichen Gefilden sehnte, sogar ein unmerklicher Rand um die
Augen, der von Augenschmerzen oder vielleicht von noch tiefern
gezeichnet war, alle diese Reize, die zu Funken wurden, welche in
o den getrockneten Zunder des Associe hinter der Brille geschlagen
wurden, machten diesen in seiner Loge ordentlich - halbtoll iiber
das Schicksal solcher Reize. Und warum sollt' es auch einem den
Kopf nicht warm machen — zumal wenn schon das Herz warm ist -,
daB diese unschuldigen Opfer gleich den Herrnhuterinnen zwi-
schen ihrer Wiege und ihrem Brautbette Alpen und Meere ge-
stellet sehen, und daB die Kabinette sie wie Seidenwurmsamen in
Depeschen-Duten versenden? Wir kehren wieder zu unserem
zweiten Akte, in dem man noch weiter nichts vornimmt, als daB
man - ankommt.
,0 Die Kulissen No. i und 2 stecken noch voll Akteurs und Ak-
tricen,'die nun herausmussen. An diesem Tage ist es, wo zwei
Hofe wie zwei Heere einander in zwei Stuben gegeniiber halten
und sich gelassen auf die Minute riisten, wo sie ausrucken und
einander im Gesichte stehen, bis es endlich wirklich zu dem
kommt, wozu es nach solchen Zuriistungen und in solcher Nahe
ganz naturlich kommen muB, zum - Fortgehen. Der Kubikinhalt
638 HESPERUS
von No. 1 quillet der Fiirstin nach, er besteht aus Italienern — in
der namlichen Minute richtet auch der Hofstaat aus der Kulisse
No. 2 seine Marschroute ins Hauptquartier herein, er besteht aus
Flachsenfingern. Jetzo stehen zwei Lander — eigentlich nur der
aus ihnen abgezogene und abgedampfte Geist - sich einander
ganz nahe, und es kommt jetzt alles darauf an, daB der Seiden-
strang, den ich im ersten Akt iiber die Stube gespannt, anfange zu
wirken; denn die Grenzverriickung und Volkermischung zweier
so naher Lander, Deutschlands und Welschlands, ware in einem
Zimmer fast so unvermeidlich wie in einer pdpstlichen Gehirn- n
kammer^ hatten wir den Strang nicht - aber den haben wir, und
dieser halt zwei zusammengerinnende Volkerschaften so gut aus-
einancfer, daB es nur Jammer und Schade ist - die Ehrlichkeit hat
den groBten — , daB die deutschen Kabinette keinen solchen Sperr-
strick zwischen sich und die italienischen hingezogen haben; und
kams denn nicht auf sie an, wo sie den Strick anlegen wollten, am
FuBboden, oder an welschen Handen, oder an welschen Halsen? -
Wenn die englische allgemeine Weltgeschichte und ihr deutscher
Auszug einmal die Zeit so nahe eingeholet haben, daB sie das Jahr
dieser Ubergabe vornehmen und erzahlen und unter andern das z<
bemerken konnen, daB die Prinzessin nach dem Eintritt sich setzte
in den Samtsessel: so sollte die Weltgeschichte den Autor,an-
fiihren, aus dem sie schopft - mich.... Das war der zweke Akt,
und er war sehr gut und nicht sowohl komisch als erhaben.
Dritter Akt. Darin wird bloB gesprochen. Ein Hof ist das Par-
loir oder Sprachzimmer des Landes, die Minister und Gesandten
sind Horbriider 1 . Der flachsenfingische Sekretar las entfernt ein
Instrument oder den Kaufbrief ihrer Vermahlung vor. Darauf
wurden Reden gelispelt - vom italienischen Minister zwei - vom
flachsenfingischen (Schkunes) auch zwei - von der Braut keine, 3c
welches eine kurzere Art, nichts zu sagen, war als der Minister
ihre.
Da wahrlich jetzt dieser erhabne Akt aus ware, wenn ich nichts
sagte: so wird mir doch nach vielen Wochen einmal erlaubt sein,
1 So wie es Horschwestern (les Tourieres oder Soeurs £coutes) gibt, die mit
den Nonnen ins Sprachzimmer gehen, urn auf ihr Reden achtzugebeh.
II. HUNDPOSTTAG 639
ein Extra- Bldttcken zu erbetteln und anzuhenken und darin etwas
zu sagen.
Erbetteltes Extrablattchen uber die groBere Freiheit
in Despotien
Nicht nur in Gymnasien und Republiken, sondern auch (wie man
auf der vorigen Seite sieht) in Monarchien werden Reden genug
gehalten - ans Volk nicht, aber doch an dessen curatores absentis.
Ebenso ist in Monarchien Freiheit genug, obgleich in Despotien
deren noch mehr sein mag als in jenen und in Republiken. Ein
10 wahrer despotischer Staat hat, wie ein erfrornes FaB Wein, nicht
seinen (Freiheit-) 6Wj* verloren, sondern ihn nur aus dem wasse-
rigen Umkreis in einen Feuerpunkt gedrangt; in einem solchen
gliicklichen Staate ist die Freiheit bloB unter die wenigen, die
dazu reifsind, unter den Sultan und seine Bassen, verteilt, und
diese Gottin (die noch ofter als der Vogel Phonix abgebildet wird)
halt sich fiir die Menge der Anbeter desto besser durch den Wert
und Eifer derselben schadlos, da ihre wenigen Epbpten oder Ein-
geweihten - die Bassen - ihren EinfluB in einem MaB genieBen,
dessen ein ganzes Volk nie habhaft wird. Die Freiheit wird gleich
10 den Erbschaftmassen durch die Menge der Erbnehmer kleiner;
und ich bin iiberzeugt, der ware am meisten frei, der allein frei
ware. Eine Demokratie und ein Olgemalde sind nur auf eine Lein-
wand ohne Knoten (Ungleichheiten) aufzutragen, aber eine Des-
potic ist eine erkobene Arbeit - oder noch sonderbarer: die despo-
tische Freiheit wohnt wie Kanarienvogel nur in hohen Vogel-
bauern, die republikanische wie Emmerlinge nur in langen. -
Ein Despot ist die praktische Vernunft eines ganzen Landes;
die Untertanen sind ebenso viele dagegen kampfende Triebe, die
iiberwunden werden miissen. Ihm gehort daher die gesetzgebende
jo Gewalt allein (die ausxibende seinen GiinstHngen); - schon bio Be
gescheite Manner (wie Solon, Lykurg) hatten die gesetzgebende
Gewalt allein und waren die Magnetnadel, die das StaatschifF
fiihrte; ein Despot besteht, als Thronfolger von jenen, fast aus
lauter Gesetzen, aus fremden und eignen zugleich, und ist der
64O HESPERUS
Magnetberg, der das Staatschiff zu sich bewegt. - »Sein eigner
Sklave sein, ist die harteste Sklaverek, sagt ein Alter, wenigstens
ein Lateiner; der Despot fodert aber von andern nur die leichtere
und nimmt auf sich die schwerere. - Ein anderer sagt: parere
scire par imperio gloria est; Ruhm und Ehre erbeutet also ein
Negersklave so viel wie ein Negerkonig. - Servi pro nullis haben-
tur; daher fuhlen auch politische Nullitaten den Druck der Hof-
luft so wenig wie wir den der andern Luft; despotische Realitaten
aber verdienen schon darum ihre Freiheit, weil sie den Wert der-
selben so sehr zu fuhlen und zu schatzen wissen. - Ein Republi- 1
kaner im edlern Sinn, z.B. der Kaiser in Persien, dessen Freiheit-
mutze ein Turban und dessen Freiheitbaum ein Thron ist, ficht
hinter seiner militarischen Propaganda und hinter seinen Ohne-
hosen mit einer Warme fur die Freiheit, wie sie die alten Auto res
in den Gymnasien fodern und schildern. Ja wir sind nie berechtigt,
solchen Thron-Republikanern Brutus-Seelengrofie friiher abzu-
sprechenj als man sie auf die Probe gesetzt; und wenn in der Ge-
schichte das Gute mehr aufgezeichnet wiirde als das Schlimme,
so muBte man schon jetzt unter so vielen Schachs, Khans, Rajahs,
Kalifen manchenHarmodion, Aristogiton, Brutus etc. aufzuweisen 2
haben, der imstande war, seine Freiheit (Sklaven kampfen fiir
eine fremde) sogar mit dem Tode sonst guter Menschen und
Freunde zu bezahlen. -
Ende des erbettelten Extrablattchens uber die grofiere Freiheit
in Despotien
Das Extrablattchen und der dritte Akt sind aus, aber dieser war
ernsthafter und kurzer als jenes.
Vierter Akt. Indem ich den Vorhang herab und wieder hinauf
warf : setzte ich die Welt aus dem kiirzesten Akt in den langsten.
Zur Prinzessin — die jetzt, wie die deutsche Reichsgeschichte mel- 3
det, sitzt - trat ihre Lands mannschaft 1 , die weder sehr ehrlich,
noch sehrdumm aussah, die Oberhofmeisterin, der Hof-Beicht-
vater, der Hof-Askulap, Damen und Bedienten und alles. Dieser
1 Der flachsenfingische Hofstaat kiifite zwar die Hand eher; aber man wird
schon sehen, warum ichs umkehre.
1 1 . HUNDPOSTTAG 64 1
Hofstaat nimmt nicht Abschied - der 1st schon ingeheim genom-
men — , sondern rekapituliert ihn bloB durch eine stille Verbeu-
gung. Der nachste Schritt aller Welschen war aus dem Mittel-
zimmer nach - Italien.
Die Italiener gingen vor Sebastians Warenlager vorbei und
wischten aus ihrem Gesicht, dessen feste Telle en haut-relief
waren — die deutschen waren en bas-relief—, einen edlern Schim-
mer weg, als jener ist, den Hofe geben; - Viktor sah unter so
vielen akzentuierten Augenknochen die Zeichen seiner eignen
o Wehmut vervielfaltigt, die ihn fur das willige fremde Herz be-
klemmte, das allein zuriickblieb unter dem frostigen Thron- und
Wolkenhimmel der Deutschen, von alien geliebten Sitten und
Szenen weggerissen, mikroskopischen Augen vorgefuhrt, deren
Brennpunkt in weiche Gefiihle sengt, und an eine Brust von Eis
gebunden —
Als er alles dieses dachte und die Landsleute sah, wie sie ein-
packten, weil sie kein Wort mehr mit der Fursiin sprechen durf-
ten - und als er die stumme gelenkte Gestalt drinnen ansah, die
keine andere Perlen zeigen durfte als orientalische (obgleich der
o Traum und der Besitz der letztern abendlandische bedeutet:
Tranen mein* ich), so wiinscht' er: »Ach du Gute, konnt* ich nur
einen dreifachen Schleier so lange tiber dein Auge ziehen, bis es
eine Trane vergossen hatte! — Diirft* ich dir nur die versteigerte
Hand kiissen, wie deine Hofdamen jetzt tun, um mit meinen
Tranen die Nahe eines geruhrten Herzens auf die verkaufte Hand
zu schreiben . . .«
Seid weich und erweitert nicht FiirstenhaC zu Fiirstinnen-HaB !
Soil uns ein gebeugtes weibliches Haupt nicht ruhren, weil es sich
auf einen Tisch von Mahagoni stiitzt, und groBe Tranen nicht,
o weil sie in Seide fallen? »Es ist zu hart,« - sagte Viktor im Hanno-
verschen - »daB Dichter und magistri legentes, wenn sie neben
einem LustschloB vorbeigehen, mit einer neidischen Schaden-
freude die Bemerkung machen, darin werde vielleicht ebensoviel
Tranenbrot gebacken wie in Fischerhiitten. O wohl groBeres und
harteres ! Aber ist das Auge, aus dem im Dachsbau eines Schotten
nichts Tranen presset als der Stubenrauch, eines groBern Mit-
642 HESPERUS
leids wert als jenes zarte, das gleich dem eines Albinos schon von
Freudenstrahlen schmerzt und das der gequalte Geist mit geistigen
Zahren erfullt? Ach unten in den Talern wird nur die Haut, aber
oben auf den Hohen der Stande das Herz durchstochen; und die
Zeigerstange der Dorfuhr rtickt bloB um Stunden des Hungers
und des SchweiBes, aber der mit Brillanten besetzte Sekunden-
zeiger fliegt um ode, durchweinte, verzagende, blutige Minuten.«-
Aber zum Gliick wird uns die Leiden geschichte jener weib-
lichen Opfer nie vorgelesen, deren Herzen zum Schlagschatz und,
wie andre Juwelen, zu den Throninsignien geworfen werden, die 1
als beseelte Blumen, gesteckt an ein mit Hermelin umgebhes
Totenherz, ungenossen zerfallen auf dem Paradebett, von niemand
betrauert als von einer entfernten weichen Seele, die 1m Staats-
kalender nicht steht ...
Dieser Akt besteht fast aus lauter Gangen: uberhaupt gleicht
diese Komddie dem Leben eines Kindes - im ersten Akt war Haus-
rat-Besorgung fur das kiinftige Dasein - im zweiten Ankommen -
im dritten Reden - im vierten Gehenlernen u. s. w.
Als Deutschland an Welschland und dieses an jenes Reden ge-
nug gehalten hatte : so nahm Deutschland oder vielmehr Flachsen- 2
fingen oder eigentlich ein Stiick davon, der Minister Schleunes,
die Fiirstin bei der Hand und fiihrte sie aus dem heiBen Erdgiirtel
in den kalten — ich meine nicht aus dem Brautbette ins Ehebette,
sondern — aus dem italienischen Territorium der Stube ins flach-
senfingische iiber den seidnen Rubikon hinweg. Der nachsenfin-
gische Hofstaat steht als reenter Fliigel drtiben und ist gar noch
nicht zum Gefechte gekommen. Sobald sie die seidne Linie pas-
siert war; so wars gut, wenn das erste, was sie in ihrem neuen
Lande tat, etwas Merkwiirdiges war; und in der Tat tat sie vor
den Augen ihres neuen Hofs 4V2 Schritte und - setzte sich in den ;
flachsenfingischen Sessel, den ich schon im ersten Akt vakant dazu
hingestellt. Jetzo riickte endlich der rechte Fliigel ins Feuer, zum
Hand- und RockkuB. Jeder im rechten Fliigel - der linke gar
nicht — fiihlte die Wiirde dessen, was er anhob, und dieses Gefiihl,
das sich mit personlichem Stolz verschmolz, kam - danach Platner
der Stolz mit dem Erhabnen verwandt ist - meiner Benefizfarce
II. HUNDPOSTTAG 643
recht zupasse, in der ich nicht erhaben genug ausfallen kann. GroB
und still, in seidne Fischreusen eingeschifft, in einen Roben-Golf
versenkt, segeln die Hofdamen mit ihren Lippen an diesfille Hand,
die mit Ehe-Handschellen an eine fremde geschlossen wird. Weni-
ger erhaben, aber erhaben wird auch das adamitische Personale her-
angetrieben, worunter ich leider den Apotheker Zeusel mit sehe.
Wir kennen unter ihnen niemand als den Minister, seinen Sohn
Matz, der unsern Helden gar nicht bemerkt, den Leibarzt der
Prinzessin Kuhlpepper, der, vom Fette und Doktorhut in eine
[o schwere Lots-Salzsaule verwandelt, sich wie eine Schildkrote vor
die Regentin und Patientin schiebt. -
Kein Mensch weiB, wie mich Zeusel angstigt. Gegen alle Rang-
ordnung stell' ich lieber fruher als ihn die feisten, in schelmische
Dummheit verquollenen Livreebedienten vor, deren Rocke we-
niger aus Faden als aus Borten bestehen, und die sich als gelbe
Bander-Praparate vor miiden, an schonere Gestalten gewohnten
Augen bttcken. Viktor fand durch seine bntische Bnlle die italie-
nischen glasierten Hofgesichter wenigstens malerisch-schon, hin-
gegen die deutschen Parade-Larven so abgegriffen und doch so
o gesteift, so matt und doch so gespannt, die Blicke so verraucht
und doch so geschwefelt ! Ich hake Zeuseln noch durch einige
Osterlammer oder agnus dei von Pagengesichtern auf, so weich
und so weiB wie Maden; eine Amme mochte sie mit ihrer Milch-
pumpe von Mund an den Busen Iegen.
Langer war Zeusel nicht mehr zu halten, er ist hereingebrochen
und hat die Fiirstin beim Fliigel - der ganze Spafi dieser Komodie,
ich meine der Ernst, ist uns nunmehr verdorben. Dieser graue
Narr hat sich in seinen alten Tagen - seine Nachte sind noch alter
- in einen ganzen historischen Kupferstich geknopft, das will
> sagen, in eine zoologische Modeweste, worin er samt seinen vier
bunten Ringen ordentlich aussieht wie ein griiner Purschwagen,
an dem die Tierstucke der ganzen Jagd angemalet und vier Ringe
zum Anketten der Sauen in natura sind. Ich muB es jetzt sehen
und leiden - da er alles in der Vergangenheit tut -, daB er nun,
besoffen von Eitelkeit und kaum vermogend, Uhrketten von
Galarocken zu unterscheiden, hinlauft und sich etwas Seidenzeug
644 HESPERUS
herausfangt zum Kusse. Es war leicht vorauszusehen, da6 mir der
Mensch mein ganzes Altarblatt verhunzen wurde mit seiner histo-
rischen Figur; und ich hatte den Hasen gar unterdriickt und mit
dem Rahmen des Gemaldes iiberdeckt, wenn er nicht mit seinen
LofFeln und Laufen zu weit herausstande und -klaffte; auch ist er
vom Korrespondenten ausdrucklich. unter den Benefiz-Kon-
foderierten mit aufgefuhrt und angezeichnet. — Es lohnt kaum
der Miihe zu schreiben :
Fiinfter Akt; da nun alles versalzen ist und die Lesewelt lacht.
Im funften Akt, den ich ohne alle Lust mache, wurd' auch weiter i<
nichts getan - anstatt daB Tragodiensteller und Christen die Be-
kehrung und alles Wichtige in den Ietzten Akt verlegen, wie nach
Bako ein Hofmann seine Bittschriften in die Nachschrift ver-
schob — , als daB die Prinzessin ihre neuen Hofdamen das erste
Rechen- oder Abziehexempel ihres Erzamtes machen lieB : das nam-
lich, sie auszukleiden Und da mit dem Auskleiden sich die
funften Akte der Trauerspiele-der Tod tuts - und der Lustspiele
- die Liebe tuts — beschlieBen : so mag sich auch dieses Benefiz-
ding, das wie unser Leben zwischen Lust- und Trauerspiel
schwankt, matt mit Entkleidung enden. 2
Ende der Benefizakte
- Ich war gestern zu aufgebracht. Der Apotheker ist zwar der
Hund und die Katze in meinem Gemalde, die einander unter dem
Tische des Abendmahls beiBen; aber im ganzen ist die Posse
schon erhaben. Man bedenke nur, daB alles ineiner monarchischen
Regierungform abgetan wird- daB diese nach Beattie dem Ko-
mischen mehr als die republikanische aufhilft - daB nach Addison
und Sulzer gerade die spaBhaftesten Menschen (z. B. Cicero) am
ernsthaftesten sind, und daB folglich das namliche auch von dem
Zeug, das sie machen, gelten musse: so sieht man schon aus dem *
Komischen, das meine Akte haben, daB sie ernsthaft sind. —
Mein Held hielt im Laden eine heftige Pater Merzische Kontro-
verspredigt gegen etwas, wofiir die Reichsstadter und Reichs-
dorfer predigen - dagegen: »daB die Menschen ohne alles weiBe
1 1 . HUNDPOSTTAG 645
und graue Gehirn und ohne Geschmack und Geschmackwarzchen
in dem Grade handeln konnen, daB sie sich nicht schamen, die paar
Jahre, wo sie der Schmerz noch nicht auf seinem Piirsch^ettel und
der Tod noch nicht auf seinem Nacht^ettel hat, sundlich und hund-
maBig zu verzetteln, nicht etwa mit Garnichtstun, oder mit den
halben Takt-Pausen der Kanzleiferien, oder den ganzen Takt-
Pausen der Komitialferien, oder mit den Narrheiten der Freude -
was ware ruhmlicher? -, sondern mit den Narrheiten der Qual,
mit zwolf herkulischen Nichts-Arbeiten, in den Raspelhausern der
jo Vorzimmer, auf dem tratto di corda des gespannten Zeremoniells
....Mein lieber Hofmarschall, meine schonste Oberhofmeisterin,
ich billige alles; aber das Leben ist so kur^ daB es nicht die Muhe
lohnt, sich einen langen Zopf darin zu machen. - Konnten wir
nicht das Haar auf binden und iiber alle Vorsale, d. h. Vorhollen,
iiber alle Vorfechter und Vortanzer hinwegsetzen gleich mitten in
die Maiblumen unsrer Tage hinein und in ihre Blumenkelche . . .
Ich will mich nicht abstrakt und schblastisch ausdriicken : sonst
miiBt' ich sagen: wie Hunde werden Zeremonien durchs Alter
toll; wie Tanzhandschuhe taugt jede nur einmal und mufi dann
10 weggeworfen werden; aber der Mensch ist so ein verdammt zere-
monielles Tier, daB man schworen sollte, er kenne keinen grofiern
und langern Tag als den Regensburger Reichstag.«
Solange er aB, war Tostato nicht da, sondern im Laden. Nun
hatt* er schon am vorigen Abend einen Entwurf zum Kusse der
schonen Dunsin nicht aus dem Kopfe bringen konnen : »Eine vieh-
dumme Huldin kiiss' ich einmal^ sagt' er, »dann hab' kh Ruh'
auf Lebenlang.« Aher zum Ungliick muBte um die Dunsin die
sogenannte Kleins te (die Schwester), deren Verstand und deren
Nase zu groB waren, als Senkfeder der Angel schwimmen, und
die Feder wiirde sich, hatt* er nur eine Lippe an den Koder ge-
setzt, sogleich gereget haben. Er war aber doch pfiffig: er nahm
die Kleinste auf die Schenkel und schaukelte sie wie Zeusels
Kutscher und sagte dieser Klugen siiBe Namen iiber den Kopf
hiniiber, die er alle mit den Augen der Dummen zueignete (am
Hofe wird er mit umgekehrtem Scheine zueignen). Er druckte
der Kleinsten zweimal zum SpaBe die Spionenaugen zu, bloB um
646 HESPERUS
es im Ernst zum dritten Male zu tun, wo er die Dunsin an sich zog
und sie mit der rechten Hand in- eine Stellung brachte, daB er ihr -
zumal da sie es Htt, weil Madchen der List ungern abschlagen, oft
aus bloBer Freude, sie zu erraten - unter den Hofdiensten gegen
die Blinde den schleunigen KuB hinreichen konnte, fur den er
schon so viele avant propos und Marschrouten verfertigt hatte.
Jetzo war er satt und heil; hatt' er noch zwei Abende dem KuB
nachstellen miissen, er hatte sich sehr verliebt.
Er saB wieder in seinem Mastkorb, als die Fiirstin aB. Es ge-
schah bei offnen Tiiren. Sie schiirte sein Lauffeuer der Liebe mit ic
dem goldnen Loffel an, sooft sie ihn an ihre kleinen Lippen
driickte - sie storte das Feuer wieder auseinander mit den zwei
Zahnstochern (siiBen und sauern), sooft sie zu ihnen griff. Tostato
et Compagnie setzten heute die teuersten Waren ab: kein Mensch
kannte die et Compagnie; bloB Zeusel sah dem Viktor scharfer
ins Gesicht und dachte: »Ich sollte dich gesehen haben.<< Gegen
2 2 / 3 Uhr nachmittags ereignete sich das Gluck, daB die Pnnzessin
selber an die Bude trat, um italienische Blumen fur ein kleines
Madchen, das ihr wohlgefallen, auszusuchen. Bekanntlich nimmt
man sich in jeder Maske Maskenfreiheit und auf jeder Reise MeB- 2<
freiheit: Viktor, der in Verkleidungen und auf Reisen fast allzu
kuhn war, versuchte es, in der Muttersprache der Prinzessin und
zwar mit Witz zu sprechen. »Der Teufel«, dacha' er, »kann mich
doch deswegen nicht holen.« Er merkte daher mit dem zartesten
Wohlwollen gegen dieses schone Kind in Molochs Armen nur so
viel liber die seidnen Blumen an: »Die Blumen der Freude werden
auch leider meistens aus Samt, Eisendraht und mit dem Formeisen
gemacht.« Es war nur ein Wunder, daB er hof lich genug war, um
den Umstand wegzulassen, daB gerade der italienische Adel die
italienische Flora verfertige. Sie sah aber auf seine Ware und 3
schwieg; und kaufte statt der Blumen eine montre a regulateur 1 ,
die sie nachzubringen ersuchte.
1 Bekanntlich eine Damenuhr, wie ein Herz gestaltet, auf dem Riicken mit
Sonnenweiser und Magnetnadel versehen. Letzte zeigt den Damen, die die
Kdlte hassen, im Grunde auch Siiden, und der Sonnenweiser taugt zum Mond-
1 1 . HUNDPOSTTAG 647
Er iiberbrachte ihr die Uhr eigenhandig; aber leider ebenso
eigenhandig - der Leser erschrickt; aber an fangs erschrak er sel-r
ber und dachte doch den Einfall so oft, bis er ihn genehmigte —
hatt* er vorher liber den Imperator der Uhr ein zartes Streifchen
Papier gepicht, worauf er eigenhandig mit Perlenschrift geschrie-
ben: Rome cacha le nom de son dieu et elle eut tort; moi je cache
celui de ma deesse et j'ai raison 1 .
»Ich kenne die Leute schon,« dacht' er, »sie machen und ziehen
in ihrem Leben keine Uhr auf!« Ei, Sebastian, was wird mein
10 Leser denken oder deine Leserin?
Sie reisete noch abends in ihr erheiratetes Land, das kiinftige
Hackbrett ihres Zepters. Unserem Viktor war beinahe, als hatt'
er ihr ein andres Herz als das metallene mit dem Zettel mitgegeben,
und er freuete sich auf den Flachsenfinger Hof. Vor ihr lief ihr
nachgedruckter Brautigam oder seine Sanfte, aus der er ausstieg
an die Wand des Schlafzimmers. Da er ihr Gott war, so kann ich
ihn oder sein Bild mit den Bildern der alten Gotter vergleichen,
die auf einem eignen vis-a-vis - thensa genannt - herumgefahren,
oder in einer Portratbiichse - voloq genannt - oder in einem
20 Bauer - xadioxov genannt - herumgetragen wurden.
Darauf ging Viktor mit seinem Handelskonsul hinter den Ku-
lissen des Beneflztheaters herum. Er schniirte die seidne Demarka-
tionlinie und Sperrkette ab - zog sie in die Hohe wie ein ekles
Haar - befuhlte sie - hielt sie erst weit vom Auge — dann nahe an
dieses - zerrte sie auseinander, eh' er sagte: »Die Kraft stecke, wo
sie will - es mag nun eine seidne Schnur politiscke Korper so gut
wie elektrische isolieren - oder es mag mit Furs ten wie mit Hiih-
nern sein, die keinen Schritt weiter setzen, wenn man Kreide
nimmt und damit von ihrem Schnabel herab eine gerade Linie
^o auf den Boden hinfiihrt - soviel seht Ihr doch, Associe: wenn ein
Alexander die Grenzsteine der Lander verriicken wollte, so ware
ein solcher Strang dagegen das beste ins Enge gezogne Naturrecht
und eine dergleichen Barriereallianz.« Er ging in ihr Schlafzimmer
zum ausgeleerten heiligen Grabe, d. h. zum Bette der auferstand-
1 Rom verbarg den Namen seines Gottes, aber es hatte unrecht; ich ver-
berge meiner Gottin ihren, aber ich habe recht.
648 HESPERUS
nen Braut, in welches der an der Wand vor Anker liegende Spon-
sus von seinem Nagel sehen konnte. Ganze Divisionen von Ein-
fallen marschierten stumm durch seinen Kopf, den er damit an
ein seidnes Kopfkissen - so groB wie ein Hunde- oder ein Seiten-
kissen eines Wagens — mit der Wange andriickte. So anliegend
und kniend sprach ers halb in die Federn (nicht in die Feder) hin-
ein: »Ich wollt', auf dem andern Kissen lag* auch ein Gesicht und
sari' in meines — du lieber Himmel ! zwei Menschengesichter ein-
ander gegeniiber — sich einander in die Augen ziehend - einander
die Seufzer belauschend - von einander die weichen durchsichtigen ic
Worte wegatmend - das standen ich und Ihr gar nicht aus, Asso-
cie!« — Er sprang auf, patschte sein Hasenlager leise wieder platt
und sagte: »Bette dich weich um das schwere Haupt, das auf dich
sinkt; erdriicke seine Traume nicht; verrate seine Tranen nicht!«
— Ware sogar der Graf von O mit seiner feinen ironischen Miene
dazugekommen : er hatte nichts darnach gefragt. Es ist ein Un-
gliick fur uns Deutsche, dafi wir allein - indes dem Englander so-
gar vom Weltmann seine Hasen-, Bock- und Luftspriinge fiir
zierliche Ruck-, Vor- und Hauptpas angerechnet werden - gar
nicht ernsthaft und gesetzt genug einherschreiten konnen. 2 <
Er lief abends wieder in den Hafen seines Zeidlers ein; und sein
schwankendes Herz warf auf die stille bluhende Natur um ihn die
Anker aus. Der alte Mann hatte unterdes alle seine alten Papiere,
Tauf-, Trauscheine und Manualakten vom Niirnberger Zeidler-
gericht etc., zusammengefahren und sagte: »Les* Er!« - Er wollt'
es selber wieder horen. Er zeigte auch seinen »Dreifaltigkeksring«
aus Niirnberg, auf welchem stand :
Hier dieser Ring der weist,
Wie drei in Einem heiBt
Gott Vater, Sohn und Geist. 3
Der Bienenvater machte weiter kein Geheimnis daraus, daB er
vorher, als er diesen Ring sich noch nicht in Niirnberg an einem
Gerichttage angeschafft hatte, die Dreifaltigkeit nicht glauben
konnen: »jetzt aber miiBt' einer ein Vieh sein, wenn ers nicht be-
griffe.« - Am Morgen vor der Abreise war Viktor in der doppelten
1 1 . HUNDPOSTTAG 649
Verlegenheit: er wollte gern ein Geschenk haben-zweitens eines
machen. Was er haben wollte, war eine plumpe Stundenuhr - bei
einer Ausspielung fur ein Los a 20 kr. gewonnen -; dieses Werk,
dessen dicke Zeigerstange den Lebensfaden des Greises auf dem
schmutzigen ZifFerblatte in lauter bunten frohen Bienen-Stunden
weggemessen hatte, sollte eine Lorenzo-Dose fur ihn sein, ein
Amulett, ein Ignatius-Blech gegen Saulische Stunden. »Ein Hand-
werker«, sagt' er, »braucht wahrlich nur wenig Sonne, um zu-
frieden und warm durchs Leben zu gehen; aber wir mit unsrer
to Phantasie sind oft in der Sonnenseite so schlimm daran als in der
Wetterseite - der Mensch steht fester auf Dreck als auf Ather und
Morgenrot.« Er wollte dem glucklichen Lebens-Veteranen als
Kaufschilling fur die Stundenuhr und als Preismedaille fur das
Quartier seine Sekundenuhr aufdringen. Lind hatte das Herz nicht,
wurd' aber rot. Endlich stellte ihm Viktor vor, die Sekundenuhr
sei eine gute Leuchtkugel zum Dreifaltigkeitsringe, ein Theses-
bild dieses Glaubenartikels, denn die dreifaltigen Zeiger machten
doch nur eine Stunde. - Lind tauschte.
Viktor konnte weder der Spotter noch der Bunklische Refor-
:o mator einer solchen irrenden Seele sein, und seine sympathetische
Laune ist nichts als ein zweifelnder Seufzer iiber das menschliche
Gehirn, das 70 Normal] ahre hat, und iiber das Leben, das ein
Glaubens-Interim ist, und iiber die theologischen Doktorringe,
die solche Dreifaltigkeitsringe sind, und iiber die theologischen
Hor- und Sprechsale, worin solche Sekunden-Uhren zeigen und
schlagen.
- Endlich geht er aus Kussewitz um 6 Uhr morgens. Eine sehr
schone Tochter des Grafen von O kam erst um 7 Uhr zuriick: das
ist unser alter Gliick, er saBe sonst noch da.
o Der Hundposttag ist aus. Ich weiB nicht, soil ich ein Extrablatt
machen oder nicht. Der Schalttag ist an der Tiire; ich wills also
bleiben lassen und nur ein Pseudo-Extrablatt hersetzen, welches
sich bekanntlich von eineni kanonischen ganz dadurch unter-
scheidet, daB ichs im apokryphischen durch keine Oberschrift
merken lasse, sondern nur unter der Hand von der Geschichte
wegkomme zu lauter Fremdsachen.
65O HESPERUS
Ich nehme meinen historischen Faden wieder auf und befrage
den Leser: was halt er von Sebastians Weiber-Liebhaberei? Und
wie erklart er sich sie? - Wahrhaft-philosophisch versetzt er : » Aus
Klotilden: sie hat ihn durch ihr Magnetisieren mit der ganzen
Weiber- Welt in Rapport gesetzt ; sie hat an diesen Bienenschwarm
geklopft, nun ist kein Ruhen mehr. - Ein Mann kann 26 Jahre
kalt und seufzerlos in seinem Biicherstaube sitzen; hat er aber den
Ather der Liebe einmal geatmet: so ist das eirunde Loch des
Herzens auf immer zu, und er muB her aus in die Himmelluft und
bestandig nach ihr schnappen, wie ich in den kiinftigen Hundpost- k
tagen sicherlich sehe.« Einen narrischen philosophischen Stil hat
sich der Leser angewohnt; aber es ist wahr; daher ein Madchen
nie so begierig fur ihr Theater den zweiten Liebhaber wirbt als
nach dem Hintritt des ersten und nach den Schwiiren, ihr Werbe-
patent wegzuwerfen.
Wie konnte aber der Leser auf noch wichtigere Ursachen 1 nicht
fallen, 1) auf die Gesamtliebe und 2) auf Viktors Muttermaler?
1) Die Gesamt- oder Zugleichliebe ist zu wenig bekannt. Es ist
noch keine Beschreibung davon da als meine: in unsern Tagen
sind namlich die Lesekabinette, die Tanzsale, die Konzertsale, die 2C
Weinberge, die Kaffee- und Teetische, diese sind die Treibhauser
unsers Herzens und die Drahtmuhlen unserer Nerven, jenes wird
zu groB, diese zu fein - wenn nun in diesen ehelustigen und ehe-
losen Zeiten ein Jiingling, der noch auf seine Messiasin wie ein
Jude passet und der noch ohne den hochsten Gegenstand des
Herzens ist, von ungefahr mit einer Tanz-Halfte, mit einer Klu-
bistin oder Associee oder Amtschwester oder sonstigen Mitarbei-
terin hundert Seiten in den Wahlverwandtschaften oder in den
Hundposttagen Heset - oder mit ihr uber den Kleebau oder Seiden-
bau oder uber Kants Prolegomena drei bis vier Briefe wechselt - 3 c
oder ihr funfmal den Puder mit dem Pudermesser von der Stirne
kehrt - oder neben und mit ihr betaubende Sabelbohnen anbindet
- oder gar in der Geisterstunde (die ebensooft zur Schaferstunde
wird) uber den ersten Grundsatz in der Moral uneins wird : so ist
1 Eine vierte Ursache ware, daB ihm jetzt jede Liebe gegen eine andre als
gegen Klo tilde ein Verdimst um seinen Freund zu sein schien.
II. HUNDPOSTTAG 65 I
soviel gewiB, daB der besagte Jiingling (wenn anders Feinheit,
Gefuhl und Besonnenkeit einander die Waage in ihm halten) ein
wenig toll tun und fiir die besagte Mitarbeiterin (wenn sie anders
nicht mit Hockern des Kopfes oder Herzens an seine Fuhlfaden
stoBet) etwas empfinden muB, das zu warm ist fiir die Freund-
schaft und zu unreiffiXr die Liebe, das an jene grenzt, weil es mehre
Gegenstande einschlieBt, und an diese, weil es an dieser stirbt.
Und das ist ja eben nichts anders als meine Gesamt- oder Zugleich-
liebe, die ich sonst Simultan- und Tuttiliebe genannt. Beispiele
10 sind verhaBt: sonst zog* ich meines an. Diese Universalliebe ist
ein ungegliederter Fausthandschuh, in den, weil keine Verschlage
die vier Finger trennen, jede Hand leichtlich hineinfahrt - in die
Partialliebe oder in den Fingerhandschuh drangt sich nur eine
einzige Hand. Da ich zuerst diese Sache und Insel entdeckt habe :
so kann ich ihr den Namen schenken, womit sie and re nennen und
rufen mussen. Man soil sie kiinftighin die Samm- oder Zugleich-
liebe benamsen, ob ich sie gleich auch, wenn ich und Kolbe woll-
ten, die Praludierliebe - die Maskopei-Zartlichkeit - die General-
Warme - die Einkindschafttreue nennen lassen konnte.
20 Den Theologen und ihrer Kannengiefierei von den Endabsichten
zu Gefallen werf* ich noch diesen festen Grundsatz her: ich
mochte den sehen, ders ohne die Sammliebe in unsern Zeiten, wo
die einspannige Liebe durch die Foderungen eines groBeren me-
tallischen und moralischen Eingebrachten seltner wird, drei Jahre
aushielte.
2) Die zweite Ursache von Viktors Weiber-Liebhaberei war
sein Muttermal, d. h. eine Ahnlichkeit mit seiner und jeder Mutter.
Er behauptete ohnehin, seine Ideen hatten gerade den Schritt, d.h.
den Sprung der weiblichen, und er hatte iiberhaupt recht viel von
jo einer Frau; wenigstens gleichen die Weiber ihm darin, da£ ihre
Liebe durch Sprechen und Umgang entsteht. Ihre Liebe hat sicher
noch viel ofter mit HaB und Kalte angefangen als aufgehort. Aus
einem aufgedrungenen verhaBten Brautigam wird oft ein geliebter
Ehemann. »Ich will,« - sagte er im Hannoverischen - »wenn nicht
in ihr Herz, doch in ihre Herzohren. Sollte denn die Natur in die
weibliche Brust zwei so weite Herzkammern - man kann sich
652 HESPERUS
darin umkehren - und zwei so nette Herzalkove — den Herzbeutel
nab' ich gar nicht beruhrt - bloB darum hineingebauet haben, daB
eine Mannseele diese vier Zimmer mutter seelenallein miete, wie
eine weibliche die vier Gehirnkammern des Kopf-Frauengemachs
bewohnt? Ganz unmoglich! und sie tuns auch nicht: sondern -
aber wer iibermaBigen Witz scheuet, gehe mir jetzt aus den FuBen
— in die zwei Flugel dieser Rotunda und in die Seitengebaude
wird hineingelagert, was hineingeht, d. h. mehr als herausgeht -
wie in einem Zoll- oder Taubenhause gehts aus und ein - man
kann nicht zahlen, wenn man zusieht - es ist ein schoner Tempel, *°
der Durchganggerechtigkeit hat. - Solche kehren sich an die weni-
gen gar nicht, die sich einschranken und die Hauptloge des Her-
zens nur einem einzigen Liebhaber geben und bloB die zwei
Seitenlogen tausend Freunden.«
Gleichwohl konnt' es Jean Paul - es mochte immerhin Platz
genug ubrig sein — nie so weit treiben, daB er nur in die zwei
Koloniekorbe, namlich in die Herzohren hineingekommen ware,
welches doch das Allerwenigste ist. Weil sein Gesicht zu mager
aussieht, die Farbe zu gelb, der Kopf viel voller als die Tasche und
sein Einkommen das einer Titular-Berghauptmannschaft ist: so 20
quartieren sie den guten Schelm bloB am kdltesten Orte ganz oben
unter den Kopf-Mansarden ein, nicht weit von den Haarnadeln -
und da sitzt er noch jetzunder und scherzet (schreibend) sein eilf-
tes Kapitel hinaus —
12. HUNDPOSTTAG
Polar-Phantasien - die seltsame Insel der Vereinigung - noch ein Stuck aus
der Vor-Geschichte - der Stettinerapfel als Geschlechtwappen
Wir leben jetzt im fin stern Mittelalter dieser Lebensbeschreibung
und lesen dem aufgeklarten achtzehnten Jahrhundert oder Hund-
tag entgegen. Allein schon in diesem zwolften fliegen, wie in der 30
Nacht vor einem schonen Tag, groBe Funken. Mich frappiert
dieser Hundtag noch immer. »Spitz,« sagt* ich, »friB mir weg, was
du willst, und klare nur die Welt auf.«
12. HUNDPOSTTAG <>53
Sebastian eilte am Sonnabend mit lustiger Seele unter einem
iiberwolkten Himmel auf die Insel der Vereinigung zu. Er konnte
da anlangen, wenn er sich nicht aufhielt, ehe das Gewolk einge-
sogen war. Unter einem blauen Himmel fuhrte er, wie Schikane-
der, die Trauerspiele, unter einem aschgrauen aber die Lustspiele
seines Innern auf. Wenns regnete, lacht* er gar. Rousseau bauete
in seinem Kopfe eine empfindsame Buhne, weil er weder aus der
Kulisse noch in eine Loge des wirklichen Lebens gehen wollte —
Viktor aber besoldete zwischen den Beinwanden seines Kopfes
io ein komisches Theater der Deutschen, bloB um die wirklichen
Menschen nicht auszulachen: seine Laune war so ideal wie die
Tugend und Empfindsamkeit andrer Leute. In dieser Laune hielt
er (wie ein Bauchredner) lauter innerliche Reden an alle Poten-
taten - er stellte sich auf die Ritterbank mit Kirchenvisitations-
reden - auf die Stadtebank mit Leichenreden -auf dem papstlichen
Stuhl hielt er an die Jungfer Europa und kirchliche Braut Stroh-
kranzreden - die Potentaten muBten ihm alle wieder antworten,
aber man kann denken wie, da er, gleich einem Minister, ihnen aus
seinem Kopf-Souffleurloch alles in den Mund legte - und dann
20 ging er doch fort und lachte jeden aus.
Mandeville sagt in seinen Reisen, am Nordpol gefriere im
Winterhalbjahr jedes Wort, aber im Sommerhalbjahre tau' es
wieder auf und werde gehort. Diese Nachricht malte sich Viktor
auf dem Wege nach der Insel aus; wir wollen unsere Ohren an
seinen Kopf legen und dem innern Gesumse zuhorchen.
»Ich und Mandeville sind gar nicht verbunden, es zu erklaren,
warum am Nordpol die Worte so gut wie Speichel unter dem
Fallen zu Eis werden, gleich dem Quecksilber allda; aber ver-
bunden sind wir, aus dem Vorfalle zu folgern. Wenn ein lachender
30 Erbe da seinem Testator lange Jahre wiinscht: so hort der gute
Mann den Wunsch nicht eher als im nachsten Fruhjahr, das ihn
schon kann totgeschlagen haben. - Die besten Weihnachtpredig-
ten erbauen nicht friiher gute Seelen als im Heumonat. - Vergeb-
lich stattet der Polarhof seine Neujahrwunsche vor Serenissimo
ab; er hort sie nicht, als bis es warm wird, und dann ist schon die
Halfte fehlgeschlagen. Man sollte aber einen Zirkulierofen als
654 HESPERUS
Sprachrohr in das Vorzimmer setzen, damit man in der Warme -
die Hof-Sprecher horen konnte. - Ein Bruder Redner ware dort
ohne einen Ofenheizer ein geschlagner Mann. - Der Pharospieler
tut zwar am Thomastag seine Fliiche; aber am Johannistag, wo er
schon wieder gewonnen, fahren sie erst herum; und aus den
Winterkonzerten konnte man Sommerkonzerte machen ohne alle
Instrumente: man setzte sich nur in den Saal. - Woher kommts
anders, daB die Polar-Kriege oft halbe Jahre vor der Kriegerkla-
rung gefuhret werden, als daher, daB die schon im Winter er-
lassene Erklarung erst bei gutem Wetter laut wird? — Und so kann i°
man von den Winterfeldziigen der Polar-Armeen nicht eher et-
was horen als unter den Sommerfeldzugen. - Ich meines Orts
mochte nur auf den Winter nach dem Pole reisen, bloB um da den
Leuten, besonders dem Hofstaat, wahre Injurien ins Gesicht zu
sagen; wenn er sie endlich vernahme, saBe der Injuriant schon
wieder in Flachsenfingen. - Die Winterlustbarkeiten slnd gar
nicht schuld, wenn die nordliche Regierung eine Menge der wich-
tigsten Dinge nicht vortragt und entscheidet: sondern erst unter
den Kanikularferien ist das Abstimmen zu horen; und da konnen
auch die Bescheide der Kammer auf Gnaden- und Hofysachen zur 20
Sprache kommen. — Aber, o ihr Heiligen, wenn ich am Pol — indes
die Sonne im Steinbock ware und mein Herz im Krebs — nieder-
flele vor der schonsten Frau und ihr die langste Nacht hindurch
die heiBesten Lieberklarungen tate, die aber in einer Drittels-
Terzie Eis ansetzten und ihr gefroren, d.h. gar nicht zu Ohren
kamen : was wiird' ich im Sommer machen, wo ich schon kalt ware
und sie schon hatte, wenn gerade in der Stunde, wo ich mich tiichtig
mit ihr zu zanken verhoffte, nun mitten unter dem Keifen meine
Steinbocks-Lieberklarungen aufzutauen und zu reden anflngen?
Ich wiirde gelassen nichts machen als die Regel: man sei zartlich 30
am Pol, aber erst im Widder oder Krebs. - Und wenn vollends die
Obergabe einer Prinzessin am Pol vorginge, und zwar an dem
Punkt, wo die Erde sich nicht bewegt, der sich am besten fur die
zwiefache Untatigkeit einer Prinzessin und einer Dame schickt,
und wenn gar die Obergabe in einem Saale ware, wo jeder, be-
sonders Zeusel, in den langen Winterabenden sie gelastert hatte;
12. HUNDPOSTTAG 655
wenn dann die Luft im Saal zu lastern anfinge, und Zeusel in der
Not fort wollte : so wurd* ich ihn freundlich packen und fragen :
>Wohin, mein Freund?<«
»Nach GroBkussewitz, ich helfe fangen«, antwortete ihm der -
reelle Biittel aus St. Liine, der hinter einem Gemauer mit der einen
Hand ein Buch auf- und mit der andern eine Tasche zugeknopft
hatte. Viktor fuhlte ein frohes Beklemmen iiber eine Antike aus
St.Lune. Er fragte ihn um alles mit einem Eifer, als war* er seit
einer Ewigkeit a parte ante weg. Der zuknopfende Leser wurde
10 ein Autor und faBte vor dem Herrn die Jahrbiicher, d. h. Stunden-
bucher dessen ab, was seitdem im Dorfe vorgefallen war. In
zwanzig Fragen wickelte Viktor die nach Klotilden ein; und er-
fuhr, daB sie bisher alle Tage beim Pfarrer gewesen war. Das ver-
droB ihn: »Als ob ich«, dacht* er, »nicht soviel Seelenstarke hatte,
der Liebe eines Freundes zuzusehen - und auch sonst als ob.«
Oberhaupt meinte er, in einer solchen Feme sei es ihm mehr er-
laubt, an sie zu denken.
Der lesende Hascher war ein Leser unter meinem Regiment:
das Buch, das er auf seinen Diebs-Heckjagden herumtrug, war die
20 unsichtbare Loge 1 . Viktor lieB sich den ersten Teil vorstrecken:
der Biittel stand im zweiten gerade an der Pyramide beim ersten
KuB. - Unser Held tat immer schnellere Schritte im Lesen und im
Gehen und hatte Buch und Weg miteinander zu Ende —
Die Insel stand vor ihm! -
Hier auf diesem Eiland, mein Leser, mache Augen und
Ohren auf! Nicht, als ob merkwurdige Dinge erschienen -
denn diese wiirden sich schon durch halbofthe Ohren und Augen-
sterne drangen -, sondern eben weil lauter alltagliche kommen.
Der Lord stand einsam am Ufer der See, die um die Insel floB -
jo und erwartete und empfing ihn miteinem Ernst, der seine Freund-
Hchkeit iiberhullte, und mit einer Riihrung, die noch mit seiner
gewohnlichen Kalte rang. Er wollte jetzt zur Insel hinuber, und
Viktor sah doch kein Mittel des Obergangs. Es war kein Boot da.
Auch ware keines fortzubringen gewesen, weil eiserne Spitzen
unter dem Wasser in solcher Menge und Richtung standen, daB
1 Die unsichtbare Loge; eine Biographie in 2 Teilen. 8°.
6y6 HESPERUS
keines gehen konnte. Die Schildwache, die bisher am Ufer die
Insel gegen die zerstorende Neugier des Pobels deckte, war heute
entfernt. Der Vater ging mit dem Sohne langsam um das* Ufer und
riickte nach und nach 27 Steine, die in gleichen Entfernungen aus-
einanderlagen, aus ihrem Lager heraus. Die Insel war vor der
Blindheit des Lords gebauet worden und den Zuschauern noch
unverwehrtj aber in derselben hatt' er ihr Inneres durch unbe-
kannte nachtliche Arbeiter vollenden und verstecken Iassen. Unter
dem Rundgang um die Insel sah Viktor ihr Stab- und Fruchtge-
lander von hohen Baumstammen, die ihre Schatten und ihre ic
Stimmen in die Insel hineinzurichten schienen und deren Laub-
werk die bebenden Wellen mit ihren zerteilten Sonnen und Ster-
nen besprengten — die Tannen umarmten Bohnenbaume, und um
Tannenzapfen gaukelten Purpur-Bliitenlocken, die Silberpappel
biickte sich unter der thronenden Eiche, feurige Biische von ara-
bischen Bohnen loderten tiefer aus Laub-Vorhangen, ablaktierte
Baume auf doppelten Stammen vergitterten dem Auge die Ein-
gange, und neben einer Fichte, die alle Gipfel beherrschte, war
eine hohere vom Sturm halb iiber das Wasser hereingedruckt, die
sich iiber ihrem Grabe wiegte - weiBeSaulen hoben in der Mitte at
der Insel einen griechischen Tempel unbeweglich iiber alle wan-
kende Gipfel hinaus. - Zuweilen schien ein verirrter Ton durch
das griine Allerheiligste zu laufen - ein hohes schwarzes, an die
Tannenspitzen reichendes Tor sah, mit einer weiBen Sonnen -
scheibe bemalt, nach Osten und schien^ zum Menschen zu sagen :
gehe durch mich, hier hat nicht nur der Schopfer, auch dein Bru-
der gearbeitet! -
Diesem Tore gegeniiber lag der 27Ste Stein. Viktors Vater ver-
riickte ihn, nahm einen Magnet heraus, bog sich nieder und hielt
dessen sudlichen Pol in die Lucke. Plotzlich fingen Maschinen an 3 <
zu knarren und die Wellen an zu wirbeln - und aus dem Wasser
stieg eine Briicke von Eisen auf. Viktors Seele war von Traumen
und Erwartungen iiberfullt. Er setzte schauernd hinter seinem
Vater den FuB in die magische Insel. Hier beruhrte sein Vater
einen diinnen Stein mit dem nordlichen Ende des Magnets, und die
Eisenbrucke fiel wieder hinunter. Ehe sie an das erhohte Tor hin-
12. HUNDPOSTTAG 657
traten : drehte sich von innen ein Schliissel um und sperrte auf, und
die Tiire klafFte. Der Lord schwieg. Auf seinem Gesicht war eine
hohere Sonnenseele aufgegangen - man kannte ihn nicht mehr -
er schien in den Genius dieses zauberischen Eilandes verwandelt
zu sein.
Welche Szene! Sobald das Tor geoffnet war, lief durch alle
Zweige ein harmonisches Hiniiber- und Herubertonen - Liifte
flogen durch das Tor herein' und sogen die Laute in sich und
schwammen bebend damit weiter und ruhten nur auf gebognen
10 Bliiten aus. — Jeder Schritt machte einen groBen diistern Schau-
platz weiter. - Im Schauplatz lagen umher Marmorstiicke, auf
welche die Schmiedekohle RafFaels Gestalten gerissen hatte, ein-
gesunkne Sphinxe, Landkartensteine, worauf die dunkle Natur
kleine Ruinen und ertretene Stadte geatzet hatte - und tiefe OfF-
nungen in der Erde, die nicht sowohl Graber als Formen zu
Glocken waren, die darin gegossen werden - dreifiig giftvolle
Eibenbaume standen von Rosen umflochten, gleichsam als waren
sie Zeichen der dreiBig wiitend-leidenschaftlichen Jahre des
Menschen - dreiundzwanzig Trauerbirken waren zu einem nie-
20 drigen Gebiisch zusammengebogen und ineinander gedriickt - in
das Gebiisch liefen alle Steige der Insel - hinter dem Gebiisch
verfinsterten neunfache Flore in verschlungenen Wallungen den
Blick nach dem ho hen Tempel - durch die Flore stiegen fiinf Ge-
witterableiter in den Himmel auf, und ein Regenbogen aus zweien
ineinander gekriimmten aufspringenden Wasserstrahlen schwebte
fiimmernd am Gezweige, und immer wolbten sich die zwei Strah-
len herauf, und immer zersplitterten sie einander oben in der Be-
riihrung —
Als Horion seinen Sohn, dessen Herz von lauter unsichtbaren
30 Handen gefasset, erschreckt, gedriickt, entziindet, erkaltet wurde
in das niedrige Birkengebiisch hineinzog: so begann die lallende
Totenzunge eines Orgel-Tremulanten durch die ode Stille den
Seufzer des Menschen anzureden, und der wankende Ton wand
sich zu tief in ein weiches Herz. - Da standen beide an einem vom
Gebiische dunkel iiberbaueten Grabe - auf dem Grabe lag ein
schwarzer Marmor, auf dem ein uberschleiertes blutloses weiBes
658 HESPERUS
Herz und die bleichen Worte standen : Es ruht. »Hier wurde«,.sagte
der Lord, »mein zweites Auge-blind : Marys 1 Sarg steht in diesem
Grabe; als dieser aus England ankam in der Insel, entztindete sich
das kranke Auge zu sehr und sah niemals wieder.« - Nie schauderte
Viktor so : nie sah er auf einem Gesicht eine solche chaotische
wechselnde Welt von fliehenden, kommenden, kampfenden, ver-
gehenden Empfindungen; nie starrte ein solches Eis der Stirne
und Augen iiber krampf haften Lippen - und ein Vater sah so aus,
und ein Sohn empfand es nach.
»Ich bin ungliicklich«, sagte langsam sein Vater; eine beiBende ic
bittere Trane brannte am Augapfel; er stockte ein wenig und
stellte die fiinf offnen Finger auf sein Herz, als wollt' ers ergreifen
und herausziehen, und blickte auf das steinerne blasse, als wollt*
er sagen : warum ruht meines nicht auch? — Der gute sterbende
Viktor, zermalmet von liebendem Jammer, zerrinnend in Mitleid,
wollte an den teuern verheerten Busen fallen und wollte mehr als
den Seufzer sagen : »0 Gott, mein guter Vater !« Aber der Lord hielt
ihn sanft von sich ab, und die Gallenzahre wurde unvergossen
vom Auge zerquetscht. Der Lord flng wieder an, aber kalter:
»Glaube nicht, daB ich besonders geriihrt bin - glaube nicht, daB 20
ich eine Freude begehre, oder einen Schmerz verwiinsche -
ich lebe nun ohne HofTnung und sterbe nun ohneHoffnung.« -
Seine Stimme kam schneidend uber Eisfelder her, sein Blick
war scharf durch Frost.
Er fuhr fort : »Wenn ich sieben Menschen vielleicht gliicklich
gemacht habe, so muB auf meinem schwarzen Marmor geschr-ieben
werden: Es ruht... Warum wunderst du dich so? Bist dujet^t
schon ruhig?« - Der Vater sah starr auf das weiBe Herz, und starrer
geradeaus, als wenn eine Gestalt sich aufhobe aus dem Grabe —
das frierende Auge legte und drehte sich auf eine aufdringende 30
Trane - schnell zog er einen Flor von einem Spiegel zuriick und
sagte : »Blicke hinein, aber umarme mich darauf !«. . . Viktor starrte
in den Spiegel und sah schaudernd ein ewig geliebtes Angesicht
darin erscheinen - das Angesicht seines Lehrers Dahore - er bebte
1 So hieC die Gemahlin des Lords, die im 23sten Jahre der Ruhe in die
ewigen Arme fiel.
12. HUNDPOSTTAG 659
wohl zusammen, aber er sah sich doch nicht um und umfaBte den
Vater, der ohne HofTnung war.
»Du zitterst viel zu stark,« (sagte der Lord) »aber frage mich
nicht, mein Teurer, warum alles so ist: in gewissen Jahren tut
man die alte Brust nicht mehr auf; so voll sie auch sei.«
Ach du dauerst mich! Denn die Wunden, die aufgedeckt wer-
den konnen, sind nicht tief ; der Schmerz , den ein menschenfreund-
liches Auge finden, eine weiche Hand lindern kann, ist nur klein.
- Aber der Gram, den der Freund nicht sehen darf, weil er ihn
10 nicht nehmen kann, dieser Gram, der zuweilen ins begluckte Auge
in Gestalt eines plotzlichen Tropfens aufsteigt, den. das wegge-
wandte Angesicht vertilgt, hangt uberdeckt schwerer und schwerer
am Herzen und zieht es endlich Ios und fallt mit ihm unter die
heilende Erde hinab : so werden die Eisenkugeln an den iiber dem
Meer gestorbnen Menschen angeknupft, und sie sinken mit ihm
schneller in sein groBes Grab. —
Er fuhr fort : »Ich werde dir etwas sagen ; aber schwore hier auf
dieser teuern Asche, zu schweigen. Es betrirTt deinen Flamin, und
diesem muBt du es verhehlen.« Das ftel dem von einer Welle auf
20 die andre gestiirzten Viktor auf. Ererinnerte sich, daB ihm Flamin
das Versprechen auf der Warte abgedrungen, daB sie miteinander,
wenn sie sich zu sehr beleidigt hatten, sterben wollten. Er stand
mit dem Schwur an - endlich sagt* er: »Aber kurz vor meinem
Tode darf ichs. ihm sagen?« - »Kannst du ihn wissen?« sagte sein
Vater. - »Aber im Fall?« - »Dann!« sagte jener kalt. -
Viktor schwur ; und zitterte vor dem kunftigen Inhalt des Eides.
Auch muBt' er versprechen, vor der Wiederkehr des Lords
diese dunkle Insel nicht zu besuchen.
Sie traten aus dem Laub-Mausoleum und lieBen sich auf eine
30 umgesturzte Stalaktite nieder. Zuweilen fiel unter dem Reden ein
fremder Harmonika-Ton von Blatt zu Blatt, und in einer weiten
Feme schienen die vier Paradieses -Flusse unter einem mitbeben-
den Zephyr hinwegzuhallen.
Der Vater begann: »Flamin ist Klotildens Bruder und des
Fursten Sohn.« —
Nur ein solcher Gedanken-Blitz konnte noch in Viktors ge-
660 HESPERUS
blendete Seele dringen: eine neue Welt ging in ihm jetzt in die
Hohe und riB ihn aus der nahen groBen weg. -
»Auch« (fuhr Horion fort) »leben Januars drei andere Kinder in
England noch, bloB das vierte auf den sieben Inseln ist unsicht-
bar.« Viktor begriffnichts; der Lord riB der Vergangenheit alle
Schleier ab und fuhrte ihn vor eine neue Aussicht ins nahe Leben
und ins verflossene. Ich werde nachher alle Entdeckungen und
Geheimnisse des Lords dem Leser geben : jetzt will ich erst den
Abschied des Vaters und des Sohns erzahlen.
Wahrend der Lord seinen Sohn in die dustern unterirdischen 10
Gange der vorigen Zeit begleitete und ihm alles sagte, was er der
Welt verschwieg: so gingen aus Viktors Augen Tranen uber
manche Geringfiigigkeit, die keine verdienen konnte; aber der
Strom dieser weichen Augen wurde nicht durch diese Erzahlung,
sondern durch das zuriickkehrende Andenken an den ungluck-
lichen Vater und durch die Nahe der bedeckten schonen Aschen-
gestalt und des Trauermarmors aus dem fortweinenden Herzen
gedriickt. - Endlich horten alle Tone der Insel auf- das schwarze
Tor schien zuzufallen - alles war still - der Lord war mit der Ent-
hullung und allem zu Ende und sagte: »Geh immer heute noch 20
nach Maienthal - und sei vorsichtig und glucklich!« - Aber ob er
gleich den Abschied mit jener zuruckhaltenden Feinheit nahm, die
in seinem Stande sogar Eltern und Kindern die Hande und die
Arme fiihrt: so driickte doch Viktor den kindlichen, von Seufzern
und Gefiihlen schwangern Busen an den vaterlichen mit einer
Heftigkeit, als wollt' er sein verarmendes Herz zu den Tranen
entzweipressen, die er immer heiBer und groBer zeigen muBte.
Ach der Verlassene! Als die Briicke, welche die vaterlichen und
die kindlichen Tage auseinanderspaltete, aufgestiegen war, ging
Viktor allein dariiber, wankend und taub - und als sie ins Wasser 30
wieder eingesunken und der Vater in die Insel verschwunden war,
driickte ihn das Mitleiden auf das Ufer darnieder - und als er alle
Tranen aus dem leidenden Herzen wie Pfeile gezogen hatte, ver-
lieB er langSam und traumend die sdlle Gegend der Ratsel und
Schmerzen und den dunkeln Trauergarten der toten Mutter und
des dustern Vaters, und seine ganze erschiitterte Seele rief unauf-
12. HUNDPOSTTAG 66l
horlich: ach guter Vater, hoffe wenigstens und kehre wieder und
verlaB mich nicht! —
Wir wollen jetzt alles, was in der bisherigen Geschichte Dunkel-
heiten machte, und was der Lord seinem Sohne auf hellte, uns auch
aufklaren. Man erinnert sich noch, daB zur Zeit, da er nach Frank-
reich abging, um die Kinder des Fiirsten- den sogenannten Walli-
ser, Brasilier und Asturier und den Monsieur - abzuholen, die
finstere Nachricht ihrer Entfiihrung einlief. Diese Entfiihrung
hatt' er aber (das gestand er nun) selber veranstaltet, bloB das
io Verschwinden des Monsieur auf den sieben Inseln war ohne sein
Wissen vorgefallen; und in seine Unwahrheit konnt* er also einige
Wahrheit als Mundleim mischen. Diese drei Kinder lieB er ver-
borgen nach England bringen und sie in Eton zu Gelehrten und
in London zu Semperfreien erziehen, um sie einmal ihrem Vater
als blutverwandte Beistande seiner wankenden Regierung wieder-
zuschenken. Daher hatt* er dem sogenannten Infanten (Flamin)
Regierrat werden helfen. Sobald er einmal die ganze Kinderkolo-
nie beisammen hat, so uberrascht und begliickt er den Vater mit
ihrer frohen Erschelnung. Den jetzt unsichtbaren Sohn des Ka-
20 plans, der Blattern und Blindheit vor dem Einschiffen bekam, ver-
heimlicht er darum, weil sonst leicht zu erraten ware, wem Flamin
eigentlich angehore.
Viktor fragte ihn, wie er den Fiirsten von der Verwandtschaft
mit vier oder fiinf Unbekannten uberfiihre. »Durch mein Wort«,
versetzte Horion anfangs; dann fugte er die iibrigen Beweismittel
hinzu: bei Flamin das Zeugnis der mitkommenden Mutter (der
Nichte), bei den iibrigen ihre Ahnlichkeit mit ihren Abbildern,
die er noch hat, und endlich das Muttermal eines Stettinerapfels.
Viktor hatt' es schon lange von der Pfarrerin gehort, alle Sohne
50 Jenners hatten ein gewisses Mutter- oder Vatermal auf dem linken
Schulterblatt, das wie nichts aussahe, ausgenommen im Herbst,
wenn die Stettiner reifen : da werd' es auch rot und gleiche dem
Urbild. - Dem Leser selber miissen aus den Jahrbiichern der ku-
riosen und gelehrten Gesellschaften ganze Fruchtkorbe voll
Kirschen vorgekommen sein, deren Rotelzeichnung nur matt auf
Kindern war, und die sich erst mit den reifenden Urbildern auf
662 HESPERUS
den Zweigen hoher roteten. Ware einem Bad-Gesellschafter von
mir zu glauben, so hatt* ich selber ein solches Stettiner Frucht-
stiick auf der Schulter hangen : die Sache ist nicht wahrscheinlich
und nicht erheblich; inzwischen durft' ich doch im kiinftigen
Herbste - denn ich setzte mirs einige Herbste vor, nun aber er-
innert mich Knef mit seinem Hunde daran -, sobald die Stettiner
zeitigen, einen Spiegel nehmen und mich von hinten besehen. -
Und aus demselben Grunde schiebt diese Stettiner Fruchtschnur
die Riickkehr des Lords, wenigstens die Obergabe und Erken-
nung der Kinder, auf die Herbstzeit ihrer Rote auf. 10
Ich mache mir kein Bedenken,hier ein satirische Note meines
Korrespondenten zu iibergeben. »Stellen Sie sich« (schreibt er)
»bei dieser Nachricht, als taten Sie es auf mein Geheifi, und er-
zahlen Sie des Lords Exposition und OfFenbarung, wenn Sie sie
einmal erzahlet haben, Ihrem Leser ganz ruhig zum zweitenmal;
damit er sie nicht vergiBt oder verwirrt. Leser kann man nicht
genug betrugen, und ein gescheiter Autor wird sie gern an seinem
Arm in Mardereisen, Wolfgruben und Prellgarne geleiten.« Ich
bekenn' es, zu solchen PflfTen hatt' ich von jeher schlechten An-
satz - und bringt es iiberhaupt nicht mir und dem Leser mehr 20
Ehre, wenn ers gleich aufs erstemal behalt, da 6 Flamin Jenners
naturlicher und Le Bauts angeblicher Sohn ist-daB des Pfarrers
seiner blind und nicht da ist - dafi noch drei oder vier andre Jen-
ners-Kinder aus den gallischen Seestadten nachkommen — , mehr
Ehre, sag* ich, als wenn ichs jetzt ihm zum zweiten Male (im
Grunde war's zum dritten Male) vorkauen muBte, daB Flamin
Jenners naturlicher und Le Bauts angeblicher Sohn ist, daB des
Pfarrers seiner blind und nicht da ist, und daB noch drei oder vier
andre Jenners-Kinder aus den gallischen Seestadten nachkommen?
Ich frage. 3°
Der Lord hatte seinem Sohn den Eid des Schweigens gegen
Flamin darum abgefodert, weil dieser aus RechtscharTenheit
alle Geheimnisse bewahrte, aber aus Zornhitze alle verriet - weil
er in dieser seine Geburt geltend machen wiirde, bloB um sich
mit einem Widersacher herumzuschieBen - weil er noch morgen
deswegen aus einem Vorfechter mit dem Themis-Schwerte ein
12. HUNDPOSTTAG 663
Nachfechter mit dem Kriegsdegen werdenkonnte-undweilsich
iiberhaupt ein Geheimnis gleich der Liebe noch besser unter zwei
Teilnehmern befindet als unter dreien. Auch glaubte der Lord, aus
einem Menschen, dem man Geld gabe, damit er etwas wiirde,
wiirde mehr als aus einem, der etwas ware, weil er Geld hatte, und
der die Miinzen-fiir seine Erbschaftwappen und nicht fiir ausge-
setzte Preismedaillen kiinftiger Auflosungen ansahe.
Nach alien diesen Eroffnungen machte der Lord unserem Vik-
tor noch eine wichtige, auf die er in der iibereiseten Laufbahn
10 seines kiinftigen Hof lebens immer wie auf eine Warntafel zuriick-
zublicken habe.
A)s der Lord vor dem Aschen-Hause seiner Geliebten erblin-
dete, wurde seine ganze Korrespondenz mit England, mit der
Nichte und mit den Lehrern der Fiirstenkinder erschwert, wenig-
stens verandert. Er muBte sich die einlaufenden Briefe von einem
Freunde vorlesen lassen, dem er trauen konnte; er konnt' aber
keinem trauen. Allein eine Freundin fand er aus, die Sen glanzen-
den Vorzug seines Vertrauens verdiente, und die niemand war als
- Klotilde. Er, der seine Gehcimnisse nicht wie ein Jiingling ver-
20 schleuderte, durft' es dennoch wagen, Klotilden in den Besitz
seiner groBten zu setzen und sie zur Buchhalterin und Vorleserin
der Briefe ihrer Mutter zu machen, der sogenannten Nichte. Ober-
haupt hielt er die weibliche Verschwiegenheit fiir grofier als
unsere - wenigstens in wichtigen Dingen und in Sachen geliebter
Manner. Aber man hore, was der Teufel im letzten Winter
tat; mir ists bedenklich.
Der Lord erhielt einen Brief von der Mutter Flamins, worin sie
ihre alten Bitten um eine schnellere Erhebung des geliebten Kin-
des und die Fragen iiber sein Schicksal im Pfarrhaus wiederholte.
30 Zum Gliick machte gerade Klotilde einen Besuch in St.Liine und
ersparte ihm die Reise nach Maienthal. Er besuchte den Kammer-
herrn, um von seiner Vorleserin den Brief zu horen. Mit Miihe
fand er im Zimmer Klotildens eine unbelauschte Stunde aus. Als
er sie endlich hatte, und Klotilde den Brief verlas, wird diese durch
die Stiefmutter von der Vorlesung weggerufen. Der Lord horet
sie sogleich wiederkommen, den Brief nur dunkelmurmelnd iiber-
664 HESPERUS
lesen und leise sagen, sie gehe wieder, kommeaber gleich zuriick,
Nach einigen Minuten kommt Klotilde, und da der Lord fragt,
warum sie zum zweitenmal fortgegangen, streitet sie das zweite
Gehen ab - der Lord beteuert - sie gleichfalls - endlich fallt Klo-
tilde auf die bittere Vermutung, ob nicht Matthieu dagewesen
und mit seiner Theaterkunst und Kehle, worin alle Menschen-
stimmen steckten, sie selber nachgespielt und travestieret habe,
um unter ihrem Kreditiv den wichtigen Brief zu lesen. Ach es war
zu viel fur die Vermutung, und zu wenig dagegen ! Zwar konnte
Matthieu jetzt an Flamin, dessen akademische Laufbahn eben aus- :
gelaufen war, die Oktoberprobe der Schulterdevise nicht vor-
nehmen; aber er klebe sich doch (schien es nachher Klotilden und
dem Lord) mit seinen LaubfroschfiiBen an diese gute Seele an,
und unter dem Deckmantel der Liebe gegen Agathe und gegen
den Freund hang' er seine Faden aus, lasse sie vom Winde
zwischen dem Fiirstenschlosse und Pfarrhause aufspannen, spinne
immer einen uber den andern, bis endlich sein Vater, der Minister
Schleunes,das rechte Netzzum Umwickeln desFanges zusammen-
gezwirnt hatte — Ich gesteh' es, durch diese Vermutung geht mir
ein Lkht uber tausend Dinge auf. - ;
Viktor erstaunte arger als wir und schlug dem Lord vor, ob er
nicht ohne Schaden seines Eides Klotilden seinen Eintritt in diese
Mysterien offenbaren konnte, da er zwei Grunde dazu hatte : erst-
lich werde ihrer Delikatesse die Verlegenheit uber den Schein er-
spart, den ihre schwesterliche Liebe sonst nach ihrer Meinung in
seinen Augen haben muBte 1 - zweitens behalte man ein Geheim-
nis besser, wenn -nur noch einer daran schweigen helfe, wie von
Midas' Barbier und dem Schilfrohr bekannt sei - der dritte Grund
war, er hatte mehre Grunde. Natiirlicherweise schlug es ihm der
Lord nicht ab. 3
Obrigens fiihrte er seinen Viktor mit keinem pedantischen
Marschreglement auf die Eisbahn und Stechbahn des Hofes. Er
riet ihm bloB, niemand zu absichtlich zu suchen und zu meiden -
besonders das Schleunessche Haus - bloB seinen Freund Flamin,
1 Daher sie auch, solange Viktor im Pfarrhause war, der Gesellschaft
Flamins auswich.
12. HUNDPOSTTAG 665
den Matthieu lenke, abzuzaumen und ihn, anstatt am Zaume,
lieber an der freundschaftlichen Hand zu fiihren - bloB den Rang
eines Doktors zu begehren, und mehr nicht. Er sagte, Regeln vor
Erfahrungen waren Geometrie vor dem Starstechen. Sogar nach
der Ernte der Erfahrungen ware Gracians homme de cour und
Rochefoucaults Maximen nicht so gut als die memoires und Ge-
schichte der Hofe, d.h. die Erfahrungen andrer. Endlich berief er
sich auf sein eignes Beispiel und sagte, es waren erst wenige Jahre,
daB er folgende Regeln seines Vaters begriffe :
10 Der groBte HaB ist, wie die groBte Tugend und die schlimm-
sten Hunde, still. - Die Weiber haben mehr Wallungen und weni-
ger Ober wallungen als wir. - Man hasset am andern nichts so sehr
als einen neuen Fehler, den er erst nach Jahren zeigt. — Die meisten
Narrheiten veriibt man unter Leuten, nach denen man nichts
fragt. - Es ist die gewohnlichste und schadlichste Tauschung, daB
man sich allzeit fur den ein(igen halt, der gewisse Dinge bemerkt.
- Die Weiber und sanfte Leute sind nur zaghaft in eignen Ge-
fahren, und herzhaft in fremden, wenn sie retten sollen. - Traue
keinem (und war' es ein Heiliger), der in der geringsten Kleinig-
20 keit seine Ehre im Stiche lasset; und einer solchen Frau*noch
weniger. - Die erste Gefalligkeit gewahrt dir jeder gern, die
zweite ungern, die dritte gar nicht. - Die meisten verwechseln
ihre Eitelkeit mit ihrer Ehrliebe und geben Wunden der einen fur
Wunden der andern aus, und umgekehrt. - Was wir aus Menschen-
liebe vorhaben, wiirden wir allemal erreichen, wenn wir keinen
Eigennutz einmischten. - Die Warme eines Mannes wird von
nichts leichter verkannt als von der Warme eines Jiinglings. —
Die letzte Bemerkung, die sich vielleicht naher bezog, hatt' er
schon am Ufer der Insel in der Stellung des Abschieds gemacht,
30 den er mit jener besonnenen Hoflichkeit nahm, die in seinem
Stande sogar Eltern und Kindern die Hande und Arme fiihrt.
666 hesperus
Dritter Schalttag
Wetterbeobachtungen uber den Menschen
Da ich im vorigen Kapitel die Kernspriiche des Lords nieder-
schrieb: so sari' ich, daB mir selber eigne einfielen, die fur Schalt-
tage zu brauchen waren. Ich habe niemals eine Bemerkung allein
gemacht, sondern allemal zwanzig, dreiBig hintereinander - und
gerade diese erste ist ein Beweis davon.
Wenn jemand bescheiden bleibt, nicht beim Lobe, sondern beim
Tadel, dann ist ers.
*
Das Gesprach des Volks und noch mehr die Briefe der Madchen *<>
haben einen eignen Wohlklang durch einen steten Wechsel mit
langen und kurzen Silben (Trochaen oder Jamben).
Zwei Dinge vergisset ein Madchen am leichtesten, erstlich wie sie
aussieht - daher die Spiegel erfunden wurden -, und zweitens,
worin sich das von dafi unterscheidet. Ich besorg' aber, daB sie
den Unterschied, bloB um meinen Satz umzustoBen, von heute
an behalten werden. Und dann geht mir einer von den beiden
Probiersteinen verloren 1 , an die ich bisher gelehrte Frauenzimmer
strich — der zweite, den ich behalte, ist ihr linker Daumennagel,
welchen das Federmesser zuweilen voll Narben geschnitten, aber 20
selten, weil sie die Feder leichter fiihren als schneiden.
Einer, der viele Wohltaten empfangen, hort auf, sie zu ^ahlen^ und
fangt an, sie zu wdgen ~ als warens Stimmen.
1 Es lief gliicklicher und ohne Verlust der Steine ab; und ich hatte die
Genugtuung, daB keine, Welche die erste AufJage dieses Werks gelesen, im
weiblichen Rochieren oder Chargentausche des das und dafi etwas geandert
hat. - Ja sogar die Leserinnen der zweiten Auf lage sind sich gleich geblieben.
DRITTER SCHALTTAG 667
Die Versetzung in gute Charaktere tut einem Dichter und Schau-
spieler, der seinen behalt, mehr Schaden als die Versetzung in
schlimme. Ein Geistlicher, der noch dazu nur die erstere Verset-
zung frei hat, ist der moralischen Atonie mehr bloBgestellet als der
Vers- und Rollenmacher, der eine heilige Rolle wieder durch eine
unheilige gutzumachen vermag.
Die Leidenschaft macht die besten Beobachtungen und die elen-
desten Schlusse. Sie ist ein Fernrohr, dessen Feld desto heller, je
enger es ist.
[o Die Menschen fodern von einem neuen Fursten - Bischof- Haus-
hofmeister - Kinderstuben-Hofmeister - Kapaunenstopfer -
Stadtmusikus und Stadtsyndikus nur in der ersten Woche ganz
besondere Vorzuge, die dem Vorfahr fehlten: - denn in der
zweiten haben sie vergessen, was sie gefodert und was sie ver-
fehlet haben.
*
Solche Sentenzen gefallen und bleiben den Weibern am meisten.
Daher will ich zur Belohnung mehr als eine iiber sie selber ver-
fertigen. Sie halten andere nur fiir jiinger, nicht fiir schoner als
sich.
*
20 Sie sind noch zehnmal listiger und falscher gegen einander als
gegen uns; wir aber sind gegen uns fast noch redlicher als gegen
Sie sehen nur darauf, dafi man sich bei ihnen entschuldige, nicht
wie.
Sie vergeben dem Geliebten mehre Flecken als wir der Geliebten.
Daher die Romanschreiber die Helden ihres Kiels saufen, toben,
duellieren und uberall xibernachten lassen, ohne den geringsten
668
Nachteil der Helden. - Die Heldin hingegen muB zu Hause neben
der Mutter sitzen und ein Engelein sein.
Oberhaupt sind sie so weich, so mild, so teilnehmend, so fein, so
liebevoll und liebesehnsuchtig, daB es mir gar nicht in denKopf
will, warum sie - einander selbst nicht recht leiden konnen, -
wenns nicht etwa darum ist, weil sie gegen einander zu hoflich
sind, um sich formlich auszusohnen oder fdrmlich zu entzweien.
Ihr Lieben! ihr liebt zuweilen einen Menschen, weil er einen
Freund hat und einer ist - o, wie gut wurde euch erst eine Freun-
din kleiden. 1
*
Man lernt Verschwiegenheit am meisten unter Menschen, die
keine haben - und Plauderhaftigkeit unter Verschwiegenen.
Wenn Selbkenntnis der Weg zur Tugend ist: so ist Tugend noch
mehr der Weg zur Selbkenntnis. Eine gebesserte gereinigte Seele
wird von der kleinsten moralischen Giftart wie gewisse Edel-
steine von jeder andern trtibe, und jetzo nach der Besserung merkt
sie erst, wie viele Unreinigkeiten sich noch in alien Winkeln auf-
halten.
*
Ich will mit einigen Regeln der Besserung schliefien: Stelle kei-
nem, sobald deine Brust den Seitenstich des Zorns befurchten 20
muB, beredt seine Fehler vor; denn indem du ihn von seiner
Straflichkeit iiberreden willst, so uberredest du dich selber davon
und wirst also erbost. — Male dir an jedem Morgen die ungefahren
. Lagen und Leidenschaften vor, worin du am Tage kommen
kannst: du betragst dich dann besser, denn man ist selten in einer
wiederholten Lage zum zweitenmal schlecht. - Zurnet dein Freund
mit dir: so verschaff ihm eine Gelegenheit, dir einen groBen
Gefallen zu erweisen; dariiber muB sein Herz zerflieBen, und er
wird dich wieder lieben. - Keine Entschliisse sind groB als die,
welche man mehr als einmal auszufuhren hat. Daher ist Unter- 30
13. HUNDPOSTTAG 669
lassen schwerer als Unternehmen j denn jenes muB langer fortgeset-
zet werden, und dieses ist noch mit dem Gefuhle einer doppelten
KraftauBerung verkniipft, einer psychologischen und einer mora-
lischen. - Verzage nur nicht, wenn du einmal fehlest; und deine
ganze Reue sei eine schoriere Tat. - Mache dich (durch Stoizismus
oder womit du kannst) nur rukig, dann hast du wenig Muhe, dich
auch tugendkaft zu machen. - Fange deine Herzausbildung nicht
mit dem Anbau der edeln Triebe, sondern mit dem Ausschneiden
der schlechten an. Ist einmal das Unkraut verwelkt oder aus-
10 gezogen: dann richtet sich der edlere Blumenflor von selber
kraftig in die Hohe. - Das tugendhafte Herz wird, wie der Kor-
per, mehr durch Arbeit als durch gute Nakrung gesund und stark.
Daher kann ich aufhoren.
13. HUNDPOSTTAG
t) ber des Lords Charakter - ein Abend aus Eden - Matentkal — der Berg
und Emanuel
Uber den Lord muB ich drei "Worte sagen, namlich drei Mei-
nungen.
Die erste ist ganz unwahrscheinlich : er halt nach ihr wie alle
> Welt- und Geschaftmanner das Menschengeschlecht fiir einen
Apparat zu Versuchen, fiir Jagdzeug, fiir Kriegsgerate, fiir Strick-
zeug - diese Menschen sehen den Himmel nur fiir die Klaviatur
der Erde und die Seele fiir die Ordonnanz des Korpers an - sie
fiihren K.riege, nicht urn die Kranze der Eichen, sondern um ihren
Boden und ihre Eicheln zu erbeuten - sie ziehen den Gliicklichen
dem Verdienstvollen vor und den Erfolg der Absicht - sie brechen
Eide und Herzen, um dem Staate zu dienen - sie achten Dicht-
kunst, Philosophic und Religion, aber als Mittel; sie achten
Reichtum, statistischen Landesflor und Gesundheit, aber als
3 Zwecke - sie ehren in der reinen Mathesis und in reiner Weiber-
tugend nur beider Verwandlung in unreine fiir Fabriken und
Armeen, in der erhabnen Astronomie nur die Verwandlung der
67O HESPERUS
Sonnen in Schrittzahler und Wegweiser fur Pfefferflotten, und
im erhabensten magister legens nur den ankodernden Bierkranz
fur arme Universitaten. —
Die zweite Meinung ist wenigstens der ersten entgegen und
besser : dem Lord ist, wie andern grofien Menschen, die Laufbahn
das Ziel, und die Schritte sind ihm die Kranze - Gluck unter-
scheidet sich bei ihm von Ungliick nicht im Werte^ sondern in der
Ar^ ihm sind beide zwei zusammenlaufende Rennbahnen zum
Ewigkeit-Ringe der innern Erhebung- alle Zufalle dieses Lebens
sind ihm bloBe Rechenexempel in unbenannten Zahlen, die er i<
durchmacht, aber nicht als Kaufmann, sondern als IndifFerentialist
und Algebraist, welchem die Produkte und die Multiplikanden
gleich lieb sind, und dem es einerlei ist, mit Buchstaben oder mit
Zentnern zu rechnen.
Wahrhaftig, der Mensch hat sich fast ebensoviel vorzuwerfen,
wenn er miBvergniigt, als wenn er lasterhaft ist; und da es auf
seinen Gedanken-Ozean ankommt, ob er aus ihm die unterste
Holle oder ein Arkadien-Otaheiti als Insel heben will : so verdient
er alles, was er erschafFt —
Gleichwohl ist die dritte Meinung die wahre und zugleich die 2c
meinige : der Lord, so sehr er ein indeklinabler Mensch zu sein
scheint, der nach nichts geht, sondern ein Verbum in jbtc ist, hat
doch folgendes Paradigma - (und so Iiegt umgekehrt im gewohn-
lichsten Menschen der kurze AbriB zum sonderbarsten) -: er ist
einer der ungliicklichen GroBen, die zu viel Genie, zu viel Reich-
turn und zu wenig Ruhe und Kenntnisse haben, um gliicklich zu
bleiben - sie hetzen Freude statt der Tugend und verfehlen beide
und schreien zuletzt uber jeden bittern Tropfen, der ihnen in
einem Zuckerhut eingegeben wird - gleich der Silberflache sind
sie gerade in der Zerschmelzung durch Freuden-Feuer am ge- 30
neigtesten, sich mit einer dunkeln Haut zu iiberziehen - ihr Ehr-
geiz, der sonst durch Plane die Leerheit des vornehmen Lebens
bedeckt, ist nicht stark genug gegen ihr Herz, das in dieser Leer-
heit verwelkt - sie tun Gutes aus Stolz, aber ohne Liebe dazu, sie
spielen mit dem ausgekernten Leben wie mit einer Locke und
halten es nicht einmal der Miihe wert, es abzukiirzen - aber doch
13- HUNDPOSTTAG 67 1
halten sie es dieser Miihe wert, wenn ihnen, indes sie in diesem
Nachtfrost der Seele dastehen, auBen lachelnd und kalt, innen
iibergliiht, ohne Hoffnung, ohne Furcht, ohne Glauben, ent-
sagend, spielend und zugeschlossen, wenn ihnen ein Todesfall,
ein groBer Schmerz ins ungluckliche Herz greift. — Ach armer
Lord ! kann denn deines nicht eher als unter der Decke des schwar-
zen Marmors ruhen?
Ach armer Lord! wiederholte unaufhorlich sein Sohn, der nach
Maienthal mit einer gepreBten Seele ging. AuBen um ihn war der
10 Himmel still; ein groBes Gewolk iiberdeckte ihn ganz, aber es
stand ringsum auf einem blauen Saum am Horizont. Hingegen in
Viktors Brust zogen Luftstrdme gegeneinander und wirbelten
sich zu einer Windhose zusammen, die Bache auftrinkt und
Baume aufzieht. - Sein Vater hing bleich in diesem Sturm. - Vik-
tors kiinftige Tage wurden hin- und hergeschleudert. - Sein
kiinftiges Leben drangte sich in ein enges uberflortes Bild zu-
sammen und machte ihn ebenso angstlich daruber, dafizx es leben
miiBte, als wie er es muBte.
Am wehesten tat ihm gerade die sinnlicheKleinigkeit,daB sein
20 Vater noch allein und verhullt in der Insel geblieben war. Einmal
fiel ihn die Vermutung an, ob nicht das meiste nur dramatische
Maschinerie gewesen sei, die sein Vater (der in der Jugend ein
Tragodiendichter gewesen) gebraucht habe, um seinem Geliibde
der Verschwiegenheit mehr Festigkeit zu geben - aber sogleich
ekelte ihn seines eignen Herzens. Warum sind die reinsten Seelen
mit einer Menge ekelhafter, giftiger Gedanken gequalt, <Jie wie
Spinnen an den glanzenden Wanden hinaufkriechen und die sie
nur die Miihe totzudriicken haben? Ach unsre Kriege unter-
scheiden' sich nicht ganz von unsern Niederlagenl
30 Es ist sonderbar, daB er den perspektivischen Gedanken an
Klotildens Blutverwandtschaft mit Flamin am wenigsten ver-
folgte. -
Wenn der Mensch von der Vernunft keine balsamische Mittel
erlangen kann : so fleht er die Hoffnung und die Tauschung dar-
um an; und beide zerteilen dann gern den Schmerz. So wie heute
nach und nach am Himmel durch lichte Fugen das Blaue durchriB,
672 HESPERUS
und wie das Nebelmeer zu hangenden Seen einlief : so gingen auch
in Viktors Seele die dunkeln Gedanken auseinander. - Und als
die geschwollnen Wolkenklumpen im weiten Blau zu Flocken
eingingen, bis endlich das blaue Meer alle Nebelbanke verschlang
und nichts auf seiner unendlichen Flache trug als die herunter-
lodernde Sonne : so reinigte sich auch Viktors Seele von Diinsten,
und das Sonnenbild Emanuels, den er heute erreichen sollte,
schien sanft und warm und wolkenlos in alle seine Wunden...
Die Gestalt seines geliebten Dahore - die Gestalt seines geliebten
Vaters — die Gestalt seiner verhiillten Mutter und alle geliebten it
Bilder ruhten wie Monde in einer wehmutigen Gruppe iiber ihm,
und diese Wehmut und der heilige Schwur, tugendhaft zu blei-
ben und alien Wiinschen seines Vaters zu gehorchen, wehten sei-
ner entziindeten Brust einigen Trost iiber das vaterliche Schick-
sal zu.
Er konnte heute noch die Sonne hinter Maienthals Kirchturm
untergehen sehen.
Der weite ausgeheiterte Himmel macht ihn weicher - der Ge-
danke, heute an das Herz eines edeln Menschen zu fallen, dessen
Seele iiber diesem blauen Dunstkreis wohnte, machte ihn groBer *c
- die Hoffnung, von diesem Menschen iiber das ganze Leben ge-
trostet zu werden, machte ihn stiller. -
Er eilte, und sein Eilen zog den wehmiitigsten Lautenzug seiner
Seele. Denn er ging nicht iiber die Sommergefilde, sondern die
Sommergefilde wandelten vor ihm voruber - eine Landschaft
nach der andern, Theater mit Waldern, Theater mit Saaten flogen
vorbei - neue Hiigel stiegen mit andern Lichtern auf und hoben
ihre Walder empor, und andre sanken mit denihrigen unter- lange
Schatten-Steppen liefen zuriick vor heranflieBendem gelben
Sonnenlicht - bald stromten Taler voll Blumen um ihn, bald er- 30
hoben ihn heiBe leere Hiigel-Ufer - der Strom rauschte nahe an
sein Ohr, und plotzlich blinkten seine Kriimmungen entfernt iiber
Mohnfelder heriiber - weiBe Strafien und griine Pfade begegneten
und entflohen ihm und zogen um die weite Erde - voile Dorfer
riickten mit glimmenden Fenstern vorbei und Garten mit ent-
kleideten Kindern - die gesenkte Sonne wurde bald erhoben,
13. HUNDPOSTTAG 673
bald vertieft, bald auf Gipfel der Walder, bald auf Gipfel der
Berge gezogen -
Dieses Voruberfliehen der Szenen verdunkelte sein benetztes
Auge und erhellte die innere Welt; aber das Stehenbleiben eines
unaufhorlichen Tones, dieses iiber ihm bleibende Lerchenchor,
dessen streitende Rufe in seiner Seele zu einem zerflossen, dieses
entfernte Getone aus Waldern und Biischen und Liiften, diese
Harmonika der Natur machte, daB er zu sich sagte : »Warum halt*
ich in dieser Einsamkeit jeden Tropfen an, der fallen will? Nein,
10 ich bin ohnehin heute zu weich, und ich will mich erschopfen, eh'
ich den geliebten Menschen sehe.«
Endlich stieg er den breiten Berg hinauf, der sich vor das zu
dessen FiiBen grunende Matenthal mk seinen zerstreueten Baum-
saulen und grauen Quadern stellt Da klang die vom Ewigen
gestimmte Erde mit tausend Saiten; da bewegte dieselbe Harmo-
nie den in Gold und Nacht zerstuckten Strom und den sumsenden
Blumenkelch und die bewohnte Luft und den durchwehten
Busch; da standen der gerotete Osten und der gerotete Westen
wie die zwei rosataftnen Flugeltiiren eines Fliigels aufgespannt,
20 und ein hebendes Meer quoll aus dem geoffneten Himmel und aus
der geoffneten Erde ...
Er ergoB sich in Freuden- und Trauertranen miteinander, und
die Zukunftund die Vergangenheit bewegten zugleich sein Herz.
Die Sonne fiel immer schneller den Himmel herab, und er bestieg
schneller den Berg, um ihr langer nachzusehen. Und hier sah er
in das Dorfchen Maienthal hinab, das zwischen feuchten Schatten
glimmte....
Zu seinen FiiBen und an diesem Berge lagerte sich, wie ein be-
kranzter Riese, wie eine versetzte Friihlings-Insel, ein englischer
10 Park. Dieser Berg gegen Siiden und einer gegen Norden waren
zu einer Wiege zusammengeruckt, in der das stille Dorfchen
ruhte, und iiber welche die Morgen- und die Abendsonne ihr
goldnes Gespinst hindeckte.In fiinf blitzenden Teichen schwank-
ten funf dunklere Abendhimmel, und jede aufhupfende Welle
malte sich im dariiberschwebenden Sonnenfeuer zum Rubin.
Zwei Bache wateten in veranderlichen Entfernungen, von Rosen
674 HESPERUS
und Weiden verdunkelt, iiber den langen Wiesengrund, und ein
wasserndes Feuerrad trieb wie ein gehendes Herz das vom Abend
gerotete Wasser durch alle grunende BIumengefaBe. Oberall
nickten Blumen, diese Schmetterlinge unter den Gewachsen - auf
jedem bemoosten Bachstein, aus jedem miirben Stocke, um jedes
Fenster wiegte sich eine Blume in ihrem Duft, und spanische
Wicken iiberzogen mit blauen und roten Adern einen Garten ohne
Zaun. Ein durchsichtiges Waldchen von goldgriinen Birken stieg
in hohem Gras driiben den nordlichen Berg hinan, auf dessen
Kuppel fiinf hohe Tannen als Ruinen einer gestiirzten Waldung i.
horsteten.
Emanuels kleines Haus stand am Ende des Dorfes in einem Ge-
strick von Jelangerjelieber und in der Umarmung eines Linden-
baums, der es durchwuchs... Sein Herz quoll auf: »Sei gesegnet,
stiller Hafen ! den eine Seele heiligt, die hier gen Himmel sieht und
wartet, um ins Meer der Ewigkeit zu gehen!« - Plotzlich warfen
die Fenster der Abtei,wo sichKlotilde erzogen hatte,dieFlammen
des Abendrots auf ihn - und die Sonne ging sanft wie ein Penn
nach Amerika — und die diinne Nacht legte sich iiber die Natur
heriiber - und die grune Klause Emanuels hullte sich ein Da *
kniete er einsam auf dem Gebirge, auf dieser Thronstufe, nieder
und sah in den gliihenden Westen und iiber die ganze stille Erde
und in den Himmel und machte seinen Geist groB, um an Gott
zu denken ....
Als er kniete : war alles so erhaben und so mild - Welten und
Sonnen zogen von Morgen herauf, und das schillernde Wiirmchen
drangte sich in seinen staubichten Blumenkelch hinab - der
Abendwind schlug seinen unermeBlichen Fliigel, und~die kleine
nackte Lerche ruhte warm unter der federweichen Brust der
Mutter - ein Mensch stand auf dem Gebirge, und ein Gold- y
Kaferchen auf dem Staubfaden . . . und der Ewige Hebte seine
"ganze Welt. —
Sein Geist war jetzt gemacht, einen groBen Menschen zu fassen,
und er sehnte sich nach der Stimme eines Bruders.
Er wankte ohne Steig ins Dorf hinab, umzogen von den grofien
Kreisen des Kibitzvogelsund von den kleinen des Maikafers. Am
13- HUNDPOSTTAG 675
FuBe des Berges war der Zwittertag dunkler - am Sternenhimmel
hob sich der Vorhang auf- der Dam pf des Abends, der heiB auf-
gezogen war, fiel kalt, wie Menschen, in die Erde zurtick: noch
eine laute Lerche drehte sich als das letzte Echo des Tages iiber
dem Berge.
Endlich hort* er Emanuels Linde. - Er hatte ihn lieber um;er
dem groBen Himmel als unter der engen Stubendecke umarmt.
Hinter dem Fenster sah er einen auBerordentlich schonen Jiang-
ling stehen, der auf der Flote blies. Dieser zog aus ihren Himmel-
10 pforten ein fliehendes schwebendes Elysium; Viktor horte ihn
lange an, um sein schlagendes Herz zu stillen; endlich ging er mit
tranenvollen Augen um das Haus und wollte sprachlos und blind
an den Jungling und an Emanuel fallen. Als er vor dem Fenster
vorbeiging, erwiderte der Jungling den Grufi nicht - als er die
Hausture eroffnete, fing ein sanftes Glockenspiel zu tonen an. So-
gleich kam der Jungling heraus und fragte ihn freundlich, wer da
sei; denn er war blind. Viktor trat in ein Allerheiligstes, da er in
die mit Linden ausgelaubte Stube ging, die den geflugelten
Menschen umgab, der jetzt auBer derselben unter der groBen
10 Nacht Gottes war. Gegen Mitternacht sollte Emanuel zuriick-
kommen. Das Zimmer war offen und rein - einige Blatter von
genossenen Fruchten lagen auf dem Tisch - um alle Fenster
gluhten Blumen - ein Sternrohr lehnte an der Wand - Reste
einer orientalischen Kleiderkammer verkundigten denlndier.--
Die Stimme des schonen Jiinglings hatte etwas unaussprech-
lich Ruhrendes fur ihn, weil sie ihm bekannt vorkam; sie zog tief
in sein Herz hinein, wie die Melodie eines Liedes, das aus der
Kindheit heraufklingt. Er durfte frei mit dem steten Blick der
Liebe auf dem in eine ewige Nacht gerichteten Angesicht ruhen;
s° er wollte die kindlichen Lippen voll Melodien kiissen und zogerte
noch; - aber da er wieder aus dem Hause ging, um Emanuel zu
suchen, und da das Glockenspiel wieder anfing - denn es tonte,
wenn die Tiir auflief, um dem Blinden alles anzumelden -, so
konnt' er sich nicht mehr halten unter dem lieblichen Getone,
sondern er beriihrte den Mund des Blinden, da er am offnen
Fenster lehnte, mit einem weichen Kusse wie mit einem Hauch.
676 HESPERUS
»Ach Engel! bist du denn wieder vom Himmel herunter?« sagte
der Blinde, der ihn mit irgendeinem bekannten Wesen verwech-
selte.
Wie war drauBen alles so gut! Die Abendglocke des Dorfes
rief iiber die entschlummerten Fluren, und eine entfernte Seele
neigte sich vielleicht nach ihren verwehten gebrochnen Tonen
heriiber. Der Abendwind rauschte mir Gipfeln voll griiner
Friichte darein. Der Abendstern - der Mond unserer Dammerung
- ruhte freundlich auf dem Wege der Sonne und des Mondes und
schickte seinen Trost zwischen die Abwesenheit von beiden.- i<
»Wo wirst du jetzt sein,mein Emanuel? Ruhest du vielleicht vor
dem Abendrot - oder schauest du in das Sternenmeer - bist du in
der Entzuckung, die wir ein Gebet nennen - oder . . .«
Jetzo blitzte in ihm auf einmal der Gedanke, sein Emanuel sei,
da heute nachts der Johannistag anfing, vielleicht am Genusse des
Abends verschieden . . . Er suchte ihn mit den Augen eifriger unter
jedem Baume, in jedem tiefern Schatten, er blickte zu den Bergen
auf, als konnt* er ihn da sehen, und zu den Sternen, als durft* er
ihn da suchen. - Er umging das Dorf, dessen Ringmauer eine
Fruchtschnur von Kirschbaumen war, die mit einer herabgeworf- a<
nen MilchstraBe von langst gefallnen Bliiten den griinen Umkreis
versilberten, und eilte uber die Ruinen der Hauser, die die Kinder
am Tage erbauet hatten, gegen die ausglimmenden Fenster der
Abtei zu, die sich am siidlichen Berge, wovon er hereingestiegen
war, in die Hohe richtete. Denn der Blinde hatte ihm gesagt, da 6
dieser Berg Emanuels Stern warte sei, und daB er jede Nacht dahin
komme. Die griine Treppe, die mit Terrassen und Moosbanken
absetzte, und an der ein Treppengelander von Buschwerk hinauf-
wuchs, fuhrte ihn einem Berge zu, der sich erhaben im Ather mit
einer hohen Trauerbirke schloB. Mit jedem Rasenplatz hoben y
sich, wie aus einem Bade,neue Glieder der dunkeln Natur heraus -
er zog gleichsam von einem Planeten in den andern. Ober das
aufsteigende verhullte Gefilde stromte der Nachtwind und zog
einsam von Wald zu Wald und spielte krauselnd am Gefieder des
schlafenden Vogels und des schwirrenden Nachtschmetterlings.
Viktor sah hinuber zur Abendrote, die die Nacht wie eine Vor-
13. HUNDPOSTTAG 677
steckrose vor den Busen, an dem die Sonnen Hegen, vorgenom-
men hatte. Das Meer der Ewigkeit stand in Gestalt der Nacht auf
dem Silbersand der Welten und Sonnen, und aus dem Meeres-
grund blinkten die Sandkorner tief herauf.
Um die Trauerbirke nahm ein unbekanntes melodisches Tonen
zu, das er schon-heute auf der Insel gehort: endlich stand er oben
unter der Birke, und das Tonen, wie das einer Harmonika, das
erst iiber Paradiese und durch Blumenhecken geflossen ist, war
laut um ihn; aber er sah nichts weiter als einen hohen Grasaltar
to (die Geburtstatte von Emanuels Brief) und eine tiefe Grasbank.
Aus welcher unsichtbaren Hand, dacht' er schauernd, gehen diese
Tone, die von Engeln abzugleiten scheinen, wenn sie iiber die
zweite Welt fliegen, von vereinigten Seelen, wenn eine zu groBe
Wonne sich zum Seufzer ausatmet und der Seufzer sich in ver-
wehtes Geton zerlegt? Es ist ihm zu vergeben, daB er an einem
solchen Tage, der seine Seele in immer groBere Erschiitterungen
setzte, in diesem Schauder der Nacht, unter diesem melodischen
Trauerbaum, an diesem AllerheiHgsten des unsichtbaren Ema-
nuels, daB er endlich glaubte, dieser sei an diesem Abend aus dem
to Leben geflohen, und seine Seele vollLiebe fliege noch in diesen
Echos um ihn und sehne sich nach der ersten und letzten Um-
armung. Er verlor sich immer mehr in die Tone und in die Stille
rings um sie - seine Seele wurde ihm zu einem Traum, und die
ganze Nachtlandschaft wurde zum Nebel aus Schlaf, in dem dieser
lichte Traum stand - die Quelle des unendlichen Lebens, die der
Ewige ausgieBet, flog weit von der Erde im unermeBlichen Bogen
mit den staubenden Silberfunken der Sonnen iiber die Unendlich-
keit, sie bog sich glimmend um die ganze Nacht, und der Wider-
schein des Unendlichen bedeckte die dunkle Ewigkeit.
o O Ewiger, wenn wir deinen Sternenhimmel nicht sahen, wie
viel wiiBte denn unser in den Erdenkot untergesunknes Herz von
dir und von der Unsterblichkeit? -
Plotzlich wurde in Osten die Nacht Hchter, weil der zerflossene
Schimmer des Mondes an den Alpengebirgen, die ihn bedeckten,
heraufschlug - und auf einmal wurden die unbekannten Tone
lauter und die Blatter und der Nachtwind. Da erwachte Viktor
678 HESPERUS
wie aus einem Traume und Leben und driickte die harmorrischen
zerrinnenden Liifte an die schmachtende Brust und rief unter den
vorquellenden Tranen, die ihm das ganze Gefilde wie eine Regen-
wolke einhiillten, aufier sich aus: »Ach Emanuel, komme! - ach
ich diirste nach dir. - Tone nicht mehr, du Seliger, nimm dein
abgelegtes Menschenangesicht und erscheine mir und tote mich
durch einen Schauder und behalte mich in deinen Armen!«...
Siehe ! als der dunkle Tranentropfen noch auf dem Auge lag
und der Mond noch hinter den Alpen verzog: da stieg den Berg
herauf eine weiBe Gestalt mit zugeschlossenen Augen - lachelnd - i-
verklart - selig - gegen den Sirius gewandt
»Emanuel, erscheinst du mir?« rief be bend Horion und riB seine
Tranen herab. Die Gestalt schlug ihre Augen auf. Sie brekete
ihre Arme aus. Viktor sah nicht und horte nicht, er gliihte und
zitterte. Die Gestalt flog ihm entgegen, und er gab sich hin:
»Nimm mich!« Sie beriihrten einander - sie umschlangen einander
— der Nachtwind riB durch sie - das fremde Geton klang naher -
ein Stern zerschoB - der Mond flog iiber die Alpen herauf
Und als er mit seinem Edenlicht die Wangen der unbekannten
Erscheinung begoB: erkannte Viktor, daB es sein teurer Lehrer - *■
Dakore war, der heute in den Spiegel der Insel seine Gestalt ge-
worfen. Und Dahore sagte: »Geliebter Sohn, kennst du deinen
Lehrer noch? Ich bin Emanuel und Dahore.« Da wurde die Um-
armung enger - Horion wollte den Dank fur eine ganze Kindheit
in einen KuB zusammenpressen und lag aufgelost in den Armen
des Lehrers und in den Armen der liebenden Wonne.
Umschlinget euch fest, ihr Glticklichen, drucket eure gefiillten
Herzen bis zum Tranen-Erpressen aneinander, vergesset Himmel
und Erde und verlangert die erhabne Umarmungl - Ach sobald
sie zerfallen ist, so hat dieses schlafTe Leben nichts Starkeres mehr, 3
womit es euch verkmipfen kann, als den Anfang des - zweiten ....
Emanuel trat endlich aus der Stellung der Liebe heraus und
schauete abgebogen, wie eine Sonne, groB und ofFen in Horions
Angesicht und begegnete mit Entziickung dem veredelten Geiste
und Angesicht seines bliihenden Lieblings. Dieser sank voir dem
Blick der Liebe mit aufgehobenem Angesicht unwillkurlich auf
14- HUNDPOSTTAG 679
die Knie und sagte: »0 mein Lehrer, mein Vater - o du Engel,
Iiebst du mich denn noch so sehr?« - Aber er weinte zu sehr, und
seine Worte waren unverstandlich und erstarben im Herzen
Ohne zu antworten, legte Emanuel die Hand auf das Haupt des
knienden Schiilers und wendete sein verklartes Auge gegen den
schimmernden Himmel und sagte mit feierlicher Stimme : »Dieses
Haupt, du Ewiger, weiht sich heute dir in dieser groBen Nacht. -
Nur deine zweite Welt fulle dieses Haupt und dieses Herz aus -
und die kleine dunkle Erde befriedig' es nie 1 - O mein Horion I
o hier auf diesem Berge, auf dem ich iiber ein Jahr aus der Erde
ziehe, beschwor' ich dich bei der groBen zweiten Welt iiber uns,
bei alien groBen Gedanken, womit dir jetzt der Ewige in dir er-
scheint, beschwor' ich dich, daB du gut bleibst, auch wenn ich
lange gestorben bin.«
Emanuel kniete zu ihm nieder, hielt den Erschopften und neigte
sich an sein erblassendes Angesicht und sagte leiser und betend :
»Mein Geliebter! - mein Geliebter! wenn wir beide tot sind, in
der zweiten Welt scheid* uns Gott nie, nie mich und dich!« - Er
weinte nicht, aber konnte doch nicht mehr sprechen; ihre zwei
:o Herzen ruhten verknupft aneinander, und die Nacht umhiillte
. schweigend ihre stumme Liebe und ihre groBen Gedanken
14. HUNDPOSTTAG
Das philosophische Arkadien - Klotildens Brief - Viktors confessions
Ich habe nur vorher zwei Dinge zu erklaren, das unbekannte
Geton und das VerschlieBen der Augen. Jenes floB von einer auf
die Trauerbirke gelegten Aolsharfe aus; sooft Emanuel zu nachts
hieherkam, mischte er in die flusternden Blatter diese abgehauch-
ten Tone wie Bliiten ein, um sich zu erheben, wenn er allein die
erhabne Nacht ansah. Die Augen tat er oft vor der Sonne und
o dem Monde zu, wenn sein innerer, wie ein Cherub geflugelter
Mensch gerade die.Erlaubnis hatte, sich in weiche Phantasien ein-
zusenken: in die flieBenden bunten Licht-Wogen, die durch die
680 HESPERUS
Augenlider drangen, tauchte er sich dann wie in einen Zephyr mit
suBem Verschwimmen unter, und in diesem Lichtbad sog der
hohere Lichtmagnet in ihm Himmellicht aus Erdenlicht. Da es
nur wenige Seelen gibt, die wissen, wie weit die Harmonie der
auBern Natur mit unserer reicht, und wie sehr das ganze All nur
eine Aolsharfe ist, mit langern und kiirzern Saiten, mit langsamern
und schnellern Bebungen vor einem gottlichen Hauche ruhend;
so fodre ich nicht, daB jeder diesem Emanuel vergebe.
Nach dem iiber ein ganzes Leben hinschimmernden Wieder-
finden kamen beide bei dem blinden Jungling an, und seine Flote k
hob das Herz aus dem schlagenden Fieberblut sanft in den be-
ruhigten Ather des Himmels im Traume hinuber.
Da ich so gerne Urn Emanuel bin: so gonne mir der Leser die
Freude, alle Stunden auseinander zu blattern, die wir in seinem
Hause verbringen durfen, und recht Schritt vor Schritt zu gehen.
Der Morgen deckte dem Zoglinge Emanuels wie Kindern erst
auf, was die Nacht seinem Herzen fur ein Christgeschenk be-
scheret hatte. Welche Gestalt trat im Morgenglanz vor ihn, da das
stille, kindliche, beruhigte Gesicht des Lehrers, iiber das einmal
Sturme gezogen waren, wie auf dem sanften weiBen Monde Vul- *
kane gelodert haben, ihn auf eine Weise anlachelte, daB sein In- .
neres in stummer Wonne zerfloB ! Besonders im /Vo/£/angeblickt,
schien diese hohe Gestalt am Ufer der Erde zu stehen und hin-
unterzuschauen in die %weite Halbkugel des Himmels, die uns der
Stein auf dem Grabe und der fette Trift-Boden dieses Lebens ver-
deckt. Sein Angesicht verklarte sich, wenn er es zum Himmel auf-
hob - wenn er Gott nannte oder die Ewigkeit - wenn er vom
langsten Tage sprach; in seinem Liclite erblaBte das Glanzgold
der Gegenwart zum Mattgold der Vergangenheit, und sein Geist
ruhte schwebend auf dem Korper, wie in Arabesken Genien aus 3
Blumen keimen. So leicht stimmte sich Viktor nie aus dem Traum
in den neuen Tag als an diesem Morgen durch Emanuels Stimme,
die sozusagen die Spharenmusikzum blauen Himmel seiner Augen
war, aus welchem wie aus dem agyptischen nie ein Tropfe fiel ; er
konnte aus Unvermogen seiner Tranendriisen niemals weinen;
auch erschutterte dieses Leben seine Seele nicht mehr.
14. HUNDPOSTTAG 68 1
Das reine Morgenzimmer machte gleichsam die Seele rein und
still. Er war der groBte korperliche Purist, er wusch seinen Kor-
per ebensooft als seine Kleider, und der Schmutz der medizi-
nischen Sprache wurde bis sogar auf Worter, wie z. B. Zahn-
stocher etc., von seiner unbefleckten Zunge gemieden. Ebenso
blieb sein Herz sogar von den bio Ben Bildern groBer Sunden un-
besudelt; und diese unwissende Unschuld, so wie eine Unbekannt-
schaft mit unsern listigen Sitten, machte ihn in drei verschiedenen
Augen entweder zum Kinde — oder zum Madchen — oder zum
10 Engel. -
Das Fruhstuck von Wasser und Friichten - die uberhaupt
seinen ganzen Kiichenzettel besetzten - ruckte strafend unserm
Viktor den Wein und Kaffeesatz vor, womit er die Blumen seines
Geistes, wie irdische, zuweilen diingen mufite. Blumenscherben
waren Dahores Dosen und gliihten unter dem Linden grun, das,
von zwei zahmen und doch freien Grasmucken durchhupft, das
lebendige wachsende Deckenstiick des Zimmers war, Auch seine
Seele schien, wie ein Brahmin, von poetischen Blumen zu leben,
und seine Sprache war oft, wie seine Sitten, indisch, d. h. poetisch.
20 So war uberall, wie bei mehren Menschen-Magnaten, eine auf-
fallende vorherbestimmte Harmon ie zwischen der auBern Natur
und seinem Herzen - er fand im Korperlichen leicht die Physio-
gnomic des Geistigen und umgekehrt - er sagte : die Materie ist
als Gedanke ebenso edel und geistig als irgendein anderer Ge-
danke, und wir stellen uns in ihr doch nur die gottlichen Vor-
stellungen von ihr vor: - z.B. unter dem Fruhstuck vertiefte er
sich in den glimmenden Tautropfen in einer Levkoje und spielte
durch das Wiegen des Auges das Farbenklavier derselben durch.
»Es muB« - sagte er - »irgendeine Harmon ie zwischen diesem
30 Wasserstaubchen und meinem Geiste zusammenklingen, wie
zwischen der Tugend und mir, weil beide mich sonst nicht ent-
ziicken konnten. Und ist denn dieser Einklang, den der Mensch
mit der ganzen Schopfung (nur in verschiedenen Oktaven)
macht, nur ein Spiel des Ewigen und kein Nachhall einer nahern,
groBern Harmonie?« Ebenso blickte er oft eine glimmende Kohle
so Iange an, bis sie ihm zu einer Flammen-Aue sich ausgebreitet
682 HESPERUS
hatte, die er, von sanften Phantasien beleuchtet, auf- und nieder-
wandelte ....
Erdulde, Leser, diese blumige Seele; wir wollen beide denken,
daB die Menschen leichter eine Religion als eine Philosophic haben
konnen, und daB jedes System sein eignes Gewebe des Herzens
voraussetze, und daB das Herz die Knospe des Kopfes sei.
Der einzige Umstand schmerzte den begluckten Viktor an
diesem Morgen, daB er den schonen Blinden nicht umfassen und
fragen durfte : »Haben wir nicht schon beisammengelebt, und ist
dir meine Stimme nicht so bekannt wie mir deine?« Denn er hie It i<
ihn (wie ich auch) aus mehren Griinden fur den zuriickgebliebnen
Sohn des Pfarrers Eymann. Da aber Dahore daruber schwieg -
in dessen hellen lichten Himmel man sonst bis zum kleinsten
Nebelstern hinabschauen konnte -: so furchtete er, vor diesen
frommen Ohren seinem Eide des Schweigens zu nahe zu reden,
wenn er auch nur seine fragenden Vermutungen tiber den Blinden
entdeckte. Dieser Julius schien nur zwei Wurzelaste seines Wesens
zu haben, deren einer in die Flote und der andre in seinen Lehrer
ging. Auf seinem weiBen Angesicht, worauf die Trunkenheit des
musikalischen Genies und die Abgezogenheit des traumenden *<
Blinden sich mit einer fast weiblichen Schonheit verband, stand
der Widerschein seines Lehrers, und die Fibern desselben hatten
sich wie Lautensaiten nur in harmonischen Bewegungen geregt.
Der arme Blinde, der seinen Dahore fur seinen Vater ansah, wurde
wie eine Flaumfeder bloB von seinem kleinsten Hauch gelenkt.
Viktor zog oft den Kopf des lieben Blinden nahe an sein Gesicht,
um die zerstorten Augen zu mustern, ob sie wieder herzustellen
waren. Aber ob er gleich mit Schmerzen sah, daB der Ungluck-
liche unheilbar in der vollen lichten Erde bleibe: so wiederholt'
er doch immer die nahe Erforschung, bloB um die reizende liebe y
Gestalt naher an seinem Auge und an seiner Seele zu haben.
Emanuel fiihrte am Morgen als Cicerone der Natur seinen Gast
durch die Ruinen und Antiken der Erde; denn jeder Baum ist eine
ewige Antike. Wie verschieden ist ein Spaziergang mit einem
frommen Menschen, und einer mit einer gemeinen Weltseele!
Die Erde kam ihm heilig vor, erst aus den Handen des Schopfers
14- HUNDPOSTTAG 683
entfallen - ihm war, als ging* er in einem uber uns hangenden
uberblumten Planeten. Ernanuel zeigte ihm Gctt und die Lkbe
iiberall abgespiegdt, aber iiberall verandert, im Lichte, in den
Farben, in der Tonleiter der lebendigen Wesen, in der Bliite und
in der Menschenschonheit, in den Freuden der Tiere, in den Ge-
danken der Menschen und in den Kreisen der Welten - denn ent-
weder ist alles oder nichts sein Schattenbild -; so malt die Sonne
ihr Bild auf alle Wesen, groB im Weltmeere, bunt in Tautropfen,
klein auf die Menschen-Netzhaut, als Nebensonne in die Wolke,
10 rot auf den Apfel, silbern auf den Strom, siebenfarbig in den
fallenden Regen und schimmernd uber den ganzen Mond und uber
ihre Welten.
Viktor fiihlte heute zum ersten Male die VergroBerung und
Verklarung seines Ichs vor einem Geiste, der, ihm ahnlick, aber
iiberfegen, gleich einem spharischen Hohlspiegel alle Ziige seines
edlern Teils kolossalisch zuriickwarf. Der ganze pobelhafte Teil
seiner Natur verkroch sich, als der hohere sich, von Dahore ins
GroBe gemalt, uber die liegenden Triebe aufrichtete. Ein Mensch,
den die Sonnennahe eines groBen Menschen nicht in Flammen
10 und auBer sich bringt, ist nichts wert. Er wollte kaum sprechen,
um nur immer ihn zu horen, ob er gleich vorhatte, recht viele
Tage dazubleiben. Er war wie vor einem hohern Wesen und vor
einer Geliebten, vor denert man weder seinen Kopf noch seine
Zunge zeigen will, mit Verzicht auf sein Ich in lautere Wahrheit
und Liebe versunken. Von den kleinen Verhaltnissen des Orts
und des biirgerlichen Lebens war aller Firnis so rein abgesprun-
gen, und sie standen ihm alle so vermooset da, daB er nicht ein-
mal die Namen von Gottingen, von Flachsenfingen, oder leere
Lebenvorfalle oder fremde Personalien nennen wollte. Viktor
30 hatte uberhaupt eine kleine Verachtung fur die Menschen, denen
die Nachricht an den Buchbinder lieber ist als das Buch, und die
Rezension eines Autors lieber als sein System, und fiir welche die
Erde keine Entzifferkanzlei des Buchs der Natur, sondern ein
Sprachzimmer, eine Zeitungbude elender Personalien ist, die sie
weder benutzen noch behalten noch beurteilen, sondern nur er-
zahlen wollen; und es ekelten ihn die deutschen Gesellschaften,
684 HESPERUS
in denen man so wenig philosophiert. - wie selig war er, einmal
einen ganzen Tag mit einem andern denken, und was noch schoner
ist, zugleich dichten zu durfen!
Seine Zweifel liber das GroBte, was unsern Kopf erdriicken
und unser Herz erheben kann, wurden heute zu Fragen - die
Fragen zu HofTnungen - die HofTnungen zu Ahnungen. Es gibt
Wahrheiten, von denen man hofft, groBe Menschen werden
starker von ihnen iiberzeugt sein, als man es selber sein kann; und
man will daher durch ihre Uberzeugung die seinige erganzen. Da-
hore hielt die zwei groBen Wahrheiten (Gott und Unsterblich- h
keit), die wie zwei Saulen das Universum tragen, fest an seinem
Herzen ; aber er fragte wie die seltnern Menschen, denen die Wahr-
heit nicht bloB das Schaugericht der Eitelkeit und der Nachtisch
des Kopfes ist, sondern ein heiliges Abend- und Liebemahl voll
Lebengeist fur ihr miides Herz, er fragte wenig darnach, wenn er
keine Anhanger machen konnte. Viktor fuhlte, daB er den Ar-
tillerietrain und die elektrischen Pistolen und Batterien der Dispu-
tierkunst besser zu handhaben verstehe als Emanuel; aber er
wiirde seine eigne Zunge verabscheut haben, wenn sieihre Leich-
tigkeit gegen diese schone Seele gerichtet hatte. Er schwieg aus ie
zwei Griinden. »Versuch es,« sagt* er, »von einer groBen, dein gan-
zes Wesen umfassenden leuchtenden Wahrheit auf dem fliegenden
Sekundenweiser, worauf man im fliichtigen Gesprache steht, mit
den wenigen trocknen Tuschen, womit menschliche Ideen anzu-
farben sind, und mit der unbehulflichen Menschenzunge, womit
du diese Farbenkorner ausbreiten muBt, versuch es, von deiner
Wahrheit ein Schmelzbild, ein Altarblatt zu geben - wahrhaftig
ein SchattenriB, ein durchsichtiges Sternbild wird alles sein, was
du liefern kannst.« Der lichte Himmel gewisser einfacher tief-
fiihlenden Menschen hullet, wie der auBere,alle seine Sonnen, die 30
warmste ausgenommen, mit dem Schein eines oden Blaues
zu; aber der unreine Himmel anderer voll Witz und Logik ist
mit Nebensonnen, Bogen, Nordscheinen, Wolken und Rot ge-
putzt.
Der zweite, bessere Grund, warum er die Opponenten-Ehre
verschmahte, war sein Herz, das mehr in sich schloB, als der Kopf
14- HUNDPOSTTAG 685
beleuchten konnte. Gewisse Ansichten konnen nicht so leicht wie
Mauergemalde in Italien abgeloset werden und aus einem Kopfe
in den andern gebracht - das Licht, das dir der andre geben kann,
leigt^ aber limmert nicht den Hausrat deines Innern, und das, was
das Licht bei einigen wirklich erschafft, ist Lufterscheinung, op-
tischer Betrug, aber kein Korper 1 . - Daher komiht es nicht auf
das Zeigen und Ersehen einer Wahrheit, d. h. eines Gegenstandes
an, sondern auf die Wirkungen, die er durch dein ganzes Inneres
macht. Warum gibt es denn Menschen, die uns, wie Sokrates den
10 Aristides, heiligen, bloB wenn wir bei ihnen sind? - Wie ver-
mogen es groBe Schriftsteller, daB ihr unsichtbarer Geist in ihren
Werken uns ergreift und festhalt, ohne daB wir die Worte und
Stellen angeben konnen, womit sie es tun, wie ein vollbelaubter
Wald immer brauset, ohne sich mit einzelnen Asten zu bewegen?
- Warum uberwaltigte Emanuel seinen geliebten Horion — mehr
als durch breite Thesesbilder, rationes decidendi und sententiae
magistrales — bloB durch die Verklarung in seinem Angesicht,
durch den leisen Echoton seiner Stimme, durch den Glanz in
seinem Blick und dureh die Andacht in seiner Brust, wenn er
20 Wahrheiten, die der Sprache alt und dem Herzen neu waren, feier-
lich sagte, wie folgende :
Der Mensch geht wie die Erde von Westen nach Osten, aber es
kommt ihm vor, er gehe mit ihr von Osten nach Westen, vom
Leben ins Grab.
Das Hochste und Edelste im Menschen verbirgt sich und ist
ohne Nutzen fiir die tatige Welt (wie die hochsten Berge keine
Gewachse tragen), und aus der Kette schoner Gedanken konnen
sich nur einige GHeder als Taten ablosen'.
Unsere zwecklose Tatigkeit, unsere GrifFe nach Luft miissen
3° * Aufklarung in einem leeren Herzen ist bloC Gedachtniswerk, sie strenge
iibrigens den Scharfsinn noch so sehr an; die meisten Menschen unsererTage
gleichen den neuen Hausern in Potsdam, in die (nach Reichard) Friedrich II.
zu nachts Lichter setzen lieB, damit jeder und selber Reichard denken sollte,
sie seien - bewohnt.
2 Die meisten Menschen haben vielleicht nur eine gleiche Zahl guter Ge-
danken und Taten; aber es ist noch nicht bestimmt, wie lange der Tugend-
hafte die guten Gedanken, die weniger als gute Handlungen der auBern Welt
bediirfen, durch gleichgiiltige unterbrechen darf.
686 HESPERUS
hoheren Wesen vorkommen wie das Fangen der Sterbenden nach
dem Deckbette.
Der Geist erwacht und wird erwachen, wenn das Sinnenlicht
ausloschtj wie Schlafende erwachen, wenn das Nachtlicht aus-
loscht.
Warum blieben diese Gedanken als Schauder in der Seele?
Weil Horion etwas Hoheres fuhlte, als je die Sprache, die nur fur
die Alltag-Empfindungen erfunden ist, wiedergeben kann - weil
er schon in seiner Kindheit die Systeme haBte, die alles Unerklar-
liche verstecken, und weil der Menschengeist sich im Erklarlichen 10
und Endlichen so erdruckt empfindet, als er es in einem Bergwerk
oder durch den Gedanken ist, daB sich oben irgendwo der Him-
melraum zuspiinde.
Wie hatt* er den Mut oder AnlaB haben konnen, an einem
solchen Tage Emanuel um seinen Sterbetag zu befragen, oder um
Klotilden? - Viktor hatte jene gesellschaftliche Phantasie, die sich
leicht in die Stelle der unahnlichsten Menschen, des Weibes und
des Philosophen, versetzt. Abends ging Dahore ins Stift, um
Astronomie, seine geliebteste Wissenschaft, zu lehren. Unter der
astronomischen Lehrstunde wurde Julius ofFnes Gesicht ein ofFner 20
Himmel; er sagte seinem Viktor alles wie einem zweiten Vater.
Hier erzahlte er ihm treuherzig, daB im vorigen Jahr immer ein
Engel zu ihm gekommen, der seine Hand ergriffen, ihm Blumen
gegeben, ihn freundlich angeredet und endlich von ihm in den
Himmel gewichen, ihm aber einen Brief dagelassen habe, den er
nach einem Jahre zu Pfingsten sich von Klotilden diirfe lesen
lassen; ja dieser gute Engel sei gestern mit einem Kusse vor ihm
vorbeigeflogen. Viktor lachelte froh, aber verschwieg seine Ver-
mutung, daB er den Engel fur ein scheues liebendes Madchen aus
dem Frauleinstift ansehe. - »Gestern aber«, sagte Viktor, »war 3°
bloB ich der Engel gewesen, der dich so kiiBte!« - und wieder-
holte es. - Julius wuBte geliebten Personen nichts Schoneres zu
geben als das Bild seines Vaters - die Schilderung von der er-
habenen Liebe desselben, die keinen Menschen vergafi, weil sie
nicht auf die Vorzuge, sondern auf die Bediirfnisse der Menschen
gebauet war - ferner von seiner Nachsicht, seiner Uneigenniitzig-
14. HUNDPOSTTAG 687
keit, da ihm eine lange Tugend den Kampfgegen sein Herz er-
sparte, und er nun nichts tat, als was er wiinschte, und da ihm die
tief herabhangende zweite Welt eine eigne Unabhangigkeit von
Bediirfnissen predigte. 500000 Fixsterne erster GroBe leuchten
nach Lambert kaum dem nahern Vollmond gleich; und so iiber-
glanzt die Gegenwart immer unser Inneres; aber steige naher auf
zum Fixstern der zweiten Welt, so wird er eine Sonne, die den
Mond der Zeit und der Gegenwart in einen schmalen Nebel ver-
wandelt. - Diesen Emanuel hatten alle Maienthaler lieb (sogar
10 der Pfarrer, obwohl jener ein Nichtkatholik, Nichtlutheraner und
Nichtkalvinist war); und er war gern von etwas abhangig, von
fremder Liebe 1 . Unter dieser Schilderung sehnte sich Viktor wieder
so bewegt nach ihm, als waren sie ein Jahr auseinander gewesen ; da-
her Iegt' er sich im Abendrote unter Birkenblatter, dem Stifte gegen-
iiber, um ihn sogleich mit heiBen Armen in Verhaft zu nehmen.
Und als Viktor seine Seele hob an hohen weiBen Saulen des
vom Lord entworfenen Parks, an dem erhabenen Bildwerk, das
einen grofien Gedanken schrieb, der wie ein Gewitter aussah; und
als er gerade eine herabgefallne Biene, deren Flugwerk ihr Honig
20 verpichte, auf das Bienenbrett getragen hatte : so wandelte freund-
lich Dahore daher. Dieser verflel selber - denn Viktor hatte das
versteckte Heramreiben einer Materie fiir Sunde genommen -
auf Klotilde und sagte, das sei ihre Lieblingstelle und die Ruhe-
bank ihrer stillen Seele gewesen. Der Ort war nicht erhaben, aber,
was noch mehr ist, dem Erhabnen gegeniiber - (sogar die phy-
sische GroBheit, z.B. ein Berg, hat die Feme als ein FuBgesteil
notig) - er lag am tiefsten im Tal, von Emanuels Blumenketten
umfasset - die er oft unverzaunt anlegte, weil alle Maienthaler
seine kleinen Freuden schonten -, von groBen Kleefeldern ange-
30 weht, vom Monde, der im Friihling erst vom Berg herab diese
Tiefe anstrahlte, mit einem schwermutigen Gemisch von Birken-
schatten, Wasserglanz und lichten Stellen iiberdeckt und endlich
1 Denn der edelste Mensch hangt eben am meisten von liebenden Seelen
ab, oder doch von seinen Idealen derselben, mit denen er aber nur insofern
ausreicht, als er sie fur Pfander kiinftiger Urbilder ansieht. Ich nehme den
Stoiker (diesen epikurischen Gott) und den Mysttker nicht aus: beide lieben
in dem Schopfer nur den Inbegriff seiner Geschopfe; wir jenen in diesen.
688 HESPERUS
mit einer Grasbank geziert, deren ich nicht erwahnte, ware sie
nicht an beiden Enden mit grofien niederwankenden Blumen be-
steckt, die zartlich keiner erdruckte, der sich zwischen ihnen
niederlieB. Wie wurde Viktor betroffen - oder entzuckt, als
Emanuel nach dieser Klotilde fragte! Wie Tau-Juwelen, wie
Freudentranen fielen alle Worte des Lehrers in sein lechzendes
Herz, weil es Lobspruche auf ihre weiche Seele waren, die ihre
Tranen nur in fremde leitet und vor trocknen Herzen verdeckt,
auf ihre feine Ehrliebe, die der mannliche Tadel zu Kdlte und der
weibliche su Stoli verdreht, und auf eine liebende Warme, die 10
man in ihrem wie eine Knospe festgeschlossenen Herzen nicht
gesucht hatte, das jetzt die leblose Natur mit der belebten ver-
mengt, um art jener diese lieben zu Iernen. Es rtihrte Viktor bis zu
Tranen, da Emanuel ihm seine aus diesem Eden entriickte Schii-
Ierin so warm anlobte; - und als er ihn noch dazu unbefangen
bat, der Freund seiner Freundin zu werden und jetzo, weil er
sterbe und weil sie nicht mehr komme - denn sie war das letzte-
mal bio B dagewesen, um zu Pfingsten, unbelachelt von ihren
Eltern, offentlich mit den Stiftfraulein das Abendmahl*zu emp-
fangen — , jetzo seine Stelle zu besetzen bei diesem gegen die *o
Sterne gehobnen Auge, bei diesem fur die Ewigkeit bewegten
Herzen : so hatt* er vor Ruhrung und vor Liebe dem Freund und
der Freundin zu FiiBen sinken mogen. In einem solchen
Munde gibt das Lob des Gegenstandes allzeit der Liebe einen
auBerordentlkhen Wachstum, weil diese immer Vorwand sucht
und dann auf einmal zeitigt, wenn sie ihn gefunden.
Wenn dir, mein Freund, das Herz fur ein fremdes nicht schnell
und heftig genug schlagt - ob es gleich meines Erachtens schon
fieberhaft pulsiert, namlich 1 1 imal in einer Minute -, so gehe, um
dein kaltes Fieber in ein warmes umzusetzen, dein viertagiges in 30
ein tagliches, nur zu andern besonders geachteten Leuten hin und
lasse dir sie vorloben, die Gute, oder nur oft vornennen : todkrank
und mit deinen 140 Pulsschlagen versehen, gehst du weg und hast
das verlangte Fieber am Hals.
Der unschuldige Emanuel, der Viktors Warme nicht erriet,
glaubte, er musse noch mehr tun, um ihm die siebenfache Weihe
14- HUNDPOSTTAG 689
zum Pries ter der Freundschaft fur Klotilden zu geben, und gab
ihm einen - Brief von ihr, Du konntest es tun, Ostindier, da du
hier ein im limbus infantum (im Kinder-Himmel) zum Engel ge-
wordnes Kind bist, da du keine Geheimnisse hast, ausgertommen
das Geheimnis der drei Kinder (daher dich der Lord nicht zum
Vorleser seiner Briefe machte), und da du gar nicht ahnest, die
Weggabe des fremden Briefes sei nicht recht. Doch dein Schiiler
hatte ihn nicht lesen sollen.
Der las ihn aber. Er kann sich mit nichts decken als mit meinem
to Leser, der hier diesen namlichen fremden Brief, den dessen Stelle-
rin nie fur ihn geschrieben, doch auf seinem Sessel genau durch-
sieht. Ich meines Orts Iese nichts, sondern schreibe nur das ab, was
mir der Hund gebracht. - Es ist schon, daB dieser Brief von ihr
gerade in der regnenden, melodischen Nacht des Gartenfestes ge-
macht war, wo er seinen ersten an Emanuel geschrieben hatte.
»St.Liine den 4. Mai 179*.
Sie verlangen es vielleicht nicht, verehrungwerter Lehrer, daB ich
mich entschuldige, da ich kaum aus Maienthal bin und schon mit
einem Briefe wiederkomme. Ich wollte gar schon unterweges
10 schreiben, dann am ^weiten Tage und endlich gestern. Dieses
Maienthal wird mir noch viele Taler verderben; jede Musik wird
mir wie ein Alphorn klingen, das mich traurig macht und in mein
Herz die Erinnerung an das Alpenleben unter der Trauerbirke
bringt.
In dieser Stimmung wiird* ich es meinem Herzen nicht ver-
weigern konnen, sich zu offnen und sich vor dem Ihrigen in den
warmsten Dank fur die schonsten und lehrreichsten Tage meines
Lebens zu ergieBen: wenn ich nicht den EntschluB hatte, in eini-
gen Tagen wieder in Maienthal zu sein; nach meiner zweiten Zu-
jo riickkehr soil mein Herz seinen Willen haben.
In unserm Hause fand ich nichts verandert 1 - auch in unsers
1 Der Leser dieses Briefes wird leicht voraussetzen, daB Klotilde, da sie
nicht weiB, in wessen Hande er fallen werde - ist er doch gar in unsern -,
iiber ihre Verhaltnisse und Geheimnisse (z.B. wegen Flamin, Viktor etc.)
in einer Dunkelheit hinubereilen musse, die fur ihren rechtmaBigen Leser
hell genug war.
69O HESPERUS
Nachbars seinera nichts; und ich fand in alien Seelen die Liebe
wieder, womit wir auseinander geschieden waren, nur ist meine
Agathe zwar lustig, aber doch es minder als sonst. Die einzige
Veranderung in Herrn Eymanns Hause ist ein Gast, den jeder
anders nennt: Viktor - Horion - Sebastian - junger Lord - Dok-
tor. Diesen letzten Namen verdient er in vollem MaBe durch seine
erste Handlung und erste Freude in St.Lune, welche die Heilung
des blinden Lords Horion war. Welch ein Gliick fiir den Ge-
retteten und fiir den Retter!-M6ge dieser Jungling doch einmal
durch Ihr Eden gehen und Ihren guten Julius antreffen, um an u
ihm die schone Kunst zu wiederholen ! - O sooft ich daran denke,
daB das mannliche Geschlecht mit dem Stoffe zu den groBten
gottlichen Wohltaten begliickt ist, daB es, wie ein Gott, Augen,
Leben, Recht, Wissenschaften austeilen kann, indes mein Ge-
schlecht sein Herz, das sich nach Wohltun sehnt, auf kleinere Ver-
dienste, auf eine Trane, die es abtrocknet, auf eine eigne, die es
verbirgt, auf eine geheime Geduld mit Glucklichen und Ungliick-
lichen einschranken muB : so wunsch' ich, mochte doch dieses Ge-
schlecht, das die hochsten Wohltaten in Handen hat, uns die
groBte vergonnen, es - nachzuahmen und Giiter in die Hande zu i<
bekommen, die uns begliickten, wenn wir sie verteilten! - Jetzo
kann ein Weib mit nichts in ihrer Seele groB sein als nur mit
Wiinschen.
Ich komme gerade vom freien Himmel herein aus einem kleinen
Gartenfeste bei meiner Agathe ; und mir ist ordentlich jedes schone
tief blaue Stuck vom Himmel nicht recht, wenn es nicht iiber Ihrer
Trauerbirke steht, wo Ihr Auge alle seine Schatze und Sonnen
aufzahlt und meinem Herzen alle Winke der unendlichen Macht
und Liebe zeigt. Ich flachte heute im Garten mit einer fast zu trau-
rigen Sehnsucht an Ihr Maienthal; Herr Sebastian erinnerte mich 3<
noch ofter daran, weil er einen Lehrer gehabt zu haben scheint,
der dem meinigen ahnlich war 1 . Er sprach heute sehr gut und
schien aus zwei Halften zusammengesetzt zu sein, aus einer bri-
tischen und einer franzosischen. Einige seiner schonen Anmer-
1 Der Leser erinnere sich, daB sie so viel von dieser Lebensbeschreibung
innen hat wie er, wenn nicht mehr.
14- HUNDPOSTTAG 69 1
kungen sind mir nicht entfallen - z. B. >Die Leiden sind wie die
Gewitterwolken; in der Feme sehen sie schwarz aus, uber uns
kaum grau. - Wie traurige Traume eine angenehme Zukunft be-
deuten : so werd* es mit dem so oft qualenden Traume des Lebens
sein, wenn er aus sei. - Alle unsere starken Gefiihle regieren wie
die Gespenster nur bis auf eine gewisse Stunde, und wenn ein
Mensch immer zu sich sagte : diese Leidenschaft, dieser Schmerz,
diese Entzuckung ist in drei Tagen gewiB aus deiner Seele heraus :
so wiird' er immer ruhiger und stiller werden.< Ich berichte Ihnen
o alles dieses so ausfuhrlich, um mich gleichsam selber zu bestrafen
fur ein voreiliges Urteil, das ich vor einigen Tagen (wiewohl in
mir) uber seinen Hang zur Satire fallte. Die Satire scheint auch
bloB fiir das starkere Geschlecht zu sein; ich habe in dem meini-
gen noch keine gefunden, die Swifts oder Cervantes' oder Tri-
strams Werke recht goutiert hatte. —
Zwei Tage spater. Ich und mein Brief sind noch hier; aber heute
reiset er auf vier Tage vor mir voraus. Ich denke ordentlich, dieses
letzte Mai werde mir jede Blume in Maienthal und jedes Wort,
das mir mein bester Lehrer sagt, noch groBere und tiefere Freude
:o machen als je, weil ich gerade aus dem Gerausche der Besuche
und mit einem so melancholischen Herzen hinkomme. Am Mor-
gen nach jener schonen Nacht des Kirchgangfestes saB ich allein
in einer Laube neben dem groBen Teiche und machte mich durch
alles trauriger, was ich sah und dachte - denn diesen ganzen Mor-
gen stand wegen eines Traumes meine erblichene Freundin 1 in
meiner Seele - ihr Grab lag durchsichtig auf ihr, und ich blickte
hinein und sah diese Himmellilie blaB und still in ihm liegen - ich
dachte wohl daran, als der Gartner Blumen mit den Topfen in die
Erde grub, daB der Korper, in dem wir griinen, auf gleiche Weise
o in die Erde zum kiinftigen Bluhen komme, aber ich konnte doch
meine Tranen nicht mehr stillen. - Vergeblich sah ich den heitern
Fruhling an, der jeden Tag neue Farben, neue Mucken, neue Blu-
men aus der Erde zieht - ich wurde nur betriibter, da er alles ver-
1 Sie meint die Giulia, von deren Leichnam sie der Schmerz weggetrieben
hatte.
692 HESPERUS
jungt, aber den Menschen nicht. — Und als ich Herrn von Schleu-
nes von weitem mit einem Froschschnepper auf den Teich zu-
gehen sah, muBt' ich mich, weil er von feme im Vorbeigehen
meine Augen sehen konnte, schlafend stellen, urn sie nicht zu ver-
raten. Aber vor meinem teuersten Lehrer wiird' ich sie ge-
ofFnet haben, wie fetzt, weil er mir meine Schwachen vergibt.
Klotilde v.L.B.«
Viktor hatte den linken Arm, womit er den Brief hielt, zu nahe
ans Herz gelegt; und sein Arm und Brief fingen mit dem pochen-
den Herzen zu zitternan, und er konnte ihn kaum vor Running jc
lesen und fassen. »Ein solcher Lehrer! — eine solche Schulerin!«
weiter konnten seine Blicke nichts sagen.
Es war in ihm ein Streit, ob er seinem Freund die Liebe fur
Klotilden sagen sollte. Fur das Gestandnis war Emanuels Bitte,
mit ihr umzugehen — sein gleichsam aus Fixsternen alle Kleinig-
keiten der Erde beschauendes Auge - Viktors dankbare Begierde,
ein Geheimnis mit dem andern zu vergelten - und am meisten, o!
diese Liebe zu seinem Lehrer, diese Liebe seines Lehrers zu ihm
— Und diese siegte auch, so viel auch sonst dagegen war. Denn
wenn Viktors ganze Natur im Feuer der Freundschaft gluhte, so *
stieg sein Herz immer hoher und brannte, sich zu offnen - er
kampfte noch mit ihm, und es schwieg noch - es liebte unendlich
- es hob sich wie voaeiner unsichtbaren Macht empor - es brach
endlich entzwei - die Brust gingwie vor Gott auseinander, und
nun, Geliebter! schau hinein, aber verzeih ihm alles.
Er kriegte noch in sich, als der hinter i-hrem Rucken herauf-
gehobene Mond ihre beiden Schatten-Kniestucke vor ihnen vor-
austrieb* - Er wurde durch Emanuels ziehenden Schatten an eine
Stelle in seine'm Briefe 1 erinnert und an sein sieches Leben und
friihes Verschwinden . . . Dieses zerspaltete sein Inneres, er wen- 3 c
dete sanft seinen Emanuel gegen den herunterstromenden Mond
um und sagte und zeigte ihm alles - aber nicht bloB seine Liebe,
sondern seine ganze Geschichte - seine ganze Seele - alle seine
1 »Fliehe mich nicht, weil mich immer ein grofier Schatten umgibt, der
sich vergroftert, bis er mich einbauet.«
15* HUNDPOSTTAG 693
Fehler - alle seine Torheiten - alles, er war so beredt in dieser
Minute wie ein Engel und ebenso groB - sein Herz wallete zer-
schmolzen in Liebe, und je mehr er sagte, je mehr wollte er zu
sagen haben.
Auf dieser Erde schlagt keine erhabnere und seligere Stunde als
die, wo ein Mensch sich aufrichtet, erhoben von der Tugend, er-
weicht von der Liebe, und alle Gefahren verschmaht und einem
Freunde zeigt, wie sein Herz ist Dieses Beben, dieses Zergehen,
dieses Erheben ist kostlicher als der Kitzel der Eitelkeit, sich in un-
10 nutze Feinheiten zu verstecken. Aber die vollendete Aufrichtigkeit
steht nur der Tugend an : der Mensch, in dem Argwohn und Fin-
sternis ist, leg* immer seinem Busen Nachtschrauben und Nachtrie-
gel an, der Bose verschon' uns mit seiner Leichenoffnung, und wer
keine Himmeltur an sich zu ofFnen hat, lasse das Hollentor zul
Emanuel hatte die gottliche oder mutterliche Freude, die ein
Freund uber die Tugend und Veredlung des Freundes empfindet,
und vergaB iiber der Freude die verschiedenen Anlasse derselben.
Ungern trenn' ich mich auf eine Nacht von diesem tugend-
haften Paar. Moge ich noch viele Tage von Maienthal zu malen
20 bekommen und Viktor noch viele da verleben ! -
15. HUNDPOSTTAG
Der Abschied
Ach heute geht er schon! Die bisherigen Ruhrungen und Ge-
sprache hatten die zarte Hiille, die Emanuels schonen Geist wie
eine Tulpe die Biene verschlieBet, zu sehr erschuttert: blaB und
wankend stand er auf; und der Blinde war am glucklichsten, der
weder diese Blasse, noch das weiBe Tuch erblickte, das er zu
nachts, statt vollzuweinen, vollgeblutet hatte. Er selber hatte noch
das bleiche Abendrot der gestrigen Freude auf dem Angesicht;
30 aber eben diese Gleichgiiltigkeit gegen seine ausloschenden Tage,
dieses schwachere leisere Sprechen machte, daB Viktor die Augen
von ihm wegwenden muBte, sooft sie lange an ihm gewesen
694 HESPERUS
waren. Emanuel sah ruhig, wie eine ewige Sonne, auf den Herbst
seines Korpers herab; ja je mehr Sand aus seiner Lebens-Sanduhr
herausgefallen war, desto heller sah er durch das leere Glas hin-
durch. Gleichwohl war ihm die Erde ein geliebter Ort, eine
schone Wiese zu unsern ersten Kinderspielen, und er hing dieser
Mutter unsers ersten Lebens noch mit der Liebe an, womit die
Braut den Abend voll kindlicher Erinnerungen an der Brust der
geliebten Mutter zubringt, eh' sie am Morgen dem Herzen des
Bfautigams entgegenzieht.
Viktor warf sich jeden vergossenen Bluttropfen Emanuels vor i<
und entschloB sich, heute zu gehen, weil diese Psyche mit ihren
groBen Fliigeln sich in ihrem Gewebe nicht mehr ohne Risse be-
wegen konnte. In Emanuels Augen glanzte eine unaussprechliche
Liebe fiir seinen geruhrten Schuler. Er fing selber von seinem
Todestag zu reden an,um diesen zu trosten, und stellte ihm vor,
daB er erst in einem Jahre von hinnen gehen konne; er bauete
seine schwarmerische Weissagung auf zwei Griinde: daB erstlich
seine meisten mannlichen Verwandten am namlichen Tage und
im namlichen Stufenjahre gestorben waren, zweitens daB schon
mehre Schwindsuchtige in ihrer zerstorten Brust wie in einem *c
Zauberspiegel ihren letzten Tag gelesen hatten. Viktor bestritt
ihn; er zeigte, die Erklarung der letzten Erscheinung, als konne
der Hektiker aus dem regelmaBigen stufenweisen Fallen der
Lebenskraft leicht die letzte Stufe oder den Gefrierpunkt voraus-
fuhlen, sei falsch, weil Gefiihle der Zukunft in der Gegenwart
Widerspriiche (in adjecto) wiiren, und weil wir mitten im Leben
so wenig den Eintritt des Todes als im Wachen den Eintritt des
Schlafes (trotz gleicher Stufenfolge) voraus empfinden konnten.
Viktor stellte ihm alles dieses vor; aber er glaubte es selber nicht
recht: ihn ubermannte der hohe Mensch, der seinen Eintritt in 3°
den Todesschatten so zuverlassig wie einen Eintritt des Mondes
in den Erdschatten ansagte. - Wir wollen dem Kranken vergeben
und uns deswegen nicht fiir weiser halten, weil er schwarme-
rischer ist. - Am meisten wurde Viktor durch Emanuels Wahn
getrostet, daB ihm vor seinem Tode erst sein verstorbner Vater
erscheinen werde.
15- HUNDPOSTTAG 695
Viktor zogerte und wollte nicht zogern, hinderte als Arzt das
Sprechen des Emanuel, urn sich die Entschuldigung eines un-
schadlichen Aufschubs zu machen, und wurde eben, weil er selber
wenig zu reden suchte, immer betriibter. - Wie kannst du, guter
Viktor, schon heute von ihm eilen, von diesem Engel, der
vielleicht iiber dem nachsten Grabe verschwindet? - Es muB
dir hart fallen, da es schon so schwer ist, vom Maienthal voll Blii-
ten, vom Blinden voll sanfter Tone wegzugehen - schmerzlich
ist hier der letzte Handedruck, Viktor, und schon jede Verzoge-
:o rung!
Er beschloB, in der Nacht zu scheiden, weil eine Trennung am
Morgen zu lange wehe tut und die Stelle des Herzens, wo sich das
geliebte abgerissen, den ganzen Tag fortblutet. Emanuel hatte
abends sich wieder ins Stift entfernen sollen, wie gestern: Viktor
wurde dann seine gefullten Augenhohlen, mit denen er immer
hinausgehen muBte, um den Schmerz hinwegzunehmen, vor dem
Blinden, den er um die traurigste Melodie von der Welt gebeten
hatte, satt haben stromen lassen konnen.
Als er abends das letztemal aB und die Abendglocke anfing,
20 wurde seinem Herzen, als ware von demselben die Brust weg-
gehoben und Eisspitzen wiirden darauf geweht. Er umschlang
voll Liebe den blinden Jiingling, den er nicht als den Gespielen
seiner Kindheit erkennen durfte, und der mit seinen Tonen mehr
Entziickungen gegeben hatte, als er in seiner Nacht zuruckbekam;
und lieB Tranen ihren Lauf,deren doppelte, vielleicht dreifache
Quelle Emanuel nicht erriet: denn der Anblick dieser Augen, die
nie mehr zu offnen waren, tat nun seiner Seele nach Klotildens
Wunsche ihrer Heilung viel weher. Emanuel bat er noch mit einer
iiber den Nebensinn hiniibereilenden Stimme, ihn ein wenig zu
30 begleiten, bis Maienthal verschwunden ware.
In der dunkeln stillen Gegend drauBen blieben alle Schmerzen
in der Brust neben ihren Seufzern. »Wenn der Mond in dieses
Bliitental hereinschimmert,« dacht' er, »hab' ich es auf lange ver-
lassen.« BloB die Altarlichter, die Sterne, brannten im groBen
Tempel. Er wollte sich von seinem Lehrer auf dem Berge tren-
nen, wo er sich mit ihm vereinigt hatte; aber er ging durch Um-
696 HESPERUS
wege - Emanuel folgte ihm gern, wohin er ihn fuhrte - hinauf,
um das Schweigen und Weinen unter dem Umwege zu uberwal-
tigen.
Aber sie kamen an unter der Trauerbirke, und sein Auge und
seine Stimme hatte noch der Schmerz. »Ach« (dacht* er) »wie freu-
dig war hier die erste Nacht, und wie schmerzhaft ist diese!« Sie
ruhten auf der Erde nebeneinander an der Grasbank, einsam,
schweigend, trauernd vor dem dunkel schimmernden AIL Viktor
konnte den belasteten Atemzug der zerstorten Brust vernehmen,
und das kunftige Grab auf diesem Berge schien sich neben ihm :c
aufzuwiihlen. O wenn es bitter ist, neben dem Bette zu stehen,
worin ein geliebtes erloschendes Angesicht mit den Farben des
Todes liegt: so ist es noch viel bitterer, mitten in den Szenen der
Gesundheit hinter der aufgerichteten teuern Gestalt den leise
grabenden Tod zu horen und so oft zu denken, als die Gestalt
frohlich ist: »Ach sei noch frohlicher, in kurzem hat er dich um-
genagt, und du bist vergangen mit deinen Freuden und mit mei-
nen!« - Aber ach, es gibt ja keinen Freund und keine Freundin,
bei denen wir das nicht denken muBten! -
Er wuBte nicht, warum Dahore so lange still war. - Er sah 2c
nicht voraus, dafi der Mond den Berg fruher bestrahlen werde als
die Tiefe. Der Mond, dieser Leuchtturm am Ufer der zweiten
Welt, umzog jetzt den Menschen mit bleichen Gefilden, die aus
Traumen genommen waren, mit blaB schimmernden Auen aus
einer iiberirdischen Perspekdve, und die Alpen und Walder losete
er in unbewegliche Nebel auf - iiber der halben Erdkugel stand
tief der LethefluB des Schlafes, unter der griinen Rinde stand das
Totenmeer, und zwei liebende Menschen lebten zwischen dem
weiten Schlafe und Tod . . . Jetzt dachte Viktor zwar noch gliihen-
der: hier neben diese Birke, unter diesen kalten Boden wird seine 3 c
zerfallne Brust auf ewig verborgen, und sie blutet nicht mehr,
aber sie schlagt auch nicht mehr - er dachte zwar an triibe Ahn-
lichkeiten, als die unbeweglichen Sterne auf- und abiusteigen schie-
nen, bloB weil die spielende Erde sich um sie wendet und sie leigt
und deckt - er sah zwar melancholisch von den Irrlichtern weg,
die, iiber Taler rennend, nur an der ernsten Nacht und an den
15- HUNDPOSTTAG 697
Grabern hinanhiipften und die um einen einsamen Pulverturm
gaukelnde Kreise beschrieben
Allein doch schwieg er und dachte : »Wir haben uns ja noch.«
Aber dann wurd* es seinem blutigen Herzen zu viel, als die
Flotenklagen des Blinden aus dem einsamen Hause in die Nacht
auszogen und iiber den Berg und uber das kiinftige Grab hinuber-
gingen. - Dann wurden den Seufzern Stimmen und der Zukunft
Totenglocken gegeben, und es tat ihm zu wehe, als er unter dem
Flotengeton es dachte : dieser einzige, dieser unersetzlicheMensch,
10 der in seinem groBen Herzen doch so viel Liebe fur dich bewahret,
geht dahin und erscheint nie wieder. - Ach, da noch dazu gerade
jetzt Emanuel, der still in den Himmel versenkt und wie ein Hin-
geschiedener neben ihm gelegen, seine Lage wegen des schmerz-
Hchen und gedruckten Atemholens wechselte, aber mit einem hei-
tern, von den Bruststichen nicht getroffnen Angesicht; so fuhr
eine kalte Hand in Viktors geschwollnes Herz und wendete sich
darin um, und sein Blut gerann an ihr an, und er sagte, ohne ihn
ansehen zu konnen, schwach, bittend, gebrochen: »Stirb nicht
nach einem Jahr, mein teurer Emanuel - wiinsche nicht zu ster-
20 ben!«
Der Genius der Nacht stand bisher unsichtbar vor Emanuel
und goB hohe Entziickungen in seine Brust, aber keine Leiden-
schaften, und er sagte : »Wir sind nicht allein - meine Seele fiihlt
das Vorbeigehen ihrer Verwandten und richtet sich auf- unter der
Erde ist Schlaf, uber der Erde ist Traum, aber zwischen dem
Schlaf und Traum seh' ich Lichtaugen wandeln wie Sterne. - Ein
kiihles Wehen kommt vom Meer der Ewigkeit iiber die gluhende
Erde. - Mein Herz steigt auf und will abbrechen vom Leben. - Es
ist alles so groB um mich, wie wenn Gott durch die Nacht ginge.
30 - Geister ! fasset meinen Geist, er windet sich nach euch, und zieht
ihn hinuber «
Viktor wandte sich um und sah flehend ins schone, freudige,
unbetrante Angesicht: »Du willst sterben?«
Emanuels Entziickung stieg uber das Leben : »Der dunkle Streif
in der zweiten Welt ist nur eine Blumen-Aue 1 - es leuchten uns
1 Wie die Flecken im Monde Blumen- und Pflanzenfelder sind.
6$% HESPERUS
Sonnen voraus, es ziehen uns fliegende Himmel mit Friihling-
luften entgegen - bloB mit leeren Grabern fliegt die Erde urn die
Sonne; denn ihre Toten stehen entfernt auf hellern Sonnen.« -
»Emanuel?« - fragte Viktor laut weinend und mit der Stimme
des innigsten Sehnens, und die Flotentone sanken jammernd unter
in die weite Nacht - »Emanucl?«
Emanuel sah ihn, zuriickkommend, an und sagte ruhig: »Ja,
mein Geliebter! — Ich kann mich nicht mehr an die Erde gewoh-
nen; der Wassertropfen des Lebens ist flach und seicht geworden,
ich kann mich nicht mehr darin bewegen, und mein Herz sehnt k
sich unter die groBen Menschen, die diesen Tropfen verlassen
haben. — O Geliebter, hore doch« - (und hier driickte er das Herz
seines Viktors wund) - »diesen schweren Atem gehen - siehe doch
diesen zerbrochnen Korper, diese dichte Hiille meinen Geist um-
wickeln und seinen Gang erschweren. —
Siehe, hier klebt mein und dein Geist angefroren an die Eis-
scholle, und dort decket die Nacht alle hintereinander ruhende
Himmel auf, dort im blauen glimmenden Abgrunde wohnt alles
GroBe, was sich auf der Erde entkleidet hat, alles Wahre, das wir
ahnen, alles Gute, das wir lieben. - 2C
Sieh, wie alles so still ist drtiben in der Unendlichkeit-wie leise
ziehen die Wei ten, wie still schimmern die Sonnen - der gro fie
Ewige ruhet wie eine Quelle mit seiner uberflieBenden unend-
lichen Liebe mitten unter ihnen und erquickt und beruhigt alles;
und um Gott steht kein Grab.«
Hier stand Emanuel, wie von einer unendlichen Seligkeit ge-
hoben, auf und sah liebend zum Arkturus empor, der noch unter
dem Gipfel des Himmels hing, und sagte, gegen die blinkende
weite Tiefe gerichtet: »Ach wie unaussprechlich sehn' ich mich
hinuber zu euch — ach zerfalle, altes Herz, und verschlieB mich 3<
nicht so lange!« - »So stirb denn, groBe Seele,« (sagte Viktor)
»und ziehe hinuber; aber brich mein kleines Herz durch deinen
Tod und behalte den Armen bei dir, der dich nicht verlassen und
nicht entbehren kann.«
Die Flote hatte aufgehort, die beiden Menschen waren anein-
ander gesunken, um ihren Abschied zu endigen. »Teurer, Ge-
1 5 . HUNDPOSTTAG <$99
liebter, Un verge Blicher,« (sagte Emanuel) »du bewegst mkh zu
sehr - aber wenn ich nach einem Jahre auf diesem Berge ver-
scheide, so sollst du bei mir stehen und sehen, wie dem Menschen
die Banden abgenommen werden. Deine Tranen werden meine
letzten Erden-Schmerzen sein; aber ich werde sagen, was ich jetzt
sage: wir scheiden uns in der Nacht, aber wir finden uns wieder
am Tage.« Hier ging er.
Viktor hatte sich leise von den kindlichen Lippen losgewunden
- er jagte nicht auf seinem Nacht-Steige - langsam ging er vor
. lauter Schlaf vorbei. - Er wandte sich oft um und verfolgte mit
Augen voll fallender Tranen die fallenden Sterne tiber Maienthal
- und um 4 Uhr morgens kam er mit einer himmlischen Seele in
St.Liine an und trat in den Garten voll alter Szenen und legte in
der bekannten Laube das gluhende Haupt und das bekampfte
Herz in den Tau des Morgens zu einer kiihlenden Ruhe nieder.
O ruhe, ruhe ! - Ach den ewig erschiitterten Busen des Menschen
stillet nur ein Schlaf, entweder der irdische oder der andre ....
Ende des ersten Heftleins
ZWEITES HEFTLEIN
1 6 . HUNDPOSTTAG
Kartoffeln-Formschneider - Hemmketten in St. Lune - Wachs-Bossierun-
gen - Schach nach der regula falsi - die Distel der Hoffnung - Begleitung
nach Flachsenfingen
Man sollte wie der alte Friti gern in Kleidern schlafen, sobald
man weiB, daB man, wie zuweilen Viktor und ich, im Hemde von
den Vampyren der mitternachtlichen Melancholie umzingelt und
angefallen wird; sie bleiben aus, wenn man sitzt und alles anhat;
besonders erhalten uns Stiefel und Hut das Gefuhl des Tages am
ro meisten. -
Eine warme Hand hob Viktors betautes Haupt vom Schlaf-
tisch auf und richtete es der ganzen daherschlagenden Flut des
Morgens entgegen. Seine Augen gingen (wie allemal) unbe-
schreiblich mild und ohne Nachtwolken vor Agathen auf und
iiberstrahlten sie. Aber sie fuhrte ihn mit seinen Strahlen eilig aus
der belaubten Schlafkammer hinweg: denn er sollte sich einen
Frisierkamm und einen Morgensegen suchen, und zweitens sollte
das Tischbett zu einem Teebrett fur Klotilden werden, die die
warmert Getranke gern an kalten Orten nahm.
zo - Und so steht er drauBen zwischen Pfarrhaus und SchloB mit-
ten im Morgen - alles schien ihm erst wahrend seiner Reise ge-
mauert und angestrichen zu sein - denn alles, was darin wohnte,
schien sich verandert zu haben und machte ihn wehmutig. »Die
Eltern drinnen« (sagt' er zu sich) »haben keinen Sohn - mein
Freund hat keine Geliebte, und ich... kein ruhiges Herz.« Da er
nun endlich in die Wohnung trat und wieder ein heller Ehren-
bogen des liebenden Familienzirkels wurde; da er mit teilnehmen-
den und doch belehrten Augen die zartlichen Tauschungen der
Eltern, die grundlosen HofFnungen seines Freundes und das Auf-
30 steigen der gewitterhaften Tage anschauen muBte: so stand sein
Auge in einer unverruckten Trane uber die Zukunft, und sie wurde
nicht kleiner, da seine Adoptiv-Mutter sie durch weiches An-
blicken rechtfertigen wollte. — Zum Teil aber wehete auch dieser
704 HESPERUS
Flor iiber seine Seele bloB aus der vorigen Nacht heriiber, deren
dammernde Szenen nur durch einen kleinen Zwischenraum aus
Schlaf von ihm geschieden waren: denn eine in Empfindungen
verwachte Nacht endigt sich allezeit mit einem schwermiitigen
Vormittag.
Der Kaplan machte gerade Butter- Vignetten; ich meine, er
sagte mit keiner andern Atzwiege als mit einem Federmesser und
in keine andre Kupferplatten als in Kartoffeln Buchdruckerstocke
und SchlieBquadratchen ein, die auf die Juliusbutter des Schmuk-
kes wegen zu drucken waren. Man hatte denken sollen, Viktor 1
hatte sich dadurch viel geholfen, daB er Witz hatte und anmerkte,
die alten Drucke waren zwar langer Biicher dariiber und langer
allgemeiner deutschen literarischen Rezensionen der Biicher ganz
wurdig, aber keines menschlichen Gedankens, und waren zehn-
mal ungenieBbarer als diese neuesten Butter-Inkunabeln; denn
wenn es etwas Elenderes geben konnte als die Weltgeschichte
(d. h. die Regentengeschichte), deren Inhalt aus Kriegen, wie das
Theater) ournal anderer Marionetten aus Prugeleien, bestande, so
war's bloB die Gelehrten- und Buchdruckerhistorie 1 . Auch das
hatt' ihm zustatten kommen sollen, daB er hinterdrein philoso- *
phisch war und verlangte, man sollte den Menschen weder ein
lachendes noch vernunftiges Tier nennen, sondern ein pudencies;
zu welcher Anmerkung die Kaplanin nichts setzte als die Anwen-
dung davon auf ihre Tochter.
Aber in Menschen seiner Art haben Kummer, Satire und Philo-
sophic nebeneinander Platz. Er erzahlte dem Kartoffeln-Medailleur
und der Kaplanin, die alle Weiber auf der Erde zu ihren Tochtern
zahlte und gegen sie ahnliche Strafpredigten hielt, seine-Reise mit
so vielen Satiren und Rasuren, als fiir beide Parteien notig waren;
aber als er die Wiinsche der Familie horte, daB der Lord gluck- 3<
1 Er ist zwar nur gegen die typographische Geschichte gelehrter Werke
aufgebracht und verachtet nur das angstliche Forschen nach den Geburt-
tagen etc. verstorbener und dummer Biicher mitten in einer Welt voll Wun-
der; aber auch hier muC er bedenken, daB Kopfe, die iiber nichts als das
Drucken selber drucken lassen konnen, doch besser dieses kleine Etwas tun,
das den Besseren am meisten wuchert und erspart, als gar nichts, oder etwas
iiber ihre Kraft.
l6. HUNDPOSTTAG 7°5
lich mit dem geliebten Furstenkinde zuriickkommen moge, und
die Nachricht, daB der Regierrat schon alles eingepackt habe, um
mit seinem Freunde jede Stunde, die er wolle, in die Stadt zu
Ziehen: so hatte Viktor nichts zu tun als - die absondernden TrM-
neawege in seinen Augenhohlen hinauszutragen ....
- Aber in den Garten ! - Das war uiuiberlegt. Flamin ging nach,
und sie Iangten miteinander im Laub-Klosett vor den Teetrfnke-
rinnen an. Niemals verschatteten die Zweige desselben ein ver-
legneres Gesicht, weichere Augen, vollere Blicke und lebhaftere
to oder schonere Traume, als Viktor darunter mitbrachte. Er dachte
sich jetzo Klotilde als ein ganz neues Wesen und dachte also — da
er nicht wuBte, ob sie ihn liebe - recht dumm; der Mensch achtet
allezeit, wenn er den Berg iiberstiegen hat, den kommenden Hiigel
fur nichts; Flamin war sein Berg gewesen, und Klotilde sein
Hugel. - In alien Gesprach-Untiefen, wo man schon halb im
Sitzen oder Sinken ist, gibts keine herrlichere SchifFpumpe als eine
Historie, die man zu erzahlen hat. Man gebe mir Verlegenheit und
den groBten Zirkel und nur ein Ungliick, namlich die Anekdote
davon, die noch keiner weiB als ich, so will ich mich schon retten.
to Viktor brachte also seinen Schwimmgiirtel heraus, namlich sein
SchirTtagebuch, aus dem er fur die Laube einen pragmatischen
Auszug machte - ich gesteh* es, ein Zeitungschreiber hatte mehr
verfalschen, aber schwerlich mehr weglassen konnen.
Er tat sich, glaub* ich, wieder Vorschub bei der Kaplanin, und
noch mehr Schaden bei Klotilden - so sehr er auch nur aus Wohl-
wollen fur die Zuhorer und aus zu starkem HaB des Hofes gegen
Klotildens Satiren-Verbot in ihrem Briefe verstieB - dadurch un-
bezweifelt, daB er - da iiberhaupt die Madchen nur den Spott,
nicht die Spotter lieben - die Benefizkomodie der Prinzessin nicht
10 von der erhabenen Seite darstellte, wie ich, sondern von der
Iustigen : Klotilde lachelte, und Agathe lachte.
Da aber der Name Emanuel von ihm genannt wurde und sein
Haus und sein Berg: so breitete die Freundschaft und die Ver-
gangenheit auf dem schonsten Auge, woriiber noch ein Augen-
braunenbogen, aus einer Schonheitlinie gezogen, floB, einen sanf-
ten Schimmer aus, der jeden Augenblick zur Freudetrane werden
706 HESPERUS
wollte. Doch muBte er zu einer andern werden, als Viktor der
Frage um seine Gesundheit, welche Klotilde hofFend an ihn als
Kunstverstandigen tat, die Antwort der leis' umschriebenen Ge-
schichte seines nachtlichen Blutens geben muBte? Er konnte den
Schrherz des Mitleidens nicht verhehlen, und Klotilde konnt'ihn
nicht bezwingen. O ihr zwei guten Seelen! welche Quetsch-
wunden wird euer Herz noch von eufem groBen Freund em-
pfangen !
Wohin anders konnte sie jetzt ihr liebendes und trauerndes
Auge als gegen ihren guten Bruder Flamin hinkehren, gegen den k
ihr Betragen durch den doppelten Zwang, den ihr ihre Verschwie-
genheit und seine Auslegungen anlegten, bisher so unbeschreib-
lieh mild geworden war? - Da nun Viktor das alles mit so ganz
andern Augen sah; da er seinem armen Freund, der mit seinem
gegen warti gen Gluck vielleicht die giftige Nahrung seiner ktinf-
tigen Eifersucht vergroBerte, offen und heftend in das feste An-
gesicht schauete, das einst schwere Tage zerreiBen konnten; da
ihn iiberhaupt kunftige oder vergangner Leiden des andern mehr
angriffen als gegenwdrtige, weil ihn die Phantasie mehr in der Ge-
walt hatte als die Sinne: so konnt* er einen Augenblick die Herr- *<
schaft iiber seine Augen nicht behaupten, sondern sie legten ihren
Blick, von mitleidigen Tranen umgeben, zartlich auf seinen
Freund. Klotilde wurde iiber den Ruheplatz seines Blickes ver-
legen — er auch, weil der Mensch sich der heftigsten Zeichen des
Hasses weniger schamt als der kleinsten der Liebe - Klotilde ver-
stand die kokette Doppelkunst nicht, in Verlegenheit zu setzen
oder daraus zu Ziehen - und die gute Agathe verwechselte das
letzte immer mit dem ersten . . . »Frag ihn, was ihm fehlt, Bruder !«
sagte Agathe zu Flamin . . .
Dieser lenkte ihn mit ahnlichem Gutmeinen hinter die nachsten 5
Stachelbeerstauden hinaus und fragte ihn nach seiner festen Art,
die immer Behauptung fiir Frage hielt: »Dir ist was passiert!« -
»Komm nur !« sagte Viktor und zerrte ihn hinter hohere spanische
Wande aus Laub.
»Nichts ist mir« — hob er endlich mit gefullten Augenhohlen
und lachelnden Ziigen an - »weiter passiert, als daB ich ein Narr
1 6. HUNDPOSTTAG 7°7
geworden seit etwan 26 Jahren« - (so alt war er) - »Ich weiB, du
bist leider ein Jurist und vielleicht ein schlechterer Okulist als ich
selbst und hast wohl wenig in Herrn Janin 1 gelesen : nicht?«
Nicht bloB vom Nein wurde Flamins Kopf geschmtelt.
»Ganz naturlich; aber sonst konntest du es aus ihm selber oder
aus der Obersetzung von Selte recht schon haben, daB nicht bloB
die Tranendriise unsre Tropfen absondere, sondern auch der gla-
serne Korper, die Meibomischen Driisen, die Tranenkarunkel
und — unser gequaltes Herz, setz' ich dazu. — Gleichwohl mtissen
10 von diesen Wasserkiigelchen, die fur die Schmerzen der armen,
armen Menschen gemacht sind, sich in 24 Stunden nicht mehr als
(wenns recht zugeht) 4 Unzen abseihen. Aber, du Lieber, es
geht eben nicht recht zu, besonders bei mir, und es argert mich
heute, nicht daB du in den Herrn Janin nicht geguckt, sondern
daB du meine fatale, verdammte, dumme Weise nicht merkst. . .«
- »Welche denn?« - »Jawohl, welche; aber die heutige mein' ich,
daB mir die Augen iiberlaufen - du darfst es kuhn bloB einem zu
matten Trcinenheber beimessen, worunter Petit alle einsaugende
Tranenwege befaBt -, wenn mir z. B. einer unrecht tut, oder wenn
10 ich nur etwas stark begehre, oder mir eine nahe Freude oder nur
uberhaupt eine starke Empfindung oder das menschliche Leben
denke oder das bio Be Weinen selber.«
Sein gutes Auge stand voll Wasser, da ers sagte, und recht-
fertigte alles.
»Lieber Flamin, ich wollte, ich ware eine Dame geworden oder
ein Herrnhuter oder ein Komodiant — wahrlich, wenn ich den Zu-
schauern weismachen wollte, ich ware daruber (namlkh,uber dem
Weinen), so war* es noch dazu auf der Stelle wahr.« -
Und hier legt' er sich sanft und froh mit Tranen, die entschul-
(o digt flossen, um die geliebte Brust Aber zur Vipern- und
Eisenkur seiner Mannlichkeit hatt* er nichts als ein »Hm!« und
einen Zuck des ganzen Korpers vonnoten : darauf kehrten die
Jiinglinge als Manner in die Laube zuriick.
Es war nichts mehr darin; die Madchen waren in die Wiesen
geschlichen, wo nichts zu meiden war als hohes Gras und betau-
1 Ein bekannter guter Schriftsteller uber die Augen.
708 HESPERUS
ter Schatten. Die leere Laube war der beste einsaugende Tranen-
heber seiner Augen; ja ich schlieBe aus Berichten des Korrespon-
denz-Spitzes, daB es ihn verdroB. Da die Schwester spat allein
wiederkam: so verdroB es den andern auch. Oberhaupt, sollte
sich etwa der Held - welches fur mich und ihn ein Ungliick ware
- mit der Zeit gar in Klotilden verlieben: so wird uns beiden —
ihm im Agieren, mir im Kopieren - die Heldin warm genug
machen, eben weil sie selber nicht warm sein will; weil sie weder
iiberfhissige Warme, noch iiberflussige Kalte, sondern allezeit die
wechselnde Temperatur hat, die sich mit dem Gesprach-Stoff, «
aber nicht mit dem Redner andert; weil sie einem zartlichen
Nebenmenschen alle Lust nimmt, sie zu loben, da sie keinen Sack-
zehent davon entrichtet, oder sie wenigstens zu beleidigen, da sie
keine AblaBbriefe austeilt, und weil man wirklich in der Angst
zuletzt annimmt, man konne keine andern Siinden gegen sie be-
gehen als solche gegen den heiligen Geist. Jean Paul, der in sol-
chen Lagen war und oft jahrelang auf einem Platz vor solchen
Bergfestungen mit seinen Sturmleitern und Labarums und Trom-
petern stand und statt der Besatzung selber ehrenvoll abzog, dieser
Paul, sag* ich, kann sich eine Vorstellung machen, was hier in 2 <
Sachen Sebastians contra Klotilden fiir Aktenpapier, Zeit und
Druckschwarze (von ihm und mir) vertan werden kann, bis wirs
nur zur Kriegsbefestigung treiben. Es wird einem Mann iiberhaupt
bei einer ganz vernunftigen Frau nie recht wohl, sondern bei einer
bloB feinen,phantasierenden,heiBen,launenhaften ist er erst zu
Hause. Durch so eine wie Klotilde kann der beste Mensch vor
blofier Angst und Achtung frostig, dumm und entziickt werden;
und meistens schlagt obendrein noch das Ungliick dazu, daB der
arme matte Schaker, von dem sich ein solcher irdischer Engel, wie
der apokalyptische vom Jiinger Johannes, durchaus nicht will an- y
beten lassen, selten noch die Krafte auftreibt, um zum Engel zu
sagen - wie etwan zu einem entgegengesetzten Engel mit Welt-
reichen, der das Anbeten haben will -: »Hebe dich weg von mir!«
Paul hebt sich allemal selber weg. —
Viktor tat dies nicht; er wollte jetzt gar nicht aus dem Hause,
d. h. aus dem Dorfe. Die Sommertage schienen ihm in St. Lune
1 6. HUNDPOSTTAG 7O9
wie in einem Arkadien zu ruhen, wehend, duftend, selig; und er
sollte aus dieser sanft irrenden Gondel hinausgeworfen werden
ins SklavenschifF des Hofs - aus der pfarrherrlichen Milchhutte in
die furstliche Arsenikhiitte, aus dem Philanthropistenwaldchen
der hauslichen Liebe auf das Eisfeld der hofischen. Das war ihm
in der Laube so hart! - und in Tostatos Bude so lieb! - Wenn die
Wunsche und die Lagen des Menschen sich miteinander um-
kehren : so klagt er doch wieder die Lagen, nicht die Wiinsche an.
»Er wolle sich selber«, sagt* er, »auslachen, aber er habe doch hun-
10 dert Griinde, in St.Liine zu zogern, von einem Tage zum andern
- es ekle ihn so sehr seine Absicht an, einem Menschen (dem Fiir-
sten) aus andern Beweggrunden zu gefallen als aus Liebe - es sei
noch unwahrscheinlicher, dafi er selber gefalle, als dafi es ihm ge-
falle - er wolle Iieber seinen eignen Launen als gekronten schmei-
cheln, und er wisse gewiB, im ersten Monat sag* er dem Minister
von Schleunes Satiren ins Gesicht, und im zweiten dem Fiirsten -
und iiberhaupt werd' er jetzt mitten im Sommer einen vollstan-
digen Hof-Schelm schlecht zu machen wissen, im Winter eher,
u. s. w.«
20 AuBer diesen hundert Griinden hatt' er noch schwachere, die
er gar nicht erwahnte, wie etwan solche : er wollte gern um Klo-
tilden sein, weil er ihr notwendig, gleichsam um sein Betragen zu
rechtfertigen - aber welches denn, mein Trauter, das vergangne
oder kunftige? -, seine Wissenschaft um ihre Blutverwandtschaft
mit seinem Freund eroffnen mufite. Zu dieser ErofFnung fehlte,
was in Paris das Teuerste ist, der Ptaq; das Exordium auch.
Klotilde war nirgends allein zu treffen. Kenner sagen, jedes Ge-
heimnis, das man einer Schonen sage, sei ein Heftpflaster, das mit
ihr zusammenleime, und das oft ein zweites Geheimnis gebare:
J° sollte Viktor etwan darum Klotilden seine Kenntnisse von ihrer
Geschwisterschaft so begierig zu zeigen getrachtet haben? -
Er blieb einen Tag um den andern, da ohnehin die Butterwoche
der Vermahlung erst vorubergehen muBte. -r- Er hatte schon Ver-
mahlmunzen in der Tasche. Aber er sah Klotilde immer nur in
Sekunden ; und eine halbe Sekunde braucht man nach Bonnet zu
einer klaren Idee, nach Hooke gar eine ganze : eh' er also eine ganze
7IO HESPERUS
Vorstellung von dieser stillen Gottin zusammengebracht hatte,
war sie schon fortgelaufen.
Endlich wurden ernsthaftere Anstalten gemacht — nicht zur
Abreise, sondern zum Vorsatz derselben . . . Die schon sten Minu-
ten in einem Besuche sind die, die sein Ende wieder verschieben ;
die allerschonsten, wenn man schon den Stock oder den Facher
in der Hand hat und doch nicht geht. Solche Minuten umgaben
unsern Fabius der Liebe jetzt: sanftere Augen sagten ihm: »Eile
nicht«, warmere Hande zogen ihn zuruck, und die mutterliche
Trane fragte ihn: »Willst du mir meinen Flamin schon morgen n
rauben?«
»Ganz und gar nicht k antwortet* er und blieb sitzen. Ich frage:
steckte nicht seinetwegen die Kaplanin ihr Zungen-Richtschwert
in die Scheide, weil er nichts so haBte als laute und stille Verleum-
dungen eines Geschlechts, das, ungliicklicher als das mannliche,
sich von zwei Geschlechtern zugleich gemiBhandelt erblickt? —
Denn er nahm oft Madchen bei der Hand und sagte : »Die weib-
lichen Fehler, besonders bose Nachrede, Launen und Empfindelei,
sind Astlocher^ die am grunen Holz bis in die Flitterwochen als
schone marmorierte Kreise gefallen; die aber am durren, am ehe- ll
lichen Hausrat, wenn der Zapfen ausgedorret ist, als fatale Locher
aufklaffen.« - Agathe schraubte jetzt ihr Nahkussen an seinen
Schreibtisch und kiiBte ihn, er mochte zu lustig oder zu murrisch
aussehen. Selber der Kaplan suchte ihm, wenn nicht die letzten
Tage y die er bei ihm vertraumte, sufi zu machen,doch die letzten
Nackte, wozu nichts notig war als eine Trommel und ein FuB.
Die feurigsten nachtlichen Hexentanze der Mause untersagte der
Kaplan mit seinem FuB, damit sie den Gast nicht aufweckten; er
tat namlich damit an das untere Bettbrett von Zeit zu Zeit einen
maBigen Kanonen-StoB, der um so mehr ins Horrohr der^Fanzer y
einknallte, da er schon die Ohren der Menschen erschreckte. Ge-
gen den Eulerschen Rossehprung der Ratten zog er nur mit einem
Schlegel zu Felde, womit er, wie ein Jungster Tag in ihre Lust-
und Jagdpartien einbrechend, bloB ein- oder zweimal auf eine ans
Bettuch gestellte Trommel puffte.
Matthieu war unsichtbar und feierte, da Hoflinge den Fiirsten
1 6. HUNDPOSTTAG 7 1 1
alles nachaffen, die Hochzeittage des seinigen wenigstens in klei-
nen Hochzeitstunden nach. Das Pulver, das aus Kanonen und aus
Feuerwerker-Duten fuhr, das Vivat, das aus Kanzeln gebetet und
aus Schenken geschrien wurde, und die Schulden, die man dabei
machte, waren, denk' ich, so ansehnlich, daB der groBte Fiirst
sich nicht schamen durfte, damit seine Vermahlung und - Lang-
weile anzuzeigen. - Die Kalte hat ewig ein Sprachrohr und die
Empfindung ein Horrohr. Die Ankunft einer ungeliebten furst-
lichen Leiche oder dergleichen Braut hort man an den Polar-
« zirkeln; hingegen wenn wir Niedere unsre Graber oder unsre
Arme mit Geliebten fullen: so fallen bloB einige ungehorte Tra-
nen, trcstlose oder selige.
Flamin lechzete nach dem Sessiontisch, dessen Arbeiten jetzo
bald angingen, und begriff das Zogern nicht Endlich wurd*
einmal im ganzen Ernste der Abschiedtag festgesetzt, auf den
ioten August; und ich bin gewiB, Viktor ware am I4ten nicht
mehr in St.Liine gewesen, hatte nicht der Henker am 8ten einen
Tiroler hingefiihrt.
Es ist der namliche, der vorgestern bei uns Scheerauern mit
*° einer wachsernen Dienerschaft, die er halb aus Reichsstanden,
halb aus Gelehrten zusammengesetzt hatte, seinen Einzug hielt
und mit den Wachshanden dieser Zwillingbrtider des Menschen
uns- die Gelder aus dem Beutel zog. Es ist dumm, daB mir der
Spitz den heutigen Hundtag nicht vorgestern gebracht : ich hatte
den Kerl, der in St.Liine Viktor und den Kaplan in Wachs bos-
sierte, selber ausgefragt, wie Viktor heiBe und Eymann und
St. Liine selbst. Am Ende reis* ich aus erlaubter und biographi-
scher Neugierde diesem Menschen-Zimmermeister, der uns mit
schauerlichen Widerscheinen unsers kleinen Wesens umringt,
s° noch nach. -
Viktor muBte also wieder verharren; denn er lieB sich und den
Kaplan in Wachs nachbacken, um erstlich diesem, 4 er a ^e Ab-
giisse, Puppen und Marionetten kindisch liebte, und zweitens um
der Familie, die gern in sein erledigtes Zimmer den wachsernen
Nach- Viktor einquartieren wollte, einen groBern Gefallen zu tun
als sich selbst. Denn ihn schauerte vor diesen fleischfarbnen
712 HESPERUS
Schatten seines Ich. Schon in der Kindheit streiften unter alien
Gespenstergeschichten solche von Leuten, die sich selber gesehen,
mit der kakesten Hand uber ,seine Brust. Oft besah er abends vor
dem Bettegehen seinen bebenden Korper so lange, daB er ihn von
sich abtrennte und ihn als eine fremde Gestalt so allein neben
seinem Ich stehen und gestikulieren sah : dann legte er sich zit-
ternd mit dieser fremden Gestalt in die Gruft des Schlafes hinein,
und die verdunkelte Seek fuhlte sich wie eine Hamadryade von
der biegsamen Fleisch-Rinde uberwachsen. Daher empfand er
die Verschiedenheit und den langen Zwischenraum zwischen sei- io
nem Ich und dessen Rinde tief, wenn er lange einen fremden Kor-
per, und noch defer, wenn er seinen eignen anblickte.
Er saB dem Bossierstuhl und den Bossiergriffeln gegenuber,
aber seine Augen heftete er nieder in ein Buch, um die Korper-
gestalt, in der er sich selber herumtrug, nicht entfernt und ver-
doppelt zu sehen. Die Ursache, warum er aber doch die weg-
gestellte Verdoppelung seines Gesichts im Spiegel aushielt, kann
nur die sein, weil er entweder den Figuranten im Spiegel bloB fur
ein Portrat ohne Kubikinhalt oder fur das einzige Urbild ansah,
mit dem wir andre Doubletten unsers Wesenszusammenhalten .... *°
Ober diese Punkte kann ich selber nie ohne ein gewisses Beben
reden . . .
Dem Wachsabdruck Viktors wurde nach seiner Volljahrigkeit
eine toga\arilis, ein Uberrock, den das Urbild abgelegt hatte, um-
getan, desgleichen das Zimmer eingeraumt, woraus der lebendige
zog. Der Kaplan wollte diese wohlfeile Ausgabe von Horion so
ans Fenster lagern, wenn die bessere fort ware, daB die ganze
Schul-Jugend, die vom Kantor Sitten und mores lernte, die Hute
abrisse, wenn sie aus dem Schulhause heimtobte. -
Endlich! - Denn Matz kam. Des letzten ausgekelterte Wangen 3°
und sein ganzer Korper, der unter den Zitronendriickern der
Nachtfeste gewesen war, bewiesen, daB er nicht log, da er sagte,
der fiirstliche Brautigam sehe noch achtmal elender aus und liege
darnieder am Podagra. Er setzte in seiner bittern Weise, die Vik-
tor wenig liebte, hinzu: »Die bleichen GroBen haben uberhaupt
kein Blut, das wenige ausgenommen, was sie den Untertanen ab-
1 6. HUNDPOSfTAG 71 3
schropfen oder was ihnen an den Handen klebt, wie die Insekten
kein rotes Blut bei sich fiihren als das den andern Tieren abge-
sogne.« Dieses erinnerte Viktor an seine medizinischen Pflichten
gegen den Fiirsten. Entweder Matzens verwiistete Gestalt - derm
unmoralisches Nachtleben macht Zuge und Farbe noch wider-
licher als das langste Krankenlager -, oder die Erinnerung an des
Lords Warnungen, oder beides machte ihn unserem Hofmedikus
ebenso verhaBt, als dieser wieder jenem durch das Hofphysikat
geworden war; dieses verhehlte Gift Matthai aber offenbarte sich
io nicht durch kleinere, sondern durch grofiere, fast ironische Hof-
lichkeit. Hingegen Matz und Flamin schienen vertraulicher als je
zusammen zu sein.
Vormittags nach dem Rasieren sprang, ohne sich noch einmal
zu uberwaschen, Viktor auf und packte sogleich den Stiefclknecht
ein und riB die Hangriemen der Kleider entzwei und bestellte
MeBhelfer, damit sie seinen Lebens-Ballast - ausschifften (wegen
seiner elenden Packerei) und dann einschifften. Denn er uberlieB
die ganze Kuratel des Geriimpels unserer kleinlichen Lebens-
geratschaften immer fremden Handen, und das mit einer solchen
20 Verachtung dieses Geriimpels und mit einer solchen sorglosen
Verschwendung - ich werde zwar meinen Helden nie verleum-
den; aber es ist doch durch den Spitz erwiesen, dafi er nie das
Kurrentgeld eines versilberten Goldstiicks kollationierte und nie
elnem Juden, Romer und Herrnhuter etwas im Handel abbrach -
so sehr, sag' ich, daB die ganze weibliche Hanse in St. Liine schrie:
ei der Narr! und daB die Kaplanin sich immer an seine Stelle auf
den Handelplatz einschob. Er war aber nicht zu bessern, weil er
die Lebensreise und also den Reisebundel mit so philosophischen
Augen verkleinerte, und weil er vor nichts so errotete als vor
3° jedem Scheine des Eigennutzes: er lief vor alien Anstalten, Vor-
reitern und Probekomodien davon, wenn sie seinetwegen auf-
traten - er schamte sich jeder Freude, die nicht wenigstens in zwei
Bissen, in einen fiir einen Mitesser, zu teilen war - er sagte, die
Stirne eines Hospodars miiBte die Harte seiner Krone angenom-
men haben, weils sonst ein solcher Mensch unmoglich ertriige,
was oft bloB seinetwegen gemacht wiirde von einem ganzen
714 HESPERUS
Lande, die Musik - die Ehrenbogen - die Carmina - das Freuden-
geschrei in Prose und die entsetzlichen Kanonaden. —
Er hatte jetzt in St. Liine nichts mehr abzutun als eine bio fie
platte— Hoflichkeit* denn so viel darf ich wohl ohne Eitelkeit be-
haupten, daB ein Held, den ich zu meinem erkiese, schon hoffent-
lich so viel Lebensart habe, daB er hingeht zum Kammerherrn
Le Baut und sagt; a revoirl - An solche Staatsvisiten muB er sich
ohnehin jetzt gewohnen.
Matz saB auch drtiben, dieser mit struppichten abgezauseten
hangenden Fliigeln hingeworfene Amor der Kammerherrin — *°
letzte scherzta iiber die eitlen Blicke mit ihm, die den nachlassen-
den Puis seiner Liebe bekannten - Le Baut spielte Schach mit
Matzen - Klotilde saB an ihrem Arbektischchen voll seidner Blu-
men, mitten unter diesen edlen Drillingen .... Ihr armen Tochter!
was fiir Leute musset ihr nicht oft bewillkommen und aushoren ! -
Doch fiir Klotilde war dieser Hausfreund nichts als eine ausge-
polsterte Mumie, und sie wufite nicht, kam er oder ging er.
Sebastian wurde als Adoptivsohn des Gliicks, als Erbe des
vaterlichen Giinstling-Postens, heute von der Kammerherrschaft
ungemein verbindlich empfangen. Wahrhaftig, wenn der Hof- *°
mann Ungliickliche flieht, weil ihm das Mitleiden zu heftig zu-
setzt, so drangt er sich gern um Gliickliche, weil er Mitfreude ge-
nieBeh will. Der Kammerherr, der sich noch vor dem verbeugte,
der in seinem Sturze vom Thron mitten in der Luft hing, biickte
sich naturlicherweise vor dem noch tiefer nieder, der in der ent-
gegengesetzten Fahrt begriffen war.
Viktor stellte sich zu den Weibern, aber mit einem aufs Schach-
brett irrenden Auge, um, wenn er verlegen ware, sogleich einen
Vorwand der veranderten Aufmerksamkeit oder des Wegtretens
bei der Hand zu haben. Es war gescheit; denn jedes Wort, das er 3°
und die Weiber sprachen, war ein Schachzug; er muBte gegen die
Le Baut - was wuBte diese, daB einer Mutter nichts schoner stehe
als eine vollkommene Tochter? - d.h. gegen die Stiefmutter
seine Kalte und gegen die Stieftochter seine Warme verdecken.
Der Leser frage nicht: was konnte denn die alte Stiefmutter fur
Warme begehren? Denn in den hohern Standen werden die An-
1 6. HUNDPOSTTAG 715
spruche durch Blutverwandtschaft und Alter nicht geandert -
bloB in den niedern werden sie es -; daher befurcht* ich allemal,
das, was ich der Tochter vortrage, langweile die Mutter, und ich
fange mit Recht, wenn diese kommt, nach einem bessern Rede-
faden. - Viktor verbarg seine Kdlte leicht ails jener Menschen-
liebe, die bei ihm so oft in zu gutherzige Schmeichelei unmora-
lischer Hoffnungen ausartete; und wenn eine haben wollte, er
sollte sich in sie verlieben, so sagte er: »Ich kann doch wahrlich
zum guten Lammchen nicht sagen: ich mag nicht.« - Die Warme
i° gegen Klotilde verbarg er - schlecht, nicht weil sie zu stark, son-
dern gerade weil sie es noch nicht genugwar. Esistnaturlich:
ein Jiingling von Erziehungkann, wenn er will, seine erwiderte
Liebe ohne Kanzelabkiindigung verhullen und verschweigen,
aber eine unerwiderte, eine, die er selber blofi erst Achtung nennt,
laBt er aus sich ohne Hiillen lodern. - Obrigens bin* ich die Welt,
sich hinzusetzen und zu bedenken, daB mein Held nicht den Teu-
fel im Leibe oder sechzehn Jahre habe, sondern daB er unmog-
lich eine Liebe fur eine Person empfinden konne, die iiber ihre
Gesinnungen wie iiber ihre Reize eine Mosis-Decke hangt. Liebe
20 beginnt und steigt durchaus nur an der Gegenliebe und mit ihrem
wechselseitigen Erraten. Achtung hat er bloB, aber recht viele,
aber eine recht wachsende und bange, kurz seine Achtung ist jener
kalte hiipfende Punkt im Dotter des Herzens, dem die kleinste
fremde Warme oft nach Jahren - die Metapher ist aus einem Ei
geschlagen - wachsendes Leben und Amors Flugel zuteilt.
Er untersuchte jetzt am Arbeittisch Klotildens Warme mit dem
Feuermesser; aber ich kann weiter nicht auBer mir vor Freude
sein, daB er die Warme an der ins kleinste abgeteilten Skala wenig-
stens um v m Linie gestiegen fand. Denn er schieBet wohl fehl;
J° ich will lieber auf den Stirnmesser Lavaters bauen als auf den
Heri~ und Warmemesser eines Liebe suchenden Menschen, der
seine Auslegungen mit seinen Beobachtungen vermengt und Zu-
falle mit Absichten. Sein Feuermesser kann aber auch recht haben ;
denn gegen gute Menschen ist man im Beisein der schlimmen (man
bedenke nur Matzen) warmer als sonst.
Man verdenk* es Herrn Le Baut und Frau Le Baut nicht, daB
71 6 HESPERUS
sie meinem Helden zum Gliicke gratulierten, an einen solchen
Hof, zu einem solchen Fursten - es ist der groBte in Deutschland,
sagte er — , zu einer solchen Fiirstin - sie ist die beste in Deutsch-
land, sagte sie — abzureisen. Matz lachelte zwischen Ja und Nein.
Der Alte setzte das Schach fort, die Alte das Lob. Viktor sah mit
Verachtung, wie wenig zwei solchen Seelen, die die Thronstufen
fur eine Wesenleker und den Thron-Eisberg fiir einen Olymp
und ein Empyreum hielten, und die nirgends als an dieser Hohe
ihr Gliick zu machen wuBten, bessere Begriffe vom Gliick und
schlechtere von der Hohe beizubringen waren. Gleichwohl muBt' *°
er vor Klotilden, die auf ihrem Gesichte mehr als ein Nein gegen
die Lobrede hatte, offenbaren, daB er ebenso edel verneine wie
sie. Er knetete also Lob und Tadel nach einer horaiischen Mi-
schung untereinander, um weder satirische noch schmeichlerische
Anspielungen auf zwei abgedankte Hof leute zu machen : »Mir
gefallts nicht,« sagt' er, »daB es da nur Vergniigungen und keine
Arbeken gibt — lauter Konfektkorbchen und keinen einzigen
Arbeitbeutel, geschweige einen Arbeittisch wie dieser da.« -
»Glauben Sie,« fragte Klotilde mit auffallender Innigkeit, »daB alle
Hoffeste einen einzigen Hofdienst lj>ezahlen?« - »Nein,« sagt' er, ™
»denn fur die Feste selber sollte man bezahlet werden - ich be-
haupte, es gibt dort lauter Arbeit und kein Vergnugen - alle ihre
Lustbarkeiten sind nur die Beleuchtung, die Zwischenmusik und
die Dekorationen, die dem Schauspieler, der an seine Rolle denkt,
weniger gefallen als dem Zuschauer.« - »Es ist allemal gut, da-
gewesen zu sein«, sagte die Alte. - »GewiB;« (sagte er) »denn es
ist gut, nicht immer dazubleiben.« - »Aber es gibt Personen,«
(sagte Klotilde) »die dort ihr Gluck nicht machen konnen, bloB
weil sie nicht gern dort sind.« Das war sehr fein und schonend;
aber bloB fiir Viktors Herz verstandlich : »Einem schonen Schwar- 3 c
mer« (sagt' er und fragte wie allemal nach dem scheinbaren Wider-
spruch zwischen Viktors Leben und Viktors Meinungen nichts)
»oder einem feurigen Dichter wiird* ich raten, zu Hause zu blei-
ben — beider Flug statt der Pas ware im Hof leben, was ein Hexa-
meter in der Prose ist, den die Kunstrichter nicht leiden konnen -
und zur Seele mit dem weichsten gefiihlvollsten Herzen wurd*
1 6. HUNDPOSTTAG 717
ich sagen ; entfliehe damitj das Heri wird dort als Oberbein ge-
nommen, wie in der sechsflngerigen Familie in Anjou der sechste
Finger .« — Die Alte schuttelte den Kopf schnell links. »Und
doch«, fuhr er fort, »wiird' ich sie alle drei auf einen Monat an den
Hof ziehen und sie ungliicklich machen, um sie weise zu machen.«
Die Kammerherrschaft konnte sich in Viktor nicht so gut wie '
mein Leser schicken, der zu meinem groBten Vergniigen Laune
und das Talent, alle Seiten einer Sache zu beschauen, so geschickt
von Schmeichelei und Skeptizismus unterscheidet. Klotilde hatte
10 langsam den Kopf zum letzten Satze geschiittelt. Oberhaupt
stritten heute alle/wr und wider ihn in jenem teilnehmenden Tone,
den Weiber und Verwandte allemal gegen einen Fremden an-
. nehmen, wenn sie eine Stunde vorher den namlichen ProzeB, aber
zu praktischer Anwendung, mit den Ihrigen gefiihret hatten.
Viktor, der schon lange besorgte, verlegen zu werden, ging
endlich dahin, wohin er bisher so oft geschauet hatte -zum Schach,
das man mit der groBten Begierde, zu - verlieren, spielte. Der
Kammerherr - wir wissen alle, wie er war: er schrieb nichts als
Belobschreiben fur die ganze Welt, und der Abendmahlkelch
10 ware mehr fiir seinen Geschmack gewesen, hatt' er daraus auf
eines wichtigen Mannes Gesundheit toasten konnen - dieser be-
forderte, so gut er konnte, mit den diirren Schachstatuen bloB
das fremde Wohl auf Kosten des eignen : gern verlor er, falls nur
Matthieu gewann. Noch dazu glich er jenen verschamten Seelen,
die ihre Wohltaten gern verborgen geben, und er konnt* es nicht
iiber sich erhalten, es seinem Schach-Gegner zu sagen, daB er ihm
den Sieg zuschanze; er hatte fast groBere Miihe, sich zu verbergen
wie ein Hofmann, als sich selber zu besiegen wie ein Christ. Eine
solche Liebe hatte, wie es scheint, warmer vergolten werden sollen
30 als durch offenbare Bosheit; aber Matz hatte das namliche vor und
wich dem Siege, den jener ihm nachtrug, wie ein wahrer Spitz-
bube aus. Le Baut ersann sich vergeblich die besten Ziige, womit
man sich selber matt macht - Matz setzte noch bessere entgegen
und drohte jede Minute, auch zu ermatten. Uns alle dauert der auf
dem Schachboden herumgehetzte Kammerherr, der wie eine Ko-
kette besorgt, nicht besiegt zu werden. Es war fiir ein weiches
71 8 HESPERUS
Auge, das doch dem Schwachen lieber als dem Schelm vergibt,
nicht mehr auszuhalten: Viktor trat unter tausend Entschuldi-
gungen gegen den Schwachen und voll Bosheit gegen den Bos-
haften in die Heckjagd ein und notigte den Hofjunker, seinen
Rat und seine Karitativsubsidien anzunehmen und zu vorgeschla-
genen Kriegsoperationen von solchem Wert zu greifen, dafi der
Mann mit dem Amte der kammerherrlichen Schlussel endlich
trotz seinen Befurchtungen und trotz den schlimmsten Aussichten
- verlor. Alle Anwesende errieten alle Anwesende, wie Fiirsten
einander in ihren offentlichen - Komodienzetteln. i°
Er hatte endlich die Abschiedaudienz, aber geringen Trost.
Die Gestalt, unter der alle seine Schonheitideale nur als Schild-
halter und Karyatiden standen, war noch kalter als bei dem Emp-
fange und immer bloB das Echo der elterlichen Hoflichkeit. Das
einzige, was ihn noch aufrecht erhielt und beruhigte, war eine -
Distel, namlich eine optische, auf den musivischen FuBboden ge-
saete. Er nahm namlich wahr, daB Klotilde diesem Blumenstiick,
das sie doch kennen muBte, unter dem Abschiede mit dem FuBe
auswich, als war' es das Urbild. Abends macht' er seine SchluB-
ketten, wie sie auf Universitaten gelehret werden - dieser Vexier- to
distel impfte er alle Rosen seines Schicksals ein - »zerstreut war sie
doch, und weswegen? frag* ich«, sagt' er ins Kopfkissen hinein -
»denn erraten haben sie mich driiben ohnehin noch nicht«, be-
hauptete er, indem er sich aufs zweite Kopfkissen legte - »o du
holdes Auge, das auf die Distel sank, geh in meinem Schlafe wie-
der auf und sei der Mond meiner Traume«, sagte er, da er schon
halb in beiden war. - Er glaubte bloB aus Bescheidenheit, er werde
nicht erraten, weil er sich nicht fur merkwiirdig genug ansah, um
bemerkt zu werden. -
Der 20. August 179* war der groBe Tag, wo er abmarschierte 30
nach Flachsenflngen: Flamin war schon um vier Uhr abends fort-
getrabt, um keinen Abschied zu nehmen, welches er haBte. Aber
unser Viktor nahm gern Abschied und zitterte gern im letzten
Verstummen der Trennung: »0 ihr diirftigen egoistischen Men-
schen!« (sagt' er) »dieses Polarleben ist ohnehin so kahl und kalt,
wir stehen ohnehin Wochen und Jahre nebeneinander, ohne mit
1 6. HUNDPOSTTAG 7 1 9
dem Herzen etwas Besseres zu bewegen als unser Blut - blofi ein
paar gliihende Augenblicke zischen und erloschen auf dem Eis-
feld des Lebens — warum meidet ihr doch alles, was euch aus der
Alltaglichkeit zieht, und was euch erinnert, wie man liebt
Nein! und wenn ich zugrunde ginge, und wenn ich mich nachher
nicht mehr trosten konnte: so driickte ich mich mit dem unbe-
deckten Herzen und mit dem Bluten aller Wunden und zerrinnend
und erliegend an den geliebten Menschen, der mich verlassen
muBte, und sagte doch: es tut mir wohl!« - Kalte selbsuchtige
jo und bequeme Personen vermeiden das Abschiednehmen so wie
unpoetische von zu heftigen Empfindungen; weibliche hingegen,
die sich alle Schmerzen durch Sprechen, und poetische, die sich
alle durch Phantasieren mildern, suchen es.
Um sechs Uhr abends - denn es war nur ein Sprung nach
Flachsenfingen -, als das Vieh wiederkam, ging er fort, begleitet
von der ganzen Familie. An seinen glucklichern Arm - meiner
muB sich bloB zum Besten der Wissenschaften bewegen - war die
Britin und an den linken Agathe angeohrt; an die Schwester hatte
sich derarme Hauspudel geschnallet (Apollonia), welcher gleich-
20 wohl dachte, er beriihre und genieBe trotz dem schwesterlichen
Einschiebsel und Zwischengeist den Doktor. So fahren die Fun-
ken der Liebe, wie die elektrische und magnetische Materie, durch
das Mittel von zwanzig dazwischengestellten Leibern hindurch.
Ein Philosoph, der sich hinsetzt und erwagt, daB unsre Finger im
Grunde der geliebten Seele nicht um einen Daumen naher kom-
men, es mag zwischen ihnen und ihr bloB die Gehimkugel oder
gar die Erdkugel liegen, wird allezeit sagen: »Ganz naturlich!«
Daraus erklart dieser sitzende Philosoph, warum die Madchen
die mannlichen Verwandten ihres Geliebten halb mitlieben - war-
3° um der Rohrstuhl Shakespeares, die Kleiderkommode Fried-
richs II. , die Stutzperiicke Rousseaus unser sehnendes Herz be-
friedigen. —
Aber niemand wollte, den Weisel dieses Vorschwarms aus-
genommen, wieder zuriick. »Nur noch an die sechs Baume«, sagte
Agathe. Als man an diese Grenzpfahle und Lochbaume der heu-
tigen Lust gekommen war, waren deren sieben, und man be-
720 HESPERUS
hauptete allgemein, sie waren nicht gemeint und es ginge welter.
Der Begleitete wird gewohnlich immer angstlicher und der Be-
gleiter immer froher, je Ianger es wahrt. »Doch bis zu jenem Acker-
mann!« sagte die scharfsehende Britin. Aber endlich merkte unser
Held, daB diese Herkules-Saule ihrer Reise selber gehe, und daB
der Ackermann nur ein Wandermann sei. »Das beste ist,« - sagt'
er und kehrte sich um-»ich kehre mich um und reise erst mor-
gen.« Der Kaplan sagte: »Bis ans alte SchloB« (d.h. es war noch
eine Mauer davon da) »geh' ich ohnehin gewohnlich abends !« -
Allein iiber diese Grenzfestung des schonsten Abends riickte die i<
plaudernde Marschsaule betriigerisch hinaus, und die Augen wur-
den iiber die Ohren vergessen. Da sonach bei diesen Grenzstreitig-
keiten ein Hauptartikel nach dem andern durch Separatartikel ge-
brochen wurde: so war wahrhaftig weiter nichts zu machen - als
folgender Versuch. »Hieher wollt' ich Sie nur haben« (sagte Vik-
tor) - »jetzt miissen Sie mit mir weitergehen und heute beim Apo-
theker ubernachten.« - »In der Tat,« sagte die Kaplanin kalt, »bis zu
Sonnenuntergang wird mitgegangen : wir sollen doch nicht dieser
schonen Sonne den Riicken wenden?« Allerdings hatte der Abend
lauter Freudenfeuer angezundet auf der Sonne - auf den Wolken «
- auf der Erde — auf dem Wasser.
Auf dem Hugel sah man schon die Turmspitzen der Stadt; die
Sonne, dieses erwahlte Drehkreuz der Begleitung, goB aus ihrer
Vertiefung iiber die Schatten-Beete der Taler ihre goldfiihrenden
Purpurflusse. Oben, als sie verging, nahm Viktor die zwei Ehe-
leute in den Arm und sagte : »0 macht euch so gliicklich wie mich
und kommt froh nach Haus !« - und dann nahm er die Schwestern
an sein trunknes Herz und sagte : »Gute, gute Nacht, ich bin euch
gut« - und dann sah er alle mit ihren verborgnen Seufzern und
Tropfen riickwarts gehen — und dann rief er: »Wahrlich, ich 3<
komme bald wieder, es ist ja nur ein Sprung daher« - und dann
schrie er nach : »Ich bin des Teufels, wenn wir getrennt sind« -
und dann zog ihnen sein schweres Auge durch alle Zweige und
Tiefen nach, und erst als der liebende Verein ins letzte Tal wie in
ein Grab gesunken war, hullte er sich die Augen zu und dachte an
die unaufhorlichen Trennungen des Menschen ....
VIERTER SCHALTTAG 72 1
Endlich offnete er seine Augen gegen die ausgebreitete uber-
wolkte Stadt und dachte: »Zwischen dieser erhobnen Arbeit y m die
sich die Menschen mit ihrem kleinen Leben nisten, sperren sich
auch deine kleinen Tage ein - dieses ist die verhiillte Geburtstatte
deiner kiinftigen Tranen, deiner kiinftigen Entziickungen - ach
mit welchem Auge werd' ich nach Jahren wieder iiber diese Nebel-
Gehause schauen - und . . ein Narr bin ich, sind denn 2300 Hauser
nur meinetwegen?«
Nachschrift. Diesen sechzehnten Posttag hat der Berghaupt-
ro mann ordentlich am Ende des Junius abgeschlossen.
VlERTER SCHALTTAG
UND
VORREDE ZUM ZWEITEN HeFTLEIN
Ich will Schalttag und Vorrede zusammenschweiBen. Es muB
daher - wenns nicht Spielerei mit der Vorrede sein soil - hier doch
einigermaBen der zweite Teil beruhrt werden. Es verdient von
Kunstrichtern bemerkt zu werden, daB ein Autor, der anfangs
acht weiBe Papierseiten zu seinem Gebiete vor sich hat - so wie
nach Strabo das Territorium Roms acht Stunden groB war — ,
20 nach und nach so weit fortruckt und das durchstreifte Papier mit
so viel griechischen Kolonisten - denn das sind unsere deutschen
Buchstaben - bevolkert, bis er oft ein ganzes Alphabet durch-
zogen und angebauet hat. Dies setzt ihn instand, den zweiten Teil
anzufangen. Mein zweiter ist, wie ich gewiB weiB, viel besser als
der erste, wiewohl er doch zehnmal schlechter ist als der dritte. Ich
werde hinlanglich belohnt sein, wenn mein Werk der AnlaB ist,
daB eine Rezension mehr in der Welt gemacht wird; und ich
wiiBte nichts - wenns nicht eben dieser Gedanke ware, daB
Bucher geschrieben werden mussen, damit die gelehrten Anzei-
30 gen derselben fortdauern konnen -, was einen Autor zur unsag-
lichen Miihe antreiben konnte, den ganzen Tag am DintenfaB zu
stehen und ganze Pfunde Konzepthadern in Bertinerblau zu far-
722 HESPERUS
ben... Und dieser kuhle ernste hocus pocus von Vorrede - ein
Ausdruck, den Tillotson fur eine Verkiirzung von der katho-
lischen Formel >hoc est corpus< halt - sei fiir gute Rezensenten
auf Universitaten genug.
Ich wende mich wieder zu dem, was ich eigentlich damit haben
wollte. Ich bin namlich gesonnen, die Extrablattchen und Neben-
schoBlinge, womit die Schalttage vollzumachen sind, in alpha-
betischer Ordnung - weil Unordnung mein Tod ist - nicht nur
anzukiindigen, sondern auch hier schon anzufangen und fort-
zusetzen bis zum Buchstaben I. i
Schalt- und NebenschoBlinge, alphabetisch geordnet
Alter der Weiber. Lombardus (L. 4. Sent, dist.4.) und der heilige
Augustin (I.22. de civit. c. 15.) erweisen, daB wir alle in dem
Alter von den Toten auferstehen, worm Christus auferstand,
namlich im 32sten Jahre und dritten Monat. Mithin wird, da im
ganzen Himmel kein Vierziger zu haben ist, ein Kind so alt sein
wie Nestor, namlich 32 Jahre und drei Monate. Wer das weiB,
schatzet die schone Bescheidenheit der Weiber hoch, die sich nach
dem 3osten Jahre wie Reliquien fiir alter ausgeben, als sie sind; 20
denn es ware genug, wenn sich eine Vierzigerin, Achtundvierzi-
gerin so alt machte wie guter Rheinwein oder hochstens wie Me-
thusalem; aber sie glaubt bescheidener zu sein, wenn sie sich, so
sehr ihr Gesicht auch widerspricht, schon das hohe Alter zu-
schreibt, das sie erst, wenn ihr Gesicht einige tausend Jahre in der
Erde gelegen ist, haben kann, namlich - 32 Jahre und drei Mo-
nate. Schon ein Dummer sieht ein, daB sie nur das kiinftige Auf-
ersteh- und kein Erdenalter meine, weil sie von diesem Stand-
Jahre nicht wegriickt, welches eben in der Ewigkeit ; wo kein
Mensch eine Stunde alter werden kann, etwas Alltagliches ist. 30
Diese Einheit der Zeit bringen sie in das Intrigenstiick ihres Lebens
darum schon im 30Sten Jahr hinein, weil nach diesem in Paris
keine Frau mehr offentlich tan^en und (nach Helvetius) kein Ge-
nie mehr meisterhaft schreiben kann. Auf das letzte rechnete man
VIERTER SCHALTTAG 723
vielleicht sonst in Jerusalem, wo jeder erst nach dem 30Sten Jahr
ein Lehramt bekam.
B
Basedowische Schulen. Basedow schlagt in seiner Philalethie vor,
30 unerzogene Kinder in einen Garten einzuzaunen, sie ihrer
eignenEntwickelungzu uberlassen undihnennurstummeDiener,
die nicht einmal Menschen-Kleidung hatten, zuzugeben und es
dann zu Protokoll zu bringen, was dabei herauskame. Die Phi-
losophen sehen vor lauter Moglichkeit die Wirklichkeit nicht:
10 sonst hatte Basedow bemerken miissen, daB unsre Landschulen
solche Garten sind, in denen die Philosophic den Versuch machen
will, was aus Menschen, wenn sie durchaus alle Bildung ent-
behren, am Ende werde. Ich gesteh* aber, dafi alle diese Versuche
noch so lange unsicher und unvollkommen bleiben, als die Schul-
meister sich nicht enthalten konnen, diesen Probekindern irgend-
einen Unterricht - und war' es der kleinste - zu erteilen; und
besser wiirde gefahren mit ganz stummen Schulleuten, wie es
taubstumme Zoglinge gibt.
C siehe K
20 D
Dichter. Der Dichter wird, ob er gleich Leidenschaften malt,
doch diese am besten in dem Alter treffen, wo seine kleiner sind,
so wie Brennspiegel gerade in den Sommern, wo die Sonne am
wenigsten brannte, am starksten wirkten und in den heiBen am
wenigsten. Die Blumen der Poesie gleichen andern Blumen, die
(nach IngenhouB) im gedaYnpften benebelten Sonnenlicht am
besten wachsen.
E
Empfindsamkeit. Sie gibt oft dem innern Menschen, wie der
30 SchlagfluB dem auBern, groBere Empfindlichkeit und doch Lah-
mung,
F siehe Ph
724 HESPERUS
G
Gottin* Wie die Romer ihre Monarchen lieber fiir Gotter als
fur Herren erkannten, so wollen die Manner die Direktrice ihres
Herzens lieber ihre Gottin als ihre Herrin nennen, weil es leichter
ist anzubeten als zu gehorchen.
H
H— . Ich habe oft Leute, die zu leben hatten und zu leben
wuBten — welches nicht zweierlei ist — , erstlich um die besten und
vornehmsten Weiber gaukeln und aus dem Honigkelch ihrer
Herzen saugen, und zweitens nab* ich sie an demselben Tage die 10
Fliigel zusammenschlagen und auf eine jammerliche Tropfin
niederschieBen sehen, damit die Tropfin ihre Erben - erbe. Nie
aber nab* ich diese Schmetterlinge mit etwas anderem verglichen
als mit Schmetterlingen, die den ganzen Tag B lumen besuchen
und benaschen, und doch ihre Eier auf einen schmutzigen Kohl-
strunk laichen.
H
Holbeins Bein. Ich will lieber das H noch einmal nehmen als
das I, weil unter der Rubrik des I*s die Invaliden kamen, von
denen ich behaupten wollen: daB ihnen, da Leute, denen man 20
Glieder abgenommen, vollbliitig werden, desto weniger Brot ge-
reichet werden diirfe, je mehr ihnen Glieder weggeschossen oder
weggeschnitten worden, und daB man dieses die Physiologie und
Diatetik der Kriegskasse nenne. - Aber mich haben die halben
armen Teufel zu sehr gedauert.
Die Beine Holbeins machen groBern SpaB als abgenommene.
Der Maler strich namlich in Basel nichts an als Basel selber; und
der namliche Umstand, der sein Genie in diese architektonische
Farberei hineinzwang, notigte es auch, daB es oft darin Rast-
stunden hielt - er soff namlich entsetzlich. Ein Bauherr, dessen 30
Name in der Geschichte fehlt, trat oft in die Haustiire und zankte
zum Geriiste hinauf, wenn die Beine des Hausfarbers, anstatt da-
von herunterzuhangen - denn mehr war vom Maler nicht zu
17. HUNDPOSTTAG 725
sehen -, in der nachsten Weinkneipe standen und wankten.
Schritt nachher Holbein damit iiber die Gasse daher: so kam ihm
Hader entgegen und stieg mit ihm aufs Geruste hinauf. Dieses
brachte den Maler, der seine Studien (auch im Trinken) liebte,
auf, und er nahm sich vor, den Bauherrn zu andern. Da er nam-
lich das ganze Ungliick seinen Beinen verdankte, deren Frucht-
gehange der Mann unter dem Geruste sehen wollte: so entschloB
er sich, eine zweite Auf lage von seinen Beinen zu machen und sie
an das Haus hangend zu malen, damit jener, wenn er unter der
«° Haustiire hinaufschauete, auf den Gedanken kame, die zwei Beine
und ihre Stiefeln malten droben fleifiig fort. - Und auf diesen Ge-
danken kam der Bauherr auch; aber da er endlich bemerkte, daB
das VexierfuBwerk den ganzen Tag an einer Stelle hange und sich
nicht fortschiebe : so wollt' er nachsehen, was denn der Meister so
Iange an einer Partie bessere und retuschiere - und verfugte sich
selber hinauf. Droben im Vakuum (Leerem) ersah er leicht, daB
der Maler da aufhore, wo Kniestiicke anfangen, beim Knie, und
daB der mangelnde Rumpf wieder saufe in einem Alibi.
Ich verdenk' es dem Bauherrn nicht, daB er auf dem Geruste
20 keine Moral aus dem FuBwerk zog: er war zu erbost.
Ich wollte noch eine Geschichte von den Fiirsten-Portrats an-
stoBen, die hinter den Prasidenten in den Sessionzimmern statt
der Urbilder zum Stimmen dahangen. — aber ich store den Zu-
sammenhang; auch war sonst hier das Ende des ersten Heftleins.
17. HUNDPOSTTAG
Die Kur - das SchloB des Fiirsten - Viktors Visiten - Joachime - Kupfer-
stich des Hofs - Priigel
Ich sagte in Breslau : »Ich wollt', ich ware der Fetspopel !« da ich
gerade das Portrat dieser Person verzehrte. Der Fetspopel ist eine
30 Narrin, deren Gesicht den breslauischen Pfefferkuchen aufgepres-
set ist. Ich sage folgendes nicht bloB meinetwegen, um etwan
bloB mich auf eine solche PfefFerkuchen-Paste zu bringen, son-
726 HESPERUS
dern auch anderer Gelehrten wegen, die Deutschland ebenso-
wenig mit Denkmalern ehrt, z. B. Lessing, Leibniz. Da es einem
in den deutschen Kreisen so sauer wird, bis man nur eine halbe
Rute Steine zum Grabmal eines Lessings oder sonstigen GroBen
zusammenbringt - das, was von^-Steinen gute Rezensenten auf
einen Literatus schon bei Lebzeiten werfen, wie die Alten auf
Graber, ist noch das meiste — : so erklart* ich mich frei auf dem
breslauischen Markt, eh* ich noch den Fetspopel angebissen : »Ent-
weder hier auf diesem Pfefferkuchen ist der Tempel des Ruhms
und das Bette der Ehren fur deutsche Schriftsteller, oder es gibt *<■
gar keinen Ruhm. Wann ist es Zeit, sobald es nicht jetzt ist, es
von den Deutschen zu erwarten, daB sie die Gesichter ihrer groB-
ten Manner nehmen und bossieren in EBwaren, weil doch der
Magen das groBte deutsche Glied ist? Wenn der Grieche unter
lauter Statuen groBer Manner wohnte und dadurch auch einer
wurde: so wiirde der Wiener, wenn er die groBten Kopfe immer
vor Augen und auf dem Teller hatte, in Enthusiasmus geraten
und wetteifern, urn sich und sein Gesicht auch auf PfefTer- und
andern Kuchen, Pasteten und Krapfen zu schwingen. Meusels
gelehrtes Deutschland ware in Backwerk nachzudrucken - man «
konnte groBe Helden auf KommiBbrot nachbosseln, um die ge-
meine Soldateska in Feuer zu setzen und in Hunger nach Ruhm —
groBe Dichter wiird* ich auf Brautkuchen abreiBen in eingeleg-
tem Bildwerk, und Heraldiker von Genie auf Haferbrot. - von
Autoren fur Weiber waren siiBe Dosenstiicke in Zuckerwerk zu
entwerfen. - Geschahe das, so wiirden Kopfe wie Hamann oder
Liscow allgemeiner von den Deutschen geschmeckt in solcher
Einkleidung; und mancher Gelehrte, der kein Brot zu essen hatte,
wiirde eines doch verzieren; und man hatte auBer dem papiernen
Adel noch einen gebacknen.« — Was mich anlangt, der ich mein 3°
Gesicht bisher noch nirgends gewahr wurde als im Rasierspiegel :
so soil man mich damit - denn in Westfalen bin ich am wenigsten
bekannt - auf Pumpernickel pappen. —
Jetzt Wieder zur Geschichte! Ein langer kraushaariger Mensch
steht in der Nacht vor dem bunten Hause des Apothekers Zeusel,
guckt zum dritten erleuchteten Stockwerk, in das er zieht, empor
17- HUNDPOSTTAG 727
und macht endlich statt der holzernen Tur die glaserne der Apo-
theke auf. O mein guter Sebastian! Segen sei mit deinem Einzugl
Ein guter Engel gebe dir seine Hand, urn dich uber sumpfige
Wege und FuBangeln zu heben; und wenn du dir eine Wunde
gefallen, so weh* er sie mit seinem Flugel an, und ein guter
Mensch decke sie mit seinem Herzen zu! -
In der wie ein Tanzsaal flammenden Apotheke bat sich einer
der fettesten Hoflakaien von einem der magersten Provisoren
noch einen Manipel und einen kleinen Pugitlum Moxa fur Seine
10 Durchlaucht aus. Der magere Mann nahm aber hinter seiner
Waage eine halboffne Hand voll Moxa und noch vier Finger-
spitzen voll - da doch ein kleiner Pugillus nur drei Fingerspitzen
betragt - und schickte alles den FuBen des Fiirsten zu: »Wenn
wir das gar verbrannt haben,« - sagt' er und wies auf die Moxa -
»so wird Seine Durchlaucht schon ein Podagra haben, so gut als
eines im Lande ist.«
Die Ursache, warum der Provisor mehr gab, als rezeptieret
war, ist, weil er auch seinen Kirchenstuhl im Tempel des Nach-
ruhms haben wollte; daher iiberdachte er erstlich ein fremdes
20 Rezept so lange, bis ers genehmigte, und wog zweitens immer
Vn, Vh Skrupel zu viel oder zu wenig zu, um dem Doktof die
Burgerkrone der Heilung vom Kopf zu nehmen und auf seinen zu
setzen: »BloB mit der Gabe muB ich meine Kuren tun«, sagte er.
Viktor gonnte ihm den Irrsal : »Ein Provisory sagte er, »der den
ganzen Flugel der Wiedergenesenden anfiihrt und dem Doktor
bloB den Nachtrab der Leichen zuteilt, hat fur dieses Kurzleben
schon Lorbeerkranze genug unter der Gehirnschale.«
Der Apotheker Zeusel hat Welt genug, um den Mietmann
nicht durch ein aufgenotigtes Empfangs-Essen zu beschweren,
3° und sagte ihm bloB den Zeitungartikel aus dem mundlichen mor-
ning chronicle der Stadt, daB der Fiirst das Podagra weniger habe
als suche und flxiere. Auch gab er ihm den italienischen Bedienten,
den der Lord fur ihn gemietet hatte, und das Zimmer.
- Und darin sitzt Sebastian jetzt auf der Fensterbriistung allein
und denkt - ohne Blick auf Schonheiten der Stube und der Aus-
sicht - ernsthaft nach, was er denn eigentlich hier vorhabe mor-
728 HESPERUS
gen und iibermorgen und langer: »Morgen zimd' ich sonach los«
(sagt' er und drehte die Quaste der Fensterschnur) - »ich und das
Podagra sollen uns festsetzen beim Fiirsten - Arg ists, wenn ein
Mensch die gichtische Materie eines Regenten als Wasser braucht,
um seine Miihle zu treiben - ein //er^-PoIype, eine Kopf-Wasser-
sucht sollte mich weniger argern als Hofmann, beides Waren an-
standige Gnadenmittel und FloBfedem zum Steigen. — Nein, ich
bleibe gerade und fest, ganz aufrecht, ich gebe gleich anfangs
nicht nach, damit sie's nicht anders wissen. - Nicht einmal ans
Kantonieren und Ankern im Vorzimmer ist zu denken.« (Auch v
hatte der Lord dem Selbsprecher schon die Freilassung von der
angstlichen Hofordnung einbedungen.) - »Ach ihr schonen Friih-
lingjahre! ihr seid nun uber mich weggeflattert und mit euch die
Ruhe und der Scherz und die Wissenschaften und die Aufnchtig-
keit und lauter ahnliche gute Herzen.« - (Er wirbelte die Quasten-
schnur plotzlich kurzer hinauf.) »Aber du guter Vater, du hast
solche gute Jahre nicht einmal gehabt, du durchstreifest die Erde
und gibst deine Tage preis fiir das Gluck der Menschen. - Nein,
dein Sohn soil dir deine Aufopferungen nicht verderben und nicht
verbittern - er soil sich hier gescheit genug auffuhren - und wenn *
du dann wiederkommst und hier am Hofe einen gehorsamen,
einen begiinstigten und doch unverdorbnen Sohn antriffst «
Als der Sohn gar dachte, da 6 er, wenn er so in gerader Aufstei-
gung am Hofe kulminierte, gewinnen konnte das Herz der Kap-
lanei, das Herz von Le Baut, das seines Vaters, das seiner samt-
lichen Verwandten und (dacht* er anders daran) auch das von
KIo tilde : so hatt' er die abgedrehte Quaste wie eine Tuberose in
seiner Hand .... und daher legt' er sich still zu Bette.
— Steh auf, mein Held ! Die Morgensonne macht schon deinen
Erker rot - springe unter dem Glockengelaute der Wochenpre- 3'
digt und unter dem Getose des heutigen Markttages in deine helle
Stube! — Dein Vater, von dem du die ganze Nacht getraumt, hat
sie vbll musikalischen und malerischen Schiff und Geschirr ge-
stellt, und du wirst den ganzen Morgen an ihn denken ; - und doch
schenkt dir der Erker noch mehr: den Blick auf einen griinen
Streif von Feldern und auf Maienthals Anhohen nach Abend -
17* HUNDPOSTTAG 729
den ganzen Marktplatz - das Privat-Haus des Stadtseniors gegen-
iiber, dem du in alle Stuben, die er an deinen Flamin vermietet,
schauen kannst! —
Flamin ist jetzo aber nicht darin; denn er hatte meinen Helden
schon angefaBt und mit meinen Worten angeredet: steh auf! -
Eine neue Lage ist eine Friihlingkur fur unser Herz und nimmt
das angstliche Gefuhl unserer Verganglichkeit aus ihm: - und
unter einem solchen heitern Himmel des Lebens tanzet heute mein
Viktor mit allem - mit den Vormittaghoren - mit dem Regierung-
IO rate - mit dem Apotheker - durch die Apotheke hindurch neben
dem Provisor vorbei, um oben auf dem Schlosse mit dem poda-
gristischen Jenner einige Gange zu machen.
- Er ist kaum eine halbe Stunde bei dem Fiirsten gewesen, so
sieht ihn Zeusel wieder in sein medizinisches Warenlager rennen
.... »Ei ei !« denkt der Apotheker.
Aber es war ganz anders : Viktor gelangte durch ein Monturen-
Verhau - denn die Gange zu den Fiirstenzimmern sind fast Zelt-
gassen, und die Regenten lassen sich so angstlich umwachen, als
besorgten sie, die ersten oder die le^ten zu sein - ins Kranken-
*° zimmer. Vor einem Patienten, der in waagrechter Verfassung
Iiegt, behalt man die lotrechte leichter. Die GroBen verwechseln
oft die Wirkung ihrer Zimmer und Gerate mit ihrer eignen: -
wenn sie der Gelehrte auf einem Rain, in einem Walde, an einem
Krautfelde uberfallen konnte: er wuBte sich zu benehmen. Aber
Viktor war selber in gestickten und mit goldnen Eckenbeschla-
gen versehenen Zimmern erzogen. Da er den Freund seines Vaters
in Schmerzen und mit eingepackten Beinen fand : so vertauschte
er seine britische Unbefangenheit gegen die medizinische und
fing, anstatt stolze furstliche Fragen zu erwarten, arztliche vor-
3° zulegen an. Als des Doktors arztliches Beichtsitzen zu Ende war:
so legte er die Hand, anstatt auf den Kopf des Beichtkindes, auf
die Bibel daneben und wollte schworen und HeB es - bleiben,
weil ihm etwas Bess^res einflel, und blatterte - das war ihm ein-
gefallen - das Gichtbriichigen-Evangelium in der Bibel auf und
wies auf den Spruch: Steh auf, hebe dein Bette auf; »denn ans Po-
dagra ist hier gar nicht zu denken«,'sagte er. Er tat ihm dar, seine
73° HESPERUS
ganze Krankheit sei Wind, figiirlich und eigentlich gesprochen -
in den erschlafFten GefaBen haus' er und schleiche sich wie die
Jesuiten unter alien Gestalten in alle Glieder ein - selber sein
Schmerz in der Wade sei solcher versetzter Menschen- oder Ge-
darm-Ather. Der Leibarzt Kuhlpepper ist mit seinem Irrtum iiber
den Fiirsten zu entschuldigen; denn jeder Arzt muB sich eine
Universalkrankheit auslesen, wofur er alle andere ansieht, die er
con amore behandelt, in der er, wie der Theolog in Adams Siinde
oder der Philosoph in seinem Prinzip, den ganzen Rest ertappet -
es stand also in dem freien Willen Kuhlpeppers, sich zur Stamm- I0
Krankheit, die das Nest-Ei und die Mutterzwiebel der Pathologie
sein konnte, das Podagra - bei Mannern, bei Weibern Flusse -
auszuklauben oder nicht. Da ers ausgeklaubt, so hat er auch
suchen miissen, es bei Sr. Durchlaucht zu fixieren wie Pastell oder
Quecksilber. - Jenner hatte - selber von seiner Kapelle - nie
etwas Angenehmers gehoret als Viktors Behauptung, die ihn vom
bisherigen Liegen, Medizinieren und Hungern loshalf. Viktor eilte
in der Freude iiber die leichte Krankheit zum Rezeptieren davon,
nachdem er an Trostes Statt behauptet hatte : »ein atherischer Leib
sei noch mitzunehmen und diene der Seele zwar zu keinem 2C
himmlischen Grahams-, aber doch zu einem Luftbette, das sich
selber mache. Nur die armen Weiberseelen lagen - wenn man ihre
Korper recht betrachte - auf stechenden Strohsacken, glatten
Husarensatteln und scharfen Wurstschlitten,indes tonsurierte oder
tatowierte Geister (Monche und Wilde) sich mit so hiibschen,
von geschabtem Fischbein gepolsterten Leibern 1 zudeckten.«
- Fort liefer; und ich habe schon berichtet, daB der Apotheker
nachher dachte: Ei, ei! - In der Apotheke sagte Viktor zum Pro-
visor, an den er wie Salpeter anflog: »Herr Kollege, was denken
Sie dazu, wenn wir bei Sr. Durchlaucht auf nichts kurierten als $ c
Wind? Sie sollen mir raten. Ich meines Ortes wiirde verordnen:
Pulv. Rhei orient.
Sem. Anisi Stellati
- Foeniculi
1 Geschabtes Fischbein fanden die Briten als das weichste Lager aus .
17- HUNDPOSTTAG 73 I
Cort. Aurant- immat.
Sal. Tart, aa dr. I.
Fol. Senn. Alexandr. sine Stipit. dr. II.
Sacchar. alb. Unc. Sem. -
Fallen Sie mir bei: so nab' ich weiter nichts zu sagen als: C.C.
M.f.p.Subt.D.ad Scatulam, S.Blahungpulver, einen Teeloffel
voll ofters zu nehmen bei Gelegenheit.«
Da ihn der Provisor ernsthaft ansah : so sah er denselbigen noch
ernsthafter an; und die Arzenei wurde ohne geanderte Dosis be-
io reitet. Als er fort war, sagte der Proyisor zu seinen zwei stutzen-
den Pagen: »Ihr zwei dummen Epiglottes, er hat doch so viel
Verstand und fragt.«
Im Grunde braucht der Lebensbeschreiber den Umstand gar
nicht zu motivieren — da ihn das Pulver und der Held motivie-
ren -, daB Jenner auf die Beine kam noch denselben Tag.
Da Fiirsten keinen Druck erfahren als den der Luft, die - in
ihrem Leibe ist : so kannte Jenners Dank fur die Befreiung von die-
sem Druck so wenig Grenzen, daB er den ganzen Tag den Dok-
tor - nicht weglieB. Er muBte mit ihm dinieren - soupieren -
20 reiten - spielen. Im Schlosse wars auszuhalten; es war nicht,
wie Neros seines, eine Stadt in der Stadt, ein Flachsenfingen in
Flachsenfingen,sondern bloB eine Kaserne und eine Kiiche, voll
Krieger und Koche. Denn vor jedes Briefgewolbe voll Schimmel,
vor jede Stube, wo acht Demanten lagen, vor jedes TiirschloB
und vor jede Treppe war ein Bajonett mit dem darangehefteten
Schirm- und Schutzherrn gepflanzt. Die uberzahlige Kuchen-
mannschaft wohnte und heizte im SchloB, weil Seine Durchlaucht
bestandig aB. Durch dieses bestandige Essen wollte er sich das
Fasten erleichtern; denn er ruhrte - weils Kuhlpepper so haben
50 wollte - von den drei Ritual-Mahlzeiten der Menschen blutwenig
an und konnte den Hofleuten, die seine strenge Diat erhoben,
nicht ganz widersprechen. Ein Uhrmacher aus London war ihm in
dieser MaBigkeit am meisten dadurch beigesprungen, daB er ihm
eine Bedientenglocke und ein Federwerk verfertigte, dessen Zei-
ger auf einer groBen Scheibe im Bedientenzimmer stand; das
732 HESPERUS
Zifferblatt war statt der Stunden und Monattage mit EBsachen
und Weinen gerandert. Jenner durfte nur klingeln und drucken:
so wuBte die Dienerschaft sogleich, ob die Zunge und der Vik-
tualienzeiger auf Pasteten oder auf Burgunder weise. Dadurch -
daB er wie eine Miihle klingelte, wenn sein innerer Mensch nichts
mehr zu mahlen hattte - setzte er sich am leichtesten instand, eine
strengere Diat zu halten, als wohl Arzte und Sittenlehrer fodern
konnten, und beschamte mehr als einen GroBen, den man nach
der Ausweidung im Tode aufs Paradebette legen sollte mit dem
hungrigen Magen unter dem einen Arm und mit der durstigen l<
Leber unter dem andern, wie man auch Kapaunen beide Einge-
weide als Armhute zwischen beide Flugel gibt.
Im Schlosse war Viktor zu Hause wie in der Kaplanei; denn
der eigentliche Hof, der eigentliche Hof-Wurmstock und Frosch-
laich war bloB im Palast des wirklichen Ministers von Schleunes
ansassig, weil der die Honneurs des Thrones machen mufite, die
Gesandten, die Fremden einlud u.s.w. Die Furstin wohnte im
groBen alten SchloB, das Paulmum genannt. So verlebte also
Jenner seine Tage ohne Prunk, aber bequem, in der wahren
Einsamkeit eines Weisen, und brachte sie mit Essen, Trinken, 2C
Schlafen zu ; daher konnte ihn der flachsenfingische Prorektor ohne
Schmeichelei mit den groBten alten Romern vergleichen, an denen
wir einen ahnlichen HaB des Gepranges bewundern. Jenner hatte
im Grunde keinen Hof, sondern ging selber an den Hof seines
wirklichen Ministers; aber hochst ungern: er konnte da nichts
lieben, weder die Furstin, die immer da war, noch Schleunes'
ehelose Tochter, die noch wider sein Londoner Gelubde waren.
Nachts um 1 2 Uhr hatte Zeusel gern noch darhinter kommen
wollen, wie alles sei, und brachte dem Leibmedikus seine Nichte
Marie als Lakaiin zugefuhret. Der Medikus, der keinen Narren '°
in der Welt zum Narren haben konnte, zumal unter vier Augen,
steckte dem diinnen Hecht die Raufe voll Wahrheit-Futter, das
dieser begierig herausfraB wie Ananas. Marie war eine durch einen
ProzeB verarmte, durch eine Liebe verungliickte Verwandte und
Katholikin, die in der kalten hoflschen Apothekers-Familie nichts
empfing und erwartete als Stichwunden der Worte und SchuB-
17. HUNDPOSTTAG 733
wunden der Blicke - ihre aufgeloste und erquetschte Seele glich
der Bruchweide, der man alle Zweige riickwarts mit der bloBen
Hand herunterstreichen kann - sie fuhlte bei keiner Demiitigung
einen Schmerz mehr - sie schien vor andern zu kriechen, aber sie
lag ja immerfort niedergebrettet auf dem Boden. Als der sanfte Vik-
tor diese demutige, seitwartsgekehrte Gestalt, uber die so viele
Tranen gegangen waren, und dieses sonst schone Gesicht er-
blickte, auf welches nicht Leiden der Phantasie ihre reizenden
Maler-Drucke aufgetragen, sondern physische Schmerzen ihre
i° Giftblasen ausgeschiittet hatten : so tat seinem Herzen das Schick-
sal der Menschen wehe, und mit der sanftesten Hof lichkeit gegen
Mariens Stand, Geschlecht und Jammer lehnte er ihre Dienste ab.
Der Apotheker wiirde sich selber verachtet haben, wenn er diese
Hof lichkeit fiir etwas anders als feine Raillerie und Lebensart ge-
nommen hatte. Aber Viktor schlug sie noch einmal aus; und die
Arme entfernte sich stumm und, wie eine Magd, ohne Mut zur
Hoflichkeit.
Am Morgen brachte ihm die Ausgeschlagene doch sein Friih-
stiick mit gesenkten Augen und schmerzlich lachelnden Lippen;
io er hatt* es in seinem Bette gehort, daB der Apotheker und seine
harten Holztriebe von Tochtern Marien das »lamentable greiner-
liche Air« vorgehalten und daraus den »refus des raillierenden«
Herrn oben gefolgert hatten. Ihm blutete die Seele; und er nahm
Marien endlich an - er machte sein Auge und seine Stimme so
sanft und mitleidend, daB er beide dem weichsten Madchen hatte
leihen konnen; aber Marie bezog nichts auf sich. —
Jenner konnte kaum abpassen, wenn er wiederkame —
Den dritten Tag wars wieder so —
So auch die andere Woche —
3° - Ich wiinschte aber, meine Leser waren um diese Zeit durchs
nachsenfingische Tor samtlich geritten und diese gelehrte Gesell-
schaft hatte sich in die Stadt zerstreuet, um Erkundigungen von
unserem Helden einzuziehen. Der Lesevortrab, den ich auf die
Kaffeehauser geschickt hatte, wiirde erfahren, daB der neue eng-
lische Doktor schon den alten gestiirzt - dem Pfarrsohn in
St. Liine zum Regierratposten verholfen - und daB groBe Ande-
734 HESPERUS
run gen in alien Departements bevorstehen. Das unter die Hof-
Kellerei, -Schlachterei, -Fischmeisterei, -Kastellanei und -Diene-
rei verteilte TrerTen wurde mir mitbringen, daB der Fiirst dem
Doktor nicht auf die Finger, sondern auf die Achsel geklopfet -
daB er ihm vorgestern sein Bilderkabinett eigenhandig gezeigt
und das beste Stuck daraus geschenkt - daB er in der Komodie
mit ihm aus der Hauptloge herausgesehen - daB er ihm eine stein-
reiche Dose geschenkt (die gewohnliche Regenten-Burgerkrone
und deren Friedenpfeife, als wenn wir Gronlander waren, die sich
nichts lieber schenken lassen als Schnupftabak) und daB sie mit- *
einander auf Reisen gehen werden. - Zwei der allerfeinsten und
stiftfahigsten Leser, die ich aus diesen Kolonnen ausgeschossen,
und wovon ich den einen ins Paulinum an die Fiirstin, den andern
zum wirklichen Minister abgefertigt hatte, wiirden mir wenig-
stens die Neuigkeit rapportieren, daB Fiirst und Doktor mitein-
ander bei beiden gewesen, und daB beide den Helden fiir einen
sonderbaren scheuen schweigenden Briton, der alles dem Vater
verdanke, angesehen hatten
Aber die letzte Neuigkeit, die mir die Leser erzahlt haben, kon-
nen sie ja unmoglich wissen, und ich will sie ihnen selber erzahlen. 2 <
• - Eh* ich das vortrage, klar' ichs nur noch mit drei Worten auf,
warum Viktor so hurtig stieg. Es kann Evange listen Matthieu
unter meinen Lesern geben, die dieses schnelle Steigen wie das des
Barometers fiir das Zeichen eines friihen Fallens nehmen - welche
sagen, Lorbeere und Salat, den man in 24 Stunden durch Spiritus
auf einem Tuche zum Reifen notigt, welken ebensobald wieder
ab - ja die sogar spaBen und das fiirstliche Gedarm mit seinem
Ather fur eine Fisch-Schwimmblase meines Helden ausgeben> der
nur durch ihr Fiillen stieg. Berghauptmanner lachen solche
Leser aus und halten ihnen vor; daB die Menschen, besonders die 3<
Residenten auf Thronen, einen neuen Arzt fiir ein neues Spezifi-
kum ansehen - daB sie einem neuen am meisten gehorchen - daB
Sebastian das erstemal sich gegen jeden am feinsten betrug, hin-
gegen bei alten Bekannten ohne Not nichts Witziges sagte - daB
Jenner jeden liebte, den er zu durchschauen vermochte, und daB
er glucklicherweise meinen Helden bloB fiir einen heitern Lebe-
J7> HUNDPOSTTAG 735
lustigen erkannte und urn seinen Kopf keine Bosische Beatifika-
tion x bemerkte, die nach Phosphor stinkt und schmerzliche Fun-
ken auswirft - daB Viktor nicht wie Le Baut ein Scherbengewachs
in einer Krone war, sondern eine dariiber erhohte, im Freien han-
gende Hyazinthe - daB er heiter war und heiter machte — und daB
ein anderer Berghauptmann mit seinen Lesern gar nicht so viel
Umstande gemacht haben wtirde als ich. Er hatte ihnen bloB den
Hauptumstand gesagt, daB der Fiirst an Viktor eine bezaubernde
Ahnlichkeit mit seinem funften (auf den sieben Inseln ver-
io lornen) Sohn, dem Monsieur, im Scherzen und Betragen gefun-
den und liebgewonnen hatte, und daB er diese Bemerkung schon
in London, obgleich Viktor fiinf Jahre jiinger als jener war, ge-
macht.
Jenner wollte selber seinen Liebling jedem vorstellen, also auch
der Fiirstin. Die Philosophen haben es zu erklaren, warum Se-
bastian sich nicht eher, als bis er neben dem furstlichen Eheherrn
auf dem Kutschkissen saB, auf das tolle verliebte Streifchen Papier
besann, das er in Kussewitz tiber den Imperator der montre a re-
gulateur aufgeklebt und der Fiirstin zum Kaufe dareingegeben
2° hatte. Er fuhr zusammen und hielts fiir unmoglich, daB er ein
solcher Narr sein konnen. Aber einem Menschen ist so etwas
leicht. Seine Phantasie Warf auf jede Gegenwart, auf jeden Einfall
so viel Brennpunkt-Lichter aus tausend Spiegeln zuriick und zog
um die Zukunft, die dariiber hinauslag, so viel gefarbten Schatten
und blauen Dunst herum, daB er ordentlich erschrak, wenn ihm
eine narrische Handlung einfiel; denn er wuBte, wenn er sie noch
zehnmal zuriickgewiesen und noch dreiBigmal iibersonnen hatte,
daB er sie dann - begehen wiirde. - Da beide vor die Fiirstin
traten: so war Viktor in jener angenehmen Verfassung, welche
30 Informatoren und jungen Gelehrten nichts Neues ist, die ihnen
die Glieder verknochert und das Herz zersetzt und die Zunge ver-
steinert - nicht die GewiBheit, daB Agnola (so hieB die Fiirstin)
jenes Uhr-Inserat gelesen habe, machte ihn so verlegen, sondern
die UngewiBheit. In der Angst dachte er gar nicht daran, daB sie
ja seine Handschrift und den Autor des Schnitzchens nicht einmal
1 So heiBet der Schimmer um den Kopf, wenn man elektrisiert ist.
73^ HESPERUS
kenne; und denkt man auch in der Angst daran, sp geht sie doch
nicht weg.
- Aber alles war zugleich uber, unter, wider seine Erwartung.
Die Fiirstin hatte das empfindsame Gesicht mit <\er Reisekleidung
weggelegt und ein festes feines Galagesicht dafur aufgetragen.
Der gekronte Ehevogt Jenner wurde von ihr mit so viel warmem
Anstand empfangen, als war' er sein eigner - Ambassadeur vom
ersten Range. Denn Jenner, dessen Herzscheibe sich am elektri-
sierenden Kigsen einer schonen Wange oder eines Busentuchs voll
Funken Iud, hatte eben deswegen gegen Agnola, mit der er bloB "
der Politik wegen die Konkordaten der Ehe abgeschlossen, alle
Warme seines— Monatnamens. Gegen Viktor, den Sohn ihres
Erbfeindes, den Nachfahrer des Hausdiebes der furstlichen Gunst,
hegte sie, wie leicht zu erachten, wahre - Zartlichkeit. Unser
armer Held — betroffen uber Jenners Kalte, fiir die er sich von der
Gemahlin eben keine sonderliche Warme gegen sich selber ver-
sprach — betrug sich so ernsthaft wie der altere und jungere Kato
zugleich. Er dankte Gott (und ich selber), daB er forikam.
Aber unter dem ganzen Wege dachte er: »Hatt' ich nur mein
Sendschreiben aus dem Uhr-Kuvert heraus! Ach ich tate dann ^
alles, arme Agnola, dich zu versohnen mit deinem Schicksal und
mit deinem Gemahl !« - »Ach St. Liine,« - (setzte er unter dem Vor-
beifahren vor dem Stadtsenior hinzu) — »du friedlicher Ort voll
Blumen und Liebe! Die Hatzpachtung versendet deinen Bastian
von einem Hatzhaus ins andre.«
Denn er muBte hoflichkeithalber doch auch zum wirklichen
Minister - und Jenner nahm ihn mit. Dorthin ging er mit Lust,
gleichsam wie in ein Seegefecht oder in ein Kontumazhaus oder
in den russischen Eispalast.
Mobeln und Personen waren in Schleunes' Hause vom feinsten 3<
Geschmack. Viktor fand darin von den Wackelfiguren und Hof-
leuten an bis zu den Basaltbusten alter Gelehrten und zu den Pup-
pen der Schleunesschen Tochter, vom geglatteten FuBboden bis
zu den geglatteten Gesichtern, vom Puderkabinett bis zum Lese-
kabinett - beide schminkten den Kopf schon im Durchmarsch -,
kurz, iiberall fand er alles, was die Prachtgesetze je - verboten
17- HUNDPOSTTAG 737
haben. Seine erste Verlegenheit bei der Fiirstin gab ihm die
Stimmung zu einer zweiten. Es war der alte Viktor gar nicht mehr.
Ich weiB voraus, daB ihn die loblichen Schullehrer am Marianum
in Scheerau dariiber hart anlassen werden - zumal der Rektor -,
daB er so wenig Welt hatte, daB er dort witzig ohne Munterkeit,
gezwungen-frei ohne Gefalligkeit, zu beweglich mit den Augen,
zu unbeweglich mit andern Gliedern war. Aber man muB diesen
Hok und Schulleuten vorstellen: er konnte nichts dafiir. Der
Rektor selber wiirde so gut wie Viktor verlegen gewesen sein vor
o der schongeisterischen Ministerin, die zwar Meusel noch nicht,
aber doch der Hof in sein gelehrtes Deutschland gesetzt - vor
ihren spottsiichtigen Toch tern, zumal vor der schonsten, die Jo-
achime hieB - vor einigen Fremden - vor so viel Leuten, die ihn
haBten vom Vater her, und die ihn beobachteten, um sein Ver-
haltnis mit dem Fiirsten zu erklaren und zu rechtfertigen - vor
der Fiirstin selber, die der Henker auch da hatte — vor Matthieu,
der hier in seinem Element und in seiner Hauptrolle.und Bravour-
arie war - und vor dem Minister. - Zumal vor dem letzten: Vik-
tor fand an diesem einen Mann voll Wiirde, dem die Geschafte
o die Artigkeit nicht nahmen, noch das Denken den Witz, und den
eine kleine Ironie und Kalte nur noch mehr erhoben, der aber
Gefiihl, Gelehrte und die Menschen zu verachten schien. Viktor
dachte sich iiberhaupt einen Minister - z.B. Pitt - wie einen
Schweizer-Eisberg, an welchen oben Wolken und Tau als Nah-
rung anfrieren, der die Tiefe driickt und im Wechsel zwischen
Schmelzen und Vereisen unten groBe Fliisse aussendet, und aus
dessen Kluften Leichname steigen.
Jenner selber wurde unter ihnen nicht recht froh ; was halfen
ihm die feinsten Gerichte, wenn sie durch die feinsten Einfalle
o verbittert wurden? Der Spieltisch war daher - zumal bei der
friedlichen Landung seiner Gemahlin - sein ruhiger Ankerplatz;
und sein Viktor war dasmal auch froh, neben ihm zu ankern.
Mein Korrespondent meint, den Stimmhammer zu diesem iiber-
feinen, dreimal gestrichenen Ton drehte bloB die Ministerin, die
alle Wissenschaften im TCopfe und zwar auf der Zunge hatte und
deswegen wochentlich ein bureau d'esprit hielt. In dieser lacher-
738 HESPERUS
lichen Verfassung verspielte Sebastian seinen Abend und ver-
schluckte sein Souper : er konnte gut erzahlen, aber er hatte nichts
zu erzahlen — in den wenigen Contes, die ihm beiwohnten, war
alles namefilos, und dem Zirkel um ihn waren gerade die Namen
das erste - seine Laune konnt' er auch nicht gebrauchen, well so
eine wie die seinige den Inhaber selber in ein sanftes komisches
Licht stellet, und weil sie also nur unter guten Freunden, deren
Achtung man nicht verlieren kann, aber nicht unter bosen Freun-
den, deren Achtung man ertrotzen muB, in ihren Sokkus
und Narrenkragen fahren darf — er geno fi nicht einmal das *
Gliick, innerlich alle auszulachen, weil er keine Zeit dazu hatte,
und weil er die Leute nicht eher lacherlich fand als hinter ihrem
Riicken. —
Verdammt iibel war er dran — »Ich komm* euch sobald nicht
wieder«, dachte er — und als der Mond durch die zwei langen Glas-
turen des Balkons, der auf den Garten hinaussah, mit seinem
tfaumerischen Lichte einging, das drauBen auf stillere Wohnun-
gen, schonere Aussichten und ruhigere Herzen fiel: so schlich er
(da seine Spiel-Maskopeigesellschaft durch den Fursten nach dem
Essen zertrennt war) auf den Balkon hinaus, und die auf der Erde *
und am Himmel blinkende Nacht erhob seine Brust durch groBere
Szenen. Mit welcher Liebe dachte er da an seinen Vater, dessen
philosophische Kalte dem Jennerschnee gleich war, der die Saat
gegen Frost bedeckt, indes die hofische dem Marzschnee ahn-
licht, der die Keime zerfrisset! Wie sehr warf er sich jeden unzu-
friedenen Gedanken gegen seines rechtschaffenen Flamins kleinen
Mangel an Feinhek vor! O wie richtete sich sein innerer Mensch
wie ein gefallener und begnadigter Engel auf, da er sich Emanuel
an der Hand Klotildens dachte, der ihn selig fragte: »Wo fandest
du heute ein Ebenbild von meiner Freundin?« - Jetzo sehnte er 3
sich unaussprechlich in sein St. Liine zurtick ....
Seine steigenden Herzschlage hielt auf einmal Joachime an, die
mit einem ins Zimmer gerichteten Gelachter herauskam. Da es
ihr schwer fiel, nur eine Stunde zu sitzen (mich wundert, wie sie
eine ganze Nacht im Bette blieb), so machte sie sich, sooft sie
konnte, vom StangengebiB des Spieles los. Die Furstin band sie
17- HUNDPOSTTAG 739
dasmal ab, die wegen ihrer kranken Augen diese Nachtarbeit der
GroBen aussetzte. Joachime war keine Klotilde, aber sie hatte
doch zwei Augen wie zwei Rosensteine geschliffen - zwei Lippen
wie gemalt - zwei Hande wie gegossen - und uberhaupt alle
Glieder-Doubletten recht hubsch .... Und damit halt ein Hofarzt
schon Haus; wenn auch die einfachen Exemplare (Herz, Kopf,
Nase, Stirn) keiner Klotilde zugehoren. Da er nun unter dem
groBen Himmel seinen Mut und auf dem Balkon, der fur ihn alle-
mal ein Sprachzimmer war, seine Zunge wiederbekam - da Jo-
IO achimens Ton ihn wieder in seinen zuruckstimmte - da sie das
Schweigen der Briten antastete und er die Ausnahmen vertei-
digte - da er jetzt am Faden der Rede sich wie eine Spinne hinauf-
und hinablassen konnte und nicht mehr zu storen war durch die
Fiirstin, die nachgekommen war, um die entziindeten Augen in
der Nacht abzukiihlen - und da man nur dann klagt, Langweile
zu empfinden, wenn man bloB selber eine macht — und da ich
alles dieses hersetze, so tu* ich (glaub* ich) einem Rezensenten
genug, der hinter dem Kutschkasten des Fiirsten steht und nach-
sinnt und wissen will, woran er sich (auBer den Lakaienriemen)
to zu halten habe, wenn unter ihm Viktor im Wagen wahrend des
Heimfahrens des Ministers Haus nicht zum Teufel wiinscht, son-
dern zufriedner denkt: meinetwegen! —
Dem Fiirsten schlug der Umgang Viktors so gut zu, daB er
sich vorstellte, er konne ihn so wenig wie ein Stiftfraulein das
Ordenzeichen auBer Hause vom Leibe tun. Er stiirzte allezeit den
Ordenkelch und Willkommen des warmen Sprudels einer neuen
Freundschaft so unmafiig hinein wie ein Gast in Karlsbad den
seinen. Wenn er Langweile hatte, wurde der Medikus ersucht,
zu kommen, damit sie wiche; wenn er innern Jubel spiirte, wurde
o jener wieder angefleht, zu erscheinen, damit er den Jubel mit-
genosse. Nur die Zeit, wo Jenner weder Langeweile noch das
Gegenteil empfand, blieb seinem Freunde ganz zu freier Ver-
wendung. Viktor hatte vorher geschworen, leicht abzuschlagen,
und auf die Leute losgezogen, die bewilligten; jetzt sagt' er aber:
»Der Teufel sage Nein! Es komra' nur ein Mensch erst in die
Lage!« — Und so muBte der arme Viktor lauter leere Kreise voll
740 HESPERUS
Schwindel im Hof-Zirkel des Thrones beschreiben, unter Men-
schen, flir deren Ton er leichter ein Ohr als eine Zunge hatte, und
die er erraten und doch nicht gewinnen konhte.
Ein Jiingling, in dessen Brust die Nachtstiicke von Maiendial
und St. Liine hangen - oder einer, der aus einem Baddorfchen an-
langt - oder einer, der vorhat sich zu verlieben - oder einer, der
in groBen Stadten oder in ihren groBen Zirkeln ein mufliger Zu-
schauer sein muB, jeder von diesen ist schon fur sich auch ein mift-
vergnugter darin und sto Bet in seine kritische Pfeife so lange gegen
die spielende Gesellschaft, bis sie ihn selber — anwirbt. Kommen re
aber alle diese Ursachen gar in einem einzigen Menschen zusam-
men; so weiB er gegen seine Gallenblase keinen Rat und keinen
Gallengang, als daB er feines Papier nimmt und an die Eyman- *
nischen in St. Liine einen verdammt spottischen Brief iiber das Ge-
sehene ablaBt.
Mein Held HeB folgenden an den PfaTrer ab:
»Mein lieber Herr Adoptiv-Vater!
- Ich hatte bisher nicht so viel Zeit iibrig, um die Augen aufzu^
heben und zu sehen, was wir flir einen Mond haben. Wahrhaftig,
einem Hofe fehlts zur Tugend schon — an Zeit. Der Furst fuhrt zc
mich iiberall wie ein Riechflaschchen bei sich und zeigt seinen
narrischen Doktor vor. Mich werden sie bald nicht ausstehen
konnen, nicht weil ich etwan etwas tauge - ich bin vielmehr fest
versichert, sie ertriigen den tugendhaftesten Mann von der Welt
ebensogut wie den schlimmsten, und das bloB, weil er ein Angli-
zismus, ein homme de Fantaisie, ein Naturspiel ware — , sondern
weil ich nicht genug rede. Geschaftleute bekiimmern sich um
keinen Gesprach- und keinen Briefstil; aber bei Hofleuten ist die
Zunge die Pulsader ihres welken Lebens, die Spiral- und Schwung-
feder ihrer Seelen ; alle sind geborne Kunstrichter, die auf nichts 3*
als Wendung, Ausdruck, Feuer und Sprache sehen. Das macht,
sie haben nichts zu tun; ihre gute Werke sind Bonmots, ihre MeB-
geschafte Besuchkarten, ihre Hauswirtschaft eihe Spiel- und ihre
Feldwirtschaft eine Jagdpartie, und der kleine Dienst eine Phy-
17- HUNDPOSTTAG 74I
siognomie. Daher miissen sie fremde Fehler den ganzen Tag in
Ohren haben gegen die schlaffe Weile, wie die Arzte die Kratze
einimpfen gegen Dummheit: ein Hofstaat ist das ordentliche
Pennypostamt der klsinsten Neuigkeiten, sogar von euch Biir-
gerlichen, wenn ihr gerade etwas recht - Lacherliches getan habt.
Zu wiinschen ware, wir hatten Festins, oder Spielpartien, oder
Komodien, oder Assembleen, oder Soupers, oder etwas Gutes zu
essen, oder irgendeine Lustbarkeit; aber daran ist nicht zu denken
- wir haben zwar alle diese Dinge, aber nur die Namen davon;
to der Kammerprasident wiirde die Achsel zucken, wenn wir nur des
Jahrs viermal so glanzend frohlich sein wollten, als Sie es des
Monats viermal sind. Da Unsere Woche aus sieben Sonntagen be-
steht: so sind unsere Lustbarkeiten nur Kalenderzeichen, Zeit-
Abschnitte, auf die niemand achtet, und ein Festin ist nichts als
ein Spielraum der Plane, die jeder hat, das Brettergerust seiner
Hauptrolle und die Jahrzeit der fortgesetzten Intnge gegen Opfer
der Liebe oder des Ehrgeizes. Hier ist jede Minute eine stechende
Moskite, und der Distelsame des schongefarbten Kummers fliegt
weit herum.
to Viele Weiber sind da gut und Anhanger des Linnaus, und ihre
Augen ordnen die Manner botanisch nach seinem schonen ein-
fachen Sexualsystem; sie machen unter tugendhafter und laster-
hafter Liebe einen groBen Unterschied, namlich den des Grades
oder auch der Zeit; und die Beste spricht oft daruber wie die
Schlimmste^ und die Schlimmste wie die Beste. Indessen gibts hier
weibliche Tugend und mannliche Treue in ihrer Art- aber einem
Pfarrer ist davon kein Begriffbeizubringen; denn diese zwei Ge-
leen oder Gallerte sind so zart und weich, daB ich sie, wenn ich sie
auch von alien Stufen des Throns hinuntertragen wollte in die
jo Kaplanei, doch so verdorben und anbnichig hinabbrachte, daB
man ihnen drunten die zwei entgegengesetzten Namen geben
wiirde, fiir die wir doch schon unsre besondern Gegenstande
oben haben. Die Biirgerlichen wiirden unsere bejahrten Manner
in der Liebe lacherlich finden, und diese euere Tochter. - Was mir
aber dieses gliickliche Hofleben oft versalzet, ist der allgemeine
Mangel an Verstellung. Denn hier glaubt keiner, was er hort, und
742 HESPERUS
denkt keiner, wie er aussieht; alle miissen nach den ordentlichen
Spielgesetzen, gleich den Karten, eineilei obere Seite haben und
auBere Gesichtstille auf inneres Gliihen decken, wie der Blitz nur
den Degen, aber nicht die Scheide zerstort. - Folglich kann, da
eine allgemeine Verstellung keine ist und da jeder- dem andern
Gift zutraut, keiner belilgen y sondern jeder nur uberlisten; nur der
Verstand, nicht das Herz wird beruckt. Inzwischen ist, die Wahr-
heit zu sagen, das keine Wahrheit; denn jeder hat zwei Masken,
die allgemeine und die personliche. Obrigens werden die Farben,
die auf den wissenschaftlichen, feinen und menschenliebenden k
Anstrich des AuBern verbraucht werden, notwendig vom Innern
abgekratzet, aber zum Vorteil, da am Innern nicht vkl ist, und das
Studium des Scheins verringert das Sein; so sah ich oft im Walde
Hasen liegen, an denen kein Lot Fleisch war und kein Tropfen
Fett, well alles von dem ungeheuern Haarpclz weggesogen war,
der nach dem Tode fortgewachsen.
Wenn man den Inhalt des Throns und des platten Pobel-Lan-
des vergleicht, so scfyeinet die physikalische und moralische Er-
habenheit der Menschen im umgekehrten Verhaltnis mit der ihres
Bodens zu stehen, so wie die Einwohner der Marschlander groBer 2<
sind als der Berglander. Aber gleichwohl tragen jene erhabnen
Leute den Staat leicht auf Schmetterlingflugeln, uberschauen sein
Raderwerk mit dem hundertaugigen Papillon-Auge und beschir-
men mit einem Spazierstockchen das Volk vor Lowen, oder jagen
damit die Lowen in dem Volk, wie in Afrika Hirtenkinder mit
einer Peitsche naturhistorische Lowen vom Weidevieh ab-
schrecken . . . Lieber Herr Hof kaplan ! diese Satire schmerzte mich
schon auf der vorigen Seite; aber man wird hier boshaft, so wie
eitel, ohne zu wissen wann, jenes, weil man zu sehr auf andere,
dieses, weil man zu sehr auf sich merken muB. Nein! Ihr Garten,' 3<
Ihre Stube ist schoner; da gibt es keine steinerne Brust, an der
man dieArme und Adern der Freundschaft kreuzigt wie einSpa-
liergewachs; da muB man sich nicht taglich wie ich zweimal ra-
sieren lassen und dreimal frisieren; da darf man doch seinen ge-
wichsten Stiefel anzieheh. Schreiben Sie Ihrem Adoptivsohne
bald — denn ich schlage mir das Fest Ihres Besuchs noch ab. -
17- HUNDPOSTTAG 743
Sind viel Kindtaufen und Leichen? - Was macht der Fuchs und
der taube Balgtreter? - Eben wird jetzo der Morser statt Ihrer
Ratten-Trommel unter mir geruhrt. — Leben Sie wohl.
Und Sie griiB' ich jetzt erst, geliebte Mutter! Meine Hand ist
warm, und in meinem Herzen klopfen ein paar Seelen, weil jetzt
Ihr Angesicht voll mutterlicher Warme alle meine satirischen Eis-
spitzen bescheint und in warmes Blut zerschmelzt, das fiir Sie
schlagen und fiir Sie flieBen will. Wie tut es so wohl, wieder zu
lieben! Ihr zweiter Sohn (Flamin) ist gesund, aber zu fleiBig, und
io gegenwartig in St. Liine. GriiBen Sie meine Schwestern und alles,
was Sie liebt. ,
Sebastian.«
*
Er hob den Brief auf, um den Regierrat, der seine Person mit
haben wollte, doch mit einer Fracht abzufertigen.
Indessen wurden seine und Jenners gemeinschaftliche Besuche
mit ihren Theaterknoten zu ganz andern Nervenknoten der
Freundschaft zwischen Jenner und ihm - und zugleich machten sie
den Ruf dieser Freundschaft groBer. In St. Liine, in Le Bauts
Hause, wurde dreimal mehr daraus gemacht, als daran war - im
20 Pfarrhause neunmal.
Dazu kam eine Kleinigkeit, namlich eine Schlagerei - eigent-
Hch zwei. Ich habe den Vorfall vom Spitz, Viktor ihn von Flamin,
dieser von Matthieu, in dessen edlem historischen Stil er hier der
Nachwelt iibergeben werden kann. Der Evangelist schamte sich
keines Burgerlichen, sobald er ihn zum Narren haben konnte. Da-
her besuchte er den Hofapotheker ohne Bedenken. Diesem, der
den Kasernenmedikus Kuhlpepper wegen seiner stolzen Grob-
heit und wegen der untern Note 1 innig haBte, hatte Matthieu langst
versprochen, den Doktor zu stiirzen. Da der letzte und das Poda-
30 gra durch Viktor wirklich von Jenners FiiBen vertrieben waren:
so lieB der Evangelist dem Apotheker merken, er selber wurde
1 Kuhlpepper tat ihm nie den Gefallen, um den er ihn so oft bat, daC er
dem Fursten ein Klistier verordnete, welches alsdann der Apotheker selber
gesetzet hatte, um nur einmal dem Regenten Bei^ukommen und dessen
schwache Seite in seine eigne Sonnenseite zu verwandeln.
744 HESPERUS
ohne dessen Wink und Wiinsche weit weniger zum Falle Kuhl-
peppers beigetragen haben, als er getan. Zeusel - zumal da er den
Nachfahrer des Kasernenmedikus im Hause hatte - kam nach
einigen Tagen mit der gewissen Oberzeugung aufs Billard, dafi
er aus seiner Apotheke heraus Kuhlpeppern das unsichtbare Bein
untergestellet und ihn von den Thronstufen herabgeworfen.
Dort war zum Ungluck der Kasernenmedikus selber und der edle
Matz. Zeusel kam auf diesem Theater mit den Festons von drei
Uhrketten an — mit einem Paar Hosen, auf deren Knien einige
Arabesken gedruckt waren - mit einer doppelten Weste, doppel- k
ten Halsbinde und im Gesicht mit doppelten Ausrufzeichen uber
den Kasernenmedikus - seine Geldborse saB gerade unter dem
heiligen Bein, weil er, wie einige Englander, die Hosentasche in
die Gegend der Hosenschnalle hatte verstecken lassen. Er hatte
als Kammermohren seinen hagern langen Provisor mit, der im
Neben-Trinkzimmer auf den sehr kurzen Provisor der zweiten
oder Kanaillen-Apotheke, stieB. Der kurze Provisor folgte aus
HaB dem langen iiberall, bloB um ihn zu argern; aber diesesmal
war er bloB vom Lande zuriick mit einigen von Wiedergenesen-
den einkassierten Hiihnereiern. *<
Matthieu nahm sich - nach einem exegetischen Wink an Zeusel
- die Freiheit, uber das furstliche Podagra Kuhlpeppers Meinung
zu sein. Kuhlpepper, der ein alter Deutscher sein wollte - solche
alte Deutsche konnen sich nie im Zorn, aber recht gut aus Eigen-
nutz verstellen -, feuerte ab und sagte, der englische Doktor sei
ein ganzer Ignorant. Zeusel faBte mit einem weiten Lacheln wie
mit einem Buchdruckerstock seine hofische Verachtung gegen den
groben Mann ein. Der Medikus sah wie der Gleicher, der Apo-
theker wie Spitzbergen aus. Jetzo wurde bloB uber das Podagra
geturnt. Der Kampfwarter und Turniervogt Matthieu gab zu ver- n
stehen, »Zeusel liebe zwar seinen Fiirsten und Herrn, aber er
wiinsche doch, daB diese Liebe die besten Mittel und die heil-
samsten Einflusse gehabt.« - »In den H-« (sagte Kuhlpepper)
»kann der da EinfluB haben. « - Als sich der Apotheker.deswegen
stolz und verachtlich in die Hohe richtete : driickte ihn der Dok-
tor langsam auf den Stuhl und auf seinen Geldbeutel nieder, und
17. HUNDPOSTTAG 745
die auf die Achsel eingeschlagne Hand nagelte den kleinen Zier-
ling samt der Borse an den Sessel an.
Diese Befestigung verdroB den Schneidervogel am meisten,
und er versetzte, in die Hohe wollend: »noch heute wiirde er,
wenn er zu Rate gezogen wiirde, Sr.Durchlaucht die jetzige bes-
sere Wahl anraten.« Der Kasernenmedikus mochte vielleicht die
Hand zu hurtig von der Achsel abdecken ; denn er bestrich damit,
wie mit einer Kanone, die Nase seines Gegners, worauf diese ein
Blut wie der heilige Januar entlieB. Der Evangelist bedauerte es
ro fur seine Person, »daB zwei so verstandige Manner sich nicht mit-
einander entzweien und schlagen konnten ohne personlichen HaB
und ohne Hitze, da sie gleich kriegenden Fiirsten sich ohne beides
anfallen konnten - aber das Bluten bestatige Zeusels Wallung zu
sehr«. - Zeusel rief zum Doktor: »Sie Grobian!« - Dieser nahm
im Grimme wirklich die Matthaische Meinung an, jener blute nur
aus Grimm, und verglich ihn mit den Kadavern, die in alten Zei-
ten zwar bei Annaherung des Morders bluteten, aber bloB aus
ganz natiirlichen Ursachen. Der Medikus suchte also seinen
gleich einem Fiirsten oben vergoldeten Stecken auf und beur-
io laubte sich mit der gekronten Stange, indem er sie einige Male
gleichsam magnetisch-streichend iiber Zeusels Finger fiihrte;
aber ich wiirde den Stab, wenn ich an der Stelle anderer Leute
ware, weder ein Horrohr fur Zeuseln nennen, das der Arzt an ihn,
wie man Schwerhorigen ofters tut, anstieB, damit dieser besser
horte, noch auch einen Turklopfer, den er der Wahrheit vor-
streckte, damit sie leichter in den Apotheker einkonnte: sondern
er wollte bloB seine Finger notigen, das Schnupftuch fallen zu
lassen, damit er lhm ins Gesicht beim Abschied schauen konnte,
den er in die schonende Wendung kleidete: »Sag Ers Seinem
jo Doktor, er und Er da, ihr seid die zwei groBten Stocknarren in
der Stadt.«
Vor den letzten Worten verhielten sich beide Provisores ruhig
genug, nicht mit der Zunge - denn der lange Pro visor sang als
zweites Chor mit demselben Kriegsliede den kurzen an und war
echter Anti-Podagrist -, sondern sonst. Wer iiberlegt, daB der
lange meinen Helden wegen seiner Hoflichkeit liebte und den
746 HESPERUS
kurzen nicht leiden konnte, weil Kuhlpepper alles bei diesem
verschrieb, der wiirde von dem Paare nichts Geringers erwarten
als den Widerschein des Billardzimmers; aber der lange Provisor
war gesetzt und breitete erhebliche Wahrheiten nie wie Portugal
mit Blute aus, sondern er nahm - sobald der Kasernenmedikus
den Hofmedikus einen Stocknarren genannt hatte - still den Hut
des kurzen Provisors, der in solchen des Zerknickens wegen seine
Eier-Gefalle niedergelegt hatte, und setzte besagte Eier dem
Professionverwandten ohne Ingrimm auf; und mit geringem
Druck paBte er den Doktorhut, der eine halbe Elle zu hoch saB, ic
seinem Freunde - um so mehr, da auch Kastor und Pollux Eier-
schalen aufhatten - promovierend recht an und ging fort, ohne
eben viel Dank fur das aufgesetzte Filz-Gefullsel und den flieBen-
den Gesicht-Umschlag haben zu wollen.
Schlagereien breiten kleine, wie Kriege groBe Wahrheiten aus.
Der Hof kaplan Eymann sandte ein langes Gluckwunschschreiben
an Viktor und hieB ihn »Jenners Nierenlenker« und bat um seinen
Besuch. Eia»Ranzenadvokat« klopfte bei ihm wie bei einer hdhern
Instanz an und bat ihn um eine furstliche Einschreitung gegen das
Regierkollegium. Der Apotheker halt mit seinem Gesuch um ein *c
Lavement noch zuriick.
Viktor sparte sich noch den ersten Besuch in St. Liine auf wie
eine reifende Frucht und argerte dadurch den Regierrat, der ihn
hjnbereden wollte. Aber er sagte: »Die Hinterbliebenen eines
Orts sehnen sich nach dem, der daraus fort ist, so lange unbe-
schreiblich, bis er den ersten Besuch gemacht, so wie er auch.
Nach dem ersten passen beide Parteien ganz gesetzt und kalt den
zweiten ab.« - Was er nicht sagte und dachte, aber fuhlte und
furchtete, war: daB seine Halbgottin Klotilde, die das Allerheilig-
ste in seiner Brust bewohnte, und die seiner Seele durch ihre Un- 3<
sichtbarkeit teurer, notiger und eben darum gewisser geworden
war, ihm vielleicht bei ihrer Erscheinung alle Hoffnungen auf
einmal aus seinem Herzen ziehe. -
Es war am Abend des empfangenen Eymannischen Briefes, wo
er so phantasierte : » Wenn doch Jenner nur so gesund bliebe ! -
Er muB Bewegung haben, aber eine ungewohnte - der Reiter
1 8. HUNDPOSTTAG 747
muB gehen, der FuBganger fahren. - Wir sollten miteinander zu
FuB durchs Land ziehen, verkleidet. - Ach ich konnte vielleicht
manchem armen Teufel niitzen - wir schlichen heimwarts durch
St. Liine — Nein, nein, nein«. . .
Er erschrak selber vor einem gewissen Einfall - denn er be-
sorgte, er wurde ihn, da er ihn einmal gehabt, auch ausfuhren, da-
her sagte er dreimal Nein dazu. Der Einfall war der, den Fiirsten
zu Klotildens Eltern hinzubereden. - Es half aber nichts: es fiel
ihm bei, daB sein Vater ein zu strenges Rugegericht iiber den
> Kammerherrn und den Minister gehalten - »Was will mir Le Baut
schaden ! Wenn ich dem armen Narren nur drei Sonnenblfcke von
Jenner zuwendete! - Das Gescheiteste ist, ich denke heute nicht
mehr daruber nach.«
Der Hund wird uns Antwort bringen; ich meines Ones wette-
ein feiner Menschenkenner auf meiner Insel wettet hingegen, der
Held macht diesen SpaB — , daB er ihn nicht macht.
18. HUNDPOSTTAG
Standeserhohung Klotildens - Inkognito-Reise - Bittschrift der Oberjager-
meisterei - Konsistorialbote - Vexierbild der Flachsenfinger
to Freilich macht* er ihn, den SpaB; aber ich verlier' im Grunde
nicht. Denn es war so : vom Tage an, wo Doktor Kuhlpepper vor
der vollbliitigen Nase Zeusels mit seiner groben Hand wie mit
einem elektrischen Auslader vorbeigegangen war, drangte sich
der Mann mit drei Uhren an meinen Helden, der nur eine und
noch dazu des Zeidlers plumpe trug. Zeusel dankte uberhaupt
Gott, wenn sich nur ein Hoffurier bei ihm betrank und der Hof-
dentist uberfrafi. Er kam immer mit gewissen geheimen Nach-
richten, die zu publizieren waren. Er behielt nichts bei sich, und
hatte man ihn unter seine Apotheke zu hangen gedrohet. Er sagte
o unserm Helden, daB der Minister urn die Stelle der zweiten Hof-
dame fur seine Joachime bei der Fiirstin werbe, die sich bloB die
weibliche Dienerschaft selber wahlen durfte - daB jener aber es
748 HESPERUS
nicht geradezu tun diirfe, weil er oder sein Soha MattKieu dem
Kammerherrn Le Baut versprochen, die namliche Stelle Klotilden
zu verschafFen — er bat also meinen Helden, der, wie er sehe,
Matthieus Freund sei, ihm die Verlegenheit zu ersparen und den
Fiirsten zu bewegen (welches nur ein Wort koste), daB dieser
selber bei der Fiirstin die Bitte umjoachime einlege - die Fiirstin,
die ohnehin den Minister protegiere, wurd' es aus mehr als einem
Grunde mit Freuden tun, und der Minister konnte dann nichts
dafur, wenn der Kammerherr, der Feind des Lords, leer ausginge. -
Der Tropf, sieht man, hatte bio 6 aus den zwei eingefangnen i<
Nachrichten der zwei Amt-Werberinnen den ganzen iibrigen
Rechtgang erraten, und selber der Umstand, den ihm Matthieu
entdeckte, daB der Minister einen Viertels-Flugel seines Palastes
fur eine Freundin seiner verstorbnen Tochter Giulia raume, hatte
ihn nur mehr befestigt. So sehr ersetzt Bosheit nicht nur Jahre,
sondern auch Nachrichten und Scharfsinn.
Mein Held konnte ihm nichts sagen als: er glaube nichts
davon. Aber in drei einsamen Minuten glaubte er alles - denn
deswegen, sah er, muBte die liebe Klotilde gerade bei der Er-
scheinung der Fiirstin aus dem Stifte zuriick- deswegen wurde z*
der Minister-Sohn von Le Baut mit soviel Rauch- und Dankopfer-
Altaren umbauet — deswegen brachte die Alte (im sechzehnten
Hundposttage) dem Hofkben solche Standchen und so laute -
iiberhaupt sind, sah er noch, zwei solche geachtete gefangne Hof-
juden in Babylon des Teufels lebendig, bis sie in der alten hei-
ligen Stadt wieder sitzen, und wenn sie gerade eine schone
Tochter haben, so wird diese zur Vorspann der Fahrt gebraucht
und zur Montgolriere des Steigens...
»0 komm nur, Klotilde« - rief er gluhend - »Der Hof-Pfuhl
wi'rd mir dann ein italienischer Keller, ein Blumenparterre. - Bist v
nur du beim Minister, so nab' ich Geist genug und spruhe ordent-
lich. - Was wird mein Vater sagen, wenn er uns mit zwei Lauf-
zaumen stehen sieht, an einem hast du die Fiirstin, am andern ich
den Mann . . . .« Jetzo fielen ihm Klotildens neuliche Einwendun-
gen gegen das Ho fie ben wie Eiszapfen in sein kochendes Blut;
aber er dachte, »Weibern gefallen doch die Hof-Lager des Glan-
1 8. HUNDPOSTTAG 749
zes ein wenig mehr, als sie selber vermuten und sagen, und weit
mehr als den Mannern. - Hake derm ers mit ahnlichem Seelen-
Bau nicht auch aus? - Sie, als Stieftochter des Fiirsten, und als
eine schone dazu, habe nur halbes Elend, gegen ihn gehalten -
und wisse sie denn, ob sie nicht einmal aus ihrem Feld-Etat in die
Hofgarnison zuriickgesetzt werde durch einen. Zufall?« Unter
dem Zufalle verstand er eine Heirat mit - Sebastian. Endlich be-
ruhigte er sich mit dem, was ich auch glaube, da 6 sie damals bloB
aus Hoflichkeit einige Kalte gegen ihre neue Entfernung von
10 ihren Eltern vorgespiegelt und also auch gegen den neuen Ort;
auch hatte man Freude dariiber fur Warme gegen irgend jemand
am Hofe nehmen konnen, z.B. gegen ihren - Bruder, dacht*
er.
Jetzo kam der gestrige Gedanke, iiber den ich die Wette ver-
loren, wieder hervor, in einer Nacht erstaunlich in die Hohe ge-
schossen; der namlich: wenn er den Fiirsten zur Reise und zum
Besuche beim Kammerherrn uberredete und ihn noch unterwegs
urn ein Vorwort fiir Klotilde bei der Fiirstin ansprach: so wars
erstlich dem Stiefvater unmoglich, die Bitte fiir die schonste Stief-
20 tochter abzuweisen, und zweitens der Fiirstin unmoglich, bei
ihrem Gemahl, der das Recht der ersten Bitte ausiibte, nicht alien
moglichen Vorteil aus der ersten Gelegenheit zu ziehen, sich ihn
verbindlich zu machen.
— Acht Tage darauf, da es schon dammerte - in den Herbst-
tagen wirds eher Nacht -, stand der Hofkaplan Eymann auf der
Wane und guckte nach der Sonne, nicht ihrer selber wegen, son-
dern um des Abendrots und Wetters willen, m eil er morgen saen
wollte: als er erschrocken von der Warte hiniibersprang in sein
Haus und die Hiobspost auspackte, der Konsistorialbote werde
30 gleich da sein samt einem franzosischen Emigranten, und fiir den
einen sei noch kein Heller vorratig und fiir den andern kein
Bette . . .
Es kam kein Mensch. -
Ich begreif es leicht; denn der Konsistorialbote lauerte am
Pfarrhause und marschierte, sobald er oben den Hofmedikus Vik-
tor aus Wachs am Fenster sitzen sah, spornstreichs zum Dorfe
75° HESPERUS
hinaus, gerade nach Flachsenfingen zu. Der Emigrant war zu
seinem Professionverwandten Le Baur hineingegangen. -
Beide Reisende nannten sich auch noch — Jenner und Viktor,
und kamen heute voh ihrer scherzreichen Rennbahn zuruck. —
Vor sieben Tagen war namlich der Fiirst, der Maskentanze und
Inkognito-Reisen und gemeine Sitten liebte, und der nur des Mi-
nisters geistige Masken und Inkognito verwiinschte, mit Viktor zu
FuB hinter einem Kerl abgereiset, der zu Pferde mit der Redouten-
kleidung und mit Redoutenerfrischungen vorausgebrochen
war. Jenner trug einen Degen in der Hand, der in keiner Scheide 10
steckte, sondern in einem Spazierstockchen; ein Sinnbild der
Hof-WafTen! Er gab sich in den Marktflecken fur den neuen Re-
gierrat Flamin aus. Mein Held, der sich anfangs zu einem reisen-
den Augenarzt gepragt hatte, miinzte sich im dritten Dorfe zu
einem Konsistorialboten um - bloB weil beiden der wahre Bote
begegnete. Dieser Kammereinnehmer des Konsistoriums muBte
dem Arzte - es kostete dem Fiirsten nur eine fiirstliche Resolu-
tion und eine Gnade — sein Sportelbuch und seinen kirchlichen
Amtrock samt dem aufgenahten Blech auf diese Woche iiber-
lassen. Die Bleche sind an Boten und die Silbersterne an vornehme 20
Rocke wie die Bleistiicke an Tuchballen befestigt, damit man
wisse, was am Bettel ist.
Fur Busching ware eine solche Rekahns-Fahrt ein Fund - fur
mich ist sie eine wahre Pein, weil mein Manuskript ohnehin schon
so grofi ist, da6 meine Schwester sich darauf setzet, wenn sie Kla-
vier spielet, da der Sessel ohne die Unterlage der Hundposttage
nicht hoch genug ist.
Was sah Jenner? - was Viktor? - t
Der Regierrat Jenner sah unter den Beamten lauter krumme
Riicken — krumme Wege - krumme Finger - krumme Seelen. - 3°
»Aber krumm ist ein Bogen, und der Bogen ist ein Sektor vom
Zirkel, diesem Sinnbild aller Vollendung«, sagte der Konsistorial-
bote Viktor. Allein Jenner argerte sich am meisten dariiber, daB
ihn die Beamten so sehr verehrten, da er sich doch nur fur einen
Regier-Rat ausgab und fur keinen Regenten. - Viktor versetzte:
»Der Mensch kennt nur zwei Nachsten; der Nachste zu seinem
1 8. HUNDPOSTTAG 75 1
Kopf ist sein Herr, der zu seinem FuBe sein Sklave - was iiber
beide hinausliegt, ist ihm Gott oder Vieh.« -
Was sah Jenner noch mehr? -
Steuerfreie Spitzbuben sah er, die sich an steuerfahigen Armen
bereicherten - redliche Advokaten hort* er, die nicht, wie seine
Hofleute oder die englischen Rauber, mit einer tugendhaften
Maske stahlen, sondern ohne die Maske, und denen eine gewisse
Entfernung von Aufklarung und Philosophic und Geschmack
nach dem Tode gar nicht schadlich sein wird, weil sie dann in
10 ihrer eignen Verteidigung Gott die Einrede ihrer Unwissenheit
entgegensetzen und ihm vorhalten konnen : »daB andere Gesetze
als landesherrliche und romische sie nicht verbinden konnen, und
Gott sei weder Justinian, noch Kant Tribonian.« - Er sah am
Kopfe seiner Landrichter Brotkorbe, und am Kopfe ihrer Unter-
tanen Maulkorbe hangen; er sah, daB, wenn (nach Howard) zwei
Menschen notig sind, um einen Gefangnen zu ernahren, hier
zwanzig Eingekerkerte da sein miissen, damit ein Stadtvogt lebe.
Er sah verdammtes Zeug. E)afiir sah er aber auch auf der andern
Seite in arigenehmen Nachten das Vieh in schonen Gruppen in
20 den Feldern weiden, ich meine das republikanische, namlich
Hirsche und Sauen. Der Konsistorialbote Viktor sagte ihm, er
habe diesen romantischen Anblick den Jagermeistern zu danken,
deren weiches Herz den furstlichen Befehl des WildschieBens
ebensowenig hatte vollziehen konnen, wie die agyptischen Weh-
miitter den, die Judenknaben totzumachen. Ja der Sportelbote
lieB sich in einer Kneipschenke gelbe Dinte und schwarzes Papier
hingeben und setzte da, wahrend der Schieferdecker auf dem
Dache trommelte, um Schiefer zugelangt zu bekommen, und die
Gaste an die Kriige schlugen, um eingeschenkt zu kriegen, und
30 der Wirtsbube auf einem Bierheber zum Fenster hineintrompe-
tete, unter diesem babylonischen Larm setzte der Sportulnbote
eine der besten Bittschriften auf, welche die edle Jagerschaft noch
je an den Fiirsten abgelassen.
752 HESPERUS
Schlechte Relation aus der Bittschrift
der Oberjagermeisterei
»Da das Wild nicht lesen und schreiben konnte: so sei es die
Pflicht der Jagermeisterei, die es konnte, fur dasselbe zu schreiben
und nach Gewissen einzuberichten, daB alles flachsenfingische
Wild unter dem Drucke des Bauers schmachte, sowohl Rot- als
Schwarzwildpret. Einem Oberforster blute das Herz, wenn er
nachts drauBen stehe und sehe, wie das Landvolk aus unglaub-
licher MiBgunst gegen das Hirschvieh die ganze Nacht in der
groBten Kalte neben den Feldern Larm und Feuer machte, pfiffe, k
sange, schosse, damit das arme Wild nichts fraBe. Solchen harten
Herzen sei es nicht gegeben, zu bedenken, daB, wenn man um
ihre KartofFeltische (wie sie um ihre Kartoffelfelder) eben solche
Schiitzen und Pfeifer lagerte, die ihnen jede Kartoffel vom Munde
wegschossen, daB sie dann mager werden muBten. Daher sei eben
das Wild so hager, weil es sich erst langsam daran gewohne, wie
Regimentpferde den Hafer von einer geruhrten Trommel zu
fressen. Die Hirsche muBten oft meilenweit gehen - wie einer,
der in Paris sein Fruhstiick aus Aubergen zusammenhole -, um
in ein Krautfeld, das keine solche Kiistenbewahrer und Wider- ic
parte des Wilds umstellen, endlich einzulaufen und sich da recht
satt zu fressen. Die Hundjungen sagten daher mit Recht, sie zer-
traten in einer Parforcejagd mehr Getreide, als das Wild die ganze
Woche abzufressen bekomme. - Dieses und nichts anders seien
die Griinde, welche die Oberjagermeisterei bewogen hatten, bei
Sr. Durchlaucht mit der untertanigen Bitte einzukommen,
DaB Ew. den Landleuten auflegen mochten, nachts in
ihren warmen Betten zu bleiben, wie tausend gute Christen
tun und das Wild selber am Tage.
Dadurch wiirde — getrauete sich die Obristjagermeisterei zu 3c
versprechen - den Landleuten und Hirschen zugleich unter die
Arme gegrifFen - Ietzte konnten alsdann ruhig, wie Tagvieh, die
Felder abweiden und wiirden doch dem Landmann die Nachlese,
indem sie mit der Vorlese zufrieden waren, lassen. - Das Land-
volk ware von den Krankheiten, die aus den Nachtwachen kamen
18. HUNDPOSTTAG 753
von Erkaltungen und Ermiidungen gliicklicherweise befreiet. Der
groBte Vorteil aber ware der, daB, da bisher Bauern iiber die
Jagdfronen murrten (und nicht ganz mit Unrecht), weil sie dar-
iiber die Zeit der Ernte versaumten, daB alsdann die Hirsche an
ihrer Statt die Ernte in der Nacht iibernahmen, wie sich in der
Schweiz die Jiinglinge fur die Madchen, die sie liebten, nachts
dem Getreide-Schneiden unterzogen, damit diese, wenn sie am
Morgen zur Arbeit kommen, keine finden - und so wtirden die
Jagdfronen in den Ernten niemand mehr storen als hochstens
10 das - Wild etc.«
Was ist aber vom Konsistorialsportulboten Viktor zu erzahlen?
- Dieser kirchliche Hebbediente setzte alle Pfarrherren durch
seinen SpaB und alle Pfarrfrauen durch seine Gewandtheit in Er-
staunen, und bloB sein Blech und seine Papiere konnten die Echt-
heit eines solchen Botenexemplars hinlanglich verbiirgen. Er
kassierte alles ein, was der Konsistorialsekretar liquidiert hatte,
und entschuldigte sich damit, daB es weder ihm noch dem Sekre-
tar in diesem Falle zukame, gewissenhaft zu sein. In seiner kurzen
Amtfiihrung sackte er ohne Scham ein alle ruckstandige Ehe-
a° pfander vom geringsten Wert - wir im Kollegio, sagte er, sind
auf einen halben Batzen erpicht - Gelder, wenn die Ehen ge-
schieden waren — Gelder, wenn- diese von den Raten geschlossen
waren, es sei durch Indulgenzen fur Trauerzeit, fiir Blutverwandt-
schaft oder fiir elterliche Einwilligung - Gelder, wenn die Gelder
erst einmal (oder zweimal) bezahlt waren, aber noch nicht zum
zweiten (oder dritten) Male, wiewohl das Konsistorium diesen
Geld-Nachklang stets nur in dem Falle verlangte, wenn die Leute
die Quittung verloren hatten - Gelder, welche die Pfarrherren
bloB fiir Dekrete zu erlegen hatten, worin sie losgesprochen
3° wurden.
Darauf schiittete er den Sack vor dem Fiirsten aus und plattete
die Goldwoge auseinander und fmg an:
754 HESPERUS
»Ihro Durchlauchtl
Das Konsistorium ist des Teufels: es konnte uber alle Gebote
eine lutherische Poenitentiaria sein und ist es nur uber das sechste.
Was eine ehrliche Konsistorial-Regie - ich namlich - hat zu-
sammenscharren konnen, liegt da auf dem Tisch. Der Haufe
konnte noch einmal so breit sein, wenn das Konsistorium Ver-
stand hatte und sagte: >Wer kauft? neue frische AblaBbriefe fiir
alles!< - Es hat gezeigt, daB es uber einige Verwandtschaftgrade
Dispensationbullen so gut wie der Papst verfertigen konne; war-
um will es sich denn an keine naheren Grade machen? Es wiirde 10
von groBen so gut als von kleinen dispensieren konnen, wenn es
dariiber her wollte, und ebensogut von Bufitag- Fasten als von
Trauerzeit und dreimaligem Kanzelausrufe, dieser erotischen
Fastenzeit. Beim Himmel, wenn ein einziger Mensch, wie der
Papst, die geistliche Waschmaschine ganzer Weltteile zu sein ver-
mag und die Seelen am Jubeljahre biindelweise saubern kann: so
werden doch wir alle im Kollegium zur Waschmaschine eines
einzigen Landes zu gebrauchen sein? Geschieht das nicht: so
nehmen wir - denn wir wollen leben - Siindengeld und Sportuln
fiir das wenige, worin wir giitig nachzusehen haben; und wenn in 10
Sparta die Richter die Gottin der Furcht anbeteten, so verehren
bei uns die Parteien dieses schone ens. - Hatten wir nur wenigstens
von fiinf oder sechs groBen Siinden loszusprechen, nur z. B. von
einem Mord : so konnten wir Ehescheidung und Ehe-Beschleu-
nigung - diese ganz entgegengesetzten Operationen gelingen uns,
so wie das Kailsbader Wasser zugleich den Stein in der Blase zer-
teilt und Eingetauchtes im Brunnen versteinert - fiir halbes
Geld erlassen.« Nach einer langen Pause : »Ihro Durchlaucht,
es ist doch nicht zu machen, weil der Henker die weltlichen Rate
mitten unter den geistHchen hat: ein halb profaner Sessiontisch ist 30
zu keinem keiligen Stuhle umzudrechseln; es ist also nichts zu
wiinschen - auBer der gesegneten Mahlzeit - als Vertraglichkeit,
damit geist- und weltHche Rate die Parteien, umwelche sie sitzen,
ordentlich aufspeisen konnen, ein paar Knochen ausgenommen,
die uns Schreibern und Boten zufallen; so sah ich oft auf einem
18. HUNDPOSTTAG 755
toten Pferde zugleichStare und Raben in bunter Reihe eintrachtig
wohnen und hacken und zehren.«
Mein Korrespondent versichert mich, durch diese Reden rich-
tete der Hofmedikus mehr bei Jenner aus als der Hofprediger
durch seine. Viele Parteien bekamen ihr Geld, und einige Richter
ein allerungnadigstes Handschreiben.
Eh' ich mit unserem verkleideten Gespann vor St. Lurie an-
komme: ist noch eines und das andre zu schreiben. An Jenners
Seele waren mehre Kniedrucker als an einem Fortepiano ange-
10 bracht, die das Favoritenknie, indem es sich zu beugen schien, be-
wegte, wie es wollte. Er war allemal der Sohn der Gegenwart und
der Widerschein der Nachbarschaft. Las er im Sully, so ver-
saumte er eine Woche lang das geheime Regierkollegium nicht
und IieB den Kammerprasidenten kommen. Las er im Friedrich II.,
so wollt' er das Reichskontingent stellen und selber kommandieren
und ging vormittags auf die Parade. Er sah mit Vergniigen das
Ideal einer guten Regierung an, es sei im Druck oder in einer
Rede, und oft versuchte er die Annaherung dazu, Umbesserun-
gen, Untersuchungen und Belohnungen, ganze Wochen lang -
10 Enthaltungen ausgenommen, die doch das einzige Verdienst sind,
das der Fiirst ohne fremde Hiilfe erwerben kann. - Unter der gan-
zen Kreuzfahrt war er ein wahrer Antoninus Philosophus und
stand in Bereitschaft, iiberall zu belohnen und zu bestrafen und zu
verfugen; - auch fiihlte er, er konnt* es tulich machen, wenn man
nur nicht von ihm noch gar arbeiten und entbehren heischte; dar-
iiber ging das andre auch zum Teufel.
Anfangs gefiel ihm die empfmdsame Reise - als sie voriiber
war, wieder - aber in der Mitte schmeckte ihm alles, was nach dem
Vorlauf ausgekeltert wurde, immer herber, und er wiinschte sich
;o statt der Dorfkiichenzettel sein Viktualienzifferblatt. Auch hatt'
er sich so sehr an Tapferkeit gewohnt, daB er beim Mangel der-
selben - d. h. seiner Leibwache - sozusagen furchtsam wurde ; da-
her wollt' er einmal im Finstern einen j ungen Weber in der Schenke
aus dem Bette heraus mit seinen Stockdegen erstechen, weil der
Weber nachts das furstliche Bette verwechselt hatte mit einem
von friedlicherem Inhalt. Obrigens sammelten sich jetzt alle
7 5 <> HESPERUS
Strahlen seiner Zuneigung im einzigen Menschen von Stande, im
einzigen Beherzten und Vertrauten, den er hatte, in Viktor, zum
Brennpunkte. Mein Held aber hatte uberall zu genieBen - wenig-
stens den Gedanken an St. Liine -, uberall zu essen - wenigstens
auf einem Obstbaum -, uberall zu lesen - und warens nur Feuer-
segen an der Tiire, alte Kalender an der Wand, Ermahnungen zur
Wohltatigkek iiber Almosenbiichsen -, uberall zu denken - iiber
das Reise-Paar, iiber die vier Jahrzeiten-Akte der Natur, die jahr-
Hch wieder gegeben werden, iiber die tausend Akte im Menschen,
die niemals wiederkehren - und uberall zu lieben und zu traumen, i
denn eben diese StraBe hatte Klotilde so oft auf ihren Reisen nach
Maienthal und St. Liine zuriickgelegt, und der Freund ihres rei-
chen Herzens fand auf diesem klassischen Wege nichts als groBe
Erinnerungen, Zauber-Stellen und eine stille lange heimliche
Seligkeit
»St. Liine !« schrie Jenner, erfreuet, daB er nur wieder einen
Weltmann, Le Baut, sehen solle. Auf die Emigranten-Maske war
er selber verfallen, um den Kammerherrn, bei dem er sich zu-
letzt fiir einen Fiirsten-Erbfeind ausgeben wollte, besser auszu-
holen. Ware in Le Bauts Seele ein hoherer Adel als der heraldische 2
•gewesen — oder hatte Viktor nicht gewuBt, daB der Kammerherr
den Fiirsten auf den ersten Blick erkennen wiirde - und daB ers
schon darum vermogen wiirde, weil der wahre suspendierte Kon-
sistorialbote schon der Stadt Flachsenfingen wahrscheinlich die
ganze Vermummung werde ins Ohr gesagt haben: so hatt' er ihm
die noble Masque ausgeredet.
Sebastian blieb gedachtermaBen weg und im Freien, wahr-
scheinlich aus Scham seiner Rolle und offenbar aus Sehnsucht,
Klotildens Sonnenangesicht, das fiir ihn so lange nicht aufge-
gangen war, in einer seinem Herzen bequemern Lage anzuschauen. y
DUnd die El tern werden mich gern wiedersehen,« dacht* er dazu,
»wenn sie mir etwas zu verdanken haben« - Klotildens Hofamt
namlich. Er fuhr, hinter dem Bettschirm der Dunkelheit lau-
schend, ofters zusammen, als er aus dem Pfarrhause seinen Namen
und zwar mit solcher Liebe, mit solchen Wiinschen seiner Ant-
wort nennen hdrte, daB er beinahe eine gegeben hatte. Aber die
1 8. HUNDPOSTTAG 757
Pfarrleute hatten nur mit seinem Patchen gesprochen und zu soU
chem gesagt: »Guter liebster Sebastian! Sieh doch her, was hat'
ich da?« - Wie lag das verhiillete Paradies des heurigen Friih-
lings in alten Resten urn ihn! Wie beneidete er die Schattenkopfe
im Schlosse, die er urn die Lichter gehen sah, und den alten Pfarr-
mops, der ihn zu den Pfarrleuten hineinweqleln wollte und drinnen
auf dem Schauplatz einer so holden Vergangenheit weiter agierte !
Aber als ihn Disteln am Schlosse an die musivische auf dem
innern FuBboden desselben erinnerten, so war der Neider zu be-
10 neiden, und er ging mit den schonsten Traumen, die je iiber sein
dunkles Leben gezeichnet wurden, zum Apotheker zuriick.
Am andern Tage kam Jenner nach, erfreuet iiber die Eltern,
entziickt iiber die Tochter, weil jene so fein waren und diese so
schon. Es kostete meinem Helden nichts als ein Wort, um den
Stiefvater zur Bitte fur die Anstellung der Stieftochter zu be-
wegen,die der Held und der Vater so gern ofter sehen wollten-
und dem Stiefvater kostete es auch nur ein Wort bei der Furstin,
um seine und die fremde Bitte gewahrt zu finden... Klotilde
wurde Hofdame.
zo Sogleich darauf drang der Minister von Schleunes im Gliick-
wunschschreiben den Viertels-Fliigel seines Hauses Klotildens
Eltern auf und war in der Epistel froh, »daB eine hohere Bitte die
seinige mit so vielem Erfolge wiederholet hatte«. - Ich stelle diesen
Edeln alien Weltleuten zum Muster auf; wiewohl sich jetzt alles
im moralischen Sinne, wie die Wiener im keraldischen, eafe/schreibt.
Viktor, der mit seinen Seelenaugen den ganzen Tag dem Kam-
merherrn ins Fenster guckte, konnte es kaumerwarten, Klotilde
erstlich in St. Liine zu sehen, und zweitens am Hofe. Er verschob
den Besuch von Tag zu Tag - und machte ihn von Nacht zu
3° Nacht im Traume. Nicht einmal die Besuchkarte - snnen Brief
an den Pfarrer — hatt* er fortgeschickt : er wollt' ihn nicht nur sel-
ber bringen, sondern auch gar unterschlagen. Aber diesen letzten
Gedanken - den Brief zu unterdnicken, weil etwan Klotilde diese
boshafte Konduitenliste der Hofe in die Hande und daraus Wider-
willen gegen das neue Amt bekommen konnte - schleuderte er,
wie Paulus die Schlange, sogleich aus seiner Seele hinaus: wehe
758 HESPERUS
dem Herzen, das nicht aufrichtig ist gegen ein aufrichtiges, nicht
groB gegen ein groBes und warm gegen ein warmes, da es schon
alles dieses sein muBte gegen eines, das nichts von allem diesem
ware!
Obrigens bedurft* er eines solchen Besuchs und eines solchen
Gegenbesuchs taglich starker; denn er war nicht gliicklich: daran
war auBer ihm schuld i) der Furst, 2) Flamin, 3) neuntausend-
undsiebenunddreiBig Personen. Der Fiirst konnte nicht viel dafiir ;
er goB das ganze Fullhorn seiner Liebe iiber den Doktor aus und
nahm diesem alle Freiheit weg, die er anfangs so heilig zu be- 10
wahren willens gewesen. Viktor schuttelte den Kopf, sooft er
sein Tagebuch oder Schiffjournal der Lebensfahrt (auf GeheiB
seines Vaters) weiterschrieb und aus seiner Seekarte ersah, daB er
ganz andere Meere und Grade der Lange und Breite passieret war,
als er oder sein Vater haben wollte: »Inzwischen land' ich doch
richtig«, sagt' er. -
Aber sein Flamin tat seiner Seele weher, die iiberall zuviel Liebe
suchte und gab. Er wollte dem Rate mit der Nachricht von Klo-
tildens Hofamt eine Freude machen, die seiner eigenen glich;
aber der empfing sie so kalt wie ihren Oberbringer. Der Akten- 20
staub lag dick auf den Orgelpfeifen seines Gemiits. - Angekettet
an den Session- und Schreibetisch, war er jetzt, wie angekettete
Hunde, wilder als vorher ungefesselt. - Die Bemiihungen seiner
Kollegen, den Staats-Korper zu einem Anagramma auszurenken,
erhielten von ihm den verdienten Beifall nicht. - Auch setzte sich
in seiner Seele der Sauerteig der freundschaftlichen Eifersucht an,
der es nicht recht war, daB sein Viktor ihn seltener und andre
ofter sah. - Am meisten erboste ihn Viktors Weigern, als er ihn
um Begleitung nach St. Liine ersuchte... Kurz: er war arg.
Die 9037 Mann, die fur meinenHelden 9037 Plagegotter waren, 3 o
sind die Herren Flachsenfinger samt und sonders vermittelst
ihres narrischen Charakters, der nicht hier skizzieret zu werden
verdient, sondern in einem fluchtigen Extrablattchen.
l8. HUNDPOSTTAC 759
Fliichtiges Extrablattchen, worin der narrische Charakter
der Flachsenfinger skizziert wird - oder perspektivischer
AufriB der Stadt Klein- Wien.
Klein-Wien heiBen viele mein Flachsenfingen, so wie es ein Klein-
Leipzig, Klein-Paris u.s.w. gibt. Es konnen aber wohl zwei
Stadte nicht weiter voneinander in Sitten abstehen als Flachsen-
fingen, wo man sein Leben und seine Seele verfHBt und versauft,
und Wien, wo man vielleicht den entgegengesetzten Fehler eines
spartischen Ausmergelns nicht genug vermeidet. Die Klein-
o Wiener oder Flachsenfinger ofTnen dem GenuB der Natur weni-
ger ihr Herz als" ihren Magenmund - Auen sind die Kuchenstucke
ihres Viehes, und Garten die ihrer Besitzer - die MilchstraBe
fesselt und sattigt ihren Geist (ob sie gleich langer ist) nicht halb
so sehr, als die Konigsberger Bratwurst von 1583 es tate, welche
funfhundertundsechsundneunzig Ellen lang und viermal schwerer
war als der Gelehrte selber, der sie der Nachwelt geschildert,
Herr Wagenseil 1 . — Sind das Ziige, auf welche die Fuhrleute den
Namen Klein-Wien begriinden? Ich war oft in GroB-Wien und
kenne die GroBkreuze, Kleinkreuze und Kommandeurs des Tem-
20 peranzordens, der dort so gemein ist, personlich: ich kann also
allerdings einen giiltigen Zeugen abgeben, und mir ist zu glauben,
wenn ich — da man in Klein-Wien auBerordentlich sauft - von
GroB-Wien, und ausdriicklich von dessen Klosterleuten, ganz
etwas anders verfechte; sie haben nicht nur immerfort den groB-
ten Durst - der doch weg sein rmiBte, wenn man ihn loschte -,
sondern sie bedienen sich auch gegen die Trunkenheit eines scho-
nen Mittels vom Plato. Dieser Alte gibt uns den Rat, in der Be-
trunkenheit in einen Spiegel zu schauen, um durch die zerrissene
Gestalt, die uns darin an unsere Entehrung erinnert, auf immer
30 davon abgemahnet zu sein. Daher stellen oft ganze Domkapitel,
der Dechant, der Subsenior, die Domizellaren u. s. w., GefaBe mit
Wein oder Bier vor sich hin und heben sie an die Augen und be-
sehen in diesem (metamorphotischen oder) Zerrspiegel, der die
1 Es ist der mit den langen Schuhen, in seiner oErziehung eines jungen
Prinzen« 1705.
760 HESPERUS
entstellten Ziige noch mehr entstellt (weil er wackelt), sich schon
lange nach des Philosophen Rat. Ich frage aber, ob Leute, die
bestandig so tief ins Glas gucken, Trinken lieben konnen! -
Daraus folgt aber nicht, daB ich den GroB-Wienern die Ahn-
lichkeit mit den Flachsenfingern auch in solchen Ziigen nehme,
die ehren. So lass' ich jene recht gern diesen z. B. darin ahnlich
sein, daB sie an keiner Dichtkunst, keiner Schwarmerei und Emp-
findsamkeit — denn das ist alles einerlei - krank liegen. Viktor
wiirde dieses Lob in seiner Sprache so etwa klingen lassen : »Die
Wiener Autoren (selber die besten, nur Denis und kaum drei aus- 10
genommen) geben dem Leser keine uber die ganze Gegenwart
tragende Fliigel durch jenen Seelen-Adel, durch jene Verschma-'
hung der Erde, durch jene Achtung fur alte Tugend und Freiheit
und hohere Liebe, worin andre deutsche Genien wie in heiligen
Strahlen glanzen« x , und er wiirde sich deshalb auf die » Wiener
Skizzen«, auf »Faustin«, auf Blumauer undauf den » Wiener Musen-
almanach« berufen. Den Tadel wiirde selber ein Wiener niitz-
lichst annehmen und uns fragen, ob wir einen Musenalmanach
(wie er) mit einem Zoten-Bodensatz aufzuweisen haben, worauf
man setzen konnte: »Mit Approbation des Bordells.« - Dieses 20
Gefuhl des literarischen Unterschiedes notigte sogar einen Nico-
lai — sonst kein besonderer Amoroso der Wiener Schriftsteller -,
in seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek eine eigne Seitenloge
fur diese einzubauen, ob er gleich sonst Schreiber aller andern
Deutschkreise in ein Parterre zusammenwirft. Auf ahnliche Art
sah ich in Baiern, daB an dem Galgen auBer dem gewohn lichen
Balken fur die drei christlichen Konfessionsverwandten noch ein
besonderer schismatischer Querpfosten angebracht war, an wel-
chen bloB die Judenschaft geheftet wurde.
Der Flachsenfinger weiB, daB an Poeten nichts ist, und springt 30
in Biichern, wo Versebache durch die Prose laufen, uber die
Bache hinweg, wie gewisse Leute spat in die Kirche gehen, um
dem Singen zu entweichen. Er ist ein treuer Diener des Staats,
1 So sprach bloB die erste Auflage 1795 von Wienern; eine dritte ver-
besserte erkennt auch 18 19 eine verbesserte von ihnen an, ob sie gleich die
Schatten ihrer Vorzeit lebendig aufbewahrt.
1 8. HUNDPOSTTAG 76 1
dem bekannt ist, wozu die poetische goldne Ader beim Revision-,
Kommision-, Relation-, Enrollierungwesen zu gebrauchen ist:
zu gar nichts; inzwischen will er doch, wenn er auch einen KIop-
stock und Goethe nicht schatzen kann, in miiBigen Stunden einen
guten Knuttelvers und Leberreim nicht verachten. Eine solche
gliicklich robuste Seelen-Natur, worin man weniger seinen Geist
erhohen will als seinen Pacht, macht es freilich begreif Hch, wie es
Schutzpocken geben kann, vermittelst deren der Flachsenfinger
allein (wie Sokrates) in der Pest der Empfindsamkeit unange-
io fochten herumwandelte. Der voile Mond machte bei ihnen voile
Krebse, aber keine voile Herzen, und das, was sie darin pflanzten,
damit er den Wachstum begiinstigte, war nicht Liebe, sondern -
Kohlriiben. Derechte Klein-Wiener zielt nach viel nahern SchieB-
scheiben als nach dieser weiBen droben. Geheiratet wird da mit
wahrer Lust, ohne daB man sich vorher totgeschossen oder tot-
geseufzet - man kennt keine Hindernisse der Liebe als kirchliche
- die weibliche Tugend ist eine Giirtelschnalle, die so lange halten
soil als der Geschlechtname der Tochter - die Herzen der Toch-
ter sind da wie Briefumschlage, die sich, wenn sie einmal an einen
20 Herrn uberschrieben waren, leicht umstulpen lassen, damit man
,darauf die Aufschrift an einen andern Menschen mache - die
Madchen lieben da nicht aus Koketterie, sondern aus Einfalt alien
Teufel, ausgenommen arme Teufel. . .
Kurz, mein Korrespondent, von dem ich alles habe, ist fast
parteiisch fur Klem-Wien eingenommen und widerspricht daher
heftig dem Verfasser des reisenden Fran^osen, der irgendwo ge-
sagt haben soil - hatt' ich ihn im Hause, so wtiBt* ich, wie eigent-
lich Klein- Wien heiBe -, daB der Flachsenfinger wenigstens zum
Rauber nicht Kraft genug besitze. Knef aber sagt, er wolle hoffen,
30 daB sie schon gestohlen haben, und stiitzt sich auf die, die man
aufgehangen.
Ende des fiiichtigen Extrablattchens, worin der narrische Charakter der
Flachsenfinger skizzieret wurde - oder des perspektivischen Aufrisses der
Stadt Klein- Wien
762 HESPERUS
Aber unter solchen Menschen konnte mem Held bei aller Dul-
dung keine frohe Tage finden, er, der alien Eigennutz, zumal den
schmausenden, so haBte, und der gern in Doktor Grahams Vor-
lesungen hospitiert hatte, worin dieser lehrte, ohne Essen zu le-
ben - er, der in sein Herz so gern den von der Poesie gefliigehen
Samen der Wahrheit aufnahm; der einen Emanuel am Herzen
trug und den Mangel an poetischem Gefuhle so gar fiir ein Zei-
chen hie It, daB der moralise he Mensch noch nicht alle Raupen-
haute weggelegt - er, der das ganze Leben und den ganzen
Staatskorper fiir die Hulse ansah, worin der Kern des zweiten n
Lebens reift o ! wer so denkt, ist zu einsam unter denen, die
anders denken!
- So lag die Welt um ihn, als er ein Blatt von der guten Pfar-
rerin bekam :.»Man sagt hier allgemein, Sie waren gestorben. Aber
ich lasse mich gegen die Leute vernehmen, Sie muBten, da Sie so
wenig von sich horen lieBen und alle Welt vergaBen, eben des-
wegen noch am Leben sein. Bestatigen Sie meinen Satz! Wir
sehnen uns alle herzlich und narrisch nach Ihnen, und ich mochte
Sie wohl bitten, den einundzwanzigsten zu kommen (wenn Sie
nicht die Hochzeit beim Stadtsenior mehr hindert als meinen Fla- *<
min). Wir haben Ihnen hier nichts anzubieten als den Geburttag
unserer Klotilde. O guter Mylord, o geliebte Lordship, wie wars
Denenselben bisher moglich, so lange stumm und unsichtbar zu
bleiben? Eine treue Freundin, die gar nichts von den Damen
Ihres Hofes an sich hat, nicht einmal die Veranderlichkeit, wun-
schet Sie herzlich vor ihr Auge und vor ihr Ohr - und diese Dame
bin ich - und wenn ich Sie kommen sehe, werde ich doch vor
Freude weinen, ich mag dabei lachen oder schmollen, wie ich
will. E.«
■ Wann erhidt er dieses Blatt voll Seele? Und welche Antwort y
gab seine darauf? -
- Es war am schonsten Abend, der die Ankunft des schonsten
Sonntagmorgens und des magischen Nachsommers ansagte - er
sah nach der Abendrote, unter welcher Maienthals Berge lagen,
und sein Herz schlug ihm schwer - er sah nach der Morgenrote
des Vollmonds, die iiber St. Lune entglimmte, und seine Sehn-
19. HUNDPOSTTAG 763
sucht nach dorthin wurde unaussprechlich — er dachte an Klo-
tilde, deren Geburttag morgen einfiel, und ganz naturlich ging er
heute — bloB zu Bette.
19. HUNDPOSTTAG
Der Fnseur, der nicht lungen-, sonderri singsiichtig ist - Klotilde in Viktors
Traum — Extrazeilen iiber die Kirchenmusik — Gartenkonzert von Stamit{ -
Zank zwischen Viktor fond Flam in - das Herz ohne Trost - Brief an Emanuel
Der Oktober-Sonntag, womit ich diesen Posttag voll mache,
war schon urn 9V a morgens ein so freudiger glanzender Tag in
10 St. Liine, daB das ganze Pfarrhaus an den Hofmedikus dachte. -
»Ach er sollte abends ins Konzert kommen !« Der Virtuose Stamitz
gab eines in Le Bauts Garten. - »0 lieber schon zum Mittag-
essen!« - »Und in meine Friihpredigt, wenn er nicht in die Kinder-
lehre will.<< Eymann hatte dabei seine heu aufgelegte Periicke am
meisten im Kopfe, die ihm Herr Meuseler heute darauf gesetzt
hatte. Dieser geschickte Peruckenmacher bereisete die Diozesa-
nen (Pfarrer), die kein eignes Haar trugen, ofter und mit groBern
Verdiensten um ihre Kopfe als der Superintendent selber, dieser
Beherrscher der Gldubigen, zu welchem die meisten Kaplane sag-
ao ten : Ihro Exzellenz. Hatt* -er si'chs abgewohnen konnen, daB er
zuviel sang, log und soff, der Friseur : so hatten die meisten Geist-
lichen ihre Toupets - diese artistischen Hahnenkamme - bei ihm
machen lassen ; - so aber nicht.
Da der Kaplan gern die Konfitiiren des Schicksals - worunter
falsche Haare gehoren — mit etwas versauerte und hopfte: so
suchte er naturlicherweise sich die heutige Periicke, fur deren
falsche Touren er an Zahlungstatt echte abgeschnittene Haare
seiner Leute gab, durch Skrupel zu versalzen, die er sich iiber das
lange Wegbleiben Viktors machte. Er erinnerte: »Wir miissen
30 ihn vor den Kopfgesto Ben haben - er schreibt nicht einmal - er
ist vielleicht mit meinem Sohne zerfallen - etwas hats gesetzt -
und dann sieht uns der alte Lord auch nicht mehr von der Seite
an - unsere Ratten halfen ihn auch mit austreiben.«
764 HESPERUS
Durch solche Elegien setzte er anfangs nur sich, und zuletzt
selber den Zuhorer in Angst. Er war durch nichts zu widerlegen
als dadurch, daB man etwas Neues, was ihn angstigte, hervor-
suchte. Die Wetterscheide seines Gewolkes oder sein Not- und
Hulfbuchlein war diesesmal ein wahres Buch, des Zeitzer Tellers
»Anekdoten fur Prediger«, die er heute durch den Peruckenmacher
vom geistlichen Lesezirkel empflng. Geistliche, zumal die auf dem
Lande, betreiben alles mit einer kleinlichen piinktlichen Angst-
Hchkeit, worein sie zum Teil ihr regierender Wauwau und Lindr
wurm von Konsistorium schreckt. In dieser Lesegesellschaft war 10
nun ein Gesetz im Gange - Kommentatoren und Herausgeber
halten es — , daB jedes Leseglied die Fett- und Dintenflecke und
Risse, die es im Lesebuch antrafe, vorn immatrikulieren sollte in
einem Flecken-Verzeichnis und Befundzettel samt der Seitenzahl
»wo«. Ganz natiirlich leugnete jeder, der nur halbwege ein ehr-
licher Lutheraner war, die unbefleckte Empfangnis des Buchs ; und
die Sommerflecken wurden also alle ordentlich einregistriert, aber
keiner bestraft. BloB der gewissenhafte Hof kaplan lud als Wusten-
bock die Strafe fremder Fehler auf, indem er eine ganze Nacht
jedesmal nicht schlafen konnte, sooft er im Buche mehre Kleckse 20
als im Siindenregister fand, weil er ofTenbar sah, er werde zum
Adoptivvater des namenlosen Schmutzes gemacht und zum Kau-
fer des Buchs. Tellers Anekdoten fiir Schwarzrocke waren
nun gar vollig schwarze Wasche: war nicht ein Eselohr am an-
dern - Kleckse auf Klecksen - die Blatter ordentliche Korrektur-
bogen . . . und zwar unmetaphorisch gesprochen? - Eymann hob
an: »Und wenn mirs Geld zum Fenster hereinflog* . . . .«
Da flog Viktors Brief zum Fenster herein und sein - Verfasser
zur Tiir.
Freilich aber wars so : Viktor hatte vor schonem Wetter schone 3°
Traume, vor elendem erschien ihm der Satan mit seiner Sipp-
schaft. Das schone Sonnabend-Wetter und der Gedanke an den
Geburttag Klotildens und des Nachsommers gaben ihm einen
Morgentraum, der ein Theater war, in welchem bloB ihr holdes
Bild gespielt. Eine Person, die er hinter dem Schleier des Traums
eresehen, stand fur ihn den ganzen nachsten Tag in einem zaube-
19. HUNDPOSTTAG 765
rischen Widerschein. Bei ihm irrten die Traume - diese Nacht-
schmetterlinge des Geistes — wie andre iiber die Nacht und den
Schlaf hinaus; wenigstens vormittags liebt' er jede Person im
Wachen fort, die er im Traum zu lieben angefangen. Diesesmal
floB gar umgekehrt die wachende Liebe in die traumende hinein,
und die wirkliche Klotilde fiel mit der idealen in ein so leuchtendes
Heiligenbild zusammen, daB einer, der semen Traum weiB, sich
ins ubrige leicht findet. Deswegen muB der Traum den Lesern
gegeben werden, den poetischen Lesern besonders - fur andere
10 mochte ich eine Ausgabe der Hundposttage veranstalten, wo er
heraus ware; denn unpoetische, die selber keine haben, sollten
auch keine lesen.
Euch aber, euch guten, selten belohnten weiblichen Seelen, die
ihr ein eignes zweites Gewissen neben dem ersten fiir reine Sitten
habt - deren einfache Tugend in der Nahe zu einem Kranze aus
alien Tugenden aufbliiht, wie Nebel-Sterne durch Glaser in
Millionen zerfallen - die ihr, so veranderlich in alien Entschliissen,
so unveranderlich im edelsten, aus der Erde geht mit verkannten
Wiinschen, mit vergessenem Werte, mit Augen voll Tranen und
20 Liebe, mit Herzen voll Tugend und Gram - euch teuern erzahl*
ich gern den kleinen Traum und mein groBes Buch!...
»Eine Hand, die Horion nicht sah, faBte ihn an, eine Lippe, die
er nicht sah, redete ihn an: Dein Herz sei jetzo heilig und rein,
denn der Genius der weiblichen Tugend wohnt in diesem Ge-
filde. - Siehe, da stand Horion auf einer mit VergiBmeinnicht
iiberzogenen Flur, auf welche der Himmel wie ein blauer Schatten
heriibersank; denn alle Sterne waren aus ihm genommen, nur der
Abendstern stand einsam flimmernd oben an der Stelle der Sonne.
WeiBe Eis-Pyramiden, gestreift mit herunterrinnenden Abend-
33 roten, umrangen wie mit einem Wall aus Gold- und Silberstufen
das ganze dunkleRund-- Darin ging Klotilde, erhaben wie eine
Verstorbene, heiter wie ein Mensch in der andern Welt, gefiihrt
bald von geflugelten Kindern, bald von einer verschleierten Nonne,
bald von einem ernsten Engel, aber sie ging ewig vor Horion vor-
uber - sis lachelte ihn selig-Iiebend an unter jedem Voriiber-
ziehen, aber sie zog voriiber. - Blumige Erhohungen, Grabern
766 HESPERUS
fast gleich, stiegen auf und nieder, denn jede wurde von einem
darunter schlummernden Busen durch Atmen geregt; eine weiBe
Rose stand uber dem Herzen, das darunter verhiallet lag, zwei
rote wuchsen uber den Wangen, deren zartes Erroten sich in die
Erde verbarg, und oben am himmlischen Nachtblau wankte der
weiBe und rote Widerschein der Hugel-Blumen gleitend inein-
ander, sooft unten die Rosen des Herzens und der Wangen sich
mit dem Huge! bewegten - Versiegende Echo, aber von ungehor-
ten Stimmen erregt, gaben einander hinter den Bergen Antwort;
jedes Echo hob die kleinen Schlummerhugel hoher auf, als wenn ic
sie ein tiefer Seufzer oder ein Busen voll Wonne erhohte, und
Klotilde lachelte seliger, von jedem Widerhalle tiefer in den Blu-
menboden versenkt — In den Tonen war zu viel Wonne, und das
aufgeloste Herz des Menschen wollte darin sterben. Klotilde sank
jetzt in die Graber bis ans Herz; nur das stille Haupt lachelte noch
uber der Aue - die VergiBmeinnicht ragten endlich an die unter-
gesunkenen Augen voll seliger Tranen und uberbluhten sie - Da
uberkroch die Holde plotzlich ein Schlummerhugel, und unter
den Blumen stiegen ihre Worte auf: Ruhe du auch, Horion! -
Aber die fernern Laute verwandelten sich unter dem Begraben in «
dunkle Harmonikatone... Siehe, unter dem Verstummen ging
ein groBer Schatten wie Emanuel heran und stand vor ihm v/ie
eine kurze Nacht und verdeckte die unbekannte Minute aus einer
hohern Welt. Aber als die Minute und der Schatten zerflossen
waren : da waren alle Hiigel niedergefallen - Da uberguldete der
Blumen-Widerschein zusammengeflossen den wallenden Himmel
- Da klammerten sich an die Purpurgipfel der Eisberge weifie
Schmetterlinge, weifie Tauben, weifie Schwanen mit ausgespann-
ten Flugeln wie mit Armen an, und hinter den Bergen wurden
gleichsam von einer ubermaBigen Entziickung Bliiten empor- 3°
geworfen und Sterne und Kranze - Da stand auf dem hochsten,
in lichtem Glanz und Purpurlohe ruhenden Eisberg Klotilde ver-
herrlicht, geheiligt, uberirdisch entziickt, und an ihrem Herzen
flatterte eine Nebelkugel, die aus aufgelosten kleinen Tranen be-
stand, Und auf welche Horions blasses Bild gezeichnet war, und
Klotilde breitete die Arme auseinander.« —
19. HUNDPOSTTAG 767
Aber um zu umarmen? oder um sich aufzuschwingen? oder um
zu beten?... Ach, er erwachte zu bald und stromte in groBern
Tranen, als die nebeligen waren, aus, und eine untersinkende
Stimme rief unaufhorlich um ihn: Ruhe du auch!
O du weibliche Seele, die du mude und unbelohnt, bekampft
und blutend, aber groB und unbefleckt aus dem rauchenden
Schlachtfelde des Lebens gehst, du Engel, den das mannliche, von
Stiirmen erzogne, von Geschaften besudelte Herz achten und
lieben, aber nicht belohnen und erreichen kann; wie beugt sich
io jetzo meine Seele vor dir, wie wiinsch' ich dir jetzo des Himmels
stillenden Balsam, des Ewigen belohnende Gute ! Und du, Phi-
lippine, teure Seele, tritt weg in eine verborgne Zelle und lege
unter den Tranen, die du schon so oft vergossen hast, deine Hand
an dein reines weiches Herz und schwore : »Ewig bleibe du Gott
und der Tugend geweiht, wenn auch nicht der Ruhe !« Dir schwor
es; mir nicht, denn ich glaub' es ohne Schwur. —
Welch' eine Paradenacht voll Sterne und Traume war das! und
welch ein Galatag der Natur kam auf sie! In Viktors Kopf stand
nichts als St. Lune, blau uberzogen, silbern iibertauet und mit
20 dem schonsten Engel geschmuckt, der heute nasse frohe Augen
in den freundlichen Himmel hob und dachte : »Wie bist du heute
gerade an meinem Wiegenfeste so schon !«- Sogar der Stadtsenior
und seine Tochter, welche beide Hochzeit machten - jener eine
Wieder-Hochzeit mit seiner Seniorin, diese eine erste mit dem
Waisenhausprediger -, schoben sich in den Zug seiner freudigen
Gedanken als zwei neue Paare ein.
Er wollte nicht nach St. Liine, sondern er sagte : »Ich ziehe mich
nur an zu einem kleinen Spaziergange.« -
»Es ist ganz egal, wo ich heute gehe«, sagt* er drauBen und ging
30 also auf den St. Luner Weg. -
»Umkehren kann ich allemak, sagt* er auf halbem Wege.
»Noch narrischer aber war's, wenn ich zugleich Briefsteller und
Brieftrager wiirde und mein eignes Schreiben einhandigte«, sagte
er und zog solches heraus. —
»Und meiner guten Mutter ihres beantwortete ich bei dieser Ge-
legenheit mundlich«, fuhr er halb im Traume fort und voll groBe-
768 HESPERUS
rer Liebe gegen sie, die ihm den holden nachtlichen durch die
Nachricht des Geburttages zugeschickt. -
Da er aber das Liiner Vorgelaute zum Kirchengelaute
vernahm: so sprang er empor und sagte: »Nunmehr versalz* ich
mir den Weg nicht langer durch weitere Skrupel, sondern ich
marschiere keck und entschlossen ins Dorf.«
Und so zog er an der Hand Fortunens, hinter dem Nachlacheln
der ganzen Natur, mit Traumen im Herzen, mit unschuldiger
Hoffnung im neu auf bliihenden . Angesicht, in das Eden seiner
Seele ein. IO
Flamin hatt' er nicht mitgebeten, um dem Stadtsenior den
Hochzeitgast nicht zu nehmen, und weil er selber nicht wuBte,
daB er nach St. Lime gelangen wiirde - und vielleicht auch, weil
er seine phantasierende Aufmerksamkeit auf den schimmernden
Morgen durch keine juristischen Akten-Neuigkeiten wollte sto-
ren lassen. Er ging uberhaupt lieber mit einer Frau als einem
Mann spazieren. Manner schamen sich beinahe nebeneinander
anderer als stummer Empfindungen; aber weiblichen Seelen off-
nen sich gern die verschamten Gefuhle; denn sie decken das
nackte Herz mit Mutterwarme zu, damit es nicht unter dem Ent- 20
hiillen erkalte.
Da Viktor unten urns Pfarrhaus ging, sah er oben selber zum
Fenster auf sich herunter, in seiner zweiten Auflagefiireinigegute
Freunde; aber der Wachs- Viktor muBte sogleich hinter eine spa-
nische Wand getrieben werden, damit er den fleischernen nicht
erschreckte. Der Empfang des letzten und das Jubelfest dabei
braucht nicht lebhafter von mir beschrieben zu werden, als daB
ich sage : der Mops wurde fast ertreten, der Gimpel sprang urn-
sonst nach seinem Friihstiick herum, die Pfarrerin brachte in
ihrer anblickenden Freude auch dem Gaste keines, und die Kirche 3<>
ging erst nach dem Doppel-Uso von einer halben Stunde an;
daher diesesmal mehre Eingepfarrte als sonst betrunken hinein-
kamen.
Berauscht, aber von Freude, kam Viktor auch hinein. Es ist
nichts Angenehmeres, als eine Pfarrfrau zu sein und zum Mann,
wenn sie ihm das geistliche Baffchen umlegt, zu sagen: »Mach es
19. HUNDPOSTTAG 769
heute langer, die Keule brat sonst nicht gar.« - Die hauslichen
Kleinigkeiten ergotzten meinen Helden ebensosehr, als ihn die
hofischen erziirnten.
Er ging mit dem Pfarrer und der Pfarrerin, die alle Prozesse
der Kuche und Toilette summarisch und mannlich abkiirzte. Seine
Duldung gegen die Fehler des geistlichen Standes hatte mit jener
vornehmen stift- und tafelfahigen nichts gemein, welche aus hoch-
ster Verachtung entsteht, und die einen christlichen Priester so
leicht wie einen agyptischen ertragt : sondern sie kam aus seiner
10 Meinung, da8 die Kirchen noch die einzigen Sonntagschulen und
spartischen Schulpforten des armen Volkes sind, das seinen cours
de morale nicht beim Staate horen kann. Auch liebte er als Jung-
ling die Lieblinge seiner Kindheit.
Viele Prediger suchen den Quintilian, der schteckte Grunde in
Reden vora/zgestellet haben will, und den Cicero, der sie erst
hintennach verlangt, zu vereinigen und postieren solche an beiden
Orten; aber Eymann hielt gute Empfindungen fur besser als
schlechte Grunde und wand um den Bauern nicht Schlufi-, son-
dern Blumenketten.
20 Der obige Friseur wollte anfangs nicht in die Kirche, weils
unter seinem Stand war, aber nachher konnt' er nicht anders;
denn wegen des fremden Hofherrn darin wurde Kirchenmusik
gemacht.
Es ist der einzige Fehler des Peruckenmachers Meuseler, daB
er zu gern singt und seine Kehle in alle Kirchenmusiken, die in
seiner Peruckendiozes gemacht werden, einmengt, zumal am hei-
ligen Pfingstfest. Der Liiner Kantor wollt' es nie leiden; aber wie
beruckt er diesen und labt tausend Ohren?'So bloB: er frisierte
heute hinaus, was noch zu frisieren war (nicht bloB heute, son-
*° dern es ging allemal so), und glitt bloB an der Chortreppe hinan.
Hier wachte und lehnt' er so lange, bis der Kantor, auf dem musi-
kalischen Wurstschlitten seBhaft, mit dem Finger in den ersten
Akkord der Kirchenmusik einhieb. Dann fuhr er wie ein Sonnen-
strahl schnell ins Chor und mausete dem jungen Altisten sein
Pensum weg und sangs dem Kirchensprengel in die Ohren, je-
doch unter so viel Jammer und Puffen, als sang* er sein Manu-
77° HESPERUS
skript den Rezensenten vor. Denn man muB es nun einmal der
Welt bekannt machen, daB der bissige Klavierist dem frisieren-
den Altisten mit einem spitzwinkligen Triangel von Ellenbogen
wiitig entgegenstochert, urn den fremden Singvogel aus dem
Vogelhause des Chors zu stoBen. Da aber der Sanger seinen
rechten Arm zum festen Notenpulte seines Textes und den an-
dern zur Streitkolbe machte, wie die an Jerusalem bauenden Ju-
den, welche die eine Hand voll Bauzeug, die andre voll Waffen
hatten: so konnte der Pertickenmacher, unter fortwahrendem
Fechten und Musizieren, schon sein moglichstes tun und einiges i<
durchsetzen wahrend des Gottesfriedens der Musik. Aber sobald
die Musik den letzten Atem gezogen hatte : so setzte der harmo-
nische Strkhvogel und Sturmlaufer behend iiber das Chor hinaus
und sann unterwegs tausend Ohren und einem einzigen Ellen-
bogen nach. Der Kantor konnt* ihn nicht riechen und nicht krie-
gen.
Lief er hingegen glucklicherweise mit seinen Schachteln
durch ein Dorf, wo gerade Pfarr- und Schulherr und padago-
gischer Froschlaich eine taube Leiche umquakten und umkrach-
zeten, welches viele noch kurzer eine Leichenmusik nennen : so z<
konnte der Virtuose, ohne Gegenstemmung der Ellenbogen, mun-
ter mit zwei FiiBen mitten in die Motette hineinspringen - das
Trauer-Standchen, das die Erben dem Toten bringen, bearbeiten
— dem Leichenzuge einige Finalkadenzen gratis zuwerfen und
doch noch im Dorfe dem Amtmann eine ganz neue Beutelperucke
anbieten. -
Unserem Helden machte die Dorfkirchen-Musik das groBte
satirische Vergniigen. Wir aber hatten wenig davon, wenn ich
nicht so vorsichtig ware, daB ich um die Erlaubnis nur zu einer
elenden Extrasilbe - man soil sie kaum sehen - iiber die Kirchen- 3
musik bettelte.
19. HUNDPOSTTAG 771
Elende Extra-Silbe iiber die Kirchenmusik
Ich sehe allemal mit Vergniigen, daB die Leute in einer Kirchen-
musik sitzen bleiben, weil es ein Beweis ist, daB keiner von der
Tarantel gestochen ist; denn liefen sie hinaus, so sahe man, sie
konnten keine MiBtone aushalten und waren also gebissen. Ich
als profaner Musikmeister setze nur fiir wenige Kirchen — namlich
fiir geflickte oder fiir neue den Einweihlarm - und verstehe also
im Grunde von der Sache nichts, woriiber ich mich im Vorbei-
gehen auslassen will ; aber soviel sei mir doch erlaubt zu behaup-
10 ten, daB die Iutherischen Kirchenmusiken etwas taugen — auf dem
Lande, nicht in den Residenzstadten, wo vielleicht die wenigsten
MiBtone richtig vorgetragen werden. Wahrlich, ein elender, ver-
soffner, blauer Kantor, der in Bravour-Arien sich braun singt und
andere braun schlagt - es gibt also zweierlei Bravour-Arien -, ist
imstande, mit einigen Handwerkern, die Sonntags auf der Geige
arbeiten, mit einem Trompeter, der die Mauern Jerichos nieder-
pfeifen konnte ohne Instrument, mit einem Schmied, der sich mit
den Pauken herumprugelt, mit wenigen krampfhaften Jungen,
die das Singen noch nicht einmal konnen, und die doch einer
20 Sangerin gleichen, welche nicht wie die schonen Kiinste
allein fiir Ohr und Auge arbeitet, sondern auch (aber in einem
schlimmern Sinn als die Jungen) fiir einen dritten Sinn, und mit
dem wenigen Wind, den er aus den Orgel-Lungenfliigeln und
aus seinen eignen holt, ein solcher stampfender Mann ist, sag'
ich, imstande, mit so auBerordentlich wenigem musikalischen
Gerumpel doch ein viel lauteres Donnern und Geigenharz-BHtzen
um den Kanzel-Sinai, ich meine eine weit heftigere und miB-
tonendere Kirchenmusik aus seinem Chor herauszumachen als
manche viel besser unterstiitzte Theater- Orchester und Kapellen,
mit deren Wohllauten man so oft Tempel entweiht. Daher tut es
nachher einem solchen lauten Manne weh, wenn man sein Kir-
chen-Gekratze und Geknarre verkennt und falsch beurteilt. Soil
sich denn in alle unsre Provinzialkirchen das weiche leise herrn-
hutische Tonen einschleichen? - Es gibt aber zum Gliick noch
Stadtkantore, die dagegen arbeiten, und die wissen, worin reiner
772 HESPERUS
Chor- und Mi Eton sich vom Kammerton zu unterscheiden
habe.
Den Lesern nicht, aber Organisten kann ich zumuten^ daB sie
wissen, warum bloBe Dissonanzen — denn Konsonanzen sind nur
unter dem Stimmen der Instrumente zu ertragen - aufs Chor ge-
horen. Dissonanzen sind nach Euler und Sulzer Ton-Verhalt-
nisse, die in groBen Zahlen ausgedriickt werden; sie miBfallen uns
also nicht wegen ihres MiBverhaltnisses, sondern wegen unsers
Unvermogens, sie in der Eile in Gleichung zu bringen. Hohere
Geister wiirden die nahen Verhaltnisse unserer Wohllaute zu 10
leicht und eintonig, hingegen die groBern unserer MiBtone rei-
zend und nicht iiber ihre Fassung finden. Da nun der Gottesdienst
mehr zur Ehre hoherer Wesen als zum Nutzen der Menschen ge-
halten wird: so muB der Kirchenstil darauf dringen, daB Musik
gemacht werde, die fiir hohere Wesen passet, namlich eine aus
MiBtonen, und daB man gerade die, die fiir unsre Ohren die ab-
scheulichste ist, als die zweckmaBigste fiir Tempel wahle.
Machen wir einmal der herrnhutischen Instrumentalmusik die
Kirchentiire auf : so steckt uns zuletzt auch ihr Singen an, und es
verliert sich nach und nach alles Sing-Geblok, welches unsre 20
Kirchen so lustig macht, und welches fiir Kastratenohren ein so
unangenehmer Hammer des Gesetzes, aber fiir uns ein so guter
Beweis ist, daB wir den Schweinen ahneln, die der Abt de Baigne
auf Befehl Ludwigs XL, nach der Tonleiter geordnet, mit Tan-
genten stach und zum Schreien brachte. So denk* ich iiber Kir-
chen- oder neudeutschen Schlachtgesang.
Ende der Extrasilbe iiber die Kirchenmusik
Ich hatte den Haarkrausler nicht so lange singen und agieren
lassen, wenn mein Held diesen ganzen Sonntag zu etwas anderem
zu gebrauchen ware als zu einem Figuranten; aber den ganzen s<
Tag tat er nichts von Belang, als daB er etwan aus Menschenliebe
die alte Appel zwang - indem er ihre Kommoden und Schachteln
selber auspackte -, von ihrem Korper, der lieber Schinken als
sich anputzte, die gewohnliche, mit typographischer Pracht ge-
druckte Schabbes-Ausgabe schon um drei Uhr nachmittags zu
19. HUNDPOSTTAG 773
veranstalten: sonst lieferte sie solche erst nach dem Abendessen.
Die Juden glauben, am Sabbat eine neue Schabbesseele zu be-
kommen: in die Madchen fahrt wenigstens eine, in die Appeln
ein paar.
Aber warum mut' ich meinem Helden zu, heute mehr Hand-
lung zu zeigen-ihm, der heute -versunken in die Traum-Nacht
und in den kommenden Abend - bewegt durch jedes freundliche
Auge und durch die Urnen des weggetraumten Lenzes - sanft
aufgeloset durch den stillen lauen Sommer, der an den Rauch-
10 altaren der Berge, auf den mit Milchflor belegten Fluren und unter
dem verstummenden Trauergefolge von Vogeln lachelnd und
sterbend lag und beim Aufsteigen der ersten Wolke auf dem
Laube verschied - Viktor, sag' ich, der heute, von lauter weichen
Erinnerungen wehmutig angelachelt, fuhlte, daB er bisher zu
lustig gewesen. Er konnte die guten Seelen um ihn nur mit lieben-
den schimmernden Augen anblicken, diese noch schimmernder
wegwenden und nichts sagen und hinausgehen. Ober seinem Her-
zen und iiber alien seinen Noten stand tremolando. Niemand wird
tiefer traurig, als wer zu viel lachelt; denn hort einmal dieses
io Lacheln auf, so hat alles iiber die zergangne Seele Gewalt, und ein
sinnloser Wiegengesang, ein Flotenkonzert - dessen Dis- und
Fis-klappen und Ansatze bloB zwei Lippen sind, womit ein Hir-
tenjunge pfeift - reiBet die alten Tranen los, wie ein geringer Laut
die wankende Lawine. Es war ihm, als wenn ihm der heutige
Traum gar nicht erlaubte, Klotilden anzureden; sie schien ihm zu
heilig und noch immer von geflugelten Kindern gefiihrt und auf
Eisthronen gestellt. Da er iiberhaupt flir Le Bauts Gesprache im
Reiche der Moralisch-Toten heute keine Zunge und keine Ohren
hatte: so wollt* er im grofien laubenvollen Garten dem Stamitzi-
jo schen Konzert ungesehen zuhoren und sich hochstens vom Zu-
fall vorstellen lassen. Sein zweiter Grund war sein zum Resonanz-
boden der Musik geschafFnes Herz, das gern die eilenden Tone
ohne Storung aufsog, und das die Wirkungen derselben gern den
gewohnlichen Weltmenschen verbarg, die Goethes, RafFaels und
Sacchinis Sachen wahrhaftig ebensowenig (und aus keinen ge-
ringern Grtinden) entbehren konnen als Loschenkohls seine. Die
774 HESPERUS
Empfindung erhebt zwar tiber die Scham, Empfindung zu zeigen;
aber er haBte und floh wahrend seiner Empfindungen alle Auf-
merksamkeit auf fremde Aufmerksamkeit, weil der Teufel in die
besten Gefuhle Eitelkeit einschwarit, man weiB oft nicht wie. In
der Nacht, im Schattenwinkel fallen Tranen schoner und ver-
diinsten spater.
Die Pfarrerin bestarkte ihn in allem; denn sie hatte heimlich -
in die Stadt geschickt und den Sohn eingeladen und eine Ober-
raschung im Garten kunstlerisch angelegt. -
Die Pfarrleute hoben sich endlich in den belaubten Konzert- ic
saal und dachten nicht daran, wie sehr sie von Le Bauts Hause
verachtet wiirden, das nur edle Metalle und edle Geburt, nie edle
Taten fur Eintrktkarten gelten lieB, und das die Pfarrleute als
Freunde des Lords und Matthieus hoch, aber als Schofihunde
beider noch hoher geschatzt hatte.
Viktor blieb im Pfarrgarten ein wenig zurtick, weil es noch zu
hell war, und auch weil ihn die arme Apollonia dauerte; diese
guckte einsam und ungesehen im vollen Putze aus dem Fenster
des Gartenhauschens in die Luft und wiegte das Patchen steil-
recht, das sie bald uber ihren Kopf, bald unter ihren Mageh hing. «
Er setzte, wie ein SpieBbtirger, im Gartenhaus den Hut nicht auf,
um ihren Mut durch Hoflichkeit zu starken, Ein Wicktlkind ist
gleichsam der Einblaser und Balgtreter der Kinderwarterin : der
junge Sebastian schickte Appeln hinreichenden Entsatz gegen den
altern, und sie unterfing sich zuletzt, zu reden und anzumerken,
das Patchen sei ein guter, lieber, schoner »Bastel«. »Aber« (setzte
sie dazu) »die gnadige Frolen (Klotilde) durfen das nicht hdren;
Sie wollen haben, wir sollen ihn Viktor nennen, wenn Sie horen,
daB der Vater Bastel sagt.« Sie strich es nun heraus, wie Klotilde
sein Patchen lie be, wie oft sie ihr den kleinen Schelm abnehme 3 c
und ihn anlachle und abkiisse; und die Lobrednerin wiederholte
am Kleinen alles, was sie pries. Ja der erwachsene Sebastian tat es
auch nach, aber er suchte auf den kleinen Lipperinichts As fremde
Kusse; und vielleicht gehorten bei Appeln wieder seine unter die
Sachen, die gesucht werden. Der Glucklichere verlieB die Gluck-
lichere; denn Amor schickte nun eine geschmuckte Hoffnung
19- HUNDPOSTTAG 775
nach der andern an sein Herz als Boten ab, und alle sagten: »Wir
beltigen dich wahrhaftig nicht; trau uns!<(
Endlich fing Stamitz zu stimmen an, um welchen die zahe
Obristkammerei sich gewifl nichts bekiimmert hatte, weil heute
keine Fremde da waren, hatte sich nicht Klotilde dieses Garten-
konzert als die einzige Feier ihrer Geburtnacht erbeten gehabt.
Stamitz und sein Orchester fullten eine erleuchtete Laube - der
adelige Horsaal saB in der nachsten hellsten Nische und wiinschte,
es ware schon aus - der biirgerliche saB entfernter, und der
io Kaplan flocht ausFurchtvor demkatarrhalischenTau-Fufiboden
ein Bein urns andre uber die Schenkel - Klotilde und ihre Agathe
ruhten in der dunkelsten Blatterloge. Viktor schlich sich nicht
eher ein, als bis ihm die Ouverture den Sitz und das Sitzen der
Gesellschaft ansagte ; in der fernsten Laube, in der wahren Sonnen-
ferne nahm dieser Bartstern Platz. Die Ouverture bestand aus
jenem musikalischen Gekritzel und Geschnorkel - aus jener har-
monischen Phraseologie - aus jenem Feuerwerkgeprassel wider-
einander tonender Stellen, welches ich so erhebe, wenn es nirgends
ist als in der Ouverture. Dahin passet es; es ist der Staub-
20 regen, der das Herz fiir die groBen Tropfen der einfachern Tone
aufweicht. Alle Empfindungen in der Welt bedurfen Exordien;
und die Musik bahnet der Musik den Weg- oder die Tranenwege.
Stamitz stieg - nach einem dramatischen Plan, den sich nicht
jeder Kapellmeister entwirft - allmahlich aus den Ohren in das
Herz, wie aus Allegros in Adagios; dieser groBe Komponist geht
in immer engern Kreisen um die Brust, in der ein Herz ist, bis er
sie endlich erreicht und unter Entzuckungen umschlingt.
■ Horion zitterte einsam, ohne seine Gelkbten zu sehen, in einer
fmstern Laube, in welche ein einziger verdorrter Zweig das'Licht
30 des Mondes und seiner jagenden Wolken einlieB. Nichts ruhrte
ihn untef einer Musik allezeit mehr, als in die laufenden Wolken
zu sehen. Wenn er diese Nebelstrome in ihrer ewigen Flucht um
unser Schatten-Rund begleitete mit seinen Augen und mit den
Tonen, und wenn er ihnen mitgab alle seine Freuden und seine
Wiinsche: dann dacht' er, wie in alien seinen Freuden und Lei-
den, an andre Wolken, an eine andre Flucht, an andre Schatten
77*5 HESPERUS
als an die iiber ihm, dann lechzete und schmachtete seine ganze
Seele; aber die Saiten stillten das Lechzen, wie die kalte Bleikugel
im Mund den Durst abloscht, und die Tone loseten die driicken-
den Tranen von der vollen Seele los.
Teurer Viktor! im Menschen ist ein groBer Wunsch, der nie
erfullt wurde: er hat keinen Namen, er sucht seinen Gegenstand,
aber alles, was du ihm nennest, und alle Freuden sind es nicht;
allein er kommt wieder, wenn du in einer Sommernacht nach Nor-
den siehst oder nach fernen Gebirgen, oder wenn Mondlicht auf
der Erde ist, oder der Himmel gestirnt, oder wenn du sehr gluck- i
lich bist. Dieser groBe ungeheure Wunsch hebt unsern Geist em-
por, aber mit Schmerzen : ach! wir warden hienieden liegend in die
Hoke geworfen gleich Fallsuchtigen. Aber diesen Wunsch, dem
nichts einen Namen geben kann, nennen unsre Saiten und Tone
dem Menschengeiste - der sehnsuchtige Geist weint dann starker
und kann sich nicht mehr fassen und ruft in jammerndem Ent-
ziicken zwischen die Tone hinein: ja alles, was ihr nennt, das
fehlet mir
Der ratselhafte Sterbliche hat auch eine namenlose ungeheure
Furcht, die keinen Gegenstand hat, die bei gehorten Geister- *
erscheinungen erwacht, und die man zuweilen fuhlt, wenn man
nur von ihr spricht —
Horion iibergab sein zerstoBenes Herz mit stillen Tranen, die
niemand flieBen sah, den hohen Adagios, die sich mit warmen
Eiderdunen-Flugeln iiber alle seine Wunden legten. Alles, was er
liebte, trat jetzt in seine Schatten-Laube, sein altester Freund und
sein jungster — er hort die Gewitterstiirmer des Lebens lauten,
aber die Hande der Freundschaft strecken sich einander entgegen
und fassen sich, und noch im zweiten Leben halten sie sich unver-
weset. — 3'
Alle Tone schienen die iiberirdischen Echo seines Traumes zu
sein, welche Wesen antworteten, die man nicht sah und nicht
horte
Er konnte unmoglich mehr in dieser nnstern Einzaunung mit
seinen brennenden Phantasien bleiben und in dieser zu grofien
Entfernung vom Pianissimo. Er ging - fast zu mutig und zu nahe
19. HUNDPOSTTAG 777
- durch einen Laubengang den Tonen naher zu und driickte das
Angesicht tief durch die Blatter, um endlich Klotilde im fernen
griinen Schimmer zu erblicken
Ach er erblickte sie auch ! - Aber zu hold, zu paradiesisch ! Er
sah nicht das denkende Auge, den kalten Mund, die ruhige Ge-
stalt, die so viel verbot, und so wenig begehrte: sondern er sah
zum erstenmal ihren Mund von einem suBen harmonischen
Schmerz mit einem unaussprechlich-ruhrenden Lacheln umzogen
- zum erstenmal ihr Auge unter einer vollen Trane niederge-
10 sunken, wie ein VergiBmeinnicht sich unter einer Regenzahre
beugt. O diese Gute verbarg ja ihre schonsten Gefuhle am mei-
sten! Aber die erste Trane in einem geliebten Auge ist zu stark fur
ein zu weiches Herz . . . Viktor kniete, iiberwaltigt von Hochach-
tung und Wonne, vor der edeln Seele nieder und verlor sich in
die dammernde weinende Gestalt und in die weinenden Tone. -
Und da er endlich ihre Zuge erblasset sah, weil das griine Laub
mit einem totenfarbigen Widerschein der Lanipen ihre Lippen
und Wangen iiberdeckte - und da sein Traum und die Klotilde
wieder erschien, die darin unter den blumigen Hugel versunken
20 war - und da seine Seele zerrann in Traume, in Schmerzen, in
Freuden und in Wunsche fiir die Gestalt, die ihr Wiegenfest mit
andachtigen Tranen heiligte : o war es da zu seinem Zergehen noch
notig, dafi die Violine ausklang, und daB die zweite Harmonika,
die Viole d'Amour, ihre Spharen-Akkorde an das nackte, ent-
ziindete, zuckende Herz absandte? - O! der Schmerz der Wonne
befriedigte ihn, und er dankte dem Schopfer dieses melodischen
Edens, daB er mit den hochsten Tonen seiner Harmonika, die das
Herz des Menschen mit unbekannten Kraften in Tranen zer-
splittern, wie hohe Tone Glaser zersprengen, endlich seinen
30 Busen, seine Seufzer und seine Tranen erschopfte: unter diesen
Tonen, nach diesen Tonen gab es keine Worte mehr; die voile
Seele wurde von Laub und Nacht und Tranen zugehiillt - das
sprachlose Herz sog schwellend die Tone in sich und hielt die
aufiern fiir innere - und zuletzt spielten die Tone nur leise wie
Zephyre um den Wonneschlaftrunknen, und bloB im sterbenden
Innern stammelte noch der iiberselige Wunsch: »Ach Klotilde,
7/8 HESPERUS
konnt' ich dir heute dieses stumme, gluhende Herz hingeben -
ach konnt* ich an diesem unverganglichen Himmelsabend, mit
dieser zitternden Seele sterbend vor deine FuBe sinken und die
Worte sagen: ich Hebe dich!« —
Und alser an ihren Festtag dachte und an ihren Brief nach
Maienthal, der ihm das groBe Lob gegeben, ein Schiiler Emanuels
zu sein, und an kleine Zeichen ihrer Achtung fur ihn und an die
schone Verschwisterung seines Herzens niit ihrem - ja da trat die
himmlische HofTnung, dieses geadelte Herz zu bekommen, zum
erstenmal unter Musik nahe an ihn, und die HofFnung HeB die 10
Harmonikatone wie verrinnende Echos weitiiber die ganze Zu-
kunft seines Lebens flieBen
»Viktor!« sagte jemand in langsam gedehntem Ton. Er sprang
auf und kehrte seine veredelten Ziige gegen den - Bruder seiner
Klotilde und umarmte ihn gern. Flamin, in welchen alle Musik
Kriegsfeuer und freiere Aufrichtigkeit warf, sah ihn staunend, fra-
gend und unmerklich schiittdnd und mit jener Freundlichkeit an,
die wie Hohn aussah, dieaberallezeitbloBesSchmerzenempfange-
ner Beleidigungen war. »Warum nahmst du mich heute nicht mit?«
sagte freundlich Flamin. Viktor driickte seine Hand und schwieg. 20
»Nein! rede!« sagte jener. - »LaB es heute, mein Flamin, ich
sage dirs noch«, versetzte Viktor.
»Ich will dirs selber sagen« (begann jener schneller und warmer)
— »Du denkst vielleicht, ich werde eifersiichtig. Und siehe, kennt'
ich dich nicht, so wiird' ichs auch; wahrlich, ein anderer wiird' es,
wenn er dich hier so angetroffen hatte und alles zusammenrech-
nete, deine neuliche Entfernung aus unserem Gartenhaus in die
Laube — dein Schreiben ohne Licht und dein Singen von Liebe« -
»An Emanuek, sagte Viktor sanft -
»Dein Abgcben dieses Blattes an sie« — 30
»Es war ein anderes aus ihrem Stammbuche«, sagt' er —
»Noch schlimmer, das wuBt' ich nicht einmal - Dein Zogern in
St. Liine und tausend andre Zuge, die mir nicht sogleich ein-
fallen, dein heutigcs Alleingehen« -
»0 mein Flamin, das geht weit, du siehst mit einem andern
Auge als dem der Freundschaft« —
19. HUNDPOSTTAG 779
Hier wurde Flamin, der sich in nichts verstellen konnte, ohne
es sogleich zu werden, und der keine Beleidigung erzahlen konnte,
ohne in den alten Zorn zu geraten, warmer und sagte weniger
freundlich: »Es sehens schon andre auch, sogar der Kammerherr
und die Kammerherrin.«
Dieses zerrifi Viktor das Herz. »Du Teurer, alter Jugendfreund,
so sollen wir auseinander gezogen und gerissen werden, wir mo-
gen noch so sehr bluten; es soil also diesem Matthieu gelingen
(denn von dem kommt alles, nicht von dir, du Guter), daB du
io mich marterstj und daB ich dich martere - Nein, es soil ihm nicht
gelingen - Du sollst nicht von mir genommen werden - Siehe bei
Gott,« (und hier stand in Viktor das Gefuhl seiner Unschuld er-
haben auf) »und wenn du mich jahrelang verkennst, so kommt
doch die Zeit, wo du erschrickst und zu mir sagst: ich habe dir
unrecht getan! - Aber ich we. ie dir gern vergeben.«
Dieses ruhrte den Eifersuch gen, der heute uberhaupt (wegen
einer besondern Ursache) gela^sener war. »Sieh,« (sagt* er) »ich
glaube dir allemal: sag es, tust du nie etwas gegen mich?« - »Nie,
nie, mein Lieber!« antwortete Viktor. - »Jetzt verzeih meiner
*o Hitze,« fuhr jener fort, »so nab* ich schon mit meiner verfluchten
Eifersucht einmal Klotllden selber in Maienthal gequalt - aber
dem Matthieu tue nicht unrecht; er ists vielmehr, der mich be-
ruhigte. Er sagte mir es zwar, was Klotildens Eltern zu merken
geglaubt, ja noch mehr - sieh, ich sage dir alles - sie hatten sogar
wegen deiner vorgeblichen Neigung und wegen deines jetzigen
Einflusses, den der Kammerherr gern zu seiner Wiedererhebung
benutzen mochte, von einer moglichen Verbindung mit der Toch-
ter gesprochen, auch gegen diese, und sie ausgeforscht; aber (dir
ists doch gleichgultig) rneine Geliebte blieb mir treu und sagte
3° Nein.« -
Nun war unserm Freund das vorher so gluckliche Herz ge-
brochen; dieses harte Nein war bisher noch nicht gegen ihn aus-
gesprochen worden - mit einer unaussprechlichen, niederdriicken-
den, aber stillen Wehmut sagt' er leise zu Flamin: »Bleib du mir
auch treu - denn ich habe ja wenig; und quale mich nie mehr so
wie heute.« Er konnte nicht mehr reden; die erstickten Tranen
780 HESPERUS
sturmten flutend auf sein Herz hinan und sammelten sich schmerz-
lich unter dem Augapfel - er muBte jetzt einen stillen dunkeln
Ort haben, wo er sich recht ausweinen konnte, und in seinem auf-
gerissenen schmerzenden Innern war bloB der Gedanke noch
sanft und balsamisch: »Jetzt in der Nacht kann ich weinen, so viel
ich will, und niemand sieht mein zerrissenes Angesicht, meine
zerrissene Seele, mein zerrissenes Gluck.«
Und als er dachte: »Ach Emanuel, wenn du mich heute so
sahest« — konnt* er sich kaum mehr halten.
Er floh mit zuruckgestemrhten Tranen, gleichgiiltig wer es sehe lc
oder nicht, aus dem Garten, iiber welchen ein diisterer Engel eine
groBe Trauerfahne fliegen lieB und Leichenmusik. Er stieB sich
wund an einer steinernen Gartenwalze, womit man die beregneten
Grasspitzen und Blilmchen niederquetscht - er weinte noch nicht,
aber auf der Warte^ da wollt* er sich sattigen und tranken mit
reichlichem Schmerz — er wiederholte immer : »Aber sie blieb ge-
treu und sagte Nein, nein, nein« — die Konzerttone wehten ihm
nach wie Feuer dem, der es besprochen - er watete durch nasse
entschlummerte Fluren,die ihre Blumen verhullten, und schneller
als er strichen auf der Erde die Schattenrisse des oben vom Winde 2 °
verfolgten Gewolkes dahin — er stand an der Warte, hielt jede
Zahre noch und rannte hinauf- er waif sich auf die Bank, wo er
Klotilden zum ersten Male im weiBen Gewand von feme gesehen
- »Ruhe du auch, Horion !« hatte sie aus seinem Traum ihm unter
dem Blumenhugel zugerufen, und er horte es wieder. —
Hier riB er freudig alle seine Wunden auf und HeB sie frei hin-
bluten in Tranen - sie iiberzogen mit triiben Stromen das An-
gesicht, das sanft oft gelachelt hatte, aber immer gutmutig, und
das andern keine abgepresset, sondern abgetrocknet hatte - jede
Flut war eine weggehobne Last, aber das Herz wurde darauf wie- 30
der schwer und vergoB die neue. - Endlich konnt' er die Tone
wieder horen, die meisten sanken unter, eh' sie an den Turm ge-
flossen waren, kleine kamen sterbend an und zergingen in seinem
dunkeln Herzen — jeder Ton war eine fallende Trane und machte
ihn leichter und sprach seinen Kummer aus - der Garten schien
aus sanft ertonenden, gebrochen-uberdammerten, dunkelgrunen
19. HUNDPOSTTAG 78 1
Schattenwogen zu bestehen - er riB, von Erinnerung gestochen,
das Auge davon weg: »Was geht er mich mehr an«, dacht' er.
Aber endlich stieg aus diesem Schatten-Eden und aus der Viole
d' Amour das Lied »VergiB mein nicht« zu seinem rnuden Herzen
auf und gab ihm wieder den sanftern Schmerz und die vergangne
Liebe: »Nein,« sagt* er, »ich vergesse dein auch nicht, ob du mich
gleich nicht geliebt — Deine Gestalt wird mich doch ewig ruhren
und an meine Traume erinnern - ach du Himmlische, es ist ja
jetzt das einzige, was mich nicht schmerzet, wenn ich denke: ich
10 vergesse dein nicht.«
Alles wurde stumm und ausgeloscht; er war allein neben der
Nacht. Endlich ging er nach der Iangen Stille herab und nach
Flachsenfingen zu, matt geweint und arm geworden. Und als er un-
terweges schnell zum schwarzblauen Himmel, in welchem irrende
Wolken um den Mond wie Schlacken umhergeworfen waren,
hinaufblickte und schnell wieder iiber die halb vernichtete Schat-
tengegend, iiber die Schattenberge und Schattendorfer: so kam
ihm alles tot, leer und eitel vor, und es schien ihm, als war' in
irgendeiner hellern Welt eine Zauberlaterne - und durch die La-
2^ terne riickten Glaser, worauf Erden und Fruhlinge und Menschen-
gruppen gefarbet waren - und die herabgeflossenen hupfenden
Schattenbilder dieser Glaser nennten wir Uns und eine Erde und
ein Leben - und allem Bunten liefe ein grofier Schatten hinten-
nach.
Ach, ich rege vielleicht in mancher Brust langst vergessene Be-
klemmungen wieder auf, aber es tut uns wohl - da die Leiden so
viel Platz in unserer Erinnerung einnehmen -, daB dieses herbe
Lagerobst milde wird durch Liegen, und daB ein geringer Unter-
schied ist zwischen einem vergangnen Schmerz und einer jetzigen
3° Lust.
Der arme Viktor kam nach Mitternacht mit einem bleichen An-
gesicht und mit brennenden Augen im Hause des Apothekors an.
Er begehrte nichts, um seine gebrochne Stimme nicht zu ver-
raten. Als er seinen Alltagsiiberrock im Mondschimmer hangen
sah, und als er sich wie eine fremde Person vorstellte, der der
Rock gehorte und die ihn am Morgen so freudig auszog und jetzo
782 HESPERUS
so trostlos anlegte: so ergriffein Mitleiden, das er mit sich selber
hatte, wieder mit zu starkem Druck sein erschopftes Herz. Marie
kam, und er wendete nicht einmal die Zeichen dieses Mitleids von
ihr weg. Sie stand betroffen - er sagte ihr mit der sanftesten, aus
Seufzern gewebten Stimme, er brauche nichts - und die gute Seele
ging ohne Mut zum Trosten und zu Tranen Iangsam hinaus, aber
die ganze Nacht vergoB sie unsichtbare iiber die fremden und iiber
einen Kummer, der ihr nicht gesagt war.
Warum orlnete gerade heute das Schicksal alle Adern seines
Herzens? Warum lieB es gerade auf diesen Tag die Silberhochzeit 10
des Stadtseniors und die erste Hochzeit seiner Tochter mit dem
Waisenhausprediger treffen? Warum, wenn doch beide Hochzeit-
feste auf diesen Tag zusammenfallen sollten, muBten sie bis nach
Mitternacht fortwahren, wo sie den armen Viktor in alle Brand-
statten seiner Hoffnungen schauen lieBen, wo er in einer lichter-
vollen Stube aus seiner dunkeln die Liebe sah, welche Hande
verkniipfte,Lippen zusammendriickte und Augen und Seelen ver-
mischte? — Zu einer andern Zeit wiird' er iiber den Waisenhaus-
prediger und iiber zwei Armenkatecheten gelachelt haben; aber
heute konnt' er nur dariiber seufzen, und es ist eine sanfte Schon- 20
heitlinie an seinem innern Menschen, daB er den armen Menschen
das vergonnte, was er entbehrte : »Ach ihr seid glucklich«, sagte
er - »o liebt euch recht, presset die klopfenden verganglichen Her-
zen heiB aneinander, eh' sie der Fliigel der Zeit zerschlagt, und
gliihet aneinander in der kurzen Minute des Lebens und wechselt
eure Tranen und Kiisse, eh' die Augen und Lippen im Grabe er-
frieren - ihr seid gliicklicher als ich, der ich das Herz voll Liebe
niemand geben kann als den Wurmern des Grabes, »nd auf dessen
Sarg ein Tischler die Oberschrift, die wie ich mit Erde bedeckt
wird, farben soil : ihr guten Menschen, ihr habt mich nicht geliebt, 5 o
und ich war euch doch so gut!« -
Jedes gliickliche Lacheln, jeder flotende Violinenzug, jeder Ge-
danke wurde jetzt seinem von Tranen umgebenen weichen Her-
zen zur harten spitzen Ecke, so wie einer Hand, die sich in Wasser
untertaucht, alles hart anzufiihlen wird.
Seine grenzenloseAufrichtigkeit, seine grenzenloseErweichung
19. HUNDPOSTTAG 783
konnt' er mit nichts befriedigen, als mit einem Briefe an seinen
Emanuel, in welchen er seine ganze Seele uberstromen lie 6.
»0 teurer Geliebterl
Sollt* ich denn dirs verbergeri, wenn mich Schmerzen uberman-
nen oder Torheiten? Sollt' ich dir nur meine bereueten Fehler
zeigen und nie meine gegenwartigen? - Nein, tritt her, Teurer,
an meine wunde Brust, ich offne dir das Herz darin, es blute und
poche unter der Entblofiung, wie es will - du deckest es doch
vielleicht mit deiner vaterlichen Liebe wieder zu und sagst: ich
10 lieb' es noch. -
Du, mein Emanuel, ruhest in deiner hohen Einsamkeit, auf
dem Ararat der erretteten Seele, auf dem Tabor der glanzenden :
da blickestdu sanft geblendet indie Sonne der Gottheitundsiehest
ruhig die Wolke des Todes auf die Sonne zuschwimmen — sie ver-
hiillt sie, du erblindest unter der Wolke, sie verrinnt, und du
stehst wieder vor Gott. - Du liebst Menschen als Kinder, die nicht
beleidigen konnen - du liebst Erdengenusse wie Fruchte, die man
zur Kuhlung pfliickt, aber ohne nach ihnen zu hungern - die Ge-
witter und Erdbeben des Lebens gehen vor dir ungehort voruber,
20 weil du in einem Lebens-Traum voll Tone, voll Gesange, voll
Auen liegst, und wenn dich der Tod aufweckt, lachelst du noch
uber den heitern Traum.
Aber ach, mehr als ein Gewitter donnert hinein in den Lebens-
traum von uns andern und macht ihn angstlich. Wenn ein hoheres
Wesen in den Wirrwarr von Ideen treten konnte, der unsern
Geist umgibt, und aus dem er seinen Atem holen muB, wie wir in
einer aus alien Luftarten zusammengegossenen Luftart atmen -
wenn es sahe, welche Nahrmittel durch unsern innern Menschen
gehen, denen er seinen Milchsaft abgewinnen mufi, dieses Ge-
3 o menge von komischen Opern - Bayles Worterbiichern - Kon-
zerten von Mozart - Messiaden - Kriegsoperationen - Goethes
Gedichten - Kants Schriften - Tischreden - Mond-Anschauun-
gen - Lastern und Tugenden - Menschen und Krankheiten und
Wissenschaften aller Art — wenn das Wesen diese Lebens-Olla-
784 HESPERUS
Potrida untersuchte: wtird* es nicht begierig sein, zu wissen,
welche widersinnige Safte dadurch in der armen Seele zusammen
gerinnen, und wiird' es sich nicht wundern, daB noch etwas Festes
undGleichformigesimMenschenbleibt?— Achwenn dein Freund,
Emanuel! bald in einem feinen Speisesaal, bald in'einem Garten,
bald in einer Loge, bald vor dem groBen Nachthimmel, bald vor
einer Kokette, bald vor dir ist: so macht ihm dieser zweideutige
Wechsel der Auftritte Schmerzen und vielleicht Flecken . . .
Nein, ich will meinen Emanuel nicht beliigen — O sind denn
die Kleinigkeiten und die Steinchen dieses Lebens wert, daB wir ™
darum krumme Gange wahlen, wie die Minierraupe durch die
Astchen ihres Blattes sich zu Krummungen zwingen laBt? - Nein,
alles, was ich gesagt habe, ist wahr; aber ich hatt* es nicht gesagt,
wenn nicht andre Schmerzen mich auch auf jene fuhrten; und
doch hattest du es mir, du unschuldig-kindlich-erhaben-trauen-
der Lehrer, geglaubt. Ach, du halst mich fur zu gut. . . o es 1st ein
weiter ermiidender Schritt von der Bewunderung zur Nachah-
mung! — Jetzt aber blick in mein geoffnetes Herz!
Seitdem ich hier im Totenhaus meiner kindlichen Freuden, in
den Beeten, wo meine Kindheitjahre gebliihet und abgebliihet *°
haben, vielleicht mit zu vielen Traumen der Vergangenheit um-
hergehe; - und noch mehr: von dem Tage an, wo du meinem
Herzen den Reiz zum Fieber-Schlage auf mein ganzes Leben ge-
geben, seitdem du mir das Leben aufgedeckt, worin sich der
Mensch zerblattert, und den dunnen spitzigen Augenblick, auf
dem er so schmerzhaft steht, seit jener Abschied-Nacht, wo meine
Seele groB und meine Tranen unerschopflich waren, rinnt eine
ewige Wunde in mir, und der Seufzer einer Sehnsucht, die nichts
zu nennen weiB als Traume und Tranen und Liebe, Iiegt wie eine
stockende Ader beklemmend und verzehrend in meiner Brust — 3^
Ach, ich lache noch wie sonst, ich philosophiere noch wie sonst,
aber mein Inneres sieht nur der Geliebte, dem ichs jetzt entbloBe.
O Schicksal, warum schlugst du in den Menschen den Funken
einer Liebe, die in seinem eignen Herzblut crsticken muB? Ruht
nicht in uns alien das holde Bild einer Geliebten, eines Geliebten,
wovor wir weinen, wornach wir suchen, worauf wir hoffen, ach
19- HUNDPOSTTAG 785
und so vergeblich, so vergebHch? - Steht nicht der Mensch vor
der Brust eines Menschen wie die Turteltaube vor dem Spiegel
und girret wie diese sich heiser vor einem toten flachen Bilde darin,
das er fiir die Schwester seiner klagenden Seele halt? - Warum
fragt uns denn jeder schone Friihlingabend, jedes schmelzende
Lied, jede iiberstromende Freude: wo hast du die geliebte Seele,
der du deine Wonne sagst und gibst? Warum gibt die Musik dem
besturmten Herzen statt der Ruhe nur grofiere Wellen, wie das
Gelaute der Gloeken die Ungewkter, anstatt zu entfernen, her-
io unterzieht? Und warum ruft es drauBen an einem schonen stillen
hellen Tage, wenn du iiber das ganze aufgeschlagne Gemalde
einer Landschaft siehest, iiber die BIumen-Meere, die auf ihr zit-
tern, iiber die herabgeworfnen Wolkenschatten, die von einem
Hiigel zum andern fliehen, und iiber die Berge, die sich wie Ufer
und Mauern um unsern Blumenzirkel ziehen, warum ruft es da
denn unaufhorlich in dir: >Ach, hinter den rauchenden Bergen,
hinter den aufliegenden Wolken, da wohnt ein schoneres Land,
da wohnt die Seele, die du suchst, da liegt der Himmel naher an
der Erde<? - Aber hinter dem Gebirge und hinter dem Gewolke
10 stohnt auch ein verkanntes Herz und schauet an deinen Horizont
heriiber und denkt: >Ach, in jener Feme war' ich wohl gliick-
Iicher!<
Sind wir denn alle nicht glucklich — Bejah* es nicht und sage
nicht zu mir, Emanuel, daB im Winter dieses Lebens gerade die
wenigen warmen Sonnenblicke, die ihn unterbrechen, den bessern
Menschen wie Gewachse zersprengen und zugrunde richten -
sage nicht, daB jedes Jahr etwas von unserm Herzen wegstoBe,
und daB es wie das Eis immer kleiner werde, je weiter es schwimme
im Strome der Zeit - sage nur nicht, daB die irrende Psyche, wenn
jo sie auch ihr zweites Selbst in ihrem Gefangnis hore, doch nie in
seine Arme kommen konne Aber du hasts schon einmal ge-
sagt:
>In zwei Korpern stehen wie auf zwei Hiigeln getrennt alle lie-
bende Seelen der Erde, eine Wiiste liegt zwischen ihnen wie
zwischen Sonnensystemen, sie sehen einander herubersprechen
durch feme Zeichen, sie horen endlichdie Stimmen iiber die Hiigel
786 HESPERUS
heriiber - aber sie beriihren sich nie, und jecle umschlingt nur
ihren Gedanken. — Und doch zerstaubt diese arme Liebe wie ein
alter Leichnam, wenn sie gezeigt wird ; und ihre Flamme zerflattert
wie eine Begrabnislampe, wenn sie aufgeschlossen wird.<
Sind wir denn alle nicht gliicklich? -
Bejah' es nicht! - Ach der Mensch, der schon von der Kindheit
aji nach einer unbekannten Seele rief, die mit seiner eignen in
einem Herzen aufwuchs - die in alle Traume seiner Jahre kam und
darin von weitem schimmerte und nach dem Erwachen seine Tra-
nen erregte - die im Friihling ihm Nachtigallen schickte, damit er ic
an sie denke und sich nach ihr sehne - die in jeder weichen Stunde
seine Seele besuchte mit so viel Tugend, mit so viel Liebe, daB er
so gern all* sein Blut in seinem Herzen wie in einer Opferschale
der Geliebten hingegeben hatte - die aber ach nirgends erschien,
nur ihr Bild in jeder schonen Gestalt zusandte, aber ihr Herz ewig
entriickte o endlich^ o plotzlich, o selig schlagt ihr Herz an
seinem Herzen, und die zwei Seelen umfassen sich auf immer —
er kann es nicht mehr sagen, aber wir konnens: dieser ist doch
gliicklich und geliebt....
Guter Emanuel, du vergibst mir den Schmerz der Furcht, daB 2C
ich es wohl nie sein werde - Nein, nie! - O ich ware auch fiir
diese von Grabern zerstuckte Erde vielleicht gar zu gliicklich, ich
durfte fiir ein so junges, mit so kleinen Verdiensten gerechtfertig-
tes Leben vielleicht ein zu groBes Eden bewohnen, wenn meine zu
weiche Seele, die schon unter drei frohen Minuten einsinkt, die
jeden Menschen liebt und sich mit Kinderarmen ans Herz der gan-
zen Schopfung hangt, o die schon durch diesen bio Ben Traum
der Liebe zu selig wird und iiberwaltigt durch diese Beschreibung
— nein, sie ware zu selig, eine solche von Wehmut und Menschen-
liebe langst zerschmolzene Seele, wenn sie einmal nach einem so 3c
langen todlichen Sehnen endlich, endlich - o Emanuel, ich bebe
wieder vor Freude, und es ist doch niemals, niemals moglich! -
alle ihre Wiinsche, ihren ganzen Himmel, so viele Liebe in einer
teuern, teuern Seele gesammelt fande, wenn ich vor der groBen
Natur und vor dem Angesicht der Tugend und vor Gott selber,
der mir und ihr die Liebe gab, zur Einzigen, zur Frommen, zur
20. HUNDPOSTTAG 78?
Geliebten - o Gott, wie heiBt ihr Name - zur Vorausgeliebten,
die ich jetzt im Wahnsinn nennen wollte, weinend sagen diirfte:
endlich hat dich mein Herz, du Gute, Gott gibt uns heute ein-
ander, und wir bleiben beisammen auf die ganze Ewigkeit. Nein,
ich wiird* es nicht sagen, sondern vor Wonne verstummen und
sterben.
- Siehe! mir war jetzt, als ging* erne Gestalt liber meine Stube
und riefe: Viktor! Ich sah mich um und erblickte meine leere
Stube und die abgelegten Sonntagkleider, und jetzt erinnerte ich
, mich erst, daB ich ungliicklich bin und nicht geliebt.
Du aber, unersetzlicher Freund, miBkenne mich nicht; ich
schwore dir, daB ich dir diese Blatter ungeandert gebe, wenn ich
auch morgen, wo die Wirbel der heutigen Nacht stiller flieBen,
alle Anderungen notig fande. Dein torichter Freund bleibt doch
dein ewiger Freund.
S.V.H.«
20. HUNDPOSTTAG
Blatt von Emanuel - Flamins Fruchtstiicke auf den Schultern -
Gang nach St. Liine
■ »Armer Sebastian,« - sagt' ich, da ich das heutige Felleisen auf-
machte - »eh' ichs auf habe, weiB ich schon voraus, daB du den
ganzen Tag nach einer solchen Nacht dich eingeschlossen, um
dein verblutetes Angesicht gegen den Trauergarten zuzuwenden
- daB du heute diese brennenden Gifttropfen lieber hast als den
Wundbalsam, und daB du in den Spiegel schauest, um die stille
schuldlose Gestalt, die er dir mit ihren Schnitten zeigt, wie eine
fremde zu beweinen. - O wenn der Mensch nichts mehr zu lieben
hat, so umfasset er das Grabmal seiner Liebe, und der Schmerz
wird seine Geliebte. Vergebet einander den harden Wahnsinn der
, Klage : denn unter alien Schwachen des Menschen ist das die un-
schuldigste, wenn er, anstatt gleich dem Zugvogel sich uber den
Winter zu erheben und in heitere Zonen zu fliegen, gleich andern
Vogeln vor diesem Winter niedersinkt und dumpf in seinem kal-
ten Grame erstarrt.«
788 HESPERUS
Viktor sargte sich sozusagen an jenem Tage in sein Zimmer
ein, das er niemand als einer Tiir- und Wandnachbarin der
Schmerzen, Marien, offnete, deren Gestalt ihm so sanft wie eine
Abendsonne tat. Jedes andere weibliche Gesicht auf der StraBe
gab ihm Stiche; und der Bruder der verlornen Klotilde, den er am
Fenster sah und heute gern umarmt hatte, lieh der verweinten
Erinnerung neue Farben.... Leser! — die Leserin ist von selber
billiger — Iache nicht iiber meinen guten Helden, der da keiner ist,
wo gerade die Starke der Seele die Starke des Schmerzens wird;
laB mich es wenigstens nicht horen. Wem der sympathetische »
Nerve des Lebens, die Liebe, unterbunden oder durchschnitten
ist, der darf schon einmal seufzen und sagen: alles kann der
Mensch auf der Erde geduldiger verlieren als Menschen.
Und doch fuhrte abends ein Zufall - namlich ein Brief - alle
seine Schmerzen noch einmal durch sein mudes Herz. Ein kleiner
Brief von Emanuel - aber keine Antwort auf den erst abgesandten
— kam an.
»Mein immer Geliebter!
Ich habe den Tag deines Eintritts in ein neues Lebens-Gewiihl
erfahren, und ich habe gesagt: mein Geliebter bleibe glucklich - i
die Ruhe der Tugend baue wie mit einer Brust sein Herz gegen
den Frost und Sturm seines neuen Lebens ein — seine Schmerzen
und seine Entziickungen seien nicht laut - er trauere sanft und
still wie eine Fiirstin im sanften WeiB, er genieBe sanft und still,
und im Tempel seines Herzens spiele die Lust nur wie ein un-
gehort-irrender Schmetterling in einer Kirche - und die Tugend
schwebe vor ihm am nohern Himmel iiber unserer Sonne und
warme und erhelle und ziehe allmahlich sein Herz!
Du willst, aus Hebender Bangigkeit fiir mein entsinkendes
Leben, nicht haben, daB ich oft schreibe: so wenig glaubst du, 3
Lieber, meiner HofTnung. O die ablaufenden Gewic^te meiner Ma-
schine fallen langsam und sanft auf das Grab hinauf - dieses
Erdenleben kleidet sich in meiner Seele immer schoner an und
schmiickt sich zum Abschiede - dieser Nachsommer um mich,
der wie eine Nebensonne neben dem Augustsommer steht, und
20. HUNDPOSTTAG 7 8 9
der kunftige Fruhling nehmen mich der Natur schmeichelnd aus
den Armen.
So uberlaubt, so uberbliimt der Allgiitige die Kirchhofmauer
des Lebens, wie wir die Mauer eines englischen Gartens, mit be-
deckendem Efeu und Immergriin und gibt dem Ende des Gartens
den Schein eines neuen Gestrauchs. -
So steigt schon hier am dunkdn Leben der Geist, wie der Baro-
meter schon unter dem triiben Wetter steigt, und wird den Ein-
fluB des lichtern schon unter den Wolken innen.
to - Ich folge aber deiner Liebe und schreibe dir nicht mehr als
einmal im Winter, wo ich dir die grofie Nacht erzahle, in der ich
meinem blinden Julius zum erstenmal sagte, daB ein Ewiger ist. -
In jener Nacht, mein Geliebter, zogen mich die Entzuckung und
Andacht zu hoch, und das dunne Leben wollte reiBen. Ich blutete
lange. Im Winter, wo an die Stelle der Erden-Reize die des Him-
mels treten 1 , verbiete mir das Gemalde des Sommers nicht.
mein Sohn! -ich muBte dir ja schreiben, weil meine Freun-
din Klotilde klaget, daB sie zum neuen Jahre aus der grunen
Laube der Einsamkeit auf den drangenden Marktplatz des Hofes
to gezogen werde - ihre Seele ist dunkel von Trauer und streckt die
Arme nach dem stillen Leben aus, das von ihr genommen wird.
Ich weiB nicht, was ein Hof ist - du wirst es wissen, und ich be-
schwore dich, erlose meine Freundin und lenke die Hand ab, die
sie aus St. Liine ziehen will. Wenn du es nicht kannst: so verlasse
am Hofe die geliebte Seele nicht - sei ihr heiBester Freund - ziehe
die Bienenstacheln der Erdenstunden aus ihrem milden Herzen. -
Wenn kalte Worte wie Schneef locken auf diese Blume fallen : so
schmelze sie der Hauch der Liebe zu Tranen, die du rinnen siehest
— Wenn iiber ihr Leben ein Gewitter aufsteigt: so zeig ihr den
'° Engel, der auf der Sonne steht und iiber unsere Gewitter den
Regenbogen der Hoffnung zieht - O dich, den ich so liebe, wird
meine Freundin auch so lieben, und wenn mein Freund ihr sein
sanftes Herz, sein weiches Auge, seine Tugend, seine von der
Natur und von dem Ewigen bewohnte Seele aufdeckt : so wird er
1 Der Dezember begunstigt die Beobachtungen der Astronomen am
meisten.
79° HESPERUS
meine Freundin vor sich gliicklich werden sehen, und das erhabne
Angesicht, das vor ihm in Tranen und Lacheln und Liebe zer-
flieBt, wird immer in seinem Herzen bleiben.
Emanuel.«
Siehe, da trat in dieser gliihenden Minute die erhabne Gestalt,
die er gestern gesehen, wieder vor sein Herz mit den wehmiitig
lachelnden Lippen und mit den Augen voll Tranen; und als die
Gestalt vor ihm schweben blieb und schimmerte und lachelte, so
stand seine Seele vor ihr wie vor einer Verstorbenen auf, und alle
Wunden fingen wieder unter dem Erheben an zu bluten, und er i<
rief : »So weiche denn nie aus meinem Herzen, du erhabne Gestalt,
und run' ewig auf seinen Wunden !« - Die Trostlosigkeit, die Er-
mattung und der Schlaf uberhiillten seinen Geist, so wie seinen
letzten Gedanken, nachstens nach St. Liine wieder zu gehen und
ikre Eltern zu bereden, sie nicht an den Hof zu zwingen...
Der Iange Schlaf des Todes schlieBt unsere Narben zu, und der
kurze des Lebens unsere Wunden. Der Schlaf ist die Halfte der
Zeit, die uns heilt. Der erwachte Viktor, dessen Fieber der Liebe
gestern durch die Schlaf losigkeit so sehr zugenommen, sah heute,
daB sein Schmerz ungemaBigt war, weil seine Hoffnung unmaBig u
gewesen; - anfangs hatt* er gewiinscht - dann beobachtet - dann
vermutet - dann gesehen - dann ausgelegt - dann gehofft - dann
darauf geschworen. Jeder kleine Umstand, sogar sein Anteil an
Klotildens Ernennung zur Hofdame, hatte mildes Ol der Liebe
in seine Glut gegossen. »0 ich Tor !« sagt' er, mit den drei Schwur-
Fingern an der Stirne, und wie alle kraftige Menschen war er um
desto mutiger, je mutloser er gewesen. Ja, er fuhlte sich auf ein-
mal zu leicht; - denn eine zu schnelle Kur kiindigt auch bei Seelen
den Riickfall an. Ein neuer Trost war der gestrige EntschluB, daB
er Klotilden einen Dienst erweisen - namlich den Hofdienst er- y
sparen wollte. Er besann sich noch tiber seinen EntschluB, sie
wiederzusehen - Fiihltest du etwa, Viktor, daB alles, was die Liebe
tut, um zu sterben, nur ein Mittel ist, um wieder zu auferstehen,
und daB alle ihre Epilogen nur Prologen zum zweiten Akte sind?
— Aber ein Korb Apfel auf dem Markte machte ihn in seinem Ent-
20. HUNDPOSTTAG 79 1
schlusse wieder fest. Flamin trat namlich herein. Er fing sogleich
mit Fragen iiber das Verschwinden am Sonntag und mit Nach-
richten der allgemeinen Unruhe iiber den teuern Fliichtling an.
Viktor, durch die ganze Erinnerung wieder erhitzt und gegen den
Bildersturmer und Fiskal einer vergeblichen Liebe fast ein wenig
erziirnt, gab ihm die wahre Antwort: »Du nahmest mir meine
Freude zum Teil, und warum sollt* ich so spat erst aufs Theater
treten?« Je starker Flamin die liebende Bekiimmernis der Pfarrerin
und Klotildens iiber seine Unsichtbarkeit malte, desto peinlicher
o wurd' in ihm der Wirrwarr streitender Gefiihle; ohne sein zu-
riickrufendes Gewissen war' es ihm jetzo leichter geworden, nun
dem Freunde die hoffnunglose Liebe zu bekennen, als sonst die
hoffende. - Zufallig wunderte sich Flamin iiber die Reife der
Apfel unten auf dem Markte und verlangte einige: ein Blitzstrahl
fuhr nun vor Viktors Auge iiber die angebornen Fruchtstiicke
auf Flamins Schultern, die allezeit im Nachsommer wahrend der
Apfelreife erschienen, die er aber im bisherigen Taumel vergessen
hatte. Der Himmel weiB, ob nicht dem Leser selber entfallen ist,
daB Flamin dieses Lagerobst (sein Muttermal) auf dem Riicken
20 tragt, das ein Sodoms- und Evas- Apfel fur ihn werden kann.
Konnte nicht Matthieu, der bisher an Flamin dieses Insiegel seiner
fiirstlichen Verwandtschaft nicht untersuchen konnte, sich auf
einmal von allem iiberzeugen, was er aus dem Briefe an den Lord
nur mit diebischen Blicken erraten konnte? Und konnt* er nach-
her nicht zum Fiirsten gehen und da fur alle unsere Freunde die
giftigsten Suppen einbrocken? - Da aber das Vexierbild gewohn-
lich in einer Woche verblich : so brauchte Viktor ihm nur ebenso
lange den Trager desselben aus den Augen zu entriicken; er trug
also seinem von der Natur tatowierten Freunde die Bitte vor,
3° einmal gemeinschaftlich nach St. Liine zu gehen, da sie vorgestern
einander verfehlet hatten
»Daraus wird nichts«, sagte Flamin, der die kleinere Delikatesse
hatte, die Bitte um die Begleitung wegen seiner Vorwurfe in Le
Bauts Garten nicht zu beniitzen, und dariiber die grofiere vergaB,
eine solche Riicksicht seinem Viktor gar nicht zuzutrauen.
Dieser, in einer leidenschaftlichen Eilfertigkeit, zwei solche
79 2 HESPERUS
Obel (Klotildens Hofamt und Matthieus Besichtigung) abzu-
wenden, griff zum sonderbaren Mittel, dem Hof junker die Reise-
Genossenschaft anzutragen. Denn sie sahen und sprachen ein-
ander taglich in Vorzimmern und Salen — und wahrhaft freund-
lich, nur konnte keiner den andern ausstehen. - »Mit Freuden!«
(sagte der Evangelist) »in dieser Woche hab* ich den Kabinett-
dienst - aber die nachste kann ich.«
Und gerade in der jetzigen wollt* es Viktor. - So viel schnelle
Fehlschlagungen bestiirzten diesen so, daB er, dessen sorg- und
argloses Herz immer ein offener Brief mit fliegendem Siegel war, i<
sich jetzt gegen seinen guten, teuren Freund Flamin verstellte —
Er wollte wenigstens das Muttermal und dessen Deutlichkeit sel-
ber uhtersuchen. Er ging daher zu ihm und fand ihn gebiickt-
schreibend und mit einem gliihenden Arbeit- Gesicht. Er be-
schwurs ihm, Erholung und Ferien waren ihm unerlaBlich, und er
sollte wie ein Setzer stehend arbeiten. Dann kam er allmahlich auf
Flamins vollbliitige Brust und auf die Frage: ob sie ohne Stechen
und Drucken seine Anspannungen vertrage? Dann langte er an
dem Ziele an, und er schlug vor, Flamin solle sich in jedem Falle
als Lungen-Ableiter ein burgundisches Pechpflaster auf die Schul- *«
terblatter legen lassen, ja er wollt' es ihm jetzt selber tun und ihm
zeigen, wie alles zu machen sei. Dadurch hoffte er noch dazu um
das Apfelstuck zugleich einen Vorhang zu ziehen. Aber er ver-
stellte sich so erbarmlich - denn ihm gliickten unschuldige Intri-
gen gegen Madchen und scherzhafte Verstellungen aus Satire, und
mifilangen ernsthafte -, daB sogar Flamin auf horchte und trocken
versetzte : »er habe schon ein solches Pflaster seit zwei Tagen auf:
und — Matthieu hab' es ihm geraten und selber aufgelegt.«
Da saB er. - Sebastian hatte weiter nichts zu tun, als in einer
sonderbaren Kalte, die auf dem St. Liiner Wege nur durch einige 3<
Stiche von den alten dornigen Spatlingen seines verbluhten
Paradieses untermischt wurde, unbegleitet zum Kammerherrn
Le Baut zu gehen, zu sagen, was zu sagen war, ins Pfarrhaus
zu gucken und still wieder fortzuwandern ohne eine einzige -
Ho riming.
Liebe Fortuna ! lieber gekopft als skalpiert, lieber ein Ungluck
20. HUNDPOSTTAG 793
als zehn Fehlschlagungen; ich meine: radere mit deinem Rade
den Menschen lieber von oben als unten hinaufl -
Viktor wuBte zwar noch kein Wort von der Wendung, womit
er zwei solchen Hof-Emigranten wie den Le Bauts, die nichts
Heiligers kannten als die Latrie gegen einen Fiirsten, die Dulie
gegen dessen Minister und die Hyperdulie gegen dessen H-, Klo-
tildens Standerhebung verleiden sollte; aber er dachte: »Ich tue,
was ich kann.«
Klotildens Eltern nahmen ihn mit so viel Verbindlichkeit auf-
io d.h. mit so viel Hof lichkeit des Korpers, mit so viel Puderzucker
auf jeder Miene, mit so viel Violensirup auf jedem Wort - kurz,
er fand den Bericht, den Matthieu von ihrer gefalligen Denkart
fur ihn an Flamin erstattet hatte, so gegriindet, daB er keine bes-
sere Gelegenheit hatte ausuchen konnen als diese, urn sie von der
Verpflanzung ihrer Tochter abzumahnen - hatten sie ihm nicht
zu danken angefangen, daB er selber dieser Verpflanzer gewesen
war. Sie hatten alles erfahren oder erraten und dankten ihm fiir
seine Verwendung, der sie wahrscheinlich eigenniitzigere Ab-
sichten liehen, als die Tochter tat. Es ware lacherlich gewesen, in
2° Klotildens Gegenwart ihr selber Flachsenfingen zu widerraten
und das auszureden, wofiir man ihm dankte; indes versucht' er
doch etwas. Er sagte zum Kammerherrn : »seine Tochter verdiene
mehr, einen Hof zu haben, als einen zu zieren; ja er verdiene bei
der ganzen Sache hochstens - Entschuldigung, da Klotilde gewiB
den Umgang ihrer Eltern dem Hofzwang vorziehe: in diesem
Falle versprech 1 er, den Zeiger bei dem Fiirsten wieder zuriick-
zustellen und alles ohne Nachteil zu berichtigen.« Der Vater hielt
diese AuBerung fiir ein sonderbares Ablehnen des Dankes, die
Stiefmutter fiir irgendeine Spitzbuberei, die Tochter fiir - Worte.
3° Sie sagte ein wenig kurz : »Ich glaube, es war leicht, zwischen Un-
gehorsam und Abwesenheit zu wahlen.« Denn so unbiegsam sie
fiir ihre Stiefmutter war, so willig kam sie den Winken ihres
Vaters nach, den sie mit alien seinen Schwachen und als die einzige
ihm auf der Erde gewogne Seele zartlich liebte. Viktor lieB es end-
lich, obwohl gezwungen, gut sein; aber warum ergibt sich der
Mensch schwerer in die Zukunft als in die Vergangenheit? - Die
794 HESPERUS
Kalte der Tochter war natiirlicherweise nicht kleiner (aber auf-
richtiger) als die Warme der Eltern und gerade die Kalte er-
frischte sein gliihendes Gehirn. Diese kalte gleichgiiltige Gestalt
war wie ein Schleier iiber die erhabne liebende gedeckt, die immer
mit ihrem schwermutigen Blicke vor iho schwebte, und die er
nicht aushielt. Ohne BewuBtsein einer Schuld, zufrieden mit sei-
nem Gehorsam gegen Emanuels Bitte, zog er mit seinen vom
Wohlstand erdrtickten Gefuhlen ab, kalter gegen die Kalte. - Er
ware ein schlechter Liebhaber gewesen, wenn er gewuBt hatte,
was er haben wollen; denn sonst hatt' er von Klotilden, sogar im i
Falle ihrer Liebe gegen ihn, keine auBerordentliche Warme gegen
eineri Medikus begehren konnen, den ihr die Eltern aufzwangen
(welches einem Manne noch mehr schadet als HaBlichkeit), der
so unhoflich ohne ein Geburttag- Carmen aus dem Garten fort-
jagte, und der sie in die sieben vergoldeten Turme des Hofdienstes
trotz ihrem Widerwillen, trotz allem Anschein ihres kiinftigen
Gefdngnisfiebers hineinschob. — Aber fur das offne Lehn seines
Herzens war eben dieser Arger gesund
Wenn mein guter Leser einmal von einer zu teuren Freundin
einen ewigen Abschied zu nehmen hat: so nehnV er ihn %weimaL - 2
Der erste versteht sich ohnehin, wo er in der Trunkenheit des
Schmerzes, im Blutsturz des Herzens und der Augen erliegt, und
wo das geliebte Bild sich mit Flammen in die weiche Seele brennt;
aber dann wird er die Abgeschiedne nie vergessen konnen. Daher
muB er einen ^weiten nehmen, der schon darum kalter ist, weil
heftige Empfindungen kein dal segno der Wiederholung leiden,
ja er muB (wenn er am allerklugsten sein will) sie nach dem ersten
tragischen Abschied an einem dffentlichen Platze (z.B. bei einer
Kronung), wo sie kalt scheinen muB, zu sehensuchen; ihrfrostiges
Gesicht uberschneiet dann ihr heiBes in seinem Kopfe, und mein 3
guter Leser hat doch wieder so viel Verstand beisammen, daB er
weiB, was er in den Hundposttagen lieset...
— Wahrlich, wenn Jean Paul nicht fleiBig schreibt, so tuts
keiner - es schlug schon ein Uhr, und er hielts fur ein Viertel auf
Zwolfe - meine Schwester will schon vor dem aufgeschwanzten
rauchenden Hecht, der wie die Schlange der Ewigkeit an seinem
20. HUNDPOSTTAG 795
Schwanze frisset, die Hande fallen und sagt immerfort : »Es wird
ja alles kalt« - »Das soil es audi, nach so gliihenden Kapiteln,«
(sag* ich) »wenn du den Leser und den Autor meinst« - Der.Post-
hund springt schon, indem ich noch iiber dem zwanzigsten Ka-
pitel sitze, mit dem einundzwanzigsten in der Stube herum - und
doch will ich verhungern, wenn ich nicht vor dem Essen noch,
wie die sieben Weisen, sieben goldne Spriiche sage:
i. Wenn man beim Stiche der Biene oder des Schicksals nicht
stille halt, so reiBet der Stachel ab und bleibt zuriick.
xo 2. Jammerliche Erde, die drei, vier groBe oder kuhne Menschen
verbessern und erschuttern konnen! Du bist ein wahres Theater :
aufdem Vorgrund sind einige fechtende Spieler und einige Zelte
aus Leinwand, im Hintergrund wimmelts von gemalten Soldaten
und Zelten! -
3. Staaten undDiamantenwerden jetzt, wenn sie Flecken haben,
in kleine zerschnitten - und da
4. die Menschen in groBen Staaten und die Bienen in groBen
Stocken Mut und Warme einbuBen: so heftet man jetzt an kleine
Lander andre kleine Lander, wie an Bienenstocke Koloniestocke.
20 5. Der Mensch halt sein Leben fur das der Menschheit, wie die
Bienen das Tropfen ihres Bienenstandes, wenn schon die Sonne
wieder scheint, fur Regen nehmen und nicht ausfliegen;
6. aber er begeht taglich einen kteinern Irrtum : anfangs halt er
fur eine Ewigkeit (fiir diese aristotelische Zeit-Einheit des Schau-
spiels des Seins) seine gegenwartige Stunde - dann seine Jugend-
dann sein Leben - dann sein Jahrhundert — dann die Dauer des
Erdballs - dann der Sonne ihre - dann der Himmel ihre - dann
(das ist der kleinste Irrtum) die Zeit
7. An den Menschen sind vorn und hinten, wie an den Buchern,
3° zwei leere weiBe Buchbinderblatter - Kindheit und Greisenalter;
und an den Hundposttagen auch : siehe das Ende dieses Tages und
den Anfang des nachsten.
79<> HESPERUS
FtJNFTER SCHALTTAG
Fortsetzung des Registers der Exira-SchoGlinge
K
Kalte. In unserm Zeitalter stehen Abnahme des Stoqismus und
Wachstum des Egoismus hart nebeneinander; jener bedeckt seine
Schatze und Keime mit Eis, dieser ist selber Eis. So nehmen im
Physischen die Berge ab und die Gletscher zu.
Leikbibliothek fur Re^ensenten und Mddchen. Ich bin noch immer
willens, es ins Intelligenzblatt der Literaturzeitung setzen zu las- i
sen, daB ich den Kaufschilling, den ich fur meinen Abends tern
erhebe, nicht zerschlagen, noch wie Musaus zum Ankauf von Gar-
tenhausern zersplittern, sondern das ganze Kapital zu einer voll-
standigen Sammlung aller deutschen Vorreden und Titel, die von
Messe zu Messe erscheinen, verwenden will. Ich kann dabei be-
stehen, wenn ich eine Vorrede wochentlich fur einen Pfennig
Lesegeld an Rezensenten ausgebe, welche nicht gern das Buch
selber lesen wollen, wenn sie es rezensieren. -
Damit mir nicht einmal der OberschuB des besagten Schlag-
schatzes als totes Kapital im Hause Iiegt: so sollen dafur - wenn 2.
ich mich nicht andere - die schwerern deutschen Meisterwerke -
z.B. Friedrich Jakobis, Klingers seine, Goethes Tasso -, des-
gleichen die bessern satirischen und philosophischen vom Buch-
binder in einer teichtern Damenausgabe geliefert werden, die ganz
aus sogenannten Vexierbanden, worinnen kein Unterziehbuch
steckt, bestehen soli. Ich spiele damit, denk' ich, den Leserinnen
etwas Kernhaftes in die Hande, das so gut gebunden und ebenso
betitelt ist wie die Buchhandler-Ausgabe, und in das sie - weil das
harte Steinobst schon ausgekernt und innen nichts ist - nicht nur
ebensoviel, sondern sechs Lot mehr Seidenfaden und Seiden- 3<
abschnitzel legen konnen als in die gedruckte Ausgabe. Altwills
Briefwechsel - ein schweres zweidotteriges StrauBenei des Autors,
FUNFTER SCHALTTAG 797
das ich vom Buchbinder auf diese Weise habe ausblasen lassen,
weil die meisten Leserinnen zu kalt sind, es auszubriiten - ist jetzo
ganz leicht. Aber von den deutschen Roraanen werd' ich niemals
eine solche Futteral-Ausgabe von leeren Zeremonienwagen des
Musen- und Sonnengottes veranstalten, weil ich befahre, der
Buchhandel schreie uber Nachdruck. — Ich ware ein gliicklicher
Mann, wenn sich die Mitleserinnen meiner Leih-Kapselbibliothek
nur zweimal in einigen italienischen und portugiesischen Buche-
reien hatten herumfiihren lassen; sie wiirden in diesen, wo oft nur
10 die Titel der Werke - und noch dazu der dummsten - an die Wand
geschmieret sind, erstaunet sein, welche schlechte Figur solche
unbrauchbare Bibliotheken neben meiner Bucherei von ordent-
lichen Vexierbuchern, die ich aus so vielen Fachern und mit eini-
gem Eigensinn wahle, nicht anders als machen konnen. - So wer-
den freilich deutsche Kapselleserinnen von euch Portugieserinnen
nimmermehr eingeholet! Vielmehr kommen jene sogar den Man-
nern, den Advokaten und Geschaftleuten nach, die ahnliche
Kapsel-Journalistika mithalten und die Futterale der besten deut-
schen Journale - letztere werden oft als curiosa sogar den Kapseln
^ angebogen und futtern diese aus - mitlcsen und weitergeben —
Das ist mein Plan und Entwurf; Schafe aber wiirden mutmaBen,
ich spaBte mich hier bloB herum, wenn ichs nicht wirklich durch-
setzte.
M
Mddchen. Junge Madchen sind wie junge Truthtihner, die schlecht
gedeihen, wenn man sie oft anruhrt; und die Mutter halten diese
weichen, aus Blumenstaub zusammengeflossenen Geschopfe wie
Pastetlgemalde so lange unter Fensterglas - weil sich alles vor uns
Prinzessinnenraubern und Obstdieben scheuet -, bis sie fixieret
jo sind. Indessen 1st weder Einsamkeit - welche nur zu einer unge-
priiften Unschuld ftihrt, die zwar nicht vor dem Wiistling, aber
doch vor dem Heuchler fallt - die rechte Kronwache um ein weib-
liches Herz, noch Gesellschaft, noch Arbeitsamkeit - sonst sanke
kein Landmadchen -, noch gute Lehren - denn diese sind in jedem
Mund und in jeder Lesebibliothek zu haben -; sondern diese vier
798 HESPERUS
ersten und letzten Dinge auf einmal tuns, die sich samtlich ent-
behren, vereinigen und ersetzen lassen durch eine tugendhafte
weise Mutter.
N
Namen der GrofienK Wenn ich so sehe, da8 sie ihre aufierehelichen
MeB-Produkte, Gelegenheitschriften und pieces fugitives so
namenlos, als warens Rezensionen, verteilen: so sag* ich: »Hieran
erkenn* ich echte Bescheidenheit.« Denn natiirliche Kinder sind
gerade ihre besten und ihre eignen und konnen noch dazu vom
Fiirsten fur echt erklart werden - indes ihre ubernatiirlichen in i
der Ehe das Echtmachen entbehren miissen -: und doch wollen
sie der Welt den Namen des Wohltaters nicht wissen lassen, son-
dern schafFen ebensooft (ja ofter) heimlich Leute in sie fiinein, als
aus ihr hinaus. Was das Kind sonst zuerst aussprechen lernt, sagen
ihm solche Eltern zuletzt - ihren Namen. Mich diinkt, sie folgen
hierin Goethes feinem Ohre; denn sie verstecken sich selber eben-
so - wenn sie das Orchester der Welt mit Kinderstimmen und mit
vingt-quatre und mit Week- und Repetierwerken (welche un-
arm liche Zusammenstellungen !) fullen -, wie Goethe vom spielen-
den Tonkiinstler begehrt, daB er fiir die Ohren arbeite, aber zur ^
Schonung der Augen sich selber verberge. Ebenso schon handeln
sie, wenn sie ihre Kinder der 30sten Ehe am Ende (oft nach der
5- oder 20jahrigen Verjahrung) doch an Kindes Statt annehmen
und der Welt zeigen und so den Zeisigen nachahmen, die, wie
man sagt, ihrem Neste und dessen Insassen durch den sogenann-
ten Zeisigstein so lange Unsichtbarkeit erteilen, bis sie fliigge sind.
O
O strabismus. Er war bekanntlich bei den Griechen keine Strafe :
nur Leute von groBen Verdiensten errangen ihn, und sobald man
diese Landesverweisung an schlechte Menschen verschwendete, 3 <
1 Ich habe den Buchstaben N ganz umgegossen, weil ich in der ersten Auf-
lage leider einen guten Einfall gehabt, den ich ohne mein Erinnern seines
ersten Herausgebens als mein eigner gelehrter Dieb im Kommentar der Holz-
schnitte wieder bekannt gemacht.
FUNFTER SCHALTTAG 799
ging sie vollig ein. Beklagen mu6 es ein Reichsburger, daB wir,
da wir eine ahnliche offend iche Erziehanstalt, namlich die Landes-
verweisung, haben, diese oft an die allerelendesten Schelme ver-
schleudern und daher - in der Absicht, einen Kreis oder ein Land
zum Spucknapf und zum AbsondergefaB des andern zu machen -*
Halunken aus dem Lande jagen, die kaum wert sind, daB sie darin
bleiben. Dadurch wird der Gebietraumung. das Ehrenhafte und
Auszeichnende, was sie fiir den Mann von Verdiensten haben
konnte, meist benommen, und ein ehrlicher Mann - z. B. Bahrdt
io - schamt sich beinahe, daB man ihn mit einer solchen Ehre nur
belegt. Es sollte daher reichspolizeimaBig werden, daB nur Mini-
ster, Professoren und Offlziere von entschiedenem Werte, gleich
wichtigen Akten, verschickt und verwiesen wiirden. Auf ahn-
liche Manner wurd* ich auch das Henken einschranken : bei den
Romern wurden wahrhaftig nur groBe Kopfe und Lichter auf
Kosten eines ganzen Staats an den Weg beerdigt; was soil ich aber
von den Deutschen denken, bei denen selten nutzliche Staats-
biirger - sondern meistens ausgemachte Spitzbuben - auf offent-
liche Kosten, die man die Henkergelder nennt, begraben werden
20 und vorher am Wege ausgehangen unter dem Galgen? - Nicht
einmal bei Lebzeiten kann ein Mann, wenn er nicht auBerordent-
liche und oft ex^entrische Verdienste hat - wiewohl exzentrische
Menschen in die Wahrheit, wie die Kometen in die Sonne, als
Nahrstoff zuriickfallen -, sich darauf allemal Rechnung machen,
daB er auf eine Art, wie die Alten ihre Edeln in Statuen und Bildern
verdoppelten,in effigie zwischen dicken steinernenRahmen werde
aufgehangen werden Man antworte mir, ich lasse mit mir
reden.
30 Philosophic Einigekritische Philosophen haben jetzt aus der Al-
gebra eine mathematische Methode entlehnt, ohne die man keine
Minute philosophisch - nicht sowohl denken als - schreiben kann.
Der Algebraist erhaschet durch das Versetzen blofier Buchstaben
Wahrheiten, die keine SchluBketteausgraben konnte. Das tut der
kritische Philosoph nach, aber mit groBerem Vorteil. Da er nicht
800 HESPERUS
Buchstaben, sondern ganze Kunstworter geschickt untereinander-
mengt, so schaumen aus der Alliteration derselben Wahrheiten
hervor, die er sich kaum hatte traumen lassen. Solchen Philo-
sophen wird mit Recht wie den gothaischen Predigern (Goth.
Landesordnung P. III. p. 1 6.) verboten, Allegorien zu brauchen
oder irgendeine Redeblume, die ihnen, wie den Leithunden andere
Blumen, die Fahrte verderben. - Eigentlich aber ist der Bilderstil
bestimmter als der Kunstworterstil, der zuletzt, da alle abstrakte
Worte Bilder sind, ja auch ein Bilderstil ist, aber einer voll \er-
flossener entfarbter Bilder. Jakobi ist nicht dunkel durch seine Bil- J
der y sondern durch die neuen Anschauungen, die er durch jene mit
uns teilen will.
Ich habe neulich in den Geburttabellen der gelehrten und leh-
renden Republik nachgesehen und die jungen Kantcken aufge-
zahlt, die der alte Kant, sonst unverheiratet wie sein Vetter New-
ton, seit zehn Messen gezeugt hat. Demetrius Magnus, der ein
Buch von den gleichnamigen Autoren machen wollte, miifite sehr
dumm gewesen sein, wenn er zu unsern Zeiten hatte schreiben
und doch zugleich, indem er gleichwohl beigebracht, daB es
16 Plato, 20 Sokrates, 28 Pythagoras, 32 Aris^oteles gegeben, es *
ganz siindlich hatte auslassen wollen, daB es jetzt so viele Philo-
sophen und Philosophisten, als jene zusammengerechnet machen,
gebe, namlich 96, die den Namen Kant fiihren konnten, wollten
sie sonst. Solche Handwerker — so kann ich dieMagister nennen,
weil man umgekehrt sonst die Handwerker Magister hieB und den
Obermeister Erzmagister - sollte man als die beste Propaganda
in Rechnung bringen, welche dicke Biicher haben konnen: sie
sind am besten imstande, das System auszubreiten, weil sie das
UnfaBliche, das Geistige davon abzuschneiden, und das Volk-
maBige und Korperliche, d.h. die Worter, fur Leser, die sonst 3<
einfaltig, aber doch nicht ohne kritische Philosophic sterben wol-
len, auszuziehen wissen. Das elendeste theologische und asthe-
tische Gestein erhalt jetzt eine kantische Fassung aus Wortern.
Obgleich durch jedes neue groBe System eine gewisse Einseitig-
keit des Blicks in alle Kopfe kommt - zumal da jeder kalte Philo-
soph gerade desto einsettiger ist, je einsichtiger er ist -, so ver-
FUNFTER SCHALTTAG 801
schlagts doch nichts; denn groBe Wahrheit-Barren gehen nur
durch das gemeinschaftliche Wiihlen des ganzen Denker-Ge-
werks hervor 1 . Wer Kant auf seinem Berge unter seinen gelehrten
Mitarbeitern hat stehen sehen, erinnert sich mit Vergnugen einer
ahnlichen Geschichte in Peru, die Buffon mitteilt: als daselbst
Condamine und Bouguer die Aquatorgrade der Erde (wie Kant
die der intellektuellen Welt) ausmaBen, fanden sich ganze Affen-
Rudel als Mitarbeiter dazu ein, setzten Brillen auf, blickten nach
den Sternen und herunter nach den Uhren und brachten eines und
io das andre zu Papier, wiewohl ohne Ehrensold, welches ihr ein-
ziger Unterschied von den Vikariat-Kanten ist.
Jeder Mann von Genie ist ein Philosoph, aber nicht umgekehrt
- ein Philosoph ohne Phantasie, ohne Geschichte und ohne das
Vielwissen des Wichtigsten ist einseitiger als ein Politiker - wer
irgendein System mehr annahm als erfand, wer nicht vorher
dunkle Ahnungen desselben hatte, wer nicht vorher wenigstens
darnach lechzte, kurz, wer nicht seine Seele als einen vollen war-
men, mit Keimen ausgefullten Boden, der nur auf seinen Sommer
wartet, mitbringt, der kann wohl ein Lehrer, aber nicht ein Schuler
to der zum Brotstudium erniedrigten Philosophic sein - und kurz,
es ist einerlei, welchen Ort man zur philosophischen Sternwarte
besteige, einen Thron, oder einen Pegasus, oder eine Alpe, oder
ein Casars-Lager, oder eine Leichenbahre, und sie sind fast alle
hoher als der Katheder im Hor- und Streitsaale.
Q siehe K
R
Reiensenten. Ein Redakteur sollte sechs Tische haben: am ersten
safien und afien die Anzeiger des Daseins eines Buchs - am zweiten
die Bausch- und Bogen-Anzeiger seines Wens - am dritten die
io Auszieher desselben - am vierten die Sprachmeister und Sprach-
forscher, welche unter das Publikum rasonnierende Verzeich-
x Ein Beispiel ist jetzo das erste Prinzip der Moral und das der Regier-
formen.
802 HESPERUS
nisse fremder Donatschnitzer austeilen - am funften die Be-
kampfer, die ein neues Buch nicht durch ein neues Buch, sondern
durch ein Blattchen widerlegen - am sechsten stande die kritische
Fiirstenbank, auf die sich Herder, Goethe, Wieland oder noch
einer setzen konnten, die ein Buch so iiberschauen wie ein
Menschenleben, welche die Individualitat desselben auffassen, den
Geist des literarischen Geschopfes und des Schopfers zugleich
zeichnen, und die jene Menschwerdung und Verkorperung der gott-
lichen Schonheit, welche die Gestalt eines Einzelwesens annimmt,
trennen von der Schonheit und dann aufdecken und verzeihen. k
Diese sechs kritischen Banke, die sechs verschiedene Literatur-
zeitungen liefern konnten, werden jetzt iibereinander geworfen
und gestalten eine. — So freimiitig ich aber gegen diese Zusammen-
werfung von gelehrten i) Anzeigen, 2) Rezensionen, 3) Aus-
ziigen, 4) Sprach- und 5) Sachkritiken und 6) Kunsturteilen auf-
stehe: so gern bin ich bereit, zuzugestehen, daB die rezensierende
Fauna und Flora der filnf Tische vielleicht ebensoviel Unkraut-
Fechser ausrotte, als sie selber heraustreibt aus eignen Keimen,
und ich berufe mich deshalb auf einen Privatbrief von mir, der
auBer dem Verdacht der Schmeichelei ist, und worin ich sie mit *<
einem Fliegenschwamm zusammengeselle, der, ob er gleich selber
bei einem AufguB (hier von Dime) ganze Insekten-Heere gebiert,
doch die Fliegen ausreutet. - Aber da unter den Rezensenten auch
Autoren sind wie ich, wie unter den portugiesischen Inquisitoren
Juden - und uberhaupt da ich Schaltjahre lang dariiber sprecheh
wollte : warum einen Schalttag lang? -
Strekhe. »Wer seines Herrn Willen weiB und tut ihn nicht, soil
doppelte Streiche leiden.« - Wer leidet denn die einfachen? Der
doch nicht, der den Willen nicht weiB und nicht tut? - Also
folgt, daB groBere Kenntnisse die moralische Schuld nicht er-
schwereti) sondern erst er{eugenl Denn insofern ich eine moralische
Verbindlichkeit gar nicht einsehe, ist mein VerstoB dagegen ja
nicht kleiner, sondern keiner.
21. HUNDPOSTTAG 803
Ich will meine eigne Akademie der Wissenschaften sein und
mir die folgende Preisfrage aufgeben, die ich selber in einer Preis-
schrift beantworten -will: »Da nur eine Handlung tugendhaft ist,
die aus Liebe zum Guten geschieht: so kann nur eine siindig sein,
die aus bloBer Liebe zum Bosen geschieht, und die Riicksicht des
Eigennutzes muB den Grad einer Siinde so gut wie den Grad einer
Tugend kleiner machen. Was ware aber auf der andern Seite noch
auBer dem Eigennutz in unserer Natur, was uns zum Schlimmen
triebe? Und wenn Boses aus reinem Hang zum Bosen geschahe!
o so gabe es ja eine zweite, obwohl entgegengesetzte Autonomic des
Willens.«
Trubsaly Trauer. Jetzo, da ich diese beklemmenden Tone schreibe,
die mir vorsagen, daB die Natur nur Dornenhecken> die Menschen
aber Dornenkronen machen : so vergeht mir die Lust, mit satirischen
Dornen um mich zu schlagen, und ich mochte lieber einige aus
euern FiiBen oder Handen ziehn.
21. HUNDPOSTTAG
Viktors Krankenbesuche - tiber tochtervolle Hauser - die zwei Narren -
10 das KarusseU
Folgende Anmerkung kommt nicht aus dem Tornister des Hun-
des, sondern aus meinem eignen Kopf: man braucht kein Lob-
redner unserer Zeiten zu sein, um mit Vergniigen zu sehen, daB
jetzt Autoren, Fiirsten, Weiber und andere die unahnlichen^/a/ycte
Larven der Tugend (z. B. Bigotterie, Pietismus, zeremonielles Be-
tragen) meistens abgelegt, und dafur den ech'ten geschmackvollen
Schein der Tugend ganzlich angenommen haben. Diese Verede-
lung unserer Charaktermasken, wodurch wir das Aufiere der
Tugend schoner treffen, ist mit einer ahnlichen des Theaters gleich-
zeitig, auf dem man nicht mehr wie sonst mit papiernen Kleidern
und unechten Tressen, sondern mit echten agiert und tragiert. -
804 HESPERUS
»Sie wurden schon gestern von der Furstin verlangt«, sagte der
Fiirst zum Hofmedikus, da er mit seinem ausgeleerten Gesicht
kaumeingetretenwar.Die Augenentziindung Agnolas hatte durch
das Herbstwetter, durch die Nachtfeste, durch Kuhlpeppers tap-
fere Hand und durch ihre eigne - denn die roten Titelbuchstaben
der Schonheit, namlich geschminkte Wangen, wurden immer neu
aufgekgt - sehr zugenommen. Eigentlich war Viktor zu stolz, um
sich als einen bio Ben Arzt begehren zu lassen; ja er war zu stolz,
um an sich etwas anders (und war's Philosophic oder Schonheit)
suchen zu lassen als seinen Charakter ; denn sein Vater, der ebenso ic
zartstolz war, hatte ihn gelehrt: man muB keinem dienen, der uns
nicht achtet, oder den man selber nicht achtet, ja man muB von
keinem eine Gefalligkeit annehmen, dem man nur einen auBer-
lichen, aber keinen innerlkhen Dankzu sagen vermag. Aber dieses
zarteEhrgefiihl, das nie mit seinem Eigennutze, wohl aber mit
seiner Menschenliebe in ungleiche TrefFen kam, konnte ihm seine
Hande nicht binden, womit er einer ungliicklichen Fiirstin - un-
gliicklich, wie er , durch Darben an Liebe - wenigstens die Schmer-
zen der Augen nehmen konnte; vielleicht auchjiingere Schmer-
zen : denn seine Gutmutigkeit gab ihm lauter Versohnungen ein, 2c
des Fursten mit Le Baut, mit der Fiirstin, mit dem Minister.
Nichts ist gefahrlicher, als zwei Menschen auszusohnen - man
miiBte denn der eine selber sein; sie zu entzweien, ist viel sicherer
und leichter.
Er fand Agnola nachmittags noch im Schlafzimmer, weil dessen
grtine Tapeten (zwar nicht dem Gesichte, aber) dem heiBen Auge
schmeichelten. Ein dichter Schleier liber dem Gesichte war ihr
Taglichtschirm. Als sie, wie eine Sonne, ihren Schleier aufschlug;
so begriffer nicht, wie er in Tostatos Bude aus diesem italienischen
Feuer und aus diesen schnellen Hofaugen ein verweintes Blon- *<
dinengesicht machen konnen. Ein Teil dieses Feuers gehorte frei-
lich der Krankheit an. Ihr erstes Wort war ein entschlossener Un-
gehorsam auf sein erstes; indessen stieB sie damit die Herren
Pringte und Sckmucker so gut vor den Kopf wie ihn; denn das
ganze dreieinige collegium medicum riet ihr - Blutigel um die
Augen; aber diese ekelten sie. Der Medikus riickte mit Schropf-
21. HUNDPOSTTAG 80f
kopfen am Hinterhaupte heraus; aber ihre Haare waren ihr lieber
als ihre Augen. »MuB man denn alles mit Blut erkaufen?« sagte sie
mit italienischer Lebhaftigkeit. - »Die Reiche und Religionen
solltens nkht werden, aber doch die Gesundheit«, sagt' er eng-
lisch frei. Er foderte noch einmal ihr Blut - aber sie gab es ihm
erst, da er das Opfermesser anderte und ihr am Auge eine Ader-
laB vorschlug. Personen von Stande wissen, wie Gelehrte, oft die
gemeinsten Dinge nicht : sie dachte, der Doktor werde die Ader
offnen. Und weil sie es dachte: tat ers auch, mit seiner durchs
io Starstechen geubten Hand.
Inzwischen ist - wenn (nach dem Plinius) ein KuB aufs Auge
einer auf die Seele ist - eine Aderlafi darauf kein SpaB: sondern
man kann, indem man eine Wunde macht, selber eine holen. Der
arme Hofmedikus muB mit seinem schwimmenden freundlichen
Auge, von dem vor wenigen Tagen die Trane der Liebe abge-
trocknet wurde, ktihn in die in eine Augenhohle gesperrte Sonne
schauen und noch obendrein sanft mit dem Finger am warmen
Gesicht anliegen und aus der Quelle der Tranen helles Blut vor-
ritzen .... Schon eh' man eine solche Operation unternahme, sollte
to man eine ahnliche an sich vollziehen lassen - der Kiihlung wegen.
Im Grunde hatte auch ihm das Schicksal diese Woche nichts ge-
geben als Lanzetten-Schnitte in seine Herzschlagader. Stellet man
sich noch vor, daB ihm das ganze weibliche Geschlecht wie eine
magische, weit zuriickgewichne Gestalt vorkam, die einmal in
einem Traume nahe an ihm geschimmert, als ein erblassender
Mond am Tage, den er in einer lichten Nacht angebetet hatte : so
hat man sich sein gutes schuldloses Herz geoffnet, urn darin auBer
einem groBen fortarbeitenden Schmerzen tausend mitleidige
Wiinsche fur die bedauerte Fiirstin zu erblicken. Ungeachtet ihrer
10 sonderbaren Mischung von Stolz, Lebhaftigkeit und Feinheit
glaubte er doch in ihr eine Anderung zu entdecken, die er halb
aus seiner heutigen Beflissenheit, halb aus seinem ihr bisher so
gunstigen EinfluB auf den Fiirsten erklaren konnte, und die ihm
einen groBern Mut gegeben hatte, wenn er sich nicht von dem
Zettel uber dem Imperator der KompaB-Uhr mit besondern Aus-
legungen seines Mutes hatte drohen lassen. Bei dem vorigen
806 HESPERUS
ersten Besuche war sein Mut gelahmt, weil er sich als der Sohn
eines Vaters, der seinen EinfluB durch die Sorge urn natiirliche
Kinder zu befestigen schien, geflohen glaubte; denn ein Mensch
voll Liebe ist neben einem voll HaB stumm und dumm.
Am mutigsten machte ihn heute auBer seinen Zankereien, die
unterlagen (als iiber die Blutigel etc.), noch die Ietzte, die siegte;
man wird mutiger und gliicklicher, wenn man einer Stolzen wider-
spricht, als wenn man ihr schmeichelt. Er sah eine Maske liegen;
da er nun wuBte, daB in Italien die Damen im Bette diese, wie die.
unsrigen die Handschuhe, als Gesichtschuhe anlegen: so verbot «
er ihr die Maske geradezu als Zunder der Augenentzundung. Es
war keine Schmeichelei, da er ihr sagte, daB ihr die Maske mehr
nehmen als geben konnte. Kurz, er bestand darauf. -
Er war vielleicht zu duldend gegen den Zweifel, den nur eine
Frau ertraglich und dauerhaft machen konnte, gegen den Zweifel,
wen sie miteinander verwechsele, den Hofmedikus oder den
Giinstling; denn er sagte ihr - obwohl in der Sorge, zuviel zu
sagen, welches bei Leuten von seinem Feuer ein Zeichen ist,
daB es schon geschehen ist - am Ende das, was er am Anfange
zuruckbehalten hatte, daB ihn das Teilnehmen (empressement) *<
des Fiirsten hergeschickt; und hob diesen auf eigne Kosten em-
por, um so mehr, da er nichts AuBerordentliches weiter von ihm
anzubringen hatte als eben, daB er ihn - hergeschickt.
Dann ging er. Bei dem Fiirsten lieB er ihr so viel Selig- und so
viel Heiligsprechungen (auf dieser Erde zwei Kontrarietaten !) zu-
kommen, als der Anstand und sein Humor (zwei noch groBere
Kontrarietaten) verstatteten. Sonderbar! sie hatte trotz lhrem
Feuer keine Launen. Er wuBte, Jenner erlag nicht bloB dem Ver-
leumder, sondern auch dem Lobredner. Man legt den gekronten
Schauspieldirektoren der Erde Entschliisse ins Herz und Be- *<
schlusse in den Mund; sie wissen, was sie wollen und was sie
reden, ein paar Tage spater als ihr Throneinblaser. Ein Giinstling
ist ein Shakespeare und Dichter, der hinter den Personen, die er
handeln und reden lasset, nicht selber vorguckt und vprhustet,
sondern der ein Bauchredner ist, welcher seiner Stimme den Klang
einer Jremden gibt.
21. HUNDPOSTTAG 807
Da er den andern Tag die Patientin wieder besuchte, waren die
Augenhohlen abgekiihlt, obwohl die Augen nicht; Agnola saB
heil in einem Kabinett voll Heiligenbilder. Mit der UnpaBHchkeit
der Augen war eine Quelle des Gesprachs weggenommen* und
ihr Stolz vertrat zugleich seiner Empfindung und Laune den Zu-
gang. Ob er es wohl hundertmal zu ihr in seinem Innern sagte:
»QuaIe dich nicht, stolze Seele, ich bin kein Giinstling, ich will
dir nichts nehmen, am wenigsten deinen Stolz oder fremde Liebe
- o ich weifi, was es 1st, keine zu erlangen«: so blieb er doch (nach
10 seiner Meinung) kalt vor ihr und zog mit der argerlichen Aussicht
ab, daB ihm seine gute Kur die Wiederkehr abschneide; denn die
andern Hof besuche waren doch keine freimutige Krankenbesuche.
Vor der fatalen KompaB-Uhr erschrak er taglich weniger, auBer
wenn er eben froher war.
- Manche Leute wiirden eher ohne Hauser als ohne Bauern
leben; Viktor lieber ohne Lebens-Luft als ohne Luftschlosser; er
muBte immer das Lotterielos und die Aktie irgendeines Plans in
der Zukunft stehen haben, und eine Frau war meistens die Mas-
kopeischwester in diesem GroBavanturhandel. Diesmal war er
10 auf die Versohnung Jenners und Agnolas erpicht. Er schloB so:
sie ist auf beiden Seiten leicht - Jenner wird jetzt immer Agnolas
Gesellschaft suchen, obwohl bloB aus List, um in die kunftige
ihrer Hofdame KIo tilde mit mehr Anstand zu kommen, die er im
Stande ihrer Ehelosigkeit noch ohne Schaden nach seinem Ge-
liibde lieben kann - das wird ihn, da er weder einem langen Lobe,
noch einem langen Umgang widerstehen kann, unvermerkt an
Agnola gewohnen - diese, die jetzt verlassen auf der Seite des
Ministers Schleunes steht, wird die vereinigte Achtung Viktors
und Jenners nicht ausschlagen u. s . w Ob ihn aber nur die
jo Schonheit der Handlung, nicht auch die Schonheit der Fiirstin zu
diesem Mittleramt anmahnet, das kann das 2iste Kapitel noch
nicht wissen; meinetwegen sei es indessen: sein verblutet-kaltes
Innere, aus welchem noch das Klavier und Klotildens Name und
das Morgen-Erwachen blutlose Dolche ziehen, hat ja das Getose
der Welt so notig und jedes Ubertauben der Wunden!
Mit der Absicht solcher Friedenspralimiriarien entschuldigte er
808 HESPERUS
seinen kunftigen Ungehorsam gegen seinen Vater, der ihm das
Schleunessche Haus zu suchen abgeraten; denn da die Furstin
immer hinkam, so wars der schicklichste neutrale Ort zum Frie-
denkongresse. ! nur ein halbes —
Extrablatt iiber tochtervolle Hauserl
Das Haus von Schleunes war ein offner Buchladen, dessen Werke
(die Tochter) man da lesen , aber nicht nach Hause nehmen konnte.
Obgleich die funf andern Tochter in fiinf Privatbibliotheken als
Weiber standen, und eine in der Erde zu Maienthal die Kindereien
des Lebens verschlief: so waren doch in diesem Tochter-Handel- k
haus noch drei Freiexemplare fur gute Freunde feil. Der Minister
gab bei den Ziehungen aus der Amter-Lotterie gern seine Tochter
zu Pramien fur groBe Gewinste und Treffer her. Wem Gott ein
Amt gibt, dem gibt er, wenn nicht Verstand, doch eine Frau.
In einem tochterreichen Haus miissen, wie in der Peterskirche,
Beichtstilhle fur alle Volker, fur alle Charaktere, fur alle Fehler
stehen, damit die Tochter als Beichtmiitter darin sitzen und von
alien absolvieren, bloB die Ehelosigkeit ausgenommen. Ich habe
oft als Naturforscher die weisen Anstalten der Natur zur Ver-
breitung sowohl der Tochter als Krauter bewundert. »Ists nicht 2<
eine weise Einrichtung^ sagt' ich zum naturhistorischen Goeze,
»da fi die Natur gerade denen Madchen, die zu ihrem Leben einen
reichen mineralischen Brunnen brauchen, etwas Anhakelndes
gibt, womit sie sich an elende Ehe-Finken setzen, die sie an fette
Orter tragen? So bemerkt Linne^, wie Sie wissen, daB Samen-
arten, die nur in fetter Erde fortkommen, Hakchen anhaben, um
sich leichter ans Vieh zu hangen, das sie in den Stall und Diinger
tragt. Wunderbar streuet die Natur durch den Wind - Vater und
Mutter miissen ihn machen - Tochter und Fichtensamen in die
urbaren Forstplatze hin. Wer bemerkt nicht die Endabsicht, daB y
manche Tochter darum von der Natur ge^wisse Reize in benannten
Zahlen hat, damit irgendein Domherr, ein Deutscher Herr, ein
Kardinaldiakonus, ein apanagierter Prinz oder ein bloBer Land^
1 S. dessen amoen. acad., die Abhandlung von der bewohnten Erde.
21. HUNDPOSTTAG 809
junker herkomme und besagte Reizende nehme und als Braut-
fiihrer oder englischer Brautvater sie schon ganz fertig irgend-
einem sonstigen Tropfen ubergebe als eine auf den Kauf gemachte
Frau? Und finden wir bei den Heidelbeeren eine geringere Vor-
sorge der Natur? Merket nicht derselbe Linne in derselben Ab-
handlung an, daB sie in einen nahrenden Saft gehiillet sind, damit
sie den Fuchs anreizen, sie zu fressen, worauf der Schelm — ver-
dauen kann er die Beeren nicht — , so gut er weiB, ihr Saemann
wird?« -
10 O mein Inneres ist ernsthafter, als ihr meint; die Eltern argern
mich, die Seelenverkaufer sind; die Tochter dauern mich, die
Negersklavinnen werden - ach ists dann ein Wunder, wenn die
Tochter, die auf dem westindischen Markte tanzen, lachen, reden,
singen mufiten, um vom Herrn einer Pflanzung heimgefuhrt zu
werden, wenn diese, sag* ich, ebenso sklavisch behandelt werden,
als sie verkauft und eingekauft wurden? Ihr armen Lammer! -
Und doch, ihr seid ebenso arg wie eure Schaf-Mutter und Vater -
was soil man mit seinem Enthusiasmus fur euer Geschlecht
machen, wenn man durch deutsche Stadte reiset, wo jeder Reichste
20 oder Vornehmste, und wenn er ein weitlauf tiger Anverwandter
vom Teufel selbst ware, auf dreiBig Hauser mit dem Finger zeigen
und sagen kann: »Ich weiB nicht, soil ich mir aus dem perlfar-
benen, oder aus dem nuBfarbenen, oder etwan aus dem stahl-
grunen Hause eine holen und heiraten: offen stehen die Kauf laden
alle«? - Wie, ihr Madchen, ist denn euer Herz so wenig wert, daB
ihr dasselbe wie alte Kleider nach jeder Mode, nach jeder Brust
zuschneidet, und wird es denn wie eine sinesische Kugel bald groB,
bald winzig, um in eines mannlichen Herzens Kugelform und
Ehering-Futteral einzupassen? - »Es muB wohl, wenn man nicht
50 sitzen bleiben will, wie die heilige Jungfer da driiben«, antworten
mir die, denen ich nicht antworte,*weil ich mich mit Verachtung
wegwende von ihnen, um der sogenannten heiligen Jungfer zu
sagen: »Verlassene, aber Geduldige! Verkannte und Verbliihte!
Erinnere dich der Zeiten nicht, wo du ncch auf bessere hofftest
als die jetzigen, und bereue den edeln Stolz deines Herzens nie!
Es ist nicht allemal Pflicht, zu heiraten, aber es ist allemal Pflicht,
8lO HESPERUS
sich nichts zu vergeben, auf Kosten der Ehre nie glucklich zu
werden und Ehelosigkeit nicht durch Ehrlosigkeit zu meiden. Un-
bewunderte, einsame Heldin! in deiner letzten Stunde, wo das
ganze Leben und die vorigen Guter und Geriiste des Lebens, in
Triimmer zerschlagen, voraus hinunterfallen, in jener Stunde
wirst du iiber dein ausgeleertes Leben hinschauen, es werden zwar
keine Kinder, kein Gatte, keine nasse Augen darin stehen, aber in
der leeren Dammerung wird einsam eine groBe, holde, englisch-
Iachelnde,strahlende,gottlicheundzuden Gottlichen aufsteigende
Gestalt schweben und dir winken, mit ihr aufzusteigen - o steige k
mit ihr auf, die Gestalt ist deine Tugend.% -
Ende des Extrablattes
Einige Tage darauf gab die Fiirstin dem Fiirsten ein Auge en
medallion mit der schonen Wendung: sie gebe diese Votivtafel
dem Heiligen (das pafite um so mehr, da der Furst Januar hieB),
der ihr seinen Wundertater zugeschickt, und der das bekommt,
was er heilen lassen. Jenner sagte zu Viktor, dem er das Auge
zeigte: »Der heilige Januar wird mit Ihnen, mit der heiligen Otti-
lia, verwechselw - die bekanntlich die Patronin der Augen ist.
Viktor war froh, daB Matthieu zu ihm kam, um mit ihm nach «
St. Liine zu gehen; denn dieser bat ihn, weil dieses ohne ihn ge-
schehen, mit zu seiner Mutter zu gehen, »weil heute bei der Fiirstin
groBes Souper sei, bei seiner Mutter aber kein Mensch«, d. h. kaum
uber neun Personen. Viktor zog also - es tat heute nichts, daB die
furstliche Augendulderin fehlte - gern in die Schleunessche Ntirn-
bergische Konvertitenbibliothek von Tochtern hinein hinter dem
zartlichen Jonathan- Orest-Matz, den er iiberhaupt jetzt aus Scho-
nung fur ihren allgemeinen Freund Flamin toleranter behandelte.
Die Menschen vergesellschaften sich wie die Ideen ebensooft nach
der Gteichieitigkeit als nach der Ahnlichkeit\ und aus der Wahl der ?c
Bekannten ist ebensowenig etwas auf den Charakter des Jiinglings
zu schlieBen, als auf einer Frau ihren aus der Wahl des Gatten.
Matthieu stellte ihn seiner Mutter im Lesekabinette, da ihr gerade
2 1 . HUNDPOSTTAG 8 1 I
aus einem englischen Autor vorgelesen wurde, mit den Worten
vor: »Hier bring* ich Ihnen einen ganz lebendigen Englander.«
Joachime las in einem Verzeichnisse - es war kein Biicher-, son-
dern ein Nelkenblatterverzeichnis -, urn sich einige Nelken aus- '
zusuchen, nicht um sie zu pflanzen, sondern sie nachzumachen -
in Seide. Sie hafke Blumen, die wuchsen. Ihr Bruder sagte aus
Ironie: »sie haBte die Veranderlichkeit sogar an einer Blume.d
Denn sie liebte sie sogar an Liebhabern; und unterschied sich
ganz vom April, der wie die Weiber in unserem Klima weit be-
10 standiger ist, als man vorgibt. Im Kabinett waren noch zwei
Narren da, die mir mein Korrespondent nicht einmal nennr, weil
sie, glaubt er, hinlanglich bezeichnet und geschieden waren, wenn
ich den einen den wohlriechenden Narren nennte, und den andern
den feinen.
Beide Narren umsummten die Schone. Oberhaupt, sooft ich
Narren in groBen Partien studieren wollte, sah ich mich ordent-
licherweise nach einer groBen Schonheit um; — diese umsaBen
sie wie Wespen eine Obstfrau. Und wenn ich sonst keine Ursache
hatte - ich habe sie aber -, um die schonste Frau zu ehelichen : so
20 tat' ichs schon darum, damit ich immer die Bienenkonigin in der
hohlen Hand sitzend hielte, der der ganze narrische Immen-
schwarm nachbrauste. Ich und meine Frau wiirden dann den Ker-
len in Lissabon gleichen, die, in den Handen mit einem Stanglein
angeketteter Papageien, an den FiiBen mit einer Kuppel nach-
hiipfender Affen y durch die Gassen ziehen und ihr tolles Personale
feilbieten .
Der wohlriechende Narr, der heute in der Sonnenseite Joachi-
mens war, las der Mutter vor - der feine, der in der Wetterseite
war, stand neben Joachime und schien sich nichts um ihr Wetter-
30 kiihlen zu scheren. Viktor stand als Obergang von der heiBen
Zone in die kalte da und stellte die gemaBigte vor; Joachime
spielte drei Rollen mit einem Gesicht. Der wohlriechende Narr
schoB mit der linken Hand die Drehbasse eines silbernen Joujou:
dieses hangende Siegel eines Toren bewegte er entweder wie der
Gronlander einen Block mit seinen FiiBen, der Erwarmung
wegen - oder er tats, wie der GroBsultan aus gleichem Grund
8l2 HESPERUS
immer ein Schnitzmesser handhaben muB, um nicht immer je-
mand sterben zu lassen vor Liebe - oder um, wie der Storch immer
einen Stein in den Krallen halt, allezeit ein Ixions-Rad in den
Handen, wie ein Spornrad an den Fersen, zu haben - oder der
Gesundheit wegen, um den globulus hystericus 1 durch die Be-
wegung eines auBern zu bestreiten - oder als Paternosterkugel-
chen - oder weil er nicht wuBte, warum.
Jeder war mit sich zufrieden. Als die Mutter unsern Eng-
lander gebeten, mit seinem Akzent ihr vorzulesen, so sagte der
feine Narr: »Das Englische ist wie gewisse Gesinnungen leichter 10
zu verstehen als auszusprechen.« Dieses feine Schaf hatte namlich
iiberall die Gewohnheit, metaphorisch zu sein - wenn ihm ein
Madchen sagte : »Ich kann mich heute der Kalte nicht erwehren«,
so macht' er die des Herzens daraus - man konnte nicht sagen :
»Es ist triibe, warm, die Nadel hat mich gestochen etc.«, ohne daB
er dies fiir einen Kugelzieher nahm, der sein Herz aus dem Ge-
wehre der Brust vorzog und vorwies - es war vor seinen Ohren
unmoglich, daB man nicht fein war, und aus eurem Gutenmorgen
drehte er ein Bonmot - hatt* er das Alte Testament gelesen, er
hatte sich uber die feinen Wendungen darin nicht satt wundern 20
konnen. Dafiir schrankte der woklriechende Narr seinen ganzen
Witz auf ein lebhaftes Gesicht ein - er schlug diesen Fracht- und
Assekuranzbrief von tausend Einfallen vor euch auf und hielt ihn
vor, aber es kam nichts - ihr hattet auf den Ansagezettel von Witz
in seinem feurigen Auge geschworen, jetzo brenn' er los - aber
nicht im geringsten! Er handhabte die satirische Waffe wie die
Grenadiere die Handgranaten, die sie nicht mehr werfen, sondern
nur abgebildet auf den Mutzen fiihren.
Als der Feine sein erotisches Bonmot gesagt hatte: sah Jo-
achime unsern Helden an und sagte mit einer ironischen Miene 30
wider den Feinen: »J'aime les Sages a fofolie.<<
Der Stolz des wohlriechenden auf seinen heutigen Vorzug und
die scheinbare Gleichgultigkeit des feinen Narren gegen seine
Hintansetzung bewiesen, daB alle beide selten im heutigen Falle
1 Hysterische Kugel, d.h. die' hysterische Krankenempfindung, als rolle
sich eine Kugel die Kehle herauf.
2 1 . HUNDPOSTTAG 8 1 3
waren; - und daB Joachime auf eine eigne Weise kokettierte. Sie
lachte uns erhabne Mannspersonen allemal aus, wenn zwei auf
einmal bei ihr waren - eine allein weniger - ihre Augen iiber-
lieBen es unserer Eigenliebe, das Feuer darin der Liebe mehr als
dem Witze zuzuschreiben - sie schien alles herauszuplaudern, was
ihr einfiel, aber manches schien ihr nicht einzufallen - sie war voll
Widerspriiche und Torheiten, aber ihre Ahskhten und ihre Zu-
neigung bleiben doch jedem zweifelhaft - sie antwortete schnell,
aber sie fragte noch schneller. Heute trat sie in Beisein der drei
10 Herren - zu andern Zeiten im Beisein des ganzen bureau d'esprit
- vor den Spiegel, zog ihre Schminkdose heraus und retuschierte
das bunte Dosenstiick ihrer Wangen. Man konnte sich gar nicht
denken, wie sie aussahe, wenn sie verlegen ware oder beschamt.
Die Tugend mancher Damen ist ein Donnerhaus, das der elek-
trische Funken der Liebe zerschlagt, und das man wieder zu-
sammenstellt fiir neue Versuche; unserm an die hochste weibliche
Vollkommenheit verwohnten Helden kam es vor, als gehore
Joachime unter jene Donnerhauser. Koketterie wird immer mit
Koketterie beantwortet. Entweder letzte war es, oder zu schwache
20 Achtung fiir Joachime, daB Viktor die beiden Anbeter in den
Augen der Gottin lacherlich machte. Sein Sieg war ebenso leicht
als groB - er lagerte sich auf der Stelle des Feindes: mit andern
Worten, Joachime gewann ihn Heber. Denn die Weiber konnen
den nicht leiden, der vor ihren Augen einem andern Geschlechte
unterliegt als, dem ihrigen. Sie lieben alles, was sie bewundern; und
man wiirde von ihrer Vor liebe fiir korperliche Tapferkeit weniger
satirische Auslegungen gemacht haben, wenn man bedacht hatte,
daB sie diese Vorliebe fiir alles Ausgezeichnete, fiir ausgezeich-
nete Reiche, Beruhmte, Gelehrte, empfinden. Der diirre und runz-
30 lige Voltaire hatte so viel Ruhm und Witz, daB wenige Pariser
Herzen sein satirisches ausgeschlagen hatten. Noch dazu druckte
mein Held seine Achtung fiir das ganze Geschlecht mit einer
Warme aus, die sich das Einzelwesen zueignete; - auch brachte
seine beliebte Gesamtliebe, ferner sein in der Trauer iiber ein ver-
lornes Herz schwimmendes Auge und endlich seine warmende
Menschenfreundlichkeit ihm eine Aufmerksamkeit von Joachi-
8 14 HESPERUS
men zuwege, welche die seinige in dem Grade erregte, daB er sich
das nachstemal zu untersuchen vornahm, was dran ware. —
Das nachste Mai war bald da. Sobald ihm die Ankunft der
Fiirstin vom Apotheker geweissagt war - denn der war fiir die
kleine Zukunft des Hofs ihm seine Hexe zu Endor und Kuma und
seine Delphische Hohle — , so ging er hin; denn er fuhr nicht hin.
»Solang' es noch einen Schuhabputzer und ein Stein-Pflaster gibt,«
sagt* er, »fahr' ich nicht. Aber von vornehmern Leuten wunderts
mich, daB sie noch zu FuB reisen von einem Fliigel des Palasts in
den andern. Konnte man nicht, so wie die Pennypost fiir eine 10
Stadt, ein Fuhrwerk fiir seinen Palast einfiihren? Konnte nicht
jeder Sessel ein Tragsessel sein, wenn eine Dame die Alpenreise
von einem Zimmer ins andere weniger scheuete? Und verschie-
dene Weltumseglerinnen wiirden es wagen, eine Lustreise durch
einen groBen Garten zu machen in einer zugesperrten Sanfte.« -
Viktor reisete gerade durch einen, namlich den Schleunesschen :
es war noch zu hell und zu schon, um sich wie Nahkissen an die
Spieltische zu schrauben. Er sah darin eine kleine bunte Reihe
gehen und Joachimen darunter. Er schlug sich zu ihnen. Joachime
bezeugte eine malerische Freude iiber die Wolken-Gruppierung, 20
und es stand ihren schonen Augen gut, wenn sie sie dahin hob.
Da man nichts Gescheites zu reden hatte : suchte man etwas Ge-
scheites zu tun, sobald man ans Karussell ankam. Man setzte sich
darauf und IieB es drehen. Viele Damen hatten gar den Mut nicht,
diese Drehscheibe zu besteigen - einige wagten sich in die Sessel
- bloB Joachime, die ebenwo verwegen als furchtsam war, be-
schritt das holzerne TurnierroB und nahm die Lanze in die Hand,
um die Ringe mit einer Grazie wegzuspieBen, die schonerer
Ringe wiirdig war. Aber um sich nicht dem Abwerfen des Dreh-
Rosinante bloBzugeben, hatte Joachime meinen Helden wie ein 30
Treppengelander an sich gestellt, um sich an ihn in der Zeit der
Not anzuhalten. Die Achsebewegung wurde schneller und ihre
Furcht groBer; sie hielt sich immer fester an, und er faBte sie
fester an, um ihrer Anstrengung zuvorzukommen. Viktor, der
sich auf die Taschenspielerkiinste und den Hokuspokus der Wei-
ber recht gut verstand, fand sich leicht in Joachimens Wiegle-
21. HUNDPOSTTAG 815
bische natiirliche Magie und »Trunkus Plempsum Schallalei«;
noch dazu war das wechselseitige Andrucken so schnell hin- und
hergegangen, daB man nicht wuBte, hatt' es einen Erfinder oder
eine Erfinderin — ,
Da sie jetzt alle im Zimmer sind und ich allein im Garten stehe
neben der RoBmiihle: so will ich dariiber geschickt refiektieren
und anmerken, daB die GroBen, gleich den Weibern, den Fran-
zosen und den Griechen, grofie - Kinder sind. Alle groBe Philo-
sophen sind das namliche und leben, wenn sie sich durch Denken
10 fast umgebracht haben, durch Kindereien wieder auf, wie z.B.
Malebranche tat; ebenso holen GroBe zu ihren ernstern edeln
Lustbarkeiten durch wahre kindische aus; daher die Steckenpferd-
Ritterschaft, die Schaukel, die Kartenhauser (in Hamiltons me-
moires), das Bilderausschneiden, das Joujou. Mit dieser Sucht,
sich zu amiisieren, steckt sie zum Teil die Gewohnheit an, ihre
Obern zu amiisieren, weil diese den alten Gottern gleichen, die
man (nach Moritz) nicht durch BuBen, sondern durch frohliche
Feste besanftigte.
Da er mit der ganzen Theatergesellschaft des Ministers be-
20 kannt war, und zwekens, da er kein Liebhaber mehr war - denn
dieser hat tausend Augen fiir eine Person und tausend Augenlider
fur die andern -: so war er beim Minister nicht verlegen, sondern
gar vergniigt. Denn er hatte da doch seinen Plan durchzusetzen -
und ein Plan macht ein Leben unterhaltend, man mag es tesen
oder fiihren,
Es miBlang ihm heute nicht, ziemlich lange mit der Fiirstin zu
sprechen, und zwar nicht vom Fursten - sie mied es -, sondern
von ihrem Augeniibel. Das war alles. Er fiihlte, es sei leichter,
eine ubertriebene Achtung vorzuspiegeln, als eine wahre auszu-
30 driicken. Die Besorgnis, falsch zu scheinen, macht, daB man es
scheint. Daher sieht bei einem Argwohnischen ein Aufrichtiger
halb wie ein Falscher aus. Indessen war bei Agnola, die ihres
Temperaments ungeachtet sprode war - ein eigner zuruckge-
stimmterTon herrschte daher in ihrer Gegenwart bei Schleunes -,
jeder Schritt genug, den er nicht zuriick tat.
Aber gegen die lebhafte Joachime tat er einen halben vor-
8l6 HESPERUS
warts. Nicht sowohl sieals dasHaus schien ihmkokett zu sein;
und die Tochter darin fand er - dies macht das Haus - den alten
Litonen oder Leuten der Sachsen ahnlich, die 1 / 3 freiwaren und
*/ 3 leibeigen, und die also ein Drittel ihres Guts verschulden konn-
ten. Jede hatte noch ein Drittel, ein Neuntel, ein Kugelsegment
von ihrem Herzen iibrig zur freien Verfugung. Oberhaupt wer
noch kein Kabeljau- oder Stockfischangeln gesehen: der kann es
hier lernen aus Metaphern - die drei Tochter halten lange Angel-
ruten iibers Wasser (Vater und Mutter platschern die Stockfische
her) und haben an die Angelhaken gespieBet Staatsuniformen oder 10
ihre eigne Gesichter - Herzen - ganze Manner (als ankodernde
Nebenbuhler) - Herzen, die schon einmal aus dem Magen eines
andern gefangnen Kabeljaus herausgenommen worden -: ich
sage, daraus kann man ungefahr ersehen, womit man die andern
Kabeljaus in der See fangt, vdllig wie die Stockfische zu Lande,
namlich auch (jetzt lese man wieder zuriick) mit roten Tuch-
lappen — mit Glasperlen - mit Vogelherzen - mit eingesalzenen
Heringen und blutenden Fischen - mit kleinen Kabeljaus selber -
mit Fischen, die man halb verdauet aus gefangnen Stockfischen
gezogen. zo
Viktor dachte: »Meinetwegen sei Joachime nur Iebhaft oder
kokett, ich laufe leicht tiber Mardereisen hinuber, die ich ja mir
vor der Nase stellen sehe.« Laufe nur, Viktor! das sichtbare Eisen
soil dich eben in das bedeckte treiben. Man kann an derselben Per-
son die Koketterie gegen jeden bemerken, und doclrihre gegen
sich ubersehen, wie die Schone dem Schmeichler glaubt, den sie
fur den ausgemachten Schmeichler aller andern halt. - Er be-
rnerkte, daB Joachime das neue Deckenstiick diesen Abend ofters
angeschauet hatte; und wuBte nicht recht, warum es ihr gefalle:
endlich sah er, daB sie nur sich gefalle, und daB diese Erhebung sp
ihren Augen schoner lasse als das Niederblicken. Er wollt* es
iibermutig untersuchen und sagte zu ihr: »Es ist schade, daB es
nicht der Maler des Vatikans gemacht hat, damit Sie es ofter an-
sahen.« - »0,« sagte sie leichtsinnig, »ich wiirde niemals mit andern
hinaufsehen — ich liebe das Bewundern nicht.« Spater sagte sie:
»Die Manner ver stellen sich, wenn sie wollen, besser als wir ; aber
22. HUNDPOSTTAG 817
ich sage ihnen ebensowenig Wahrheiten, als ich von ihnen hore.«
Sie gestand geradezu, Koketterie sei das beste Mitiel gegen Liebe;
und mit der Bemerkung, »seine Freimiitigkeit gefall* ihr, aber die
ihrige muss* ihm auch gefallen«, endigte sie den Besuch und den
Posttag,
22. HUNDPOSTTAG
StiickgieBerei der Liebe, 2. B. gedruckte Handschuhe, Zank, Zwergflaschen
und Schnittwunden - ein Titel aus den Digesten der Liebe - Marie - Cour-
tag - Giulias Sterbebrief
10 Der Leser wird sich argern iiber diesen Hundposttag; ich meines
Orts habe mich schon geargert. Der Held verstrickt sich zusehends
in das Zuggarn zwei weiblicher Schleppen und sogar in die Bande
der furstlichen Freundschaft . . . . es braucht nur noch, daB gar
Klotilde zurn Wirrwarr stoBet — Und so etwas muB ein Berg-
hauptmann, ein Eilander den Leuten auf dem festen Lande hinter-
bringen!
Chronologisch soils noch dazu gemacht werden : ich will diesen
Hundposttag, der vom November bis zum Dezember Iangt, in
Wochen zerlegen. Dadurch wird die Ordnung groBer. Denn ich
20 kenne die Deutschen: sie wollen wie die Metaphysiker alles von
vorn an wissen, recht genau, in GroBoktav, ohne iibertriebene
Kiirze und mit einigen citatis. Sie versehen ein Epigramm mit
einer Vorrede und ein Liebemadrigal mit einem Sachregister -
sie bestimmen den Zephyr nach einer Windrose - und das Herz
eines Madchens nach dem Kegelschnitt - sie bezeichnen alles mit
Fraktur wie Kauf leute und beweisen alles wie Juristen — ihre Ge-
hirnhaute sind lebendige Rechenhaute, ihre Beine geheime MeB-
stangen und Schrittzahler - sie zerschneiden den Schleier der neun
Musen und setzen auf die Herzen dieser Madchen Tasterzirkel
30 und in ihre Kopfe Visierstabe - die arme Klio (die Muse der Ge-
schichte) sieht gar aus wie der Konsistorialrat Busching, der lang-
sam und krumm unter einer Landfracht von Mefiketten, von
Terzienuhren und von Harrisonschen Langenuhren und durch-
8 1 8 HESPERUS
schossenen Schreibkalendern daherwandelt - so daB ich besonders
den armen Biisching beweme, sooft ich ihn nur schreiten sehe,
da den guten topographischen Last- und Kreuztrager ganz
Deutschland (von dem ich etwas anders erwartet hatte), jeder
Amtmann, jeder dumme SchultheiB (bloB wir Scheerauer sattel-
ten ihn nicht) gleich einer Pfanderstatue von der Kniekehle bis
ans Nasenloch (der gute Mann ist kaunvzu sehen, und mich wun-
derts nur, wie er auf den FuBen verbleibt) umhangen, besteckt
und eingebauet hat mit alien verdammten Teufels-Wischen - mit
Dorfinventarien — mit Intelligenzblattern - mit Wappenwerken 10
- mit FJurbuchern und perspektivischen Aufrissen von Schwein-
stallen.
Sie haben sogar den Jean Paul - damit ich nur von mir selber
ein Beispiel des deutschen Foliierphlegma er^ahle^ wiewohl ich
eben dadurch eines gebe — angesteckt: ists nicht eine alte Sache,
daB er das BlaU der schonsten Augen, in die je ein amoroso ge-
blickt, vermittelst eines Saussureschen Cyanometers 1 genauer
nach Graden angegeben und die schonsten Tropfen, die aus ihnen
wahrend der Messung fielen, richtig genug mit einem Taumesser
ausvisiert hat? - Und hat nicht sein Versuch, die weiblichen 20
Seufzer mit dem Stegmannischen Luftreinigkeitmesser einzufan-
gen und zu priifen, unter uns mehr als zuviel Nachahmer ge-
funden?
Woche des 22. Post-Trinitatis oder vom 3. Nov. bis 11.
(exclusive)
Diese Woche versaB er fast ganz beim Minister: manche Men-
schen kommen, wenn sie nur viermal in einem Hause waren, dann
wie das tagliche Fieber taglich wieder, anfangs wie die Lenzsonne
jeden Tag fruher, dann wie die Herbstsonne jedeh Tag spater. Er
sah wohl, daB er bei dieser Hof- und Ministerialpartie nichts 30
niederlegen konne, weder ein Geheimnis, noch Vermogen, noch
ein Herz, weil sie ehrlichen Gerichtstellen gleichen wiirde, die -
so wie die Monche ihr Eigentum ein Deposkum nennen und
1 Instrument, das Blau des Himmels zu bestimmen.
22. HUNDPOSTTAG 8 1 9
sagen, nichts gehore ihnen - umgekehrt jedes Depositum zu einem
Eigentum erheben und sagen, alles gehore ihnen. Aber er machte
sich nichts daraus : »Ich komme j a nur zum SpaBe,« (dacht* er) »und
mir ist nichts anzuhaben.« — Der Minister, dem er bloB iiber der
Tafel begegnete, hatte gegen ihn alle die Hoflichkeit, die mit
einem persiflierenden Gesicht und mit einem die Welt in Spionen
und in Diebe einteilenden Stande zu verbinden ist; aber Sebastian
merkte doch, daB er ihn fur einen Halbkenner in der Medizin und
in den ernsthaften Wissenschaften - als waren nicht alle ernsthaft
*° - ansehe und fur einen Eingeweihten bloB im Witz und schonen
Wissen. Jedoch war er zu stolz, ihm eine andere als die leere Neu-
mondseite zuzukehren, und verbarg alles, was ihn bekehren
konnte. Daher muBte sich Viktor bei dem diimmsten Kanzleiver-
wandten, ders gesehen hatte, dadurch urn alle Achtung bringen,
daB er, wenn der Minister mit seinem Bruder, dem Regier-
prasidenten, ein interessantes Gesprach iiber Auflagen, Biind-
nisse, iiber die Kammer anspann, entweder nicht aufmerkte, oder
fortlief, oder die Weiber aufsuchte. - Auch liebte er am Fiirsten
nur den Menschen; der Minister nur den Fiirsten. Viktor konnte
20 bei Jenner selber iiber die Vorziige der Republiken Reden halten,
und dieser hatte oft im Enthusiasmus (wenn die Reichgerichte
und sein Magen es verstattet hatten) gern Flachsenfingen zum
Freistaat erhoben und sich zum Prasidenten des Kongresses darin.
Aber der Minister haBte dies todlich und klebte alien politischen
Freidenkern - einem Rousseau - alien Girondisten - alien Feuil-
ants - alien Republikanern - und alien Philosophen den Namen
Jakobiner auf, wie die Tiirken alle Fremde, Briten, Deutsche,
Franzosen etc., Franken nennen. Indes war dieses eine Ursache,
warum Viktor Matzen, der besser hieriiber dachte, jetzo lieber ge-
3 o wann; und warum er von dem Vater zu der Tochter floh.
Bei Joachimen gelangen in dieser Woche seine Gnadenmittel :
sie gab dem feinen und wohlriechenden Narren-Dualis, wie wir
der Tugend y nur das Akzessit, und meinem Helden, wie wir der
Neigung, die Preismedaille. Da er aber bloB eine gewisse Emp-
findsamkeit am meisten in der Freundschaft und Liebe achtete :
so hatt* er, dacht' er, mit dieser Schakerin durch den Mond reisen
820 HESPERUS
konnen, ohne/tfr sie (aber wohl uber sie) zu seufzen - aber diese
Lustigen, mein Bastian, haben den Henker gesehen; denn wenn
sie etwas anders werden, dann wird mans auch mit. Sie sagte ihm,
sie wolle gefallen wie ein lutherisches Heiligengemalde, aber sie
wolle nicht angebetet sein wie ein katholisches. Sie nahm ihn am
meisten durch die ihrem Geschlecht eigne Gabe ein, zarte Wen-
dungen zu verstehen - die Weiber erraten so leicht, weil sie sich
immer nur erraten Iassen, und erganien und verbergen jede Halfte
mit gleichem Gliick -; aber zu ihren Reizen rechn' ich auch den
Zwang vor der Fiirstin und den vor den Zuhorern mit den - i
Augen. Obrigens war jetzo sein von Klotilden weggeworfenes
Herz in der Lage der Kinder, die gewettet haben, Schlage in ihre
Hand ohne Tranen aufzunehmen, und welche noch fortlacheln,
wenn diese schon flieBen.
Woche des 23. Post-Tnnitatis oder 46ste des Jahrs 179*.
Jetzt ist er auch vormittags dort. Es ist bemerkenswert, daB er ihr
am Martinitag die gepuderte Stirn mit dem Pudermesser rasierte,
und da(3 er um einige Toiletten-Hofamter bei ihr anhielt: »Ich
kann Ihr Schminkdosentrager werden, wie der groBe Mogul
Tabakpfeifen- und Beteltrager hat - oder auch Ihr Cravatier ordi- 2c
naire - oder Ihr Sommier (d . h. Gebetpolstertrager) - ich wiirde,
wenn Sie nicht auf den Polster knieten, es selber tun vor Ihnen.
— Ich kannte in Hannover einen schonen Englander, der sich das
linke Knie futtern und polstern HeB, weil er nicht wuBte, wen er
heute anzubeten bekomme und wie lange.«
Es ist ebenso wichtig, daB er sie am Jonastag ein Paar feine
Handschuhe, worauf ein sehr einfaltiges Gesicht getuschet war,
anzunehmen zwang - »es ware sein eignes,« (sagt' er) »sie sollte
das Gesicht nur nachts im Bette auf oder an der Hand haben, da-
mit es aussahe, als kuBt' ,er ihr durch die ganze Novembernacht 3°
die Hand.« -
Ich fahre in meinem pragmatischen Auszuge aus diesem Be-
lagertagebuch fort und finde am Leopoldstag aufgezeichnet, daB
Joachime schon vormittags sagte, sie wiirde ihrem Papagei, wenn
22. HUNDPOSTTAC 821
sie ihm einen Sprachmeister hielte, nichts aus dem ganzen Diktio-
nar beibringen lassen als das Wort: perfide! »Jeder Liebhaber«,
sagte sie, »sollte sich ein Papchen halten, das ihm unauf horlich zu-
riefe: perfide !« - »Die Damen«, sagte mein Held, »sind allein
schuld : sie wollen zu lange, oft ganze Wochen, ganze Monden
geliebt werden. Dergleichen ist iiber unsre Krafte. Haben nicht
die Jesuiten sogar die Liebe zu Gott periodisch gemacht 1 ? Skotus
schrankt sie auf den Sonntag ein - andre auf die Festtage - Co-
ninchsagt: es ist genug, wenn man ihn alle vier Jahre einmal liebt-
[o Henriquez setzt noch ein Jahr dazu - Suarez sagt gar : wenns nur
vor dem Tode ist — Manchen Damen fielen bisher die Zwischen-
zeiten anheim; aber die Tag-, die Jahr-, die Festzeiten, die Ver-
lobung-, die Begrabnistage bilden ebensoviel verschiedene Sekten
unter den Jesuiten der Liebe.« - Joachime machte den Anfang zu
einer ziirnenden Miene. Der Hofmedikus hatte nichts lieber mit
Schonen als Zank und setzte dazu: »C'est a force de se faire hair
qu'elles se font aimer - c'est aimer que de bouder - ah que je Vous
prie de Vous facher! a « - Seine Laune hatte ihn iiber das Ziel ge-
trieben - Joachime hatte recht genug, seine Bitte um ihren Zorn
10 zu erfullen - er wollte den Zank fortsetzen, um ihn beizulegen -
da es aber doch Falle gibt, wo die Vergrofierung einer Beleidigung
ebensowenig Vergebung verschafTt als die stufenweise Zurikk-
nahme derselben: so tat er klug, dafi er ging.
Er wunderte sich, daB er den ganzen Tag an sie dachte: das
Gefuhl, ihr unrecht getan zu haben, stellte ihr Gesicht in einer
leidenden Miene vor seine erweichte Seele, und alle ihre Ziige
waren auf einmal veredelt. Tacitus sagt: man hasset den andern,
wenn man ihn beleidigt hat; aber gute Menschen Heben den andern
oft bio 6 deswegen.
jo Am Tage darauf, am Ottomars-Tage - Ottomar ! groBer Name,
der auf einmal den langen Leichenzug einer groBen Vergangen-
heit im Finstern vor mir voriiberfahrt - sah er sie ernsthaft, ihn
weder suchend noch fliehend. Die zwei Narren blieben in ihren
1 Dieser freche Unsinn steht wirklich in Pascals Briefen. S. den ioten.
* d.h. Dadurch, daB sie einen argern, machen sie nur, daB man sie mehr
liebt - Schmollen ist Lieben - O ich bitte Sie instandig, bose zu werden.
822 HESPERUS
Augen die zwei Narren und gewannen durch nichts etwas. Da er
also gewiB bemerkte, da 6 aus einem fliichtigen Grollen wahre
Reue iiber ihre bisherige Offenheit geworden war, von der er einen
zu freimiitigen Gebrauch und eine zu eigenniitzige Auslegung
gemacht zu haben schien : so war es jetzo seine Pfiicht, das, was er
bisher aus Scherz getan hatte, im Ernste zu tun, namlich sie auf-
zusuchen und auszusohnen.
Aber sie stand immer an der Furstin, und es war nichts.
Ich hab' es nicht selber gesagt, weil ich wuBte, der Leser sen*
es ohne mich, daB der Held glaubt, Joachime hake ihn fur den *<
Bilderdiener ihrer Reize und fiir den von ihr angezognen Mond-
mann : der Held nahm sich daher langst vor, ihr diesen Irrtum -
zu lassen. Einen solchen Irrtum zu benehmen, dazu hat selten ein
Mann oder ein Weib Starke genug - Viktor hatt' aber noch mehr
Griinde, ihr den Glauben an seine Liebe (d. h. auch sich den sei-
nigen an ihre) zu gonnen: erstlich, er wollte verstecken, warum
er komme - zweitens, er wuBte, in der groBen Welt und unter
den Joachimen wird ein Liebhaber nur wie der dritte Mann zum
Spiel gesucht, man stirbt da nicht von der Liebe, man lebt da
nicht einmal davon - drittens, er hob sich immer den Notanker «
auf, aus SpaB Ernst zu machen: »Wenn mir das Messer an der
Kehle sitzt,« dacht* er, »so setz' ich mich hin und gewinne sie von
Herzen lieb, und damit gut« - viertens, eine Kokette macht einen
Koketten . . . Hier fing ich bekanntlich schon an, mich iiber den
22sten Posttag zu argern, wiewohl ich so gut wie einer weiB, war-
um alle Menschen, sogar die aufrichtigsten, sogar die Manner,
sich zu kleinen Intrigen gegen Geliebte neigen; nicht bloB nam-
lich, weils kleine und erwiderte sind, sondern weil man mit seinen
Intrigen mehr zu schenken, als zu stehlen meint. BloB die edelste
hochste Liebe ist ohne wahre SpitzbiibereL 3°
Wochen des 24. und 25. Post-Trinitatis
Am Sonntage war Ball: »Ganz natiirlich« (sagte er) »sieht sie mich
nicht an ; im Ballkleide sind die Schonen unversohnlicher als in der
Morgenkleidung.« - Sie sah ihn kaum, so kam sie ihm wie ein be-
22. HUNDPOSTTAG 823
wegter Himmel mit ihren Brillanten-Fixsternen und ihren Perlen-
Planeten entgegen und bat ihn in diesem Glanze um Vergebung
ihrer Laune;anfangs habe sie sich zornig gestellt, sagte sie, dann
sei sie es geworden, und am andern Tage habe sie erst gesehen,
dafi sie unrecht gehabt, es zu scheinen, und recht, es zu sein. Diese
Bitte um Vergebung machte unsern Medikus demiitiger, als es
notig war. Sie bat ihn scherzhaft, sie um Vergebung zu bitten,
und machte ihn mit ihrem Platzgolde von Jahzorn bekannt.
Zwei Tage lang wurde der Westfalische Friede gehalten.
10 Aber eine Zankerei mit einem Madchen macht, wie ein Narr,
zehen; und zum Ungluck hat man die Zornige nur lieber (wenig-
stens mehr als die Gleichgiiltige), so wie das Volk den methodisti-
schen Predigern am meisten zulauft, die es am starksten verdam-
men. Joachime wurde taglich zornfahiger - welches er groBerer
Liebe zuschrieb — , aber er auch. Sie konnten den ganzen Besuch
im schonsten Reichs- und Hausfrieden verbracht haben: beim
Abschiede wurde alles auf den Kriegsetat gesetzt, die Gesandten
zuriickberufen und die Beurlaubten, wenn mir diese poetischen
Ausdrucke erlaubt sind. Mit dem zornigen Bodensatz im Herzen
io zog er dann ab und konnte kaum den Augenblick des Wieder-
sehens - d.h. seiner oder ihrer Rechtfertigung - erwarten. So
brachten sie ihre Stunden mit dem Schreiben der Friedeinstru-
mente und der Manifeste zu. Die streitige Sache war so sonderbar
wie der Streit: es betraf ihre Foderungen der Freundschaft; jedes
bewies, das andre ware der Schuldner und fodere zu viel. Was
unsern Medikus am meisten erboste, war, daB sie dem feinen und
dem wohlriechenden Narren, ihr die Hand zu kiissen, erlaubte,
ihm aber verbot, und zwar ohne alle Entscheidgriinde. »Wenn sie
nur loge und mir sagte: darum, oder darum! so war's doch was«,
30 sagt* er; aber sie tat ihm den Gefallen nicht. Fur mein Geschlecht
ist Abschlagen ohne Griinde, sogar ohne erratene, ein Schwefel-
pfuhl, ein dreifacher Tod; auf Joachime wirkten Griinde und
Kabinettpredigten gleichviel.
824 HESPERUS
Extrablatt dariiber
Ich habe hundertmal, mit meinem juristischen onus probandi
(Last zu beweisen) auf dem Buckel, an die Weiber gedacht, die im-
stande sind, durch einige Anstrengung sowohl ohne alle Griinde
zu handeln als zu glauben. Denn am Ende muB doch jeder (nach
alien Philosophen) sich zu Handlungen und Meinungen beque-
men, denen Griinde fehlen; denn da jeder Grund sich auf einen
neuen beruft, und dieser sich wieder auf einen stiitzt, der uns zu
einem schickt, welcher wieder seinen haben muB: so mussen wir
(wenn wir nicht ewig gehen und suchen wollen) endlich zu einem i
gelangen, den wir ohne alien Grund annehmen. Nur fehlet der
Gelehrte darin, daB er gerade die wichtigsten Wahrheiten - die
obersten Prinzipien der Moral, der Metaphysik etc. - ohne Griinde
glaubt und sie in der Angst - er will sich dadurch helfen - not-
wendige Wahrheiten benennt. Die Frau hingegen macht kleinere
Wahrheiten - z.B. es muB morgen weggefahren, eingeladen, ge-
waschen werden etc. - zu notwendigen Wahrheiten, die ohne die
Assekuranz und Reassekuranz der Griinde angenommen werden
miissen - und dies ists eben, was ihr einen solchen Schein von
Griindlichkeit anstreicht. Ihnen wird es leicht, sich vom Phi- a .
losophen zu unterscheiden, der denkt, und dem die Wahrheit-
sonne so waagrecht in die Augen flammt, daB er dariiber weder
Weg noch Gegend sieht. Der Philosoph muB in den wichtigsten
Handlungen, in den moralischen, sein eigner Gesetzgeber und
Gesetzhalter sein, ohne daB ihm sein Gewissen die Griinde dazu
sagt. Bei einer Frau ist jede Neigung ein kleines Gewissen und
hasset Heteronomien und sagt weiter keine Griinde, so gut wie das
groBe Gewissen. Und durch diese Gabe, mehr aus eigner Macht-
vollkommenheit als aus Griinden zu handeln, passen eben die
Weiber recht fur die Manner, weil diese lieber ihnen zehn Befehle 3C
als drei Griinde geben.
Ende des Extrablattes dariiber
Was ebenso schlimm war, ist, daB Joachime ihm endlich, um nur
sei'ne AktenstoBe von Beschwerden und Reichs-gravaminibus
22. HUNDPOSTTAG 825
wegzubringen, die Finger lieB, ohne nur den geringsten Grund
dazu zu sagen. Er konnte also keinen Titel seines Besitzstandes
aufweisen und hatte im Notfall niemand gehabt, der ihn darin
schiitzen konnen.
Es ist aber eine gegriindete Rechtsregel oder ein mannliches
Brokardikon : daB alles bei den Weibern fester werde, wenn man
darauf bauet, und daB uns eine kleine gestohlne Gunst rechtmaBig
gehore, sobald wir urn eine groBere anhalten. Die Rechtsregel
griindet sich darauf, daB die Madchen uns, wie den Juden im Han-
[o del, allemal die Halfte abbrechen und nur ein paar Finger geben,
wenn wir die Hand haben wollen. Hat man aber die Finger: so
tritt ein neuer Titel aus den Institutionen ein, der uns die Hand
zuerkennt; die Hand gibt ein Recht auf den Arm, und der Arm
auf alles, was daran hangt, als accessorium. So mussen diese Dinge
betrieben werden, wenn Recht Recht bleiben soil. Es mufi iiber-
haupt von mir oder von einem andern ehrlichen Mann ein kleines
Lesebuch geschrieben werden, worin man dem weiblichen Ge-
schlecht die Modos (Arten), solches zu akquirieren (zu erwerben),
mit der junstischen Fackel vortragt und aufhellt.Viele Modi kom-
20 men sonst ab. So bin ich z. B. nach dem burgerlichen Rechte recht-
maBiger Besitzer einer beweglichen Sache, wenn sie vor dreiBig
Jahren gestohlen worden (im Grunde sollt* es eher sein, und es
sollte mir nichts schaden, daB man spater zu stehlen angefangen)
- ebenso fallt mir durch eine Verjahrung von dreiBig Minuten
(die Zeit ist relativ) alles von einer Schonen rechtmaBig anheim,
was ich ihr Bewegliches (und an ihr ist alles beweglich) entwendet,
und man kann daher nicht fruh genug zu stehlen anfangen, weil
sonst vor dem Diebstahl die Verjahrung nicht anheben kann.
Speziflkation ist ein guter Modus. Nur muB man wie ich ein
30 Prokulejaner sein und glauben, daB eine fremde Sache dem, der
ihr eine andre Form erteilt, zugehore, z . B. mir die Hand, die ich
durch den Druck in eine andre Form gebracht.
Der sel. Siegwart sagte : confusio (Vermischung der Tranen) ist
mein Modus. Aber commixtio (Vermischung trocknerSachen,z. B.
der Finger, der Haare) ist jetzt fast unser aller modus acquirendi.
Ich wollt' einmal die ganze Sache nach der Lehre von den Ser-
826 HESPERUS
vituten, wo eine Frau tausend Dinge zu leiden hat, behandeln
(wiewohl alle diese Servituten durch die Konsolidation der Ehe
ganzlich erloschen); aber ich weiB die Lehre von den Servituten
selber nicht mehr recht und wollte lieber darin examinieren als
examiniert werden.
Ich kehre zum Medikus zuruck. Da er also wuBte, daB eine ge-
kiiBte Hand ein Schenkbrief der Wangen ist - die Wangen aber
die Opfertafeln der Lippen sind - diese der Augen - die Augen
desHalses— :sowollt' er genaunach seinem Lehrbuch verfahren.
Aber bei Joachimen, wie bei alien GegenfuBlerinnen der Ko- i
ketten, bahnte keine Gunsthe^eugung der andern den Weg y nicht ein-
mal die grofie der kleinen — aus einem Vorzimmer kam man ins
andre -und was sagte mein Held dazu? Nichts als: »Gottlob! daB
eihe besser ist, als sie schien, daB sie unter dem Schein, unser
Spielzeug zu sein, unsere Spielerin ist, und daB sie die Koketterie
zum Schleler der Tugend macht.«
Er fuhlte jetzt, sooft ihr Name erwahnt wurde, eine sanfte
Warme durch seinen Busen wehen.
Vom Ende des Kirchenjahrs (iten Dezember) bis zum
Ende des burgerlichen listen Dezember) u
Flamin, dessen patriotische Flammen in der Sessionstube keine
Luft antrafen und ihn selber zuerst erstickten, wurde taglich
scheuer und wilder. Es war ihm etwas Neues, daB ganze Kolle-
gien und Kommissionen das tun muBten, was einer hatte machen
konnen - daB die Glieder des Staats (wie es doch die Glieder des
Korpers auch sind) am kitten Arme des Hebels bewegt werden,
um mit groBerer Kraft weniger zu tun, und daB besonders ein
Kollegium dem Leibe gleiche, der nach Borellus 2900 mal mehr
Kraft bei einem Sprunge anwendet, als die Last erfodert, die er zu
heben hat. Er haBte alle GroBe und kam zu keinem; der Hof junker 3 <
Matz nicht einmal bekam seine Visiten. Mein Sebastian machte
seine bei ihm seltener, weil seine MuBe und seine Lustbarkeiten-
Windstille gerade in Flamins Arbeitstunden fielen. Diese Ent-
fernung und das ewige Sitzen bei Schleunes - welches Flamin
22. HUNDPOSTTAG 827
aus Unbekanntschaft mit Joachimens EinfluB, auf alle Falle Klo-
tildens ihrem zurechnen muBte, zu deren kiinftigen Besuchen sich
Viktor durch seine jetzigen den Vorwand verschafFe - und selber
die furstliche Gunst gegen diesen, die in Flamins Augen keine
Folge seines Freiheitgeistes und seiner Aufrichtigkeit sein konnte
- alles dieses zqg die verschlungenen Freundschafthande beider,
deren Leben sonst ein vierhandiges Tonstuck gewesen, immer
weiter auseinander; die Fehler und den moral ischen Staub, den
sonst Viktor von seinem Liebling wegwischen konnte, durfte er
to kaum wegzublasen wagen; sie betrugen sich zarter und aufmerk-
samer gegeneinander. Aber mein Viktor^ an dessen Herz das
Schicksal so viele saugende Vampyre legte, und der in eine Brust
den Schmerz der entbehrten Liebe und den Kummer der fallenden
Freundschaft einzuschlieBen hatte, wurde durch alles - recht
lusdg. O es gibt eine gewisse Lustigkek der Verstockung und des
Grams, die die erschopfte Seele bezeichnet, ein Lacheln, wie das
an Menschen, die an Wunden des Zwerchfells sterben, oder das
an eingedorrten zuriickgespannten Mumien-Lippen! Viktor warf
sich in den Strom der Lustbarkeiten, um unter demselben seine
ao eigne Seufzer nicht zu horen. Aber freilich oft, wenn er den gan-
zen Tag uber niedergerissene Narrheiten komisches Salz ausgesaet
hatte, das ebensooft die Hand des Saemanns wund beiBet, und er
den ganzen Tag sich an keinem Auge erquicken konnen, dem er
in seinem eine Trane hatte zeigen diirfen - wenn er so miide der
Gegenwart, so gleichgiiltig gegen die Zukunft, so wund von der
Vergangenheit neben dem letzten Narren, neben dem Apotheker,
vorbei war, und wenn er in seinem Erker in die voll Welten han-
gende Nacht und in den stillenden Mond und an die Morgenwol-
ken uber St. Liine blickte : dann ging allezeit das geschwollne
30 Herz und der geschwollne Augapfel entzwei, und die von der
Nacht verdeckten Tranen stromten von seinem Erker auf die har-
ten Steine hernieder: »0 nur eine Seele,« rief sein Innerstes mit
alien Tonen der Wehmut, »nur eine gib, du ewige liebende schaf-
fende Natur, diesem armen verschmachtenden Herzen, das so
hart scheint und so weich ist, so frohlich scheint und so trube ist,
so kalt scheint und so warm ist.«
828 HESPERUS
Dann war es gut, daB an einem ahnlichen solchen Abend kein
Kammerherr, kein Weltmensch im Erker stand, wenn gerade die
arme Marie — auf welche das vorige Leben wie eine erdruckende
Lawine heriibergesturzt ist - seine Fruhstuck-Befehle begehrte;
denn er stand, ohne einen Tropfen abzuwischen, freundlich auf
und ging ihr entgegen und faBte ihre weiche, aber rotgearbeitete
Hand, die sie aus Furcht nicht wegzog - wiewohl sie aus Furcht
ihr gegen die HofTnung versteinertes Gesicht abdrehte -, und
sagte dann, indem er sanft ihre Augenbraunen waagrecht strich,
mit seiner aus dem geruhrtesten Herzen steigenden Stimme: »Du i<
arme Marie, sag mir was - du hast wohl wenig Freude - in deine
guten Augen kommt wohl wenig mehr, was sie gerne sehen,
wenns nicht deine Tranen sind - du Liebe, warum hast du keinen
Mut zu mir, warum sagst du deinen Gram nicht mir? Du gutes
gemartertes Herz — ich will fur dich sprechen, fur dich handeln -
sag mir, was dich driickt, und wenn es dir einmal an einem Abend
zu schwer wird und du drunten nicht weinen darfst, so komm
herauf zu mir.. schau mich jetzo frei an . . wahrlich ich vergieBe
Tranen mit dir, und ich will mich den Henker um alles scheren.«
- Ob sie es gleich fur unhof lich hielt, vor einem so vornehmen 2c
Herrn zu weinen : so war ihrs doch unmoglich, durch die gewalt-
same Abbeugung des Gesichts alle Tranen, die seine Zunge
voll Liebe in Bachen aus ihr preBte, zu entfernen .... Vertibelt es
seiner iiberwallenden Seele nicht, daB er dann seinen heiBen Mund
an ihre kalten verachteten und ohne Widerstand bebenden Lippen
driickte und zu ihr sagte : »0 ! warum sind wir Menschen so un-
gliicklich, wenn wir zu weich sind?« - In seinem Zimmer schien
sie alles fur Spott zu nehmen - aber die ganze Nacht hindurch
horte sie das Echo des menschenfreundlichen Menschen - sogar
als Spott hatt' ihr so viel Liebe wohlgetan - dann kristallisierten $c
sich ihre vergangnen Blumen noch einmal im Fenster-Eis ihres
jetzigen Winters -dann war ihr, als wiirde sie heute erst ungliick-
lich. - Am Morgen schwieg sie gegen alle und war bloB dienst-
eifriger gegen Sebastian, aber nicht mutiger; nur zuweilen Mel sie
drunten dem Provisor, wenn er ihn lobte, mit den Worten, aber
ohne weitere Erklarung, bei : »Man sollte sein eignes Herz in kleine
22. HUNDPOSTTAG 829
Stiickchen zerschneiden und hingeben fur den englandischen
Herrn.«
Arme Marie, sagt mein eignes Inneres dem Doktor nach; und
setzet noch dazu: vielleicht liest mich jetzt gerade eine ebenso
Ungluckliche, ein ebenso Unghicklicher. Und mir ist, als miiBt'
ich ihnen, da ich die Trauerglocken ihrer vergangnen truben
Stunden angezogen, auch ein Wort des Trostes schreiben. Ich
weiB aber fur den, der immer iiber neue gaffende Eisspalten des
Lebens schreiten muB, kein Mittel als meines: wirf sogleich,
to wenns arg wird, alle mogliche Hojfnungen zum Henker und ziehe
dich verzichtend in dein Ich zuriick und frage: wie nun, wenns
Schlimmste auch gar kame, was war's denn? Sonne deine Phan-
tasie nie mit dem ndchsten Ungliick aus, sondern mit dem grofiten*
Nichts loset mehr den Mut auf als die warmen, mit kalter Angst
abwechselnden Hoffnungen. Ist dieses Mittel dir zu heroisch: so
suche fiir deine Tranen ein Auge, das sie nachahmt, und eine
Stimme, die dich fraget, warum du so bist. Und denke nach: der
Widerhall des zweiten Lebens, die Stimme unserer bescheidnen,
schonern, frommern Seele wird nur in einem vom Kummer ver-
10 dunkelten Busen laut, wie die Nachtigallen schlagen, wenn man
ihren Kafig uberhullt.
Oft betriibte sich Sebastian dariiber, daB er hier so wenig seine
edlern Krafte fiir die Menschheit anspannen konnen, daB seine
Traume, durch den Fursten Obel zu verhutert, Gutes auszurich-
ten, Fiebertraume blieben, weilz.B. sogar die besten Manner am
Ruder des Staats Amter durchaus nur nach Verhaltnissen und
Empfehlungen besetzten und fremde und eigne Amter nie fiir
Pflichten, sondern fiir Bergwerkkuxen hielten. Er betriibte sich
iiber seine Unniitzlichkeit; aber er trostete sich mit ihrer Not-
jo wendigkeit: »In einem Jahr, wenn mein Vater kommt, sag' ich
mich los und richte mich zu etwas Besserem auf«, und sein Ge-
wissen setzte dazu, daB seine personliche Unniitzlichkeit der Tu-
gend seines Vaters diene, und daB es besser sei, in einem Rade,
bei der Tiichtigkeit zu einem Perpendikel, ein Zahn zu sein, ohne
welchen das Gehwerk stocken wiirde, als der Perpendikel eines
ungezahnten Rades zu werden.
830 HESPERUS
In solchen Lagen fragte er sich immer von neuem : »Ist viel-
leicht Joachime, wie du, besser, weicher, weniger kokett, als 'sie
scheint? und warum willst du sie nach einem auBern Schein ver-
dammen, der ja auch der deinige ist?« Ihr Betragen bestatigte sel-
ten diese guten Vermutungen, ja es widerlegte sie oft gar; gleich-
wohl fuhr er fort, sich neuen Widerlegungen auszusetzen und
Bestatigungen zu begehren. Das Bediirfnis zu lieben zwingt zu
groBern Torheiten als die Liebe selber; Viktor IieB sich jede
Woche eine Vollkommenheit mehr vom weiblichen Ideal ab-
dingen, fur das er wie fiir den unbekannten Gott schon seit Jahren 1C
die Altare in seinem Kopfe fertig hatte. Unter diesem Abdingen
ware der ganze Dezember verflossen, ware nicht der erste Weih-
nachttag gewesen.
An diesem, wo er hinter jedem Fenster lachende Gesichter und
Hesperiden-Garten sah, wollt* er auch frohlich sein und flog unter
den Kirchenmusiken in Joachimens Toilettenzimmer, um da sich
selber eine.Weihnachtfreude zu machen. Er beschere ihr, sagte er,
einen Flaschenkeller aus Likoren, ein ganzes Lager von Rataffia,
weil er wisse, wie Damen tranken. Als er endlich seinen Lager-
baum voll Flaschen aus der - Tasche zog: wars eine elende kleine «
Schachtel voll Baumwolle, in der nette Flaschchen wohlriechen-
der Wasser, fast von der Lange der Zaunkonig-Eier, eingebettet
standen. Das Niedliche freuet, wie das Prachtige, Madchen alle-
zeit. Joachimen hielt er eine lange Rede uber die MaBigkeit ihres
Geschlechts, das so wenig esse wie Kolibri, und so wenig trinke
wie Adler - mit einigen Schaugerichten und mit einem Flakon
woir er 5000 Mann weiblichen Geschlechts speisen, und es sollte
noch iibrig bleiben - die Arzte bemerkten, daB die, die den Hun-
ger am langsten ertragen hatten, Weiber gewesen waren - sogar
in mittlern Standen bestande die ganze Bienenflora, wovon diese 3°
Holden lebten, in einem Farbenbande, das sie als Scharpe oder
Schleife umlegten, statt eines nahrenden Umschlags und Suppen-
tafelchens, und woran sie noch hochstens einen Liebhaber an-
machten. Joachime zog unter der Lobrede eine Flasche heraus,
weil sie sie fur wachsern hielt. Viktor, um sie zu widerlegen - oder
auch sonst weswegen -, driickte ihr sie stark in die Hand und zer-
22. HUNDPOSTTAG 83 1
druckte sie gliicklich. Ein Berghauptmann von meiner Denkart
nahme das Zerbrechen einer Flasche, die man auf keine Eymann-
schen Gurken decken kann, schwerlich in seine Hundposttage auf
- weil er gern Dinge von Gewicht auftragt -, wenn nicht die
Flasche selber dadurch eines bekame, da 8 sie die weichste Hand,
auf der noch der harteste Juwel Schimmer auswarf, blutig schnitt.
Der Doktor erschrak - dieBIutende lachelte -er kiifite dieWunde,
und diese drei Tropfen fielen, gleich Jasons Blut, oder gleich
einem von einem Alchimisten rektifizierten Blute, als drei Funken
to in sein entziindbares, und die Blutkohle der Liebe bekam drei an-
glimmende Punkte - ja es hatte wenig gefehlt, so hatt* er ihr ge-
horcht, da sie ihm scherzend befahl (urn ihm eine groBere Ver-
legenheit zu ersparen, als er hatte), die Pariser veraltete Mode, an
Damen mit rosenfarbner Dinte zu schreiben, wieder aufzuwecken
und hier auf der Stelle drei Zeilen mit ihrem Blut an sie abzufer-
tigen. Soviel ist wenigstens gewiB, daB er zu ihr sagte: er wollte,
er ware der Teufel. Bekanntlich wird dem letzten das guarentigia-
tische Instrument oder vielmehr der Partagetraktat iiber die Seele
mit dem Blute des Eigners als Faust- und Fraispfand zugefertigt.
20 - Blut ist der Same der Kirche, sagt die katholische; und hier ist
gar vom Tempel fiir eine Schone die Rede.
Dabei wars - und bliebs -, als Cour bei der Fiirstin auf heute
angesagt wurde. Das war ihm erstlich fatal, weil der heutige Abend
versalzen war - und zweitens Heb, weil Joachime heute den Hut
wegtun muBte, den er und sie so Iiebten. Da, wie gewohnlich,
den Damen von der Fiirstin die Roben und Frisuren vorgeschrie-
ben wurden, worin sie den Courtag, d. h. den Brandsonntag ihrer
Freiheit, bei ihr begehen muBten : so konnte sie heute ihren Flor-
hut nicht aufbehalten, den sie so liebte und Viktor auch, aber an
30 ihr nicht; denn es war gerade der, welchen Klotilde getragen, als
sie unter dem Konzerte ihre nasse Augen mit dem schwarzen
Spitzenflor verhullte, der nachher immer iiber seine beraubte
Augen heriiberhing.
Ich will den Courtag beschreiben.
Die hauptsachliche Absicht, warum der Hof um sechs Uhr
abends vorgefahren kam, war die, um zehn Uhr recht argerlich
832 HESPERUS
wieder heimzufahren. Ich kanns aber zehnmal weitlauftiger vor-
tragen :
Um sechs Uhr fuhr Viktor mit der ubrigen befehligten Briider-
und Schwestergemeine ins Paulinum. Er beneidete oder segnete
vielmehr den Zeugmacher, den Stiefelwichser, den Holzhacker,
der abends seinen Krug Bier, seine Andacht, seine Stollen und
seine trompetenden Kinder hatte; desgleichen ihre Weiber, die
heute schon den Morgen anbissen, namlich die marmorierte ge-
sprenkelte Kleiderrinde fur den zweiten Feiertag. Im bunten
Dunst- und Tierkreis stand die Furstin als Sonne, ebenso un- i<
gliicklich wie ihre Ungliicklichen; riur der Traum (dacht' er) kann
einen Konig gliicklich macfien, oder einen Armen ungliicklich* Als er
sah, wie sie alle nach einem sparsamen Froschregen von Worten
und nach Erfrischungen, d.h. Erhitzungen und Ermattungen, ein
Postzug um den andern nach dem Hof- und AdreBkalender an
die Spieltische eingeschirret wurden - an jedes Brett kam das nam-
liche Bunterie-Gespann alter Gesichter -, so wunderte er sich zu
allererst iiber die allgemeine Geduld; an einem Schwarzen der
//o/^-Goldkiiste sind sicher, schwur er, wenn man nur bedenkt,
was er an^ukoren und ausiustehen hat, die Ohren und die Haut, wie 2c
an gebratnen Milchferkeln, die besten Stiicke. Hier mufi der Lowe
dem Tiere die Haut zum Domino abbetteln, das ihm sonst seine
abgeborgt. Hier unter diesen von kleinen Seelen gebiickten Ge-
stalten (wie auch Blatter sich kriimmen, wenn Blattlause daran
wohnen) kann kein groBer, kein kiihner Gedanke getragen wer-
den, sie konnen wie Getreide, das sich lagert, nur taube Korner
geben.
Vor der Tafel fuhr der Teil oder Bogen des um die italienische
Sonne laufenden Hofs > der nicht dazu eingeladen war, nach Hause,
miBvergniigt iiber die Langeweile des Spieles, und noch miBver- 3 c
gniigter, daB gerade gewisse Personen der Langeweile der Tafel
gewiirdigt waren.
Joachime, an welcher die zuruckhaltende Agnola wenig Ver-
gniigen fand, ging mit ab, aber der Doktor nicht und ihr Bruder
Matz gleichfalls nicht, der die Ehre hatte, hinter der Furstin Stuhl
in der Marschsaule, die sie, ihr Kammerherr, ein Page und ein Hof-
22. HUNDPOSTTAG 833
lakai machten, gerade den Mittelpunkt zu bilden; er stand be-
kanntlich sogleich hinter dem Kammerherrn und war der einzige,
der aussah wie ein leserliches Pasquill auf alles zusammen. Ober
die Tafel, woruber wenig gesprochen wurde, hochstens sehr leise
von zwei Nachbarn, soil auch hier nichts gesprochen werden.
Nach dem Essen kam der Furst und storte das steife Zeremo-
niell, das er aus Bequemlichkeit haBte, so wie es Viktor aus Philo-
sophic verachtete: »Wahrlich, ein Erzengel,« - sagte Viktor oft —
»der die menschliche, in alien Kleinigkeiten beobachtete Tugend
10 und Weisheit bemerkte an Sessiontischen, an Altaren, in Besuch-
zimmern, miiBte seinen Himmel und seine Fliigel verwetten, daB
wir einen Heller oder doch etwas taugten - in groBern Dingen;
wir wissen aber samtlich, wo es hinkt; und eben dieser Ekel an
der steifen altklugen dezenten Mikrologie und Maschinerie der
Menschen ist die Laune des Satirikers. Die moralische Verschlim-
merung entspinnt sich zwar aus Geringfugigkeiten, aber nicht die
Besserung; Satanas kriecht durch Jalousieladen und Sphinkter in
uns, der gute Engel zieht durch das Haupttor ein.« - Agnola be-
lohnte heute unsern Helden fur seine bisherige, es so treumeinende
20 Beflissenheit mit einer warmern Aufmerksamkeit, die in seinen
Augen durch ihren Schmuck - sie trug den der vorigen Fxirstin,
ihren eignen und den vorigen mutterlichen - und durch ihren
ganzen Prachtanzug noch schoner wurde; denn er liebte Putz an
Weibern und haBte ihn an Mannern. Seine Achtung nahm durch
den Schmerz, daB sie Jenners eigennutzige Absichten bei seinen
Besuchen (wegen der kiinftigen Klotilde) mit schonern vermenge,
und daB man es ihr doch nicht sagen konne, eine geruhrte Warme
an. Wie kams, daB ihn dann Agnola an Joachime erinnerte; daB
diese der Ableiter der Achtung fur jene wurde; und daB alle lie-
jo bende Gefiihle, die ihm die Fiirstin gab, zu Wiinschen gerieten,
Joachime mochte sie verdienen und empfangen?
Mit dieser Seele voll Sehnsucht fuhr er heute ohne Umstande
zu dieser Joachime zuriick, in deren Hand er bekanntlich eine
kleine Wunde gelassen. Er sagte bei ihr: »er miisse als Morder und
Medikus noch heute nach der Wunde sehen«; aber wie Sonnen-
schein fiel ein schoner neuer Kummer auf Joachimens Angesicht
-834 HESPERUS
war mend in seine Seele. Er konnt* es kaum erwarten, mit ihr auf
den Balkon hinauszukommen, um daruber zu reden. DrauBen
machte er in wenig Minuten die Schnittwunde und die Dezember-
kalte zum Vorwand, die Hand und den Schnitt in seine zu nehmen,
um sie zu warmen: »Wunden schadet Kalte«, sagte er; aber der
feine Narr hatte hier das Seinige dabei gedacht. Der leere Abend,
die Erinnerungen an die Weihnacht-Kinderfreuden, der herunter-
blickende Sternenhimmel, der alle dunkeln Wunsche des Men-
schen wie Blumen in der Nacht magisch beleuchtet, und die Stille
iiberfullten und beklemmten seine verlassene Seele, und er driickte i
die einzige Hand, die ihm jetzt das Menschengeschlecht reichte.
Er fragte sie geradezu iiber ihren Kummer. Joachime antwortete
sanfter als sonst: »Ich wollte Sie dasselbe fragen; aber bei mir ists
naturlich.« Denn sie habe, erzahlte sie, bei ihrer Zuriickkehr das
Gepacke Klotildens und die Nachricht der Ankunft und - was
eben der Punkt ist — die Kleider ihrer Schwester Giulia, denen
. Klotilde bisher eine Stelle unter ihren gegeben, angetroffen. Diese
Giulia war bekanntlich an Klotildens Herzen verschieden, einen
Tag vorher, eh' diese aus Maienthal nach St. Liine zog.
Ein Chaos durchschoB sein Herz; aber aus dem Chaos setzte 2
sich bloB die umgesunkne Giulia zusammen - denn Klotilde wich
taglich in ein dunkleres Heiligtum seiner Seele zuruck -; ihr
blasses Luna-Bild liebkosete mit Strahlen einer andern Welt sei-
nen wunden Nerven, und er lieB sich willig glauben, Joachime
habe ihre Gestalt. In seiner dichterischen, den Weibern so selten
verstandlichen Erhebung warf die ErblaBte den Heiligenschein,
den ihr Klotilde zustrahlte, wieder auf ihre Schwester zuruck.
Joachime hatte heute wieder den Brief gelesen, den Giulia an sie
in der Todesstunde durch Klotilde schreiben lassen, und trug ihn
noch bei sich. Wahrscheinlich hatte ein Herz voll vergeblicher 3
Liebe die schone Schwarmerin unter die Erde gezogen. Viktor
bat sie mit schimmernden Augen um den Brief; er schlug ihn auf
im Mondlicht, und als er die geliebten Zuge seiner verlornen
Klotilde erblickte, weinte sein ganzes Herz.
22. HUNDPOSTTAG 835
»Gute Schwester!
Leb auf immer worrit LaB mich das zuerst sagen, weil ich
nicht weiB, welche Minute mir den Mund verschlieBt. Die Gewitter
meines Lebens ziehen heim. Es wird schon kiihl um meine Seele.
Ich sage diesen Abschied und meinen herzlichsten Wunsch fur
dein Wohlergehen meiner Freundin Klotilde in die Feder. Gib
den EinschluB meinen lieben Eltern und fuge deine Bitte an meine,
mich in meinem schonen Maienthal zu lassen, wenn ich voriiber
bin. Ich sehe jetzt durch das Fenster die Rosenstaude, die neben
to dem Gartchen des Kusters auf dem Kirchhofe stehet - dort wird
mir eine Stelle gegeben, die wie eine Narbe bezeuget, daB ich da-
gewesen, und ein schwarzes Kreuz mit den sechs weiBen Buch-
staben Giulia - mehr nicht. Liebe Schwester, lafi es ja nicht zu,
daB sie meinen Staub in ein Erbbegrabnis sperren - O nein , er soil
aus Maienthals Rosen flattern, die ich bisher so gern begossen -
dieses Herz, wenn es sich zerlegt hat in den Bliitenstaub eines
neuen ewigen Herzens, spiele und schwebe im Strahle des Mondes,
der mir es in meinem Leben so oft schwer und weich gemacht.
Fahrest du einmal, liebe Schwester, bei Maienthal voriiber: so
to blickt bis zur StraBe das Kreuz durch die Rosen hindurch, und
wenn es dich nicht zu traurig macht, so schaue hinuber zu mir.
Mir war jetzt einige Minuten, als holte ich in Ather Atem -
in kleinen diinnen Ziigen - Es wird bald aus sein. Sag aber meinen
Gespielinnen, wenn sie nach mir fragen, ich bin gern gegangen,
ob ich wohl jung war. Recht gern. Unser Lehrer sagt, die Ster-
benden sind fliegendes Gewolk, die Lebenden sind stehendes,
unter welchem jenes hinzieht, aber abends ist ja beides dahin. Ach
ich dachte, ich wurde mich noch recht lange, von einem Trauer-
jahr zum andern, nach dem Sterben sehnen mussen, ach ich be-
o sorgte, diese erblaBten Wangen, diese hineingeweinten Augen
wiirden den Tod nicht erbitten, er wiirde mich veralten lassen und
mir das verbliihte Herz erst abnehmen, wenn es sich miide ge-
schlagen - aber siehe, er kommt eher - In wenig Tagen, vielleicht
in wenig Stunden wird ein Engel vor mich treten und lacheln.
und ich werd' es sehen, daB es der Tod ist, und auch lacheln unc
836 HESPERUS
recht freudig sagen: Nimm immer mein schlagendes Herz in
deine Hand, du Abgesandter der Ewigkeit, und sorge fur meine
Seele.
>Bist du aber nicht jung,< (wird der Engel sagen) >hast du nicht
erst diese Erde betreten? Soil ich dich schon zuruckfuhren, eh' sie
ihren Fnihling hat?<
Aber ich werde antworten; Schau diese untergegangnen Wan-
gen an und diese ermudeten Augen und driicke sie nur zu — o lege
den Leichenstein 1 an meine Brust, damit er alle Wunden aussauge
und nicht eher abfalle, als bis sie ausgeheilet sind - Ach ich habe ic
wohl nichts Gutes in der Welt getan, aber auch nichts Boses.
Dann sagt der Engel: >Wenn ich dich beruhre, so erstarrest du
- der Friihling und die Menschen und die ganze Erde verschwin-
den, und ich allein stehe neben dir - 1st denn deine junge Seele
schon so miide und so wund? Welche Leiden sind denn schon in
deiner Brust?<
Beruhre mich nur, guter Engel! Jetzt sagt er: >Wenn ich dich
beruhre, so zerstaubst du, und alle deine Geliebten sehen nichts
rnehr von dir - <
beruhre mich ! . . .« «
Der Tod beriihrte das blutige Herz, und ein Mensch war vor-
uber . . .
Wahrend Viktor das Trauerblatt las, hatte die Schwester der
Toten einige Male, weil sie sich das dachte, was er las, die Augen
abgetrocknet, und als er sie ansah, schimmerten darin die Samen-
perlen einer weichen Seele. Aber er wunschte sich jetzo die Un-
sichtbarkeit seines Gesichts oder den Erker seines Zimmers, um
alien Seufzern und Gefuhlen ungesehen nachzuhangen. War* er
in einem biirgerlichen Hause gewesen: so hatte er unverspottet
jetzt zu den ausgepackten Kleidern und in die kiinftigen Zimmer 3 <
Klotildens gehen konnen - und er hatte gleichsam die griinen
Fluren von Maienthal wieder erblickt, wenn er die romantischen
Gewander, worin Giulia sie durchstreifet hatte, unter den letzten
1 Der Schlangenstein saugt sich so lange an die Wunde an, bis er ihren
Gift weggesogen.
22. HUNDPOSTTAG 837
Kiissen der Schwester hatte verschlieBen sehen — Aber in einem
solchen Hause wars eine Unmoglichkeit.
Er verzieh jetzt, da er seltener den GenuB der fremden Emp-
findsamkeit hatte, sogar das Obertreiben derselben leicht. DaB
sie den Korper zerrtitte, war ihm der elendeste Einwand, weil ihn
ja alles Edlere, jede Anstrengung, alles Denken aufreibe; der
Korper und das Leben waren ja nur Mittel, aber kein Zweck.
»Giulias Herz in Giulias Korper«, sagte er, »Ist ein reiner Tau-
tropfe in einem weichen Blumenkelch, den alles zerdriickt, ver-
10 schuttet, aussaugt, und der noch vor der Mittagsonne entflohen
ist; solche fur eine Welt voll Sturm zu biegsame Seelen, die zu
viel Nerven und zu wenig Muskeln haben, verdienen ihrer Emp-
findsamkeit wegen das einfressende Salz der Satire nicht, das sie
wie Schnecken zernagt - die Erde und wir konnen ihnen wenig
Freuden geben, warum wollen wir ihnen die andern nehmen?«
Aber die Trauerziige, die jetzt das Mitleid durch Joachimens
Lacheln zog, driickten sieh deutlich in Viktors Herzen ab, und
das, was sie hier verbergen wollte, machte sie reizender als alles,
was sie je zu zeigen gesucht.
10 Nichts ist gefahrlicher - wie er vor einigen Wochen getan -
als sich verliebt zu stellen : man wirds sogleich darauf. So war der
Weichling Baron einige Tage, wenn er einen Helden von Cor-
neille gespielet hatte, selber einer. So starb Moliere am eingebil-
deten Kranken und Karl V. am Probe-Begrabnis. So machte die
papierne Krone, die Cromwell in einem Schuldrama aufbekommen
hatte, ihn auf eine hartere begierig. - Die zweite Lehre, die daraus
zu lernen ist (diese setzt aber freilich voraus, Joachime war eine
Kokette), ist die: daB ein Held die Koketterie wahrnehmen und
doch hineintappen konne; ein Poet sitzt wie die Nachtigall (der
10 er an Gefieder, Kehle und Einfalt ahnelt) oben auf dem Baume
und sieht die Falle stellen und hiipft hinunter und - hinein.
Nach einigen Tagen-als in Viktor die Frage iiber joachimens
Wert und iiber seine Liebe wie eine Woge auf- und ablief ; als er
schlecht mit Flamin, gut mit der Fiirstin und besser mit dem
Fursten stand, der jeden Tag nachfragte, wenn Klotilde kame -
kam sie.
838 HESPERUS
23. HUNDPOSTTAG
Erster Besuch bei Klotilde' - die Blasse - die Rote - die Renn-Wochen
»Ja, das gesteh' ich,« - sagte Viktor, der am andern Tage nach
Klotildens Ankunft in seiner Stube umherlief- »in ein Gewitter
oder in ein stiirmendes Meer sah' ich herzhafter als in das kleine
Gesicht, in einen heitern Himmel von drei Nasenlangen.« Aber er
half sich dadurch, daB er einen abgerissenene Fortissimo-Akkord
auf dem Klavler anschlug: dann konnte er zu Klotilden. BloB
unterwegs sagte er: »Nirgends wird soviel gezankt als ineinem
Menschen - Welcher Teufelslarm in diesem funfschuhigen Dis- i C
putatorium iiber den geringsten Bettel, bis nur aus einer Bill eine
Akte wird! — Ein tragbarer Nationalkonvent in mice ist man, ich
kann keinen Schritt tun, ohne daB erst die rechte und linke Seite
dariiber haranguieren, und die enrages und die noirs, und der Her-
zog von Orleans und Marat. Das Abscheulichste ist im innerlichen
Regensburger Reichstage des Menschen, daB die Tugend darin
mit zehn Sitzen und einer Stimme sitzt, der Teufel aber mit einem
SteiBe und sieben Stimmen.« -
Durch diese lustigen Selbergesprache wo lit' er sich vom An-
blick seiner verworrenen, verstockten, kalt-wuncfen, immer Jo- 2(
achimen zu Klotilden hinaufhebenden Seele entfernen. Er wurde
endlich bloB durch den tugendhaften EntschluB wieder rein aus-
gestimmt, jetzt die Liebe zu Joachimen nicht zu verstecken - »sich
ihrer nicht zu schamem, hatt' er bald gedacht. »Wenn ich mich
gegen Joachime warmer, und gegen die andre kalter s telle, als ich
etwa bin: so miiBte der Teufel sein Spiel haben, wenn ichs nicht
endlich wilrcteA
Der hatt' es aber eben, und zwar ein wahres L'hombrespiel zu
vier Personen 1 mit dem mort: dieser Croupier hatte die einzige
Volte geschlagen, daB er das Gesicht Klotildens mit einer ganz 3-
andern Farbe ausspielte, als er in Le Bauts Schlosse getan. Viktor
fand sie in Schleunes seinem unendlich schoner wieder, als er sie
vcrlassen hatte - blasser namlich. Da sie keine Nervenpatientin
1 Joachime , Klotilde, Viktor und der Teufel.
, 23. HUNDPOSTTAG 839
war, keine Kalte mied, sogar in Dezemberabenden allein auf dem
Dorfe spazieren ging: so waren sonst ihre Wangen mehr dunkle
Rosenknospen als aufgegangene abgebleichte Rosenblatter. Aber
jetzo war die Sonne ein Mond geworden - sie hatte in irgend-
einem Kummer, wie der-Saphir im Feuer, nichts verloren als die
Farbe, statt des Blutes schien die stillere, zartere Seele selber naher
durch den weiBen Florvorhang zu blicken. Alles Blut, das aus
ihren Wangen zuriickgewichen war, floB in seine iiber und stieg
ihm wie ein Zaubertrank in den Kopf; indes suchte er sich in
10 diesen den Gedanken zu setzen : »Wahrscheinlich machte sie mehr
der Zank mit ihren Eltern, weniger der Kummer, hieher getrieben
zu werden, krank!« -
Wenn man sich einmal vorgesetzt hat, sich kalt zu stellen: so
wird man es noch mehr, wenn man Ursachen finder, es nicht zu
werden. Viktor wurde noch kalter durch Klotildens Eltern, die
mitgekommen, und von deren Fehlern ihm auf einmal der Deck-
mantel weggezogen zu sein schien; an Personen, die man einer
dritten wegen zu hoch geachtet, nimmt man, wenn uns die dritte
nicht mehr zwingt, durch eine groBere Heruntersetzung derselben
20 Rache. Auch sagte er zu sich: »Da sie ihren Bruder Flamin jetzo
selten sieht: so war's einfaltig, sie einer verlegnen Minute durch
die Erzahlung bloBzustellen, dafi ich die Verwandtschaft weiB.« -
Armer Viktor! - Gleichwohl wars ihm unmoglich, sein Herz nur
mit so viel elektrischer Warme vollzuladen - er rieb es mit Katzen-
fellen, er schlug es mit Fuchsschwanzen -, als dasein muBte, daB
sein Puis wenigstens voll fur Joachimen gegangen ware, ge-
schweige fieberhaft; aber eben dieses bestimmte ihn, sich gerade so
zu betragen, als waren Herz und Pulse voller: »Es ware unedel,«
(dacht* er) »wenn es die gute Joachime entgelten muBte, daB ich
30 einmal andere Hoffnungen und Wiinsche gehabt als die neuesten.«
Diese Aufopferung erwarmte ihn mit eigner Achtung; diese Ach-
tung gab ihm den mannlichen Stolz, der mit seiner Liebe und
seiner Wahl alien vier Weltteilen trotzt; dieser Stolz gab ihm
wieder Freiheit und Freude - und jetzo war er imstande, mit
Klotilden zu reden wie ein vernunftiger Mensch.
Diese ganze innere Geschichte nahm freilich einen zwolfmal
84O HESPERUS
groBern Zeitraum ein als Muhameds Reise durch alle Himmel -
fast eine gute Stunde. Ein Zufall aber waff sich zwischen alle
seine Ideen. Da namlich die Ministerin eine wahre Gelehrte war-
sie wuBte, daB ein paar Quarzdrusen und einige Praparate und
ein ertrankter Fotus noch keinen Gelehrten machen, sondern erst
ein Lehrsaal voll Naturalien und ein Lesekabinett -, und da der
Kammerherr Le Baut ein Gelehrter war - denn sein Kabinett war
ebenso groB -: so wurde dem Kammerherrn die Sammlung ge-
zeigt, die er selber bereichern helfen. Man sollte denken, sie hatten
einander ausgelacht und fur Narren gehalten : aber sie hielten sich xo
wirklich fiir Gelehrte; denn den GroBen wachsen die Fruchte
vom Baume des Erkenntnisses so ins Fenster und ins Maul - sie
haben so viele Leichtigkeit, Kenntnisse zu erlangen (daher die
zweite, sie zu zeigen) - sie suchen im Brunnen der Wahrheit so
selten etwas anders als ihr eignes, mit Wasserfarben gemachtes
Kniestiick, und in die Tiefe dieses Brunnens zu waten, ware fiir
sie eine solche Erkaltung — und doch gehen sie auf der andern
Seite mit so vielerlei Personen von Kenntnissen aus alien Fachern
um — daB sie von allem etwas iiber der Tafel erfahren und durch
die Ohren, durch Mundiiberlieferung, wie die Schuler der Alten, *c
Vielwisser werden. Wenn sie nachher gar das, was ihnen unge-
hort geblieben, vollends zu entbehren wissen, was ist dann
zwischen ihnen und den armsten Gelehrten fiir ein Unterschied als
der in dem BewuBtsein?
Im Naturalien- und Biicherkabinett lag noch die ganze Neu-
jahr-Ladung von summenden Kafern mit goldnen Fliigeldecken
ohne Fliigel - ich meine die vergoldeten Musenalmanache. Mat-
thieu, dieser Nachahmer der tierisChen Nachtigallen, warder Erb-
feind der menschlichen, namlich der Dichter. Er sagte - was in
eine Rezension besser gepasset hatte -: »er sei ein groBer Freund 3*
von Versen, aber im Winter - denn wenn er so durch die Blumen-
Beete eines Almanachs streiche, so werd' er, wie einer, der durch
ein Bohnenfeld geht, schlafrig genug und konne einschlafen. -
Und da gerade die Nachte langer wurden, und man also einen
langern Schlaf bediirfe, so sei es schon, daB die Almanache gerade
mit Winteranfang erschienen, und daB diese Blumen mit den
23- HUNDPOSTTAG 84 1
Moosen zu einerlei Jahrzeit bliihten - so konne man doch am
murmelnden Bache in den Versen einschlafen, wenn das Murmeln
und Schlafen auf der gefrornen Wiese nicht mehr gehe.« —
Unser Viktor war so satirisch wie der Evangelist; er hatte im
Hannoverischen so gut wie dieser hier gelacht - z. B. er hatte be-
klagt, daB die meisten Almanachsanger leider mehr fiir den Ken-
ner arbeiteten als fiir dumme Leser und schon zufrieden waren,
wenn sie nur jenen in den Schlaf versetzten - daB ein Mensch, der
keine Prose schireiben konnte, versuchen sollte, ob er zu keinem
10 Volksanger tauge, wie nur die Vogel, die nicht reden lernen, singen
konnen - daB er einen guten Almanach am ersten und angenehm-
sten durchbringe, wenn er bloB die Reime durchlaufe - und daB
flache Kopfe wie fteche Diamanten, denen keine Facetten zu geben
sind, zu Herien wiirden und uns statt der Gedanken Tranen
gaben, in denen nicht einmal das AufguBtierchen eines Gedankens
schwimme ....
Aber er sah noch eine Seite mehr als Matthieu, namlich die
edle. - Es war seine Gewohnheit, gerade diese vorzudrehen, wenn
ein anderer nur die schlechte gewiesen, und umgekehrt. Seine
20 Meinung war: »die Dichter waren nichts als betrunkene Philo-
sophen - wer aber aus ihnen nicht philosophieren lerne, Iern' es
aus Systematikern ebensowenig - die Philosophic mache nur die
Silberhochieit zwischen Begnffen, die Dichtkunst aber die erste -
leere Worte geb* es, aber keine leere Empfindungen - der Dichter
miisse, urn uns zu bewegen, bloB alles Edle zum Hebel nehmen,
was auf der Erde ist, die Natur, die Freiheit, die Tugend und Gott;
und eben die Zauberstabe, die magischen Ringe, die Zauberlampen,
womit er uns beherrsche, wirken endlich auf ihn selber zuruck.« -
Er legte diese Meinung - als Matthieu die seinige und Joachime
30 ihre eigne vorgetragen, daB namlich ihr an den Musenalmanachen
wenigstens zwei oder drei Blatter gefielen, namlich die glatten
Pergamentblatter - viel ktirzer vor; — die Ministerin war der sei-
nigen (denn sie war selber eine Versifexin); - der Kammerherr
sagte, »jede Stadt und jeder Fiirst bete ja die Dichter in eignen
Tempeln an - namlich in den Schauspielhausern«; - Klotilde
durfte sich nun zu den Siegern schlagen : »Wenn man im Januar
842 HESPERUS
einen Dichter lieset, so ists so lieblich, als wenn man im Junius
spazieren geht. - Ich kann weder Philosophen noch Gelehrte
lesen; es bliebe mir« (sie wollte sagen: ihrem Geschlechte) »daher
gar zu wenig, wenn man mir die Heben Dichter nahme.« - »Sie
wiirden hochstens« (sagte endlich der Minister) »Ihre Schiiler an
ihnen finden; Dichter bekiimmern sich, wie die Heiligen, wenig
um die Welt und ihr Wissen; sie konnen den Staat besingen, aber
nicht belehren.« - O du grinsende Mumie, dachte Viktor, ein
Edelstein, den du nicht als einen Staatsbaustein vermauern kannst,
ist dir weniger als ein Sandblock. Wenn du nur jede flammende, 10
als eine Erganzung der republikanischen Antiken dastehende
Seele zu einem Unterschreiber, zu einem Zollkommisar oder
Kammerriskal einsetzen konntest (wie die GroBkaiser die Ruinen
zu Stallen und Pferdetranken verbauen)! — Der edle Matz fugte
bloB hinzu: »In Rom war ein Maler, der mit jedem nur singend
sprach; und ich kannte einen groBen Dichter, der nicht einmal im
gemeinen Leben Prose konnte; er konnte aber mehres nicht und
hatte wenig Welt, aber viel Welten im Kopfe - er wird, wenn er
sich drucken lasset, seinen Lesern kaum mehre Tauschungen
geben, als ihm jeder schon gemacht hat, der wollte.« Viktor 20
sah aus Klotildens gesenktem Auge, daB sie so gut wie er merke,
daB der Teiifel ihren Dahore meine; aber er schwieg; seine Seele
war traurig und erbittert; aber er war langst durch den Hof die
zu ertragen abgehartet, die er hassen muBte.
Unter dieser Disputation hatte der edle Matz die ganze Gruppe
unvermerkt in schwarzem Papier nachgeschnitten. »Ach!« sagte
Joachime, »das ist nicht das erstemal, daB er Gesellschaften schwari
abbildet.« - Da aber Viktor Silhouettengruppen niemals sehen
konnte, ohne an uns zerrinnende Schatten-Menschen, an dieses
versiegende Zwerg-Leben, an die auf das Leben gezeichneten 30
Nachtstiicke und an die Schattenpartien, die man Volker nennt,
zu denken - und da ihn daran auBer seiner Traurigkeit und auBer
einem Wachs-Skelett von Mad. Biheron, das im Naturaliensaale
mit dastand, noch mehr die blasse Gestalt Klotildens erinnerte -
und da diese, mit den vergleichenden Augen auf dem Gerippe
und dem Schattenbilde, leise zu Viktor sagte: »Mich konnten zu
23. HUNDPOSTTAG 843
einer andern Zeit so viele Ahnlichkeiten traurig machen« - so
durchschnitt sein voiles Herz der scharfe Schmerz iiber seine ewige
Armut und iiber die GewiBheit: »Dieses schone Herz bewegtsich
nie fiir deines, und wenn ihr Freund Emanuel gestorben ist,
bleibst du immer allein« - und er trat ans Fenster, drehte es hart
auf, schlang den Nordwind ein, zerdriickte mit der Faust die zwei
Augapfel und ging mit den - vorigen Ziigen wieder zu den andern.
Aber fiir heute hatten solche Erschiitterungen zu tief in sein
Herz hineingerissen. Und da ihm Klotilde in einer einsamen Se-
:o kunde sagte, da 6 die Pfarrenn und Agathe iiber sein AuBen-
bleiben ziirnten: so war er, dem sich bei diesen Namen die ganze
bewolkte Vergangenheit wie ein Himmel auftat, nicht imstande
eine Antwort zu geben.
Als er nach Hause kam, redete Klotildens Stimme, die er unter
alien ihren Reizen am wenigsten vergessen konnte, unaufhorlich
und wie das Echo eines Trauergesangs in seiner Seele . . . Leser,
wenn das, was du liebtest, lange verschwunden ist aus der Erde
oder aus deiner Phantasie, so wird doch in Trauerstunden die ge-
liebte Stimme wiederkommen und alle deine alten Tranen mit-
20 bringen und das trostlose Herz, das sie vergossen hat!... Aber
nicht bloB ihre Stimme, sondern alles drangte sich im Finstern urn
seine Phantasie, ihr bescheidenes Auge, das nicht hofmafiig blitzte
und ertrotzte und suchte, wie der andern ihre, diese behutsame
Feinheit, die ihm seit seinem Hof leben weder an ihr noch an sei-
nem Vater mehr zu groB vorkam - dazu setze man noch das Bild
Joachimens und sein Chaos von Widerspriichen und die Bemer-
kung, daB ein Mensch, den die gewissesten Beweise, ungeliebt
zu sein, beruhigt haben, doch bei einem neuen wieder leidet: so
kennt man die Bewegungen, die der Schlaf, diese Meerstille des
30 Lebens, bei ihm stillen muBte. -
»Das war das letzte Fieberschauer«, sagt* er am andern Morgen
und bauete auf sein jetziges Herz, dessen Entziindungen wie die
der Vulkane taglich ihren Kessel mehr ausbrannten. Er gebot sich
daher eine wochentliche Flucht vor der zu teuern Seele, in der
Absicht, daB der neue Nachklang seiner Liebe in seinem Herzen
auszittere und alles wieder still werde darin.
844 HESPERUS
Aber nach einer Woche sah er sie wieder : wahrlich, der Teufel
saB wieder am Spieltisch und spielte gegen ihn eine andere Farbe
aus — Rot, Klo tilde sah nicht blaB, sondern, obwohl nur wenig,
rot aus. Dieses Rot machte an seinem innern Menschen einen
groBen Klecks und verfalschte sein inneres Kolorit,*wie Schwarz
jede Malerfarbe. Denn als er sie genesen wiederfand : so wars ihm
nicht sowohl angenekm - denn er sah, wie wenige Verdienste er
mehr um ihre Ruhe habe, wie sie ihn nicht einmal in diesem
Warenlager von Menschen-Makulatur aushebe, und wie dumm er
gewesen, daB er sich heimlich, ganz heimlich traumen lassen, »ihre 10
vorige Bleichheit komme gar von ihrer vergeblichen Sehnsucht
nach ihm seines Orts her«-, desgleichen wars ihm auch' nicht un-
angenehm — denn er hatte all sein Herzblut dahingegossen, um
damit eine einzige Pulsader in ihr wieder in den Gang zu bringen-,
ich sage, es war ihm nicht sowohl angenehm oder unangenehm
als beides, als unerwartet, als ein Wink, des - Teufels zu werden.
Sein Herz und das Bild, das zu lange darin war, wurden gar ent-
zweigednickt: »Es sei!« sagt* er und zerbiB die krampfhafte Lippe,
womit ers sagte. - Einige Tage lang mocht' er nicht einmal Jo-
achime sehen. »Hat diese denn ein Auge fur die Natur und ein *o
Herz fur die Ewigkeit?« fragt* er, und er wuBte wohl die Antwort.
Jetzo ging eine Zeit fur ihn an, die gerade das Gegenteil der
Sabbatwochen war — man kann sie die Renn-Wochen oder die
Tarantel-Tatv(stunden der Besuche nennen. Es ist eine verdammte
Zeit, der Mensch weiB nicht, wo er steht. Sie fiel bei Viktor ge-
rade in die Wintermonate, wo ohnehin die sausenden Butter-
wochen der Stadte und Hofe sind. Ich will sie jetzt ordentlich
schildern.
Viktor suchte namlich sein uneiniges ungluckliches Herz zu
iiberschreien und zu betauben — nicht mit den Trommelwirbeln 30
der Lustbarkeiten; unter diesen verblutete es vielmehr, so wie
unter dem Trommeln die Wunden starker flieBen : sondern - mit
Menschen; diese waren die blutstillenden Schrauben, die er um
seine Seele legte. Sein Leib war jetzt wie der katholische Reliquien-
leib eines Apostels an alien Orten; er verlief den ganzen Tag, bald
mit, bald ohne den Fiirsten.
23. HUNDPOSTTAG 845
In Flachsenfingen war zuletzt keine Dame mehr, der er nicht
die Hand gekiisset hatte - und kein Nachttisch mehr, wo ers dabei
hatte bewenden lassen.
Er machte in den Rennwochen doppelte Schleifen - franzosische
Pas - Tupfdesseins - kleine Komodien - Scharaden - Rezepte
fur Kanarienvogel - Verse fiir Facher - tausend Besuche - und
noch mehr Morgen-Briefchen ....
Letzte, die er bekam und schickte, waren franzosisch ge-
schrieben und franzosisch gebrochen — namlich zu Haarwickeln
10 gequetscht : »Es sind«, sagt' er, »die Haarwickel weiblicher Gehirn-
fibern - die Patronen voll Amors-Pulver - die Kokons der lieben-
den Schmetterlinge« - er sprach vom Steigen und Fallen dieser
weiblichen Papiere und nennte sie noch die Aushangebogen des
weiblichen Herzens und die Schmutztitelblatter der koketten
Edikte von Nantes. »Ich behaupte dies,«^ setzt'erhinzu-»ummich
vom Hof junker Matthieu zu unterscheiden, ders leugnet, weil er
gar verficht, anfangs dringe man den Schonen Briefe auf, dann
Dinge von mehr Kubikinhalt, z. B. Facher, Juwelen, Hande, dann
endlich sich selber, so wie die Posten anfangs nur Briefe aufnah-
zo men, dann Pakete, endlich Passagiere.« -
Er fand diejenigen Weiber taglich amusanter, die uns Leuten
von Verstand das Herz aus der Brust und das Gehirn aus dem
Kopf entwenden, und zwar (wie jener Edelmann anderes Zeug)
nicht aus Liebe zum gestohlnen Gute, sondern aus Liebe zum
Rauben- sie schicken wie der Edelmann den andern Morgen das
Gut dem Eigner redlich wieder zu. Ihre Feinheiten - die seinigen
- seine Wendungen, um ihren auszuweichen - die Aufmerksam-
keit, die man auf sich wenden muB - die Gelegenheit, alle Emp-
findungen unter die feinsten Trennmesser zu bringen, oder unter
3° Sonnen- und Mondmikroskope - die Leichtigkeit, den aufrichtig-
sten Wahrheiten den sauern Geschmack und den angenehmsten
den siiBlichten zu benehmen — dieses machte ihm die Nacht-
tische der Weiber, besonders der koketten, zu Lektisternien und
Gottertischen : »Beim Himmel,« sagte der Nacht-Tischganger
oder Toiletten-Panist, »ein Mann ist bloB ein Hollander, hochstens
ein Deutscher, aber eine Frau ist eine geborne Franzosin oder gar
846 HESPEHUS
eine Pariserin - der Mann verbirgt seine moralische wie seine
physische Brust - Gedanken und Blumen, die nicht durch die
Raufen der vier Fakultaten durchfallen, Empfindungen, die nicht
in den Akten oder in einem arztlichen Befundzettel konnen be-
schrieben werden, muB man wahrlich nur einer Frau und keinem
Manne sagen, zumal einem flachsenfingischen«... oder einem
scheerauischen. —
Um sich zu entschuldigen, daB er mit den Koketten auf dem
FuB eines Sammliebhabers umging, berief er sich auf seine Ab-
sicht - sie bloB kennen lernen zu wollen - und auf den vortreff- 10
lichen Forster, der in Antwerpen vor Rubens' Maria, die auf dem
Altarblatt gen Himmel fahrt, so gut wie ein geborner Katholik
hinkniete, bloB um sie naher zu beschauen.
Er hat te noch eine gefahrlichere Entschuldigung : »Der Mensch«,
sagte er, »sollte alles sein, alles lernen, alles versuchen - er sollte
an der Vereinigung der beiden Kircken in seiner Seele arbeiten —
er sollte, wenn nur auf ein paar Monate, ein Stadtmusikus, Toten-
graber, Galgenpater, ein Ingenieur, Tragodiensteller, Oberhof-
marschall, ein Reichsvikarius, Vizelandrichter, ein Rezensent,
eine Frau, kurz alles sollte der Mensch auf einige Tage gewesen 20
sein, damit aus dem Farbenprisma zuletzt die weiBe vollkommne
Farbe zusammenfl6sse.« —
Die Grundsatze werden desto gefahrlicher bei einem wie er,
der, mit den hochgespannten Saiten der unahnlichsten Krafte be-
zogen, leicht den Ton eines jeden angab, nicht aus Verstellung,
sondern weil sich seine Umgangs-Dichtkraft tief in die Seele des
andern versetzen konnte — daher gewann, ertrug und kopierte er
die unahnlichsten Menschen, ungeachtet seiner Aufrichtigkeit.
Ich bedaure ihn aber, daB er uberall so viel zu verschweigen hatte,
sein Erraten des Fursten, sein Herz gegen Klotilde, seine Versohn- 30
Intrigen gegen Agnola, seine Wissenschaft von Flamins Ver-
haltnissen u.s.w. Ach Verschweigen und Verstellen flieBen leicht
zusammen, und miissen nicht Tropfen in den festesten Charakter,
sobald er immer unter der Traufe steht, endlich Narben graben?
Nichts erkaltet mehr die edelsten Teile des innern Menschen als
Umgang mit Personen, an denen man keinen Anteil nehmen kann.
23. HUNDPOSTTAG 847
Dieses Gastwirtleben am Hofe, taglich Leute zu sehen, die nicht
einmal Ich sagen, deren Verhaltnisse man so gleichgiiltig unkennt
wie deren Talente, wenn sie nicht ein Bediirfnis sucht — dieses
Haschen nur nach dem nachsten Augenblick - dieses Vbruber-
rennen der feinsten und geistreichsten Fremden und Besuch-
ameisen, die in drei Tagen vergessen sind - alles dieses, was die
Palaste zu russischen Eispalasten macht, wo sogar der Ofen voll
Naphthaflammen eine Eisscholle ist, wozu ich das komische Salz
gar nicht zu setzen brauche, das ohnehin alles warme Blut, wie
10 glauberisches das heiBe Wasser, erkaltet, alles dieses machte sein
Herz ode, seine Tage kahl und lastig, seine Nachte beklommen,
sein Betragen zu kalt gegen Gute, zu duldend gegen Schlimme.
Noch dazu schwieg sein Emanuel und schloB, wie die Natur,
seine Blumen in sich ein. - Wen die Natur ernahrt und erhebt, der
ist im Winter nicht so gut als im Sommer. Die Erde hatte ihren
Pudermantel von Schnee um und den ganzen Tag die Nacht-
kleidung an, die Baume hatten ihre Knospen in die Flocken-
Papilloten gewickelt, und die Aste sahen wie Haarnadeln aus -
Viktors Seele war wie die Natur; o! der Himmel warme bald in
20 beiden die Blumen des Fruhlings an!
Da die Kr^nkheitgeschichte meines Viktor mich zu schmerzhaft
an die versteckten Gifte im menschlichen Korper erinnert: so soil
sie bald zu Ende sein. Es gefiel ihm, daB er durch das Herum-
flattern immer galanter und kalter gegen alle weibliche Personen
wurde - das Seil der Liebe schneidet weniger tief in den Busen ein,
wenn es, in Faden und Flocken ausgezupft, um alle flattert. Er, der,
wie sein Namenvetter, der heilige Sebastian, ganz mit (Amors)
Pfeilen vollgeschossen aussah, IieB Pfeile anderer Art gegen das
ganze Geschlecht, wiewohl nie gegen Einzelwesen, fliegen. In
30 diesem letzten Umstand war seine Bitterkeit von Matthieus seiner
unterschieden, der z. B. von seiner eignen Base, die ihre Schonheit
durch spate Blattern verloren, sagen konnte : »Ihre Schonheit hielt
sich recht tapfer gegen die Blattern und trug aus diesem Siege die
herrlichsten Narben davon, und zwar alle, wie Pompejus* Ritter,
von vornen im Gesicht.«
Wie Teufelsdreck zum haut-gout gebracht wird, so wiirzet man
848 HESPERUS
das feinste savoir vivre durch einige kuhne Unhoflichkeiten.
Bastian war in der Tarantelzeit durch nichts verlegen zu rnachen -
er ging und kam wie ein Pariser ohne Umstande - er suchte oft
kiihne, aber vorteilhafte Stellungen seines Korpers — unter dem
Schauspiel tat er Reisen durch die Logen, wie der Fiirst durch die
Kulissen - er brachte es (obwohl mit Muhe, und nur indem er
sich'immer das Muster der Hofleute vorhielt) funfmal dahin, daB
er gleichgiiltig zuhorte oder gar wegschauete, wenn ihm der an-
dere erzahlte; welches alles, wenn nicht wesentliche, doch Neben-
stucke der wahren Hoflichkeit sind. i
Auch will ich zu seinem Ruhm nicht unbemerkt Iassen, daB er
sich die ordentlichen erotischen und satirischen Freiheiten der galli-
kanischen Kirche gegen mehre Weiber auf einmal nahm; denn vor
einer einsamen hatt' er noch die alte Ehrerbietung eines edlen
Herzens. Ich will von jenem doch ein Beispiel geben. Einmal war
er unter funf Verleumderinnen (die Gesellschaft bestand aus sechs
Frauenzimmern und einer Mannsperson) ; die haBlichste schwarzte
alle, sogar gedruckte Madchen an, z.B. die verstorbene Klarisse,
der sie vorriickte, sie habe gegen Lovelace nicht genug gewuBt
sauver les dehors de la vertu. Man muB es gewartig sein, wie die *<
Konigsberger Schule es in ihren Rezensionen aufnimmt, daB er
sich vor der Verleumderin auf ein Knie hinlieB und mit einigem
Ernst sagte: »0 Clarisse! Voici Votre Lovelace, retranchons
quatre tomes et commen^ns comme les faiseurs d'Epopees par
le reste.Ki
Freilich warf er sich die Tarantelzeit haufig unter der Tarantel-
zeit vor; und da der Heidenvorhof seines Herzens so voll Weiber
wurde, indes im Allerheiligsten desselben nichts war als ein stum-
mes Dunkel, und da sein Kopf ein Insektenkabinett von Hof-
kleinigkeiten wurde: so seufzete er freilich oft in seinem Erker: y
»0! komme bald, guter Vater, damit dein sinkender Sohn aus
diesem schmutzigen Marznebel in ein helleres Leben steige, eh' er
sich ganz befleckt hat, daB er nicht einmal diesen Wunsch mehr
tut« - und sooft er in Joachimens Zimmer die Prospekte von
1 d . h. O Klarisse ! Da haben Sie Ihren Lovelace, wollen wir die vier ersten
Bande uberspringen und wieEpopoendichter gleich beim Oberrest anfangen.
23. HUNDPOSTTAG 849
Maienthal - welche Giulia vom Portratmaler. Klotildens machen
lassen - zu Gesichte bekam: so zog er mitten im Scherzen das
Auge von ihnen mit einem Seufzer weg — Aber geheilt wurd' er
nicht, als bis das Schicksal sagte: jetzt! Da klopfte der Theater-
schlussel auf einmal, der die Menschen in der Schauspielerprobe
des Lebens - das Schauspiel selber wird erst im zweiten gegeben -
kommen und handeln heiBet;und es trug sich etwas zu,was ich
sogleich im folgenden Kapitel berichten werde, wenn ich in diesem
auserzahlet habe, wie Viktor mit alien Leuten urn sich her stand.
10 Mit manchen eigentlich schlecht - erstlich mit Klotilden. Sie
wohnte zwar bei dem Minister - als Hofdame hatte sie ins Pauli-
num gehort, allein der Furst hatte es wegen der Leichtigkeit, sie
zu sehen, so karten lassen -, aber sie war immer um die Fiirstin,
mit der sie bald ein ahnlicher Ernst und eine ahnliche Zuriick-
haltung verkniipfte. Ihre Gleichgiiltigkeit gegen einen, der mit
ihr einen gemeinschaftlichen Freund und Lehrer hatte, gab diesem
Viktor eine noch groBere, zumal da er wuBte, sie miiBte fiihlen,
daB in dieser kalten Berg- und Hof luft nur ein einziger, obwohl
falber Nelken-Absenker ihrer schonen Seele bliihe, er selber nam-
20 Iich. Auch muBte ihm der Zwang des Wohlstandes, sie kalt anzu-
schauen, zur Gewohnheit werden. Am schlimmsten wars fur ihn,
daB sie gleichgultig war ohne Empfindlichkeit und kalt mit Ach-
tung fur ihn. Andere waren ganz toll uber das »tugendhafte Phleg-
ma dieser Pygmalions-BiIdsaule.« Der edle Matz nannte sie oft die
heilige Jungfrau oder die Demoiselle Mutter Gottes. Es konstiert
und erhellet ganz deutlich aus den vor mir aufgeschlagenen Hunds-
Manualakten, daB einige Herren vom Hofe nach verschiedenen
verdorbnen Versuchen, sich die mit so vieler Schonheit unver-
tragliche Tugend zu erklaren, bald aus Temperament, bald aus
30 verhehlter Liebe, bald aus einer koketten Sprodigkeit, die sich
wie das Wasser bei St. Clermont endlich zur eignen Brucke uber
sich selber versteinert, daB diese listigen Herren recht gliicklich
auf die Vermutung verfielen, Klotilde nehme diese Maske als eine
Kopie des Gesichts der Fiirstin vor ihres, um in der Gunst zu
bleiben. Daher wurde Klotildens zuchtige Tugend von den mei-
sten mit groBerer Schonung beurteilt, indem man sie als eine ab-
850 HESPERUS
sichtliche Nachahmung des ahnlichen Fehlers der Furstin schon
entschuldigen konnte durch das Beispiel ahnlicher Nachahmun-
gen, da Hofleute oft die groBten auBern Naturfehler, ja die Tu-
genden eines Regenten nachafFten. - So dachte wenigstens der
billigere Teil des Hofes.
Agnola war unserem Helden einen immer groBern Dank fur
die Besuche Jenners zu zeigen beflissen, ob sie gleich, denk' ich,
die untreue Absicht des Fiirsten in der Gegenwart Klotildens
ebensogut entdecken konnte, als sie zuweilen in Viktors Seele bei
der Gegenwart Joachimens blicken mochte... Oberhaupt hatt' 10
ich den Leser langst bitten sollen aufzupassen : ich trage die Sachen
mit erlaubter Dummheit vor, obwohl mit historischer Treue;
sind nun feine, spitzbubische, wichtige, intrigante Ztige und
Winke darin, so ists ohne mein Wissen, und ich kann sie also
dem Leser nicht anweisen mit einer Zeigerstange, oder ansagen
mit einer Feuertrommel, sondern er selber - weil er Hofgeschich-
ten versteht - muB wissen, was ich mit meinen Winken haben
will, nicht ich,
Mit Joachimen ware Viktor recht gut gefahren - da er alle
Fehler, die er bei andern Weibern und nicht bei ihr antraf, ihr als 20
Tugenden in Rechnung brachte, und da er sich mit ihrem Ich
mehr verflocht; denn die Fehler der Madchen kommen wie Scho-
kolade und Tabak dem Gaumen anfangs desto toller vor, je besser
sie ihm nachher schmecken - er ware gut gefahren, ohne zwei
Ecksteine; aber die waren da. Der erste war - denn ich will seine
kleine Argernis iiber die kurze Dauer ihrer schonen Weihnacht-
Empfindsamkeit nicht rechnen -, daB sie immer Klotilden tadelte,
besonders ihre »affektierte« Tugend. Der zweite war, daB Klotilde
sie ebensowenig suchte: Viktor konnte niemand lieben, den Klo-
tilde nicht liebte. - Und jetzt sind die Rennwochen und Visiten- 30
Taranteltanzstunden eines Menschen zu Ende; aber ach die ganze
Nachwelt muB noch dieselbe heiBe Linie der Narrheit und Jugend
passieren.
24. HUNDPOSTTAG 85!
24. HUNDPOSTTAG
Schminke - Krankheit Klotildens - Schauspiel Iphigenie - Unterschied der
biirgerlichen und der stiftfahigen Liebe
Am 26sten Februar fand Viktor morgens bei Joachimen - die
stolze Klo tilde. Ich weiB nicht, war diese aus Zufall oder Hoflich-
keit oder deswegen da, um einer Person, die von Viktor mit eini-
gem Interesse behandelt wurde, naher zti begegnen. Aber, o Him-
mel! die Wangen dieser Klotilde waren blaB, die Augen wie von
einer ewigen Trane iiberhaucht, die Stimme geriihrt, gleichsam
10 gebrochen, und der bleiche Marmorkorper schien nur das Bild zu
sein, das am Grabmal der entflognen Seele steht. Viktor vergaB
die ganze Vergangenheit, und sein Innerstes weinte vor Sehn-
sucht, ihr beizustehen und aus ihrem Leben alle triibe Winter-
landschaften wegzuloschen. »Ich befinde mich heute wie gewohn-
Hch«, sagte sie auf seine hofarztliche Frage, und er wuBte nichts
aus dieser unerwarteten Erbleichung zu machen - er konnte heute
iiberhaupt nichts machen, nicht einmal einen Scherz oder eine
Schmeichelei- seine in Mitleid zergangne Seele wollte keine Form
annehmen - verwirrt war er auch. Klotilde ging bald; - und ihm
io war's heute fiir ganz GroBpolen (diese in der Eisfahrt der Volker-
und Kronenwanderung schon sich abschleifende Eisscholle) nicht
moglich gewesen, nach ihr noch eine halbe Stunde zu verbleiben.
Er hatte ohnehin gehen miissen; denn der Hof junker Matthieu
rief ihn zur Fiirstin. Die Zeit war ungewohnlich : er konnte es
nicht erwarten und nicht erraten, was es gebe. Der Evangelist
lachelte (das tat er iiberhaupt jetzt ofter iiber die Fiirstin) und
sagte: »den Fiirsten und Fiirstinnen sei bloB das Wichtige klein,
und das Kleine wichtig, wie Leibniz von sich selber sagte 1 . Wenn
ihnen die Krone und eine Haarnadel miteinander vom Kopfe
*o fallen : so suchen sie vor alien Dingen die Nadel.«
Beilaufig! Es ware Bosheit von mir gegen den edlen Matthieu,
wenn ichs langer unterdruckte, daB er seit einiger Zeit gegen mei-
1 Er irret, Leibniz sagte bloB : alles Schwere werd* ihm leicht, alles Leichte
schwer.
8$2 HESPERUS
nen Helden viel sanfter und inbrunstiger geworden — welches
bio 6 an einem andern Menschen als er, ich meine an einem nach-
stellenden Schelm, ein Kains-Zeichen ware und etwan so viel be-
deutete wie das Wedeln eines Katzenschwanzes. -
Viktor erstaunte liber die Bitte der Fiirstin, - Klotilden zu hei-
len : das heiBt, nicht iiber das Bitten - denn sie beehrte ihn ofters
damit — , sondern iiber die Nachricht, dafi Klotilde, auf deren
Wangen er bisher die Apfelbliiten der Gesundheit auf Kosten
seiner Seele in den Rennwochen gesehen, bloB taube Bluten ge-
tragen, namlich bloB Schminke, die ihr die Fiirstin wegen der 10
Gleichbliite mit den iibrigen roten Kupferblumen des Hofes hatte
befehlen miissen. Agnola, die, wie ihr Stand, rasch war, ersuchte
ihn noch, als er zur medizinischen Oberexaminationskommission
ernennet war, sein Amt nur ja recht bald, schon heute sogleich im
Schauspiele zu verwalten, wo er die Examinandin treffen werde.
Und er fand sie. Das Schauspiel war ein aus Eldorado geliefer-
ter funkelnder Solitar, Goethes Iphigenie, Da er die Kranke wie-
der mit dem Abendrot der Schminke sah, worin sie auf fremdes
GeheiB sogar unter dem Untergehen schimmern sollte - da er
dieses stille, zum Altar gleichsam rot bezeichnete Opfer, das er 20
und andere von seinen Fluren, von seinen einsamen Blumen weg-
getrieben unter die Opfermesser des Hofs, den Untergang seiner
Wiinsche stumm erdulden sah, und da er mit dem weiblichen Ver-
stummen das mannliche Toben verglich - und da Klotilde ihren
Schmerz der Iphigenie geliehen zu haben schien mit der Bitte:
»Nimm mein Herz, nimm meine Stimme und klage damit, klage
damit iiber die Entfernung von den Jugendgefilden, iiber die Ent-
fernung vom geliebten Bruder« - und da er sah, wie sie die Augen
fester an die Iphigenie, wenn sie nach dem verlornen Bruder
schmachtete", anzuschlieBen suchte, um die ErgieBung und die 30
Richtung derselben (nach ihrem eignen auf dem Parterre, nach
Flamin) zu beherrschen: o dann hatten so groBeSchmerzen und
ihre Zeichen in seinen Augen und Mienen einen solchen Vor-
wand notig, wie die Allmacht des Genius ist, um mit Schmerzen
der dichterischen Tauschung verwechselt zu werden.
Nie hat ein Arzt seine Kranke mit groBerer Teilnahme und
24. HUNDPOSTTAG 853
Schonung ausgefragt, als er Klotilden im nachsten Zwischenakte :
er entschuldigte seine Zudringlichkeit mit dem Befehle der Fur-
stin. Ich muB vorher berichten, daB die Kranke - ob er gleich bis-
her ein fallender Petrus war, den manches Hahngeschrei mehr
zum Weinen als zum Bessern gebracht - doch die zweite Person
blieb, die er nie verleugnete, d. h. die er nie mit seinen jetzigen
frivolen, launichten, kuhnen, fangenden Wendungen anredete.
Die erste Person, welche er zu hoch achtete, urn mit seinem jet-
zigen Herzen an sie zu schreiben, - war sein Emaunel.
10 Klotilde antwortete ihm: »sie sei so wohl wie immer: das ein-
zige, was an ihr krank sei,« (sagte sie lachelnd) »namlich die Farbe,
sei schon unter den Handen einer Wundarztin, die sie wider ihre
Neigung bloB von auBen heile.« Diese scherzhafte Erwahnung
des von der Fiirstin dekretierten Schminkens hatte die doppelte
Absicht, ihr Schminken zu entschuldigen und den Doktor aus
seinem weichherzigen Ernst zu bringen. Aber das erste war un-
notig - da im Theater sogar Damen, die nie Rot auf legen, es beim
Eintritt in die Loge auftrugen und beim Ausgang ausstrichen, um
nicht an einem Baum voll gliihender Stettinerapfel als die einzigen
20 Quitten dazuhangen, und da uberhaupt von dem ganzen weib-
lichen Hofstaat die mineralischen Wan gen als Hof-Gesichtlivree
gefodert wurden. Das zweite war vergeblich; vielmehr schwollen
die Wunden seines Herzens durch zweierlei hoher: durch jenes
kalte, fast schwarmende Ergeben ins Verbliihen - und durch et-
was unaiissprechlich Mildes und Welches, was oft im weiblichen
Gesicht das brechende Herz, das fallende Leben bezeichnet, wie
das Obst durch weiches Nachgeben beim Druck seine Reife an-
sagt.
O ihr guten weiblichen Geschopfe, macht euch der Kummer,
90 da euch die Freude schon verschonert, vielleicht darum noch
schoner und %u riihrend, weil er euch ofter trifft, oder weil sich
jener in diese kleidet? Warum muB ich hier die Freude iiber euer
Erdulden und Verschleiern der Schmerzen so fiuchtig bekennen,
da jetzt vor meiner Phantasie so viele Herzen voll Tranen mit
offnen Angesichtern voll Lacheln voruberziehen und eurem Ge-
schlechte das Lob erwerben, daB es sich dem Kummer so gern
854 HESPERUS
wie der Freude ofFne, wie die Blumen, ob sie sich gleich nur vor
der Sonne auftun, doch auch auseinandergehen, wenn diese der
Wolkenhimmel iiberzieht? -
Viktor, ohne durch ihre Antwort irre zu werden, fuhr fort:
»Vielleicht konnen Sie sich nicht von der schonen Natur. ent-
wohnen und von der Bewegung - das Nachtsitzen, das ich selber
empfinde« Sie lieB ihn nicht ausreden, um ihn daran zu er-
innern, daB sie ja die jetzige Farbe von Hause an den Hof mit-
gebracht. Man sieht aber in dieser Erinnerung mehr Schonung
als Wahrheit; denn sie wollte ihr Hofamt nicht gerade vor dem i
verklagen, der es ihr erlangen half. --Viktor, der ihre Kranklich-
keit so sicher sah, und doch keine Frage mehr vorzulegen wuBte,
stand stumm, verlegen da. Das eigne Schweigen loset den Zuruck-
haltenden die Zunge: Klotilde fing selber an: »Weil ich nichts
weiB, was mir hier schadet, als die Schminke: so bitt' ich meinen
Arzt, mir diesen Diatfehler zu untersagen« - d. h. die Fiirstin zum
Widerruf ihres Schminkedikts zu vermogen — »Ich mag gern«,.
fuhr sie fort, »doch einige Ahnlichkeit mit zwei so guten Freun-
den, Giulia und Emanuel, bekommen« — d.h. die blasse Farbe,
oder auch die Meinung des baldigen Todes. - Viktor stieB ein *
hastiges Ja heraus und wandte das schmerzende Auge gegen den
auffliegenden Vorhang.
Nie waren wohl die Szenen der Spieler und der Zuhorer sich
ahnlicher. Iphigenie war Klotilde - der wilde Orest, ihr Bruder,
war ihr Bruder Flamin - der sanfte helle Pylades seiri Freund
Viktor. Und da Flamin unten im Parterre mit seinem wolkigen
Angesicht stand - (er kam nur, um seine Schwester bequemer zu
sehen) — , so war es unserm und seinem Freunde so, als wiird' er
von ihm angeredet, als Orest zu Pylades sagte:
— Erinnere mich nicht jener schonen Tage, y
Da mir dein Haus die freie Statte gab,
Dein edler Vater klug und liebevoll
Die halb erstarrte junge Blute pflegte;
Da du, ein immer munterer Geselle,
Gleich einem leichten bunten Schmetterlinge
24. HUNDPOSTTAG 855
Um eine dunkle Blume, jeden Tag
Um mich mit neuem Leben gaukeltest,
Mir deine Lust in meine Seele spieltest.
Klotilde funk 1 es ebenso schmerzhaft, daB man auf der Szene
ihr Leben spiele, und kampfte gegen ihre Auge n . . . Aber da Iphi-
genie zu ihrem Bruder Orest sagte:
O hore mich! O sieh mich an, wie mir
Nach einer langen Zeit das Herz sich ofFnet
Der Seligkeit, dem Liebsten, was die Welt
o Noch fiir mich tragen kann, das Haupt zu kussen -
O laB mich, IaB mich, denn es quillet heller
Nicht vom ParnaB die ewige Quelle sprudelnd
Von Fels zu Fels ins goldne Tal hinab,
Wie Freude mir vom Herzen wallend flieBt
Und wie ein selig Meer mich rings umfangt -
- und da Klotilde traurig den groBern Zwischenraum der Schmer-
zen und der Tage zwischen sich und ihrem Bruder tibermaB: so
quollen ihre groBen, so oft am Himmel hangenden Augen voll,
und ein schnelles Niederbiicken verdeckte die schwesterliche
to Trane alien ungeriihrten Augen. Aber den geriihrten, womit ihr
naher Freund sie nachahmte, wurde sie nicht entzogen... Und
hier sagte eine tugendhafte Stimme in Viktor: »Entdeck ihr, daB
du das Geheimnis ihrer Verwandtschaft weiBt - hebe von diesem
wundgepreBten Herzen die Last des Schweigens ab - vielleicht
welkt sie an einem Gram, den ein Vertrauter kuhlt und nimmt !« -
Ach,dieser Stimme zu gehorchen, war ja das wenigste, womit er
sein unendliches Mitleiden befriedigen konnte! - Er sagte auBerst
leise und aus Riihrung fast unverstandlich zu ihr: »Mein Vater
hat es mir langst entdeckt, daB Iphigenie die Gegenwart ihres
30 Bruders und meines Freundes weiB.«-Klotilde wandte sich schnell
und errotend gegen ihn - er lieB, zur nahern Erklarung, seinen
Blick zu Flamin hinabgleiten - erblassend sah sie weg und sagte
nichts - aber unter dem ganzen Schauspiel schien ihr Herz weit
mehr zusammengedruckt zu sein, und sie muBte jetzo noch mehr
856 HESPERUS
Tranen und Seiifzer zerquetschen als zuvor. Zuletzt gab sie mitten
in ihrer Betrubnis der Dankbarkeit ihre Rechte und sagte ihm fiir
seine Teilnahme und sein Vertrauen, gleichsam im Sterben
lachelnd, Dank. Er legte an den Spinnrocken des Gesprachs ganz
neuen fremden Stoff, weil er unter dem Fortspinnen gern uber
den traurigen Eindruck, den sein Bekenntnis zu machen geschie-
nen, heller und gewisser werden wollte. Er fragte nach Emanuels
neuesten Briefen; sie versetzte: »Ich habe erst gestern wahrend
der ganzen Mondfinsternis an ihn geschrieben; er kann mir nicht
oft antworten, weil seine Brust durch das Schreiben leidet.« - Da ic
nun die Finsternis des 25sten Februars schon abends um 10 Uhr
20 Minuten anfing, um 11 Uhr 41 Minuten am starksten und um
1 Uhr 2 Minuten erst aus war: so konnte Viktor als Arzt mit Ge-
setzpredigten und Gesetzhammern uber die medizinische Sun-
derin herfallen und es erharten, nun sei es kein Wunder. LaB es
bleiben % Doktor! Diese Heben Wesen gehorchen Ieichter dem
Manne - den zehn, Geboten - den Biichern - der Tugend - dem
Teufel selber Ieichter als dem Diatetiker. Klotilde sagte: »Die
Mitternachtstunden sind bloB meine einzigen Freistunden. - Und
Maienthal kann ich ja nie vergessen.« - »Ach, wie konnte man 2c
das?« sagt* er. Die Musik vor dem letzten Akte und die tragische
Stimmung und die Schmerzen begeisterten sie, und sie fuhr fort:
»Trank man nicht Lethe, wenn man das Elysium bet rat, und wenn
man es verlieB?«. .. (Sie hielt inne.) »Ich tranke keine Lethe, nicht
im ersten Falle> noch weniger im letzten - nein !« Und nie wurde
das Nein leiser, sanfter, gezogener gesagt. In Viktors Herzen zog
ein dreischneidiges Mitleiden schmerzlich hin und her, da er sich
die schreibende und weinende und vom Schicksal verspottete
Klotilde in der Mitternacht unter dem vom Erdschatten zerstuck-
ten und bewolkten Mond vorstellte; er sagte nichts, er blickte 3 c
starr in die triiben Szenen der Buhne und weinte noch fort, als
sich auf ihr schon die frohen entwickelten .
Zu Hause machte er seine Gehirnfibern zu Ariadnes Faden, um
aus dem Labyrinth der Ursachen ihres Kummers und besonders
des neuen zu kommen, der sie bei seiner Eroffnung zu befallen
geschienen. Aber er blieb im Labyrinth; freilich erzeugte Gram
24. HUNDPOSTTAG 857
die Krankheit, aber wer erzeugte den Gram? - Es ware schlimm
fur diese armen zarten Schmetterlinge, wenn es mehr als einen
todlichen Kummer gabe; in jeder Gasse, in jedem Hause findest
du eine Frau oder eine Tochter, die in die Kirche oder ins Trauer-
spiel gehen muB, um zu seufzen, und die ins obere Stockwerk
steigen muB, um zu weinen; aber dieser aufgehaufte Kummer
wird lachelnd verschmerzt, und die Jahre nehmen lange neben
den Tranen zu. Hingegen einen gibts, der sie abbricht - denke
daran, lieber Viktor, in den freudigen Stunden deiner Viel-Liebe,
10 und denket ihr alle daran, die ihr einem solchen weichen Ge-
schopf das schlagende Herz aus der Brust mit warmen liebenden
Handen ziehet, um es in eure neben eurem eignen Herzen aufzu-
nehmen und ewig zu erwarmen ! - Wenn ihr dann dieses heiBe
Herz, wie einen Schmetterlinghonigrussel, ausgerissen hinwerfet:
so zuckt es noch wie dieser fort, aber es erkaltet dann und schlagt
nicht lange mehr. —
Ungliickliche Liebe war also der nagende Honigtau auf dieser
Blume, schloB Sebastian. Naturlich dacht' er an sich zuerst; aber
schon langst hatten ihn alle seine feinsten Beobachtungen, seine
20 ihm jetzt gelauflgern Rikoschet-Blicke aus dem Augenwinke I uber-
wiesen, daB er die Auszeichnung, die sie ihm nicht versagte, mehr
ihrer Unparteilichkeit als ihrer Neigung zuzuschreiben habe. Wer
es sonst am Hofe sei - das herauszubringen, stellt* er vergeblich
einen Elektrizitatzeiger nach dem andern auf. Auch wuBt 1 er
voraus, daB er vergeblich aufstellen werde, da Klotilde alles Aus-
horchen ihres Innern vereiteln wiirde, wenn sie eine unerwiderte
Neigung hatte; die Vernunft war bei ihr das Wachs, das man auf
das eine Ende der magnetischen Nadel klebt, um das Niedersinken
(die Inklination) des andern aufzuheben oder zu verbergen. Gleich-
30 wohl nahm er sich vor, das nachstemal einige Wiinschelruten an
ihre Seele zu halten. —
Ich muB hier einen Gedanken auBern, der einigen Verstand
verrat und mein Berechnen uberhaupt. Mein Hund-Postmeister
Knef sah wahrscheinlich nicht voraus, daB ich das Jahr und die
Lange dieser ganzen Geschichte bloB aus der Mondfinsternis des
25. Febr.herausrechnen wiirde, deren er Meldung tat, so wie uber-
haupt groBe Astronomen durch die Mondphasen sehr hinter die
geographische Lange der Erde kamen. 1793 fiel das in diesem Ka-
pitel Erzahlte vor: ich bin Mann dafur; denn da sich iiberhaupt
die ganze Geschichte, wie bekannt, im 9ten Jahrzehend des i8ten
Jahrhunderts begibt, und da darin keine Mondfinsternis von einem
25sten Febr. iiberall zu finden ist als im Jahre 1793, d.h. im jetzi-
gen: so ist mein Satz gewiB. Zur Sicherheit hielt ich alle in diesem
Buche einfallende Mond- und Wetterveranderungen mit denen
von 1792 und 1793 zusammen; und alles passete schon ineinander
- der Leser sollt' es auch nachrechnen. Ungemein ergotzend ist ic
es fiir mich, daB sonach, da ich im Julius schreibe, die Geschichte
in einem halben Jahre meiner Beschreibung nachkommt. -
Viktor zauderte mit seinem Gange zur Fiirstin nicht, um bei
ihr die schweigende Klotilde fiir eine vollstandige Nervenpatien-
tin zu erklaren. Er lachte selber innerlich iiber den Ausdruck —
und iiber die Arzte — und iiber ihre Nervenkuren - und sagte : wie
sonst die franzosischen Konige bei ihren Heilanstalten gegen die
Kropfe sagen muBten: »Der Konig beriihrt dich, aber Gott heilt
dich«, so sollten die Arzte sagen: der Stadt- und Landphysikus
greiftdiran den Puis, aber Gott macbt die Kur.-Hierindessen gab 2c
er sie aus drei guten Absichten fiir eine Nervenleidende aus : erst-
lich um fiir sie die Aufhebung der Hof-Leibeigenschaft, wenig-
stens die Befreiung vom genauen Hofdamen-Amt zu erlangen, weil
in seinem Herzen immer der hineingestochene Splitter des Vor-
wurfs eiterte : »Du bist schuld, daB sie hier sein muB« - ferner um
ihr die Erlaubnis der Land- und Fruhlingsluft, falls sie einmal dar-
um nachsuchte, im voraus auszuwirken - endlich um sie von der
befohlnen Ahnlichkeit mit denen Damen zuerlosen,an derenblei-
farbigen Gesichtern, wie an den Bleisoldaten der Kinder, sich das
Rote taglich abfarbt, so wie taglich ansetzt. Da sich aber Agnola y
selber schminkte, so muBt' er aus Hof lichkeit es beiden auf einmal
verbieten, als Arzt.DieFiirstinuntersiegelte alle seine Bittschriften
recht giitig; nur iiber den Schmink-Artikel gab sie in Riicksicht
ihrer selbst gar keine Resolution, und in Riicksicht Klotildens
diese: sie habe nichts dagegen, wenn sie bei ihr, ausgenommen an
Courtagen und im Schauspiel, ohne Rot erscheine; und von der
24. HUNDPOSTTAG 859
Anwesenheit bei beiden sei sie gerne dispensiert, bis sie wieder ge-
nesen sei.
Er konnte kaum den Abschied erwarten, um diesen Reichs-
abschied oder -schluB der geliebten Kranken zu bringen. Ihn sel-
ber nahm diese Willfahrigkeit der Fiirstin wunder, bei der sonst
Bitten Sunden waren, und die nichts versagte, als was man erbat.
Seine Verlegenheit war jetzo nur die, Klotilden die Bewilligungen
der Fiirstin ohne das beleidigende Gestandnis ihrer vorgeschutz-
ten Kranklichkeit beizubringen. Aber aus diesem kleinen Obel
!0 zog ihn ein groBesrals er bei ihr vorkam, sah sie noch zehnmal
siecher aus als vorgestern bei der Entdeckung ihrer Verwandt-
schaft; ihre Bliiten hingen zugedriickt und kalt betauet zur Erde
nieder.
Gang und Stellung waren unverandert, die auBere Frohlichkek
dieselbe; aber derBlickwaroft zuflatternd, oftzustehend;durch
die Lilienwangen flog ein Fieberrot, durch die untere Lippe ein-
mal ein zerdriickter Krampf . . . Hier Jiob das Mitleid den er schrock-
nen Freund iiber die Hof lichkeit hinaus, und er sagte ihr geradezu
die Einwilligungen der Fiirstin. Er rief seinem beschwerten Her-
zo zen seine bisherige Hof-Kiihnheit zu Hiilfe und befahl ihr, den
nahen.Friihling zu ihrer Apotheke zu machen und die Blumen zu
ihren offizihellen Krautern und ihre - Phantasie zu ihrer Arzenei.
»Sie scheinen mich« (sagte sie lachelnd) »zu den Lerchen zu rech-
nen, die in ihrem Bauer immer grilnen Rasen haben miissen. Damit
aber meine Fiirstin und Sie nicht umsonst giitig waren : so werd'
ichs am Ende tun. - Ich gesteh* es Ihnen, ich bin wenigstens eine
eingebildete - Gesunde : ich fiihle mich wohl . « Sie brach es ab,
um ihn mit der Freimutigkeit der Tugend und mit einem in
schwesterlicher Liebe schwimmenden Auge iiber ihren Bruder
30 auszufragen : ob er gliicklich und zufneden sei, wie er arbeite, wie
er sich in seinen Posten schicke? Sie sagte ihm, wie weh ihr bisher
diese tief in ihre Seele eingesperrten Fragen getan; und sie dankte
ihm fur das Geschenk seines Vertrauens mit einer Warme, die er
fiir einen feinen Tadel seines bisherigen Schweigens hielt. - Sie
stand von jeher gern in einem Blumenkranz von Kindern; aber in
Flachsenfingen hatte sie dieser Nebelsternchen noch mehre und
860 HESPERUS
zwar aus einem besondern Grunde urn ihren Glanz versammelt,
namlich urn es zu verbergen, daB sie Julia, eine kleine fiinfjahrige
Enkelin des Stadtseniors, bei welchem ihr Bruder wohnte, als die
unwillkiirliche Lebensbeschreiberin und Zeitungtragerin des-
selben an sich ziehe. Mehr als dreimal war ihm, als miiBt' er die-
sem lilienweiBen Engel, den seine Wolke immer hoher trug, zu
FiiBen fallen und mit ausgebreiteten Armen sagen: »Klotilde,
werde meine Freundin, eh* du stirbst - meine alte Lie be gegen
dich ist langst zerquetscht, denn du bist zu gut fiir mich und fur
uns alle — aber dein Freund will ich sein, mein Herz will ich iiber- ic
winden fiir dich, meinen Himmel will ich hingeben fiir dich - ach
du wirst ohnehin den Abendtau des Alters nicht erleben und die
Augen bald zumachen, und der Morgentau hangt noch darin!«
Denn er hielt ihre Seele fiir eine Perle, deren Korper-Muschel ge-
ofFnet in der auf losenden Sonne liegt, damit sich die Perle friiher
scheide. — Beim Abschiede konnt' er ihr mit der Freimiitigkeit
des Freundes, die an die Stelle der Zuriickhaltung des Liebhabers
gekommen war, die Wiederholung seiner Besuche anbieten. Ober-
haupt behandelte er sie jetzo warmer und unbefangner; erstlich,
weil er auf ihr erhabnes Herz so ganz Verzicht getan, daB er sich ac
iiber seine friihern kiihnen Anspriiche darauf wunderte; zweitens,
weil ihm das Gefiihl seiner uneigenniitzigen aufopfernden Recht-
schaffenheit gegen sie Wundbalsam auf seine bisherigen Gewis-
sensbisse goB.
An diese Kranklichkeit schloB sich ein Abend oder ein Ereignis
an, worein der Leser, glaub' ich, sich nicht finden wird. - Viktor
sollte abends Joachimen ins Schauspiel abholen, und ihr Bruder
muBte vorher ihn abholen. Ich nab* es schon zweirrial niederge-
schneben, daB ihm seit einigen Wochen Matthieu nicht mehr so
zuwider war wie einem Elefanten eine Maus; er hatte doch eine 30
einzige gute Seite, doch einigen moralischen Goldglimmer an ihm
ausgegraben, namlich die groBte Anhanglichkeit an seine Schwe-
ster Joachime, die allein sein ganzes, seinen Eltern zugeschlossenes
Herz, seine Mysterien und seine Dienste innehatte - zweitens
liebte er an Matthieu, was der Minister verdammte, den Salzgeist
der Freiheit - drittens sind wir alle so, daB, wenn wir unser Herz
24. HUNDPOSTTAG 86 1
fiir irgendein weibliches aus einer Familie eingeheizet haben, dafi
wir Einheizer nachher die Ofen-Warme auf die ganze Sipp- und
Magenschaft ausdehnen, auf Briider, NefFen, Vater - viertens
wurde Matthieu immer von seiner Schwester gelobt und ent-
schuldigt. - Als Viktor kam zu Joachime : hatte sie Kopfschmerzen
und Putzjungfern bei sich - der Putz und der Schmerz nahm zu -
endlich schickte sie die lebendigen Appreturmaschinen fort und
setzte sich, sobald sie aus dem Schaum der Puder- und Schmuck-
kasten, der Schminklappen und mouchoirs de Venus, der poudres
10 d'odeur und der Lippenpomaden zu einer Venus erhartet war, da
setzte sie sich nieder und sagte, sie bleibe zu Hause we gen Kopf-
schmerzen. Viktor blieb mit da und recht gern. Wer nicht das
Sparrwerk und Zellenwerk des Menschenherzens kennt, den
nimmt es wunder, daB Viktors Freundschaft gegen Klotilde ein
ganzes Honiggewirke von Liebe fiir Joachime in seine Zellen ein-
trug;es war ihm Heb, wenn sie einander besuchten oderumarmten,
er suchte in den Segenfingern des Papstes nicht so vide Heilkraft
a Is in Klotildens ihren ; die Freundschaft derselben schien ihm eine
Entschuldigung der seinigen zu sein und Joachimen auf das Posta-
ao ment des Werts zu heben, auf welches er sie mit alien Wagen-
winden noch nicht stellen konnen. Sogar das Gefiihl seines stei-
genden Wertes gab ihm neue Rechte zu lieben; und heute wurde
sogar Klotildens Flor- und Furstenhut seine Helmkleinodien auf
Joachimens kranklichem, geduldigern Kopfe behauptet haben. In
ihre fortgesetzte Koketterie gegen das Narrenpaar hatt* er sich
langst gefugt, weil er recht gut wufite, wen sie unter drei Weisen
aus Morgenland nicht zum Narren habe, sondern zum Anbeter.
Aberzuriick!
Matthieu, der der Schwester zu Gefallen auch zu Hause blieb, und
30 Viktor und sie machten die ganze Bande dieses concert spirituel.
Joachime Iehnte auf dem Kanapee ihren sanftern siechen Kopf an
die Wand zuriick und blickte auf das FuB-Getafel und sah mit
den heriibergezognen Augenlidern schoner aus - der Evangelist
ging ab und zu - Viktor setzte, wie allemal, im Zimmer herum -
Es war ein recht hiibscher Abend, und ich wollt', meiner wurde
heute so. Das Gesprach wendete sich auf die Liebe; und Viktor
862 HESPERUS
behauptete das Dasein einer doppelten, der biirgerlichen und der
stiftfahigen oder franzosischen. Er Hebte die franzosische in
Biichern und als Gesamtliebe, aber er haBte sie, sobald sie die
einzige sein sollte; er beschrieb sie heute so: »Nimm ein wenig
Eis - ein wenig Herz - ein wenig Witz - ein wenig Papier - ein
wenig Zeit - ein wenig Weihrauch - und giefi es zusammen und tu
es in zwei Personen von Stande: so hast du eine rechte gute
franiosische fontenellische Liebe.« - »Sie vergaBen«, setzte Matz
dazu, »noch ein wenig Sinne, wenigstens ein Fiinftel oder Seeks tel,
das als adjuvans oder constituens 1 zur Arznei kommen muB. — In- i<
dessen hat sie doch das Verdienst der Kiirze; die Liebe so lite, wie
die Tragodie, auf Einheit der Zeit, namlich auf den Zeitraum eines
Tages, eingeschranket sein, damit sie nicht noch mehre Ahnlich-
keit mk ihr bekame. Schildern Sie aber die burgerliche !« - Viktor :
»Die zieh' ich vor.« - Matthieu : »Ich.nicht. Sie ist bloB ein langerer
Wahnsinn als der Zorn. On y pleure, on y crie, on y soupire, on y
ment, on y enrage, on y tue, on y meurt — enfin on se donne a
tous les diables, pour avoir son ange. - Unsere Gesprache sind
heute einmal voll Arabesken und a la grecque: ich will ein Koch-
buchrezept zu einer guten biirgerlichen Liebe machen: Nimm z<
zwei junge groBe Herzen - wasche sie sauber ab in Taufwasser
oder Druckerschwarze von deutschen Romanen - giefie heiBes
Blut und Tranen dariiber - setze sie ans Feuer und an den Voll-
mond und lasse sie aufwallen — riihre sie fleiBig um mit einem
Dolche - nimm sie heraus und garniere sie wie Krebse mit Ver-
giBmeinnicht oder andern Feldblumen und trage sie warm auf:
so hast du einen schmackhaften biirgerlichen Herzenskoch'«
Matthieu setzte noch hinzu: »in der heiBen biirgerlichen Liebe
sei mehr Qual als SpaB; in ihr sei, wie in Dantes Gedicht von der
Holle, letzte am besten ausgearbeitet und der Himmel cm schlech- 3<
testen — Je alter ein Madchen oder ein eingepokelter Hering sei,
desto dunkler sei an beiden das Auge, das durch die Liebe so
1 Adjuvans ist das Ingredienz, das die Krafte der Hauptingredienzien
starkt; constituens ist, was der Arzenei die Form einer Pille oder Latwerge
oder Mixtur erteilt.
3 Wie man sagt: Erbsenkoch, Nudelkoch.
24. HUNDPOSTTAG 863
werde - Jede Frau aus einem hohern Zirkel miisse froh sein, daB
sie vom Manne, an den sie gekettet sei, nichts zu behalten brauche
als sein Bild im Ring, wie Prometheus, da Jupiter einmal ge-
schworen, ihn 30000 Jahre am Kaukasus gelotet zu lassen, wah-
rend derselben bloB ein wenig von dieser Bastille an der Hand
getragen in einem Fingerring.« - Dann ging Matthieu eilend hin-
aus, •welches er allemal nach witzigen Entziindungen tat. Viktor
liebte die bitterste ungerechteste Satire im fremden Munde, als
Kunstwerk; er verzieh alles und blieb heiter.
10 Joachime sagte dann scherzhaft: »Wenn also keine Manier der
Liebe etwas taugt, wie Sie beide bewiesen haben, so bleibt uns
nichts iibrig, als zu hassen.« - »Doch nicht, « (sagt' er:) »Ihr Herr
Bruder hat nur kein wahres Wort gesagt. Stellen Sie sich vor, ich
ware der Armenkatechet und verliebt — in die zweite Tochter des
Pastor primarius bin ichs - ihre Rolle ist die einer Horschwester;
denn die biirgerlichen Madchen wissen nicht zu reden, wenigstens
mehr in HaB als in der Liebe - Der Armenkatechet hat wenig bel
esprit, aber viel saint esprit, viel Ehrlichkeit, viel Treue, zu viel
Weichherzigkeit und unendliche Liebe - der Katechet kann keine
20 galante Intrige anspinnen auf einige Wochen oder Monate, noch
weniger kann er die zweite Pastorstochter in die Liebe hinein-
disputieren, wie ein roue - er schweigt, um zu hoffen; aber mit
einem Herzen voll ewiger Liebe, voll opfernder Wunsche be-
gleitet er zagend und still alle Schritte der Geliebten und - Lie-
benden - aber sie errat ihn nicht, und er sie nicht. Und dann stirbt
sie . . . Aber vorher, eh' sie stirbt, tritt der bleiche Katechet trostlos
vor ihr Abschiedlager und driickt die zitternde Hand, eh' sie er-
schlafFt, und gibt dem kalten Auge noch eine Freudentrane, eh'
es erstarret, und dringet noch unter die Schmerzen der kampfen-
3° den Seele mit dem sanften Friihlinglaute hinein: ich liebe dich -
Wenn ers* gesagt hat, stirbt sie an der letzten Freude, und er liebt
dann auf der Erde weiter niemand mehr.«...
Die Vergangenheit hatte seine Seele iiberfallen - Tranen hin-
gen in seinen Augen und mischten Klotildens Krankenbild in
einer sonderbaren Verdunklung mit Joachimens ihrem zusammen
- er sah und dachte eine Gestalt, die nicht da war - er driickte die
864 HESPERUS
Hand derjenigen, die ihn ansah, und dachte nicht daran, daB sie
alles auf sich beziehen konnte.
PIdtzlich trat lachelnd Matthieu herein, jind die Schwester
lachelte nach, um alles zu erklaren, und sagte: »Der Herr Hof-
medikus gab sich bisher die Mtihe, dich zu widerlegen.« Viktor,
schnell erkaltet, versetzte zweideutig und bitter: »Sie begreifen,
Herr v. Schleunes, daB es mir am leichtesten wird, Sie in die Flucht
zu schlagen, wenn Sie nicht im Felde sind.« - Matz fixierte ihn;
aber Viktor schlug sanft sein Auge nieder und bereuete die Bitter-
keit. Die Schwester fuhr gleichgultig fort: »Ich glaube, mein Bru- i<
der ist oft im Falle, mit der Fagon zu wechseln.« - Er nahm es
heiter lachend auf und dachte wie Viktor, sie ziele auf seine ga-
lanten Abenteuer und Lusttreffen mit Weibern aus alien Standen,
die auf dem Landtag sitzen. - Aber da sie ihn fortgeschickt hatte,
um bei ihrer Mutter anzufragen, wer heute abends zum Cercle
komme, so sagte sie dem Medikus: »Sie wissen nicht, was ich
meinte. Wir haben am Hofe eine kranke Dame, die Ihre leibhafte
Pastorstochter ist - Und mein Bruder hat nicht so viel und nicht
so wenig Geist, um den Armenkatecheten zu machen.« Viktor
fuhr zuruck, brach ab und ging ab. *<
Warum? Wieso? Weswegen? - Aber merkt man denn nicht,
daB die kranke Dame Klotilde sein soil, die Matzens feinen An-
naherungen zur Schall- und SchuBweite des Herzens zu entfliehen
sucht? Oberhaupt hatte Viktor wohl gesehen, daB der Evangelist
gegen Klotilden bisher eine verbindlichere Rolle spielte, als er vor
ihrem Einzuge in sein Eskurial und RaubschloB durchmachte;
aber Viktor hatte diese Hof lichkeit eben diesem Einquartieren zu-
geschrieben. Jetzo hingegen lag die Karte von dessen Plane auf-
geschlagen da: er hatte einer gegen ihn gleichgultigen Person
darum mit dem Scheine der Verachtung (die er aber fein mehr y
auf ihren kianftigen kleinen Kassenbestand als auf ihre Reize fallen
lieB) absichtlich begegnet, um dadurch ihre Aufmerksamkeit -
diese Turnachbarin der Liebe - und nachher durch den schnellen
Wechsel mit Gefalligkeit noch mehr als diese Aufmerksamkeit zu
gewinnen. O ! du kannst nichts gewinnen ! rief in Viktor jeder
Seufzer. Aber doch gab es ihm Schmerzen, daB diese Edle, dieser
24. HUNDPOSTTAG 865
Engel mit seinen Fliigeln einen solchen Widersacher schlagen
miisse. - Nun wurden ihm dreiBig Dinge zugleich verdachtig:
Joachimens ErorThung und Kalte, Matthieus Lacheln und - alles.
So weit dieses Kapitel, dem ich nur noch einige reife Gedanken
anhange. Man sieht doch offenbar, daB der arme Viktor seine
Seek fur jede weibliche, wie jener Tyrann die Bettgenossen fiir
das Bette, kleiner verstiimmelt. FreiHch ist Achtung die Mutter
der Liebe; aber die Tochter wird oft einige Jahre alter als die
Mutter. Er nimmt eine HofFnung des weiblichen Werts nach der
10 andern zuriick. Am spatesten gab er zwar seine Foderung oder
Erwartung jenes erhabenen indischen Gefuhls fiir die Ewigkeit
auf, das uns, diesen im magischen Rauche von Leben hangenden
Schattenfiguren, einen unausloschlichen Lichtpunkt zum Ich er-
teilt, und das uns uber mehr als eine Erde hebt; aber da er sah, daB
die Weiber unter alien Ahnlichkeiten mit Klotilden diese zuletzt
erhalten; und da er bedachte, daB das Weltleben alles GroBe am
Menschen wegschleife, wie das Wetter an Statuen und Leichen-
steinen gerade die erhabnen Telle wegnagt: so fehlte ihm nichts,
um Joachimen die schon lange ins reine geschriebene Lieberkla-
20 rung zu iibergeben, nichts als von ihrer Seite ein Ungliick - ein
nasses Auge - ein Seelensturm - ein Kothurn. Mit deutlkhern
Worten: er sagte zu sich: »Ich wollte, sie ware eine empfindsame
Narrin und gar nicht auszuhalten. Wenn sie dann einmal die Augen
recht voll hatte und das Herz dazu, und wenn ich dann vor Run-
ning nicht wiiBte, wo mir der Kopf stande: so konnt* ich dann
anrucken und mein Herz herausbringen und es ihr hinlangen und
sagen: es ist des armen Bastians seines, behalt es nur.« Mir ist, als
hort* ich ihn leise dazu denken : »Wem will ichs welter geben?« -
DaB er das erste wirklich gedacht hat, sehen wir daraus, weil
30 ers in sein Tagebuch hineingesetzt, aus dem mein Korrespondent
alles zieht, und das er mit der Aufnchtigkeit der freiesten Seele
fiir seinen Vater machte, um gleichsam seine Fehler durch das
Protokollieren derselben auszusohnen. Sein italienischer Lakai
tat fast nichts, als es mundieren. - - Hinge ich nicht vom Hunde
und seiner Zeitungkapsel ab, so fiele seine Lieberklarung noch
heute vor; ich brache Joachimen etwan einen Arm - oder legte
866 HESPERUS
sie ins Krankenbette - oder bliese dem Minister das Lebenslicht
aus — oder richtete irgendein Ungluck in ihrem Hause an — und
ftihrte dann meinen Helden hin zur leidenden Heldin und sagte :
»Wenn ich fort bin, so knie nieder und iiberreich' ihr dein Herz.« -
So aber kann der chymische ProzeB .seiner Verliebung noch so
lang werden wie ein juristischer, und ich bin auf drei Alphabete
gefaBt.
Hier aber will ich etwas bekennen, was der Leser aus Hochmut
verheimlicht: daB ich und er bei jeder auftretenden Dame in die-
sen Posttagen einen Fehlschufi zum Salutieren getan - jede hielten 10
wir fur die Heldin des Helden - anfangs Agathen - dann Klotilden
- dann, als er in die Uhr der Fiirstin seine Lieberklarung sperrte,
sagte ich: »Ich weiB schon den ganzen Handel voraus« - dann
sagten wir beide : »Wir hatten doch recht mit Klotilden« - dann
griff ich aus Not zu Marien und sagte : »Ich will mir aber weiter
nichts merken lassen« - endlich wirds eine, an die keiner von uns
nur dachte (wenigstens ich nicht), Joachime. - So kann mirs sel-
ber ergehen, wenn ich heirate
Eh' ich zum Schalttage aus dem Posttag iibergehe, sind hoch
folgende Minuten zu passieren: Klotilde legte die Kebs-Wangen, zc
die joues de Paris, die Schminke, ab und setzte jetzt ihr einwel-
kendes Herz seltener dem Druck der Hof-Serviettenpresse aus.
Der Fiirst, der ihrentwegen im Horsaale seiner Gemahlin hospi-
tiert hatte, blieb ofter aus und sprach dann bei Schleunes ein:
gleichwohl dachte die Fiirstin edel genug, um nicht unsern Viktor
durch eine Zuriicknahme des Danks die Zuriicknahme der Jenner-
schen Gunst entgelten zu lassen. - In Viktor war ein langer Krieg,
ob er Klotildens Bruder die neuen Beweise ihrer Schwesterliebe
sagen sollte : — endlich - da Flamins leidendes, verarmtes, von
Relationen und Schelmen und Argwohn zerstochenes Herz ihn 3c
bewegte, und da er diesem rechtschaffenen Freunde bisher so
wenig Freude machen konnte - sagte er ihm (die Verwandtschaft
ausgenommen) fast alles.
Postskripti Endesunterschriebener soil hiemit auf Verlangen
bezeugen, daB Endesunterschriebener seinen 24sten Posttag or-
SECHSTER SCHALTTAG 867
dentlich am Letzten des Juliusmonats oder des Messidors zu Ende
gebracht hat. Auf der Insel St, Johannis 1793.
Jean Paul,
Scheeranischer Berghauptmann
Sechster Schalttag
Ober die Wiiste und das gelobte Land des Menschengeschlechts
Es gibt Pflanzenmenschen, Tiermenschen und Gottmenschen.-
Als wir getraumt werden sollten: wurde ein Engel duster und
entschlief und traumte. Es kam Phantasus 1 und bewegte gebrochne
10 Lufterscheinungen, Dinge wie Nachte, Chaosstiicke, zusamnien-
geworfhe Pfianzen vor ihm und verschwand damit.
Es kam Phobetor und trieb tierische Herden, die unter dem
Gehen wurgten und graseten, vor ihm voriiber und verschwand
damit.
Es kam Morpheus und spielte mit seligen Kindern, mit be-
kranzten Miittern, mit kiissenden Gestalten und mit fliegenden
Menschen vor ihm, und als die Entzuckung den Engel weckte,
war Morpheus und das Menschengeschlecht und die Weltge-
schichte verschwunden . . .
*<> - Jetzo schlaft und traumt der Engel noch - wir sind noch in
seinem Traum - erst Phobetor ist bei ihm, und Morpheus wartet
noch darauf, daB Phobetor mit seinen Tieren verschwinde ...
Aber lasset uns, statt zu traumen, denken und hoffen; und jetzt
fragen : werden auf Pflanzenmenschen^ auf Tiermenschen endlich
Gottmenschen kommen? Verrat der Gang der Welt-Uhr so viel
Zweck wie der Bau derselben, und hat sie ein Zifferblatt-RzA und
einen Zeigerl
Man kann nicht (wie ein bekannter Philosoph) von Endab-
sichten in der Physik sofort auf Endabsichten in der Geschichte
30 * Der Gott des Schlafes wurde von drei ^esen umgeben, von Phantasus,
der sich nur in Ieblose Dinge verwandeln konnte, von Phobetor > der alle Tier-
gestalten, und von Morpheus, der alle Menschengestalten annehmen und
vorgaukeln konnte. Metamorph. L. II. Fab. 10.
868 HESPERUS
schlieBen-so wenig als ich, imeinzelnen,ausdem teleologischen
(absichtvollen) Bau eines Menschen eine teleologische Lebens-
geschichte desselben folgern kann, oder so wenig als ich aus dem
weisen Bau der Tiere auf einen fortlaufenden Plan in der Welt-
geschichte derselben schlieBen darf. Die Natur ist eisern, immer
dieselbe, und die Weisheit in ihrem Bau bleibt unverdunkelt; das
Menschengeschlecht ist frei und nimmt wie das.AufguBtier, die
vielgestaltete Vortizelle, in jedem Augenblkk bald regelmaBige,
bald regellose Figuren an. Jede physische Unordnung ist nur die
Hiilse einer Ordnung, jeder trube Friihling die Hiilse eines heitern 10
Herbstes; aber sind denn unsere Laster die Bluteknospen unserer
Tugenden, und ist der Erdfall eines fortsinkenden Bosewichts
denn nichts als eine verborgne Himmelfahrt desselben? - Und ist
im Leben eines Nero ein Zweck? Dann konnt' ich ebensogut alles
zuriickgeben und umkehren und Tugenden zu Herzblattern ver-
steckter Laster machen. Wenn man aber, wie mancher, den
SprachmiBbrauch so weit treibt, daB man moratische Hohe und
Tiefe, wie die geometrische, nach dem Standort umkehret, wie po-
sitive und negative GroBen; wenn also alle Gichtknoten, Fleck-
fieber und Blei- oder Silberkotiken des Menschengeschlechts nichts 20
sind als eine andere Art von Wohlbefinden : so brauchen wir ja
nicht zu fragen, ob es je genesen werde - es konnte ja dann in
alien moglichen Krankheiten doch nichts sein als gesund.
Wenn sich ein Monch des zehnten Jahrhunderts schwermiitig
eingeschlossen und iiber die Erde, aber nicht iiber ihr Ende, son-
dern iiber ihre Zukunft, nachgedacht hatte : ware nicht in seinen
Traumen das dreizehnte Jahrhundert schon ein helleres gewesen
und das achtzehnte bloB ein verklartes zehntes?
Unsere Wetterprophezeiungen aus der gegenwdrtigen Tem-
peratur sind logisch richtig und historisch falsch, weil neue Zu- 30
falle, ein Erdbeben, ein Komet, die Strome des ganzen Dunst-
kreises umwenden. Kann der gedachte Monch richtig berechnen,
wenn er solche kiinftige GroBen wie Amerika, SchieBpulver und
Druckerschwarze nicht ansetzt? - Eine neue Religion - ein neuer
Alexander - eine neue Krankheit - ein neuer Franklin kann den
Waldstrom, dessen Weg und Inhalt wir auf unserer Rechenhaut
SECHSTER SCHALTTAG 869
verjiingen wollen, brechen, verschluckerij dammen, umlenken. —
Noch Hegen vier Weltteile voll angeketteter wilder Volker - ihre
Kette wird taglich diinner — die Zeit schlieBet sie los - welche Ver-
wiistung, wenigstens Veranderungen mussen diese nicht auf dem
kleinen bowling-green unserer kultivierten Lander anrichten! -
Gleichwohl mussen alle Volker der Erde einmal zusammengegos-
sen werden und sich in gemeinschaftlicher Garung abklaren,
wenn einmal dieser Lebens-Dunstkreis heiter werden soil.
Konnen wir von einigen mit Eisenfeile und Scheidewasser (hier
:o Lettern und Druckschwarze) selbst angelegten Miniatur-Erdbe-
ben und Vulkanen auf die Atnas-Ausbriiche schlieBen, d.h. von
den Umwalzungen der wenigen gebildeten Volker auf die der un-
gebildeten? Da wir setzen diirfen, daB das Menschengeschlecht
so viele Jahrtausende lebt als der Mensch Jahre: diirfen wir schon
aus dem sechsten Jahre dem Jiinglings- und Mannsalter die Nativi-
tat stellen? Dazu kommt, daB die Lebensbeschreibung dieses
Kindes-Alters gerade am magersten ist, und daB aufgewachte
Volker - fast alle Weltteile liegen voll schlafender - in einem Jahre
mehr historischen Stofi und folglich mehr Historiker erzeugen als
;o ein eingeschlafnes Afrika in einem Jahrhundert. Wir werden also
aus der allgemeinen Welthistorie dann am besten prophezeien
konnen, wenn die erwachenden Volker ihre paar Millionen Nach-
tragbande gar dazugebunden haben werden. - Alle wilde Volker
scheinen nur unter einem Pragstock gewesen zu sein ; hingegen die
Randelmaschine der Kultur miinzet jedes anders aus. Der Nord-
amerikaner und der alte Deutsche gleichen sich starker als Deutsche
einander aus benachbarten Jahrhunderten. Weder die Goldne
Bulle, noch die Magna charta, noch den Code noir konnte Ari-
stoteles in seine Regier- und Gehorch-Formen hineinlegen : sonst
,0 hatt' er sie weiter gemacht; aber getrauen wir uns denn, den kunf-
tigen Nationalkonvent in der Mungalei oder die Dekretalbriefe
und Extravaganten des aufgeklarten Dalai Lama oder die Rezesse
der arabischen Reichs-Ritterschaft besser vorherzusehen? Da die
Natur kein Volk mit einem Miinzstempel und einer Hand allein
auspragt, sondern mit tausenden auf einmal - daher auf dem
deutschen ein groBeres Gedrange von Abdriicken ist als auf
87O HESPERUS
Achilles' Schild -: wie wollen wir, die wir nicht einmal die ver-
gangnen, aber einfacheren Umwalzungen des Erdballs nachrech-
nen konnen, in die moralischen seiner Bewohrier schauen? —
Von allem, was aus diesen Pramissen folgt, glaub' ich - das
Gegenteil, ausgenommen die Notwendigkeit der prophetischen
Demut. Der Skeptizismus, der uns, statt hartglaubig, unglaubig
macht und statt der Augen das Licht reinigen will, wird zum Un-
sinn und zur fiirchterlichsten philosophischen Kraft- und Ton-
losigkeit.
Der Mensch halt sein Jahrhundert oder sein Jahrfunfzig fur die 10
Kulmination des Lichts, fur einen Festtag, zu welchem alle andre
Jahrhunderte nur als Wochentage fiihren. Er kennt nur zwei
goldne Zeitalter, das am Anfang der Erde, das am Ende derselben,
worunter er nur seines denkt; die Geschichte fihdet er den groBen
Waldern ahnlich, in deren Mitte Schweigen, Nacht und Raub-
vogel sind, und deren Rand bloB Licht und Gesang erfullen. -
Allerdings dienet mir alles; aber ich diene auch allem. Da es fur
die Natur, die bei ihrer Ewtgkeit keinen Zeitverlust, bei ihrer Un-
erschopflichkeit keinen Kraftverlust kennt, kein anderes Gesetz
der Sparsamkeit gibt als das der Verschwendung - da sie mit Eiern 2<
und Samenkornern ebensogut der Ernahrung als der Fortpjflaniung
dient und mit einer unentwickelten Keim-Welt eine halbe ent-
wickelte erhalt - da ihr Weg iiber keine glatte Kegelbahn, son-
dern iiber Alpen und Meere geht: so muB unser kleines Herz sie
miBverstehen, es mag hoffen oder furchten; es muB in der Auf-
klarung Morgen- und Abendrote gegenseitig verwechseln^ es muB
im Vergnugen bald den Nachsommer fur den Fruhling, bald den
Nachwinter fiir den Herbst ansehen. Die moralischen Revolutionen
machen uns mehr irre als die physischen, weil jene ihrer Natur nach
einen grofiern Spiel- und Zeitraum einnehmen als diese - und y
doch sind die finstern Jahrhunderte nichts als eine Eintauchung
in den Schatten des Saturns oder eine Sonnenfinsternis ohne Ver-
weilen. Ein Mensch, der sechstausend Jahre alt ware, wurde zu
den sechs Schopfungtagen der Weltgeschichte sagen : sie sind gut.
Man sollte aber niemals moralische und physische Revolutionen
und Entwickelungen zu naheaneinanderstellen. Die ganze Natur
SECHSTER SCHALTTAG 871
hat keine andere Bewegungen als vorige, der Zirkel ist ihre Bahn,
sie hat keine andere Jahre als platonische - aber der Mensch allein
ist veranderlich, und die gerade Linie oder der Zickzack fuhren
ihn. Eine Sonne hat so gut wie der Mond ihre Finsternisse, so
gut wie eine Blume ihre Bliite und Abblute, aber auch ihre Palin-
genesie und Erneuerung. Allein im Menschengeschlecht liegt die
Notwendigkeit einer ewigen Veranderung; jedoch hier gibts nur
auf- und niedersteigende Zeichen, keine Kulmination; jene ziehen
nicht einander notwendig nach sich, wie in der Physik, und haben
[o keine auBerste Stufe. Kein Volk, kein Zeitalter kommt wieder; in
der Physik mu8 alles wiederkommen. Es ist nur zufallig, nicht
notwendig, da8 Volker in einem gewissen Stufenalter, auf einer
gewissen miirben Sprosse wieder heruntersturzen — man ver-
wechselt nur die let^te Stufe, von welcher Volker fallen, mit der
hochsten; die Romer, bei denen keine Sprosse, sondern die ganze
Leiter brach, muBten nicht notwendig durch eine Kultur sinken 1 ,
die nicht einmal an unsere reicht. Volker haben kein Alter, oder
oft geht das Greisenalter vor dem Jiinglingalter. Schon bei dem
Einzelwesen ist der Krebsgang des Geistes im Alter nur zufallig;
to noch weniger hat die Tugend darin eine Sommer-Sonnenwende.
- Die Menschheit hat also zu einer ewigen Verbesserung Fahig-
keit; aber auch Hoffnung? -
Das gestorte Gleichgewicht der eignen Krafte macht den ein-
zelnen Menschen elend, die Ungteickhett der Burger, die Un-
gteichheit der Volker macht die Erde elend; so wie alle Blitze aus
der Nachbarschaft der Ebbe und Flut des Athers entstehen und
alle Sturme aus ungleichen Luftverteilungen. Aber zum Gliick
Hegts in der Natur der Berge, die Taler zu fullen.
Nicht die Ungleichheit der Giiter am meisten - denn dem
*o 1 Auch nicht durch den Luxus, dessen GroBe man - indem man ihre Aus-
gabe mit unserer Einnahme vergleicht - iibertreibt, und der ihnen nur da-
durch schadete, daB sie die Volker gleichsam wie ostindische Vettern
beerbten. Es war der eines Schusters, der das groBe Los gewonnenjes war
die Verschwendung eines Soldaten nach der Plunderung. Daher hattensie
Luxus ohne Verfeinerung. Es konnte siclt ihre Grofie. nur durch Vergrofierung
erhalten. Hatte man ihnen Amerika mit seinen Goldstangen vorgeworfen,
sie hatten bei groBerm Luxus noch einige Jahrhunderte langer an dieser
.Kriicke gehenkonnen.
872 HESPERUS
Reichen halt die Stimmen- und Fauste-Mehrheit der Armen die
Waage -, sondern die Ungleichheit der Kultur macht und ver-
teilt die politischen Druckwerke und Druckpumpen. Die lex
agraria in Feldern der Wissenschaften geht zuletzt auch auf die
physischen Felder iiber. Seitdem der Baum des Erkenntnisses
seine Aste aus den philosophischen Schulf ens tern und priester-
lichen Kirchenj ens tern hinausdrangt in den allgemeinen Garten :
so werden alle Volker gestarkt. - Die ungleiche Ausbildung kettet
Westindien an den FuB Europas, Heloten an Sparter, und der
eiserne Hohlkopf 1 mit dem Driicker auf der Neger-Zunge setzt u
einen Hohlkopf anderer Art voraus.
Bei der furchterlichen Ungleichheit der Volker in Macht, Reich-
turn, Kultur kann nur ein allgemeines Stiirmen aus alien Kom-
paB-Ecken sich mit einer dauerhaften Windstille beschlieBen. Ein
ewiges Gleichgewicht von Europa setzt ein Gleichgewicht der vier
ubrigen Weltteile voraus, welches man, kleine Librationen ab-
gerechnet, unserer KugeL versprechen kann. Man wird kunftig
ebensowenig einen Wilden als eine Insel entdecken. Ein Volk
muB das andere aus semen Tolpeljahren Ziehen. Die gleichere
Kultur wird die Kommerzientraktate mit gleichern Vorteilen ab- 21
schlieBen. Die langsten Regenmonate der Menschheit - in welche
die Volkerverpflanzungen allzeit fielen, so wie man Blumen all-
zeit an truben Tagen versetzt - haben ausgewittert. Noch steht
ein Gespenst aus der Mitternacht da, das weit in die Zeiten des
Lichts hereinreicht - der Krieg. Aber den Wappen-Adlern wach-
sen Krallen und Schnabel so lange, bis sie sich, wie Eberhauer,
kriimmen und sich selber unbrauchbar machen. Wie man vom
Vesuv berechnete, daB er nur zu 43 Entziindungen noch StofF
verschlieBe: so konnte man auch die kunftigen Kriege zahlen.
Dieses lange Gewitter, das schon seit sechs Jahrtausenden tiber 3
unserer Kugel steht, stiirmt fort, bis Wolken und Erde ein-
ander mit einem gleichen MaB von Blitzmaterie vollgeschlagen
haben.
Alle Volker werden nur in gemeinsckaftlicher Aufbrausung
1 Bekanntlich wird der Kopf des armen Negers in einen hohlen von Eisen
gesperrt, der seine Zunge niederdriickt.
SECHSTER SCHALTTAG 873
hell; und der Niederschlag ist Blut und Totenknochen. Ware die
Erde urn die Halite verengert: so ware auch die Zeit ihrer mora-
lischen-und physischen-Entwickelungum die Halfte verkiirzt.
Mit den Kriegen sind die starksten Hemmketten der Wissen-
schaften abgeschnitten. Sonst waren Kriegsmaschinen die Sae-
maschinen neuer Kenntnisse, indes sie alte Ernten unterdruckten;
jetzo ists die Presse, die den Samenstaub weiter und sanfter wirft.
Statt eines Alexanders brauchte nun Griechenland nichts nach
Asien zu schicken als einen - Setzer; der Eroberer pelzet, der
10 Schriftsteller saet.
Es ist eine Eigenheit der Auf klarung, daB sie, ob sie gleich den
Einzelwesen noch die Tauschung und Schwache des Lasters mog-
lich lasset, doch Volker von Kompagnie-Lastern und von Natio-
nal-Tauschungen - z. B. von Strandrecht, Seeraub - erloset. Die
besten und schlimmsten Taten begehen wir in Gesellschaft; ein
Beispiel ist der Krieg. Der Negerhandel muB in unsern Tagen, es
miiBte denn der Untertanenhandel anfangen, aufhoren. 1
Die hochsten steilsten Thronen stehen wie die hochsten Berge
in den warmsten Landern. Die politischen Berge werden wie die
20 physischen taglich kiirzer (zumal wenn sie Feuer speien) und
miissen endlich mit den Talern in einer - Ebene liegen.
Aus allem diesem folgt:
Es kommt einmal ein goldnes Zeitalter, das jeder Weise und
Tugendhafte schon jetzo genieBet, und wo die Menschen es leich-
ter haben, gut zu leben, weil sie es leichter haben, iiberhaupt zu
leben - wo einzelne, aber nicht Volker siindigen - wo die Men-
schen nicht mehr Freude (denn diesen Honig ziehen sie aus jeder
Blume und Blattlaus), sondern mehr Tugend haben - wo das
Volk am Denken, und der Denker am Arbeiten' Anteil nimmt,
30 damit er sich die Heloten erspare - wo man den kriegerischen und
juristischen Mord verdammt und nur zuweilen mit dem Pftuge
Kanonenkugeln aufackert — Wenn diese Zeit da ist: so stockt
beim Obergewicht des Guten die Maschine nicht mehr durch
1 Im Jahr 1792 geschrieben.
1 Der Millionar setzt Bettler, der Gelehrte Heloten voraus; die hohere
Bildung der Einzelnen wird mit der Verwilderung der Menge erkauft.
874 HESPERUS
Reibungen - Wenn sie da ist: so liegt nicht notwendig in der
menschlichen Natur, dafi sie wieder ausarte und wieder Gewitter
aufziehe (denn bisher lag das Edle bloB im fliehenden Kampfe mit
dem ubermachtigen Schlimmen), so wie es, nach Forster, auch
auf der heiBen St. Helenen-Insel 1 kein Gewitter gibt. -
Wenn diese Festzeit kommt, dann sind unsre Kindeskinder -
nicht mehr. Wir stehen jetzo am Abend und sehen nach unserm
dunkeln Tag die Sonne durchgluhend untergehen und uns den
heitern stillen Sabbattag der Menschheit hinter der letzten Wolke
versprechen ; aber unsre Nachkommenschaft geht noch durch eine i <
Nacht voll Wind und durch einen Nebel voll Gift, bis endlich
iiber eine glucklichere Erde ein ewiger Morgenwind voll Bluten-
geister, vor der Sonne ziehend, alle Wolken verdrangend, an
Menschen ohne Seufzer weht. Die Astronomie verspricht der
Erde eine ewige Friihling-Tag- und Nachtgleiche 8 ; und die Ge-
schichte verspricht ihr eine hohere; vielleicht fallen beide ewige
Friihlinge ineinander. -
Wir Niedergesenkte, da der Mensch unter den Menschen ver-
schwindet, miissen uns vor der Menschheit erheben. Wenn ich an
die Griechen denke : so seh' ich, daB unsere Hoffnungen schneller *<
gehen als das Schicksal. - Wie man mit Lichtern nachts iiber die
Alpen von Eis reiset, um nicht vor den Abgriinden und vor dem
langen Wege zu erschrecken : so legt das Schicksal Nacht um uns
und reicht uns nur Fackeln fur den nachsten Weg, damit wir uns
nicht betrtiben iiber die Kliifte der Zukunft und iiber die Entfer-
nung des Ziels. - Es gab Jahrhunderte, wo die Menschheit mit
verbundnen Augen gefiihrt wurde - von einem Gefangnis ins
andere; - es gab andere Jahrhunderte, wo Gespenster die ganze
Nacht polterten und umstiirzten, und am Morgen war nichts ver-
riickt; es kann keine andern Jahrhunderte geben als solche, wo 3=
Einzelwesen sterben, wenn Volker steigen, wo Volker zerfallen,
wenn das Menschengeschlecht steigt; wo dieses selber sinkt und
1 J 79 2 geschrieben. Jetzo liegt sogar das Gewitter, das sonst am Himmel
iiber ganz Europa stand, dort auf platter Erde.
1 Denn nach 400000 Jahren stent die Erdachse, wie Jupiter jetzt, senk-
recht auf ihrer Bahn.
25. HUNDPOSTTAG 875
stiirzt und endigt mit der verstiebenden Kugel... Was trostet
■uns? -
Ein verschleiertes Auge hinter der Zeit, ein unendliches Herz
jenseits der Welt. Es gibt eine hohere Ordnung der Dinge, als
wir erweisen konnen - es gibt eine Vorsehung in der Weltge-
schichte und in eines jeden Leben, welche die Vernunft aus Kiihn-
heit leugnet, und die das Herz aus Kiihnheit glaubt - es muB eine
Vorsehung geben, die nach andern Regeln, als wir bisher zum
Grunde legten, diese verwirrte Erde verkniipft als Tochterland
° mit einer hohern Stadt Gottes - es muB einen Gott, eine Tugend
und eine Ewigkeit geben.
25. HUNDPOSTTAG
Verstellte und wahre Ohnmacht Klotildens - Julius -
Emanuels Brief iiber Gott
Gutes, schones Geschlecht! Zuweilen wenn ich ein demantenes
Herz iiber deinem warmen hangen sehe: so frag* ich: tragst du
etwan ein abgebildetes darum auf deiner Brust, um dem Amor,
dem Schicksal und der Verleumdung das gleiche Ziel ihrer ver-
schiedenen Pfeile zu bezeichnen, wie der arme Soldat, der kniend
o umgeschossen wird, durch ein in Papier geschnittenes Herz den
Kugeln seiner Kameraden die Stelle des schlagenden anweist? —
Wenn dieses Kapitel geendigt ist, wird mich der Leser nicht mehr
fragen, warum ichs so angefangen habe . . .
Einst kam Viktor von einem tagelangen Spaziergange zuriick,
als ihm Marie mit einem Briefchen von Matthieu atemlos ent-
gegenlief. Es stand die Frage darin, ob er ihn und seine Schwester
nicht heute iiber St. Liine bis nach Kussewitz begleiten wollte.
Das Laufen Mariens hatte bloB von einem reichen Botenlohn und
Gnadengelde Matzens hergeruhrt, der arme Leute oft zugleich
to beschenkte und persiflierte, wie er seine Schwester zugleich lie-
benswurdig und lacherlich fand. Leuten, die ihn kannten, kam er
daher komisch vor, wenn er ernsthaft sein muBte. Aber Viktor
876 HESPERUS
sagte Nein zur Mitreise; was recht gut war, denn beide waren
ohnehin schon fort. Ich kann nicht bestimmen, obs nach zwei oder
nach drei Tagen war, daB sie wiederkamen, die Schwester mit
dem kaltesten Gesichte gegen ihn, und der Bruder mit dem warm-
sten. Er konnte sich diese doppelte Temperatur nicht ganz er-
klaren, sondern nur halb etwan aus Entdeckungen, die beide bei
Tostato und dem Grafen O iiber seine Verkleidung und sein
Buden-Drama konnten gemacht haben. Bisher war Joachimens
Ziirnen immer erst eine Folge des seinigen gewesen; jetzo wars
umgekehrt; dies verdroB ihn aber sehr. ic
Einige Tage darauf stand er mit der Fiirstin und mit Joachimen
in einem Fenster des ministerialischen Louvre. Die Unterhaltung
war lebhaft genug; die Fiirstin uberzahlte die Buden auf dem
Markte, Joachime sah dem schnellen Zkkzack einer Schwalbe
nach, Viktor stand heimlich auf einem Beine (das andere stellt* er
nur zum Schein und unbe laden auf den Boden), um zu versuchen,
wie lang' ers aushalte. Auf einmal sagte die Fiirstin : »Heilige
Maria! wie kann man doch ein armes Kind so eingesperrt in einem
Kasten herumtragen !« Sie guckten alle auf die StraBe. Viktor
nahm sich die Freiheit zu bemerken, daB das arme Kind von - *■<■
Wachs sei. Eine Frau trug einen kleinen Glasschrank vor sich
hangend, worin ein wachserner eingewindelter Engel schlief; sie
bettelte, wie andere, gleichsam auf dieses Kind, und das Kleine er-
nahrte sie besser, als wenn es lebendig gewesen ware. Die Fiirstin
verlangte die neue Erscheinung herauf. Die Frau trat zitternd mit
ihrem Mumienkastchen ein und zog den kleinen Vorhang zuriick.
Die Fiirstin hing ein kiinstlerisch-trunknes Auge an die schlafende
holde Gestalt, die (wie ihr Stoffvon Wachs) aus Blumen geboren
und in Friihlingen erzogen schien. Jede Schonheit drang tief in
ihr Herz; daher liebte sie Klotilden so sehr und viele Deutsche so j<
wenig. Joachime hatte nur ein Kind und eine Schonheit Heb — und
beides war sie selber. Viktor sagte, diese wachserne Mimik und
Kopie des Lebens nab' ihn von jeher triibe gemacht, und er konne
nicht einmal seine eigne Wachs-Nachbildung in St. Liine ohne
Schauder sehen. »Steht sie nicht in einem Oberrock am Fenster
des Pfarrhauses?« fragte Joachime viel heiterer. »Nicht wahr?«
25. HUNDPOSTTAG 877
fragt* er wieder, »Sie dachten wohl vor einigen Tagen, ich war' es
selber?« - Aus ihrer Miene erriet er ihren bisherigen Irrtum, der
vielleicht mit beigetragen hatte, sie gegen ihn aufzubringen. Der
Pater der Fiirstin kam dazu und fiigte - nach seiner Gewohnheit,
zu huldigen - bei, er werd' ihn, um ihm das Sitzen zu ersparen,
nachstens bloB nach seinem Wachsbild zeichnen. Der Pater war
bekanntlich ein guter Zeichner.
Ich lasse Begebenheiten, die weniger wichtig sind, unerzahlt
liegen und gehe frohlich weiter.
10 Es war schon im Marz, wo die hohern Stande wegen ihres
sitzenden Winterschlafes mehr vollbliitig als kaltbliitig sind -
wers nicht versteht, nimmt an, ihr UberfluB an Blute riihre mehr
vom Aussaugen des fremden her -; wo die Krankheiten ihre Be-
suchkarten in Gestalt der Rezepte beim ganzen Hof abgeben; wo
die Augen der Fiirstin, das Ather-Embonpoint des Fiirsten und
die gichtischen Han.de. des Hofapothekers die WinterstUrme fort-
setzten: da war es schon, sag ich, als auch Klotilde den EinfluB
des Winters und ihrer verdoppelten Abgeschiedenheit von Zer-
streuungen und ihres Umgangs mit ihren Phantasien jeden Tag
20 heftiger empfand . . . Wenn ich aufrichtig sein soil : so mess* ich
ihrer Abgeschiedenheit wenig, aber ihrem vom Wohlstand auf-
erlegten Umgang mit dem edlen Matz, mit den Schleunesschen,
mit andern kaltblutigen Amphibien alles bei; ein unschuldiges
Herz muB in dem moralischen Frostwetter, wie alabasterne Gar-
tenstatuen im physischen, wenn jenes und wenn diese weiche ein-
saugende Adern haben, Risse bekommen und brechen.-
So stands mit ihr an einem wichtigen Tage, wo er bei ihr die
kleine Julia fand. Diesen geliebten Namen legte sie dem Kinde des
Seniors bei, des Mietherrn von Flamin, um ihre Trauersehnsucht
50 nach ihrer toten Giulia durch einen ahnlichen Klang, durch den
Rest eines Echo zu ernahren. »Dieser Trauerton« (sagte Viktor
bei sich) »ist ja fur sie das willkommene feme Rollen des Leichen-
wagens, der sie zu ihrer Jugendfreundin holt; und ihre Erwar-
tung eines ahnlichen Schicksals ist ja der traurigste Beweis eines
ahnlichen Grams.« Wenn noch etwas notig war, seine Freund-
schaft von aller Liebe zu reinigen: so wars dieses schnelle Ent-
878 HESPERUS
blattern einer so schonenPassionblume; - gegenLeidende schamt
man sich des kleinsten Eigennutzes. - Unter dem Gesprache, von
dem sich die eifersiichtige Julia durch die Unverstandlichkeit aus-
geschlossen fand, zupfte sie an der Bedientenklingel aus VerdruB;
dennMadchenmachen schonum achtjahre fruherGefallansprtiche
als Knaben. Klotilde verbot dieses Gelaute durch ein zu spates
Interdikt; die Kleine, erfreuet, daB sie das hereilende Kammer-
madchen in Bewegung gesetzt, suchte wieder an der Quaste zu
zupfen. Klotilde sagte auf franzosisch zum Doktor: »Man darf ihr
nichts zu monarchisch befehlen; jetzt ruht sie nicht, bis ich mein 10
auBerstes Mittel versuche. - Julia !« sagte sie noch einmal mit einem
weiten, von Liebe ubergossenen Auge; aber umsonst. »Nun sterb'
kh!« sagte sie, schon dahinsterbend, und lehnte das schone, von
einem scheidenden Genius bewohnte Haupt an den Stuhl zu-
riick und schloB die frommen Augen zu, die nur in einem Himmel
wieder aufzugehen verdienten. Indem Viktor bewegt und stumm
vor der stfllen Scheintoten stand und bei sich dachte : »Wenn sie
nun nicht mehr erwachte und du die starre Hand vergeblich
rissest, und ihr letztes Wort auf dieser oden Erde gewesen ware:
nun sterb' ich! - o Gott, gab' es dann ein anderes Mittel fur die 20
Trostlosigkeit ihres Freundes als ein Schwert und die letzte Wun-
de? Und ich faBte mit der kalten Hand ihre Hand und sagte: ich
gehe mit dirk - indem er so dachte, und indem die Kleine wei-
nend die sinkende Rechte zog: so wurde das Angesicht wirklich
bleicher, und die Linke gleitete vom SchoB herab — hier wurde
jenes Schwert mit der Scharfe iiber sein Herz gezogen Aber
bald schlug sie wieder die irren Augen auf, todesschlaftrunken
sich besinnend und schamend. Sie beschonigte die fluchtige Ohn-
macht durch die Bemerkung: »Ich habe es wie jener Schauspieler
mit der Urne seines Kindes gefnacht, ich dachte mich an die Stelle JO
meiner Giulia in ihrer Ietzten Minute, aber ein wenig zu gliick-
lich.«
Er wollte eben medizinische Hirtenbriefe gegen diese zer-
nagende Schwarmerei abfassen - so sehr iibersetzt eine ungliick-
liche Liebe jedes weibliche Herz aus dem majore-Ton in den mi-
nore-Ton, sogar einer Klotilde ihres, deren Stirn mannlich, und
2 S . HUNDPOSTTAG 879
deren Kinn sich fast mehr zum Mut als zur Schonheit erhob -, als
ganz andere Hirtenbriefe kamen. Die Botenmeisterin derselben
war Viktors gtilcklichere Freundin - Agathe. Lache wieder Leben,
du Unbefangne, in zwei Herzen, auf welche der Tod seine fliegen-
den Wolken-Schatten geworfen! Sie fiel vertraut in zwei freund-
schaftliche Arme; aber gegen ihren Bruder Doktor, der so lange
statt des ganzen Rumpfs nur seine Hand, d. h. seine Briefe, nach
St. Liine hatte gehen lassen, war sie noch scheu. Ich kann aber
seinen Fehler, aus einem Hause, das er ein Vierteljahr aus Griin-
l0 den gemieden, nachher noch ein zweites ohne Griinde wegzu-
bleiben, ich kann diesen Fehler nicht ganz verdammen, weil ich
ihn - selber habe. - Sie konnte sich nicht satt an ihm sehen; ihr
bliihendes Landgesicht wies ihm statt seiner jetzigen Karwoche
des Grames eine Rdtebplchnung seiner und ihrer dahihgeflatterten
Freudentage im Pfarrgarten. Er verhieB ihr feierlich,ihr Ostergast
zu sein mit ihrem Bruder und statt der Kopfe und Fenster ein-
ander nichts einzuschlagen als Eier; er rastete nicht, bis er der
alte wieder war, und sie die alte. Da sie die Langduodez-Ge-
schichte des Dorfes und Vaters den beiden nur aus Liebe lacheln-
20 den Hofleuten gar nicht als eine Auszugmacherin oder in einer
verstummelten Ausgabe ablieferte, sondern in der Lange ihrer
Ruckenbander: so fuhlten Klotilde und Viktor, wie sanft ihnen
dieses Niedersteigen von den bunten spitzen Hofgletschern in die
weichen Taler der mittlern Stande tat, und sie sehnten sich beide
weg von glatten Herzen an warme. Unter den Menschen und
Borsdorferapfeln sind nicht die glatten die besten, sondern die
rauhen mit einigen Warzen. Dieses Sehnen nach aufrichtigern
Seelen war es auch wohl, was aus Klotilden die Behauptung
preBte: es gebe nur MiBheiraten zwischen den Seelen, nicht zwi^-
30 schen den Standen. Daher kam ihre wachsende Liebe gegen die
auBer dem Lohkasten eines Stammbaums, nur in der Gemeinhut
griinende Agathe - welche Liebe einmal ich und der Leser im
ersten Bande aus Scharfsicht fur den Deckmantel einer andern
Liebe gegen Flamin erklart haben, und die uns beiden den Tadel
gegen eine Heldin abgewohnen sollte, die ihn hintennach immer
widerlegt.
880 HESPERUS
Auf der dicken Brieftasche, die Agathe brachte, war die Hand-
schrift der Aufschrift von — Emanuel, welchen Klotilde alles an
die Pfarrerin iiberschreiben lieB, um ihrer Stiefmutter das - Zu-
machen ihrer Briefe abzunehmen. Die Frau Le Baut hatte diese
Einsicht der Akten, diese Sokrates-Hebammenkunst im Mini-
sterium erlernt, das ein Recht besitzt, Haussuchung in den Briefen
aller Untertanen zu tun, weil es sie entweder fiir Pestkranke oder
fur Gefangene halten kann, wenn es will. Wahrend die Stieftoch-
ter im Nebenzimmer das auBere Paket erbrach, weil sie aus seiner
Dicke einen EinschluB fiir den Doktor prophezeiete : hauchte 10
letzter aus Zufall - oder aus Absicht ; denn seit einiger Zeit legte er
iiberall seine Entzifferkanzleien der Weiber an, im engsten Win-
kel, in jeder Kleidfalte, in den Spuren gelesener Biicher - haucht*
er, sagt* ich, zufalligerweise an die Fensterscheiben, auf denen
man sodann lesen kann, was ein warmer Finger daran geschrieben
hat. Es traten nach dem unwillkiirlichen Hauche lauter franzo-
sische, mit dem Fingernagel skizzierte Anfang-S heraus. »S!« -
dacht' er - »das ist sonderbar: ich fange mich selber so an.«
Seine Vermutungen brach die mit einem seligentwolkten An-
gesicht wiederkommende Klotilde ab, die dem denkenden Medi- zo
kus einen groBen Brief von Emanuel reichte. Nach dieser iweiten
Freude folgte statt der dritten eine Neuigkeit; sie eroffnete ihm
jetzt, »daB endlich Emanuel sie instand gesetzt, eine gehorsame,
wenn auch nicht glaubige Patientin zu sein«. Sie hatte namlich
bisher den Vorsatz ihres Gehorsams und ihrer Friihlingkur so
lange verschwiegen, bis ihr Freund in Maienthal ihr ein Kranken-
zimmer - gerade Giulias ihres - bei der Abtissin auf einige Lenz-
monate ausgewirket hatte, damit da das Wehen des Friihlings ihre
gesunknen Schwingen hebe, der Blumenduft das zerspaltne Herz
ausheile, und der groBe Freund die groBe Freundin aufrichte. 30
Viktor entwich eilend, nicht allein aus Hunger und Durst nach
dem Inhalte seiner Hand, sondern weil eine neue Gedankenflut
durch seine alten Gedankenreihen brach. - »Bastian!« (sagte Ba-
stian un'terweges zu sich) »ich hielt dich oft fiir dumm, aber fiir so
dumm nicht - Nein, es ist siindlich, wenn ein Mann, ein Hof-
Medikus, ein Denker, monatelang dariiber spintisieret, oft halbe
25. HUNDPOSTTAG 88l
Abende, und doch die Sache nicht eher herausbringt, als wenn er
sie hort, jetzt erst - Wahrlich sogar das Fenster-S passet an!« -
Ich und der Leser wollen ihm das aus den Handen nehmen, womit
er sich hier vor uns steinigt; denn er wirft nach uns beiden eben-
sogut, weil wir ebensogut nichts erraten haben wie er. Kurz, der
versteckte Gluckliche, der die schdne Klotilde zur Unglucklichen
macht, und fur den sie ihre stumme scheue Seele ausseufzet, und
der fur ihre meisten Reize gar keine Augen hat, ist der blinde -
Julius in MaienthaL Daher will sie hin.
10 Ich wollt' einen Folioband mit den Beweisen davon voll-
bringen: Viktor zahlte sie sich an seinen fiinf Fingern ab. Beim
Daumen sagt' er: »Des Julius wegen sucht sie die kleine Julia, so
ists auch mit Giulia« - beim Schreibflnger sagte er: »Das franzo-
sische Anfang-J sieht wie ein S ohne Querstrich aus« - beim
Mittelfinger: »Die Minerva hat ihm ja nicht bloB die Flote, son-
dern auch Minervens schones Gesicht beschert, und in dieses
blinde Amors-Gesicht konnte Klotilde sich ohne Erroten ver-
tiefen; schon aus Liebe gegen seinen Freund Emanuel hatte sie ihn
geliebt« - beim Ringfinger: »Daher ihre Verteidigung der MiB-
20 heiraten, da sein biirgerlicher Ringfinger an ihren adeligen kom-
men soll« - beim Ohrfinger: »Beim Himmel! das alles beweiset
nicht das geringste.«
Denn nun uberstromten ihn erst die ganzen Beweise: im ersten
Bande dieses Buchs kam oft ein unbekannter Engel zu Julius und
sagte : »Sei fromm, ich schweb' um dich, ich beschirme deine ein-
gehullte Seele - ich gehe in den Himmel zuriick.« -
Zweitens: dieser Engel gab einmal Julius ein Blatt und sagte:
»Verbirg es, und nach einem Jahr, wenn die Birken im Tempel
griinen, laB es dir von Klotilden vorlesen: ich entfliehe, und du
30 horst mich nicht eher als uber ein Jahr.« — Alles das lag ja Klo-
tilden wie angegossen an : sie konnte dem Blinden nie ihr sterben-
des Herz aufdecken - sie ging gerade jetzt (wie lange ist noch auf
Pfingsten?) nach Maienthal, um das Blatt, das sie ihm in der Cha-
raktermaske eines Engels gereicht, selber vorzulesen - endlich
ging sie ja gerade damals nach St. Liine ab — kurz, aufs Haar
trifft alles zu.
882 HESPERUS
Wenn der Lebensbeschreiber ein Wort dareinsprechen dtirfte:
so war' es dieses: Der Berghauptmann, der Lebensbeschreiber,
glaubt seines Orts alles recht gern; aber Klotilden, die bisher aus
jedem Schmutznebel weiB strahlend herausging, und an der man,
wie an der Sonne, so oft Wolken mit Sonnenflecken vermengte,
kann er so lange nicht tadeln, bis sie es selber vorher tut. Viktor
hat sogar, wie ich in der ersten Auflage, manche Beweise ver-
gessen, die fur Klotildens Liebe gegen Julius reden : z. B. den war-
men Anteil an dessen Blindheit und ihren Wunsch seiner Heilung
(im Briefe an Emanuel), Flamins veraltete Eifersucht in Maien- i<
thai, sogar die Wonne, mit der sie im Schauspielhaus das Tal ein
Eden nennt und die Lethe ausschlagt.
Viktor riB das Paket entzwei, und zwei Blattchen fielen aus
einem groBen Blatte heraus. Das eine Blattchen und das groBe
Blatt waren von Emanuel, das zweite vom Lord. Er studierte das
letzte, in doppelten ChifTern geschriebne zuerst; folgendes:
»Im Herbst komm* ich, wenn die Apfel reifen. — Die Dreieinig-
keit« (der Lord meint des Fiirsten drei Sohne) »ist gefunden; aber
die vierte Person in der Gottheit« (der vierte Iustige Sohn) »fehlet.
- Fliehe aus dem Palaste der Kaiserin aller ReuBen,« (- mit dieser *
ChifTer hatten beide den Minister Schleunes zu bezeichnen vef-
abredet -) »aber die GroBfiirstin (Joachime) meide noch mehr : sie
will nicht lieben, sondern herrschen, sie will kein Herz, sondern
einen Furstenhut. - In Rom« (er meint Agnola) »hiite dich vor
*dem Kruzifix, aus dem ein Stilett springt! Denk an die Insel, eh'
du fehlest.«
Viktor erstaunte anfangs iiber die zufallige Angemessenheit
dieser Verbote; aber da er sich bedachte, daB er sie ihm schon auf
der Insel gegeben haben wiirde, wenn sie sich nicht auf seine
neuern Begebenheiten bezogen : so erstaunt' er noch mehr iiber 3<
die Kanale, durch welche seinem Vater die Spionen-Depeschen
von Seinen jetzigen Verhaltnissen zugekommen sein mogen
(- konnte denn mein Korrespondent und Spion nicht auch des
Vaters seiner sein? -), und am meisten uber die Warnung vor
25. HUNDPOSTTAG 883
Joachimen. »0! wenn diese gegen mich falschware!« sagte er
seufzend und mochte das triibe Bild und den Seufzer nicht voll-
enden. Sondern er vertrieb beide durch das kleine Blatt von
Emanuel, das so klang:
»Mein Sohn!
Die Morgenrote des Neujahrs schien iiber den Schnee an mein
Angesicht, als ich das Papier hinlegte,« (Emanuels zweiten, so-
glekh folgenden Brief) »auf das ich zum letzten Male meine Seele
mit alien ihren iiber diese Kugel hinausreichenden Bildern ab-
o zudrucken suchte. Aber die Flammen meiner Seele wehen bis zum
Korper und sengen den mtirben Lebensfaden ab; ich muBte oft
die zu leicht blutende Brust vom Papier und von der Entzuckung
wegwenden.
Ich habe, mein Sohn, mit meinem Blut an dich geschrieben. -
Julius denkt jetzo Gott. - Der Lenz gluht unter dem Schnee und
richtet sich bald auf aus dem Grunen und bluht bis an die Wolken.
- Meine Tochter (Klotilde) fiihrt den Friihling an der Hand und
kommt zu mir - Sie nehme meinen Sohn an die andre Hand und
lege ihn an meine Brust, worin ein zerlaufender Atem istoind ein
o ewiges Herz . . . O wie tonen die Abendglocken des Lebens so me-
lodisch um mich! - Ja wenn du und deine Klotilde und tinser Ju-
lius, wenn wir alle, die wir uns lieben, beisammen stehen; wenn
ich eure Stimmen hore: so werd' ich gen Himmel blicken und
sagen : die Abendglocken des Lebens umtonen mich zu wehmutig,
ich werde vor Entzuckung noch friiher sterben als vor dem Iang-
sten Tage, und ehe mir mein verewigter "Vater erschienen ist.
Emanuel.«
Lieber Emanuel, das wirst du leider ! Der Freuden-Himmel dringt
an deinen Mund, und unter Wehen, unter Tonen, unter Kussen
o saugt er dir den flackernden Atem aus; denn der Erdenleib, der
nur grasen, nicht pflucken will, verdauet nur niedrige Freuden, und
erkaltet unter dem Strahl einer hokern Sonne! —
884 HESPERUS
Mit Ruhrung zieh' ich von Viktors entzweigedrucktem un-
kenntlichen Angesicht den Schleier weg, der seine Schmerzen be-
deckt. La6 dich anschauen, trostloser Mensch, der einem Friih-
ling entgegengeht, wo sein Herz alles verlieren soil, Emanuel
durch den Tod, Klotilde durch Liebe, Flamin durch Eifersucht,
sogar Joachime durch Argwohn ! LaB dich anschauen, Verarmter,
ich weiB, warum dein Auge noch trocken ist, und warum du ge-
brochen und den Kopf schiittelnd sagst; »Nein, mein teurer Ema-
nuel, ich komme nicht, denn ich kann ja nicht.« - Es atzte sich in
dein Herz am tiefsten, daB gerade dein treuer Emanuel noch i
glaubte, du wiirdest von seiner Freundin geliebt. - Der unent-
wickelte Schmerz ist ohne Trane und ohne Zeichen; aber wenn
der Mensch das Herz voll zusammenflie Bender Wunden durch
Phantasie aus dem eignen Busen zieht und die Stiche zahlt und
dann vergisset, daB es sein eignes ist : so weint er mitleidig iiber
das, was so schmerzhaft in seinen Handen schlagt, und dann be-
sinnt er sich und weint noch mehr. — Viktor wollte gleichsam die
starre Seele aus den gefrornen Tranen warmend Iosen und ging
ans Erkerfenster und make sich, indes die verhaltene Abendglut
des Marzes aus dem Gewolke iiber den -maienthalischen Bergen 2
brannte, Klotildens Vermahltag mit Julius vor - O, er zog, um
sich recht wehe zu tun, einen Fruhlingtag iiber das Tal, der Ge-
nius der Liebe schlug iiber den Traualtar den blauen Himmel auf
und trug die Sonne als Brautfackel ohne Wolkendampf durch die
reine UnermeBlichkeit. - Da ging an jenem Tage Emanuel ver-
klart, Julius blind, aber selig, Klotilde errotend und langst ge-
nesen, und jeder war glucklich - Da sah er nur einen einzigen
Unglucklichen in den Blumen stehen, sich namlich; da sah er,
wie dieser Betriibte wortkarg vor Schmerzen, frohlich aus Tu-
gend, naher und vertrauter mit der Braut aus Kalte, so ungekannt, 3
eigentlich so entbehrlich mit herumgeht, wie ihm das schuldlose
Paar mit jedem Zeichen der Liebe alles vorrechnet, was er ver-
loreri, oder gar aus Schonung diese Zeichen verhehlt, weil es sei-
nen Gram errat - dieser Gedanke fuhr gleich einer Lohe wider
ihn — , und wie er endlich, weil die beladene Vergangenheit alle
seine getoteten Hoffnungen und seine entfarbten Wunsche vor
25. HUNDPOSTTAG 885
ihn tragt, sich umwendet, wenn das geliebte Paar von ihm zum
Altar und zum ewigen Bunde geht, wie er sich trostlos umwendet
nach den stillen leeren Fluren, um unendlich viel zu weinen, und
wie er dann so allein und dunkel in der schonen Gegend bleibt und
zu sich sagt: »Deiner nimmt sich heute kein Mensch an - niemand
driickt deine Hand, und niemand sagt: Viktor, warum weinst du
so? — O dieses Herz ist so* voll unaussprechlicher Liebe wie eines,
aber es zerfallt ungeliebt und ungekannt, und niemand stort sein
Sterben und sein Weinen - Doch, doch, o Julius, o Klotilde,
10 wunsch' ich euch ewiges Gliick und lauter zufriedne Tage«....
Dann konnt' er nicht mehr; er legte die Augen in die Hand und
an den Fensterrahmen und erlaubte ihnen alles und dachte nichts
mehr; der Schmerz, der wie eine Klapperschlange mit aufgeris-
senem Rachen ihn und sein Entgegentaumeln angeschauet hatte,
driickte ihn jetzt, ergriffen und hineingeschlungen, auseinander . . .
Weiche Herzen, ihr qualet euch auf dieser felsichten Erde so
sehr wie harte den andern - den Funken, der nur eine Brandwunde
macht, schwinget ihr zum Feuerrade um, und unter den Bliiten
ist euch ein spitzes Blatt ein Dornl... Aber warum, sag* ich zu
20 mir, zeigst du deines Freundes seines und offnest entfernte ahn-
liche Wunden an geheilten Menschen? O antwortet fur mich, ihr,
die ihr ihm gleicht: mochtet ihr eine einzige Trane entbehren?
Und da die Leiden der Phantasie unter die Freuden der Phantasie
gehoren: so ist ja ein nasses Auge und ein schwerer Atemzug das
geringste, womit wir eine schone Stunde kaufen
- Der Stolz - die beste Widerlage gegen weichliche Tranen -
wischte sie meinem Helden ab und sagte ihm vor: »Du bist so
viel wert wie die, weiche glticklicher sind; und wenn ungliick-
liche Liebe dich bisher schlimm machte, wie gut k6nnte dich nicht
jo die gliickliche machen !« - Es war Stille in ihm und auBer ihm; die
Nacht war am Himmel; er las Emanuels Brief.
»Mein Horion!
Vor einigen Stunden hat die Zeit ihre Sanduhr umgekehrt, und
jetzo rieselt der Staub eines neuen Jahres nieder. - Der Uranus
886 HESPERUS
schlagt unserer kleinen Erde die Jahrhunderte, die Sonne schlagt
die Jahre, der Mond die Monate; und an dieser aus Welten zu-
sammengesetzten Konzertuhr treten die Menschen als Bilder her-
aus, die freudig rufen und tonen, wenn es schlagt.
Auch ich trete froh heraus unter das schone Neujahrmorgen-
rot, das durch alle Wolken glimmt und den hohen halben Himmel
heraufbrennt. In einem Jahre sen' ich aus einer andern Welt in die
Sonne : o wie wallet dieses letzte Mai mein Herz unter dem Erden-
gewolk von Liebe iiber, gegen den Vater dieser schonen Erde,
gegen seine Kinder und meine Geschwister, gegen diese Blumen- ™>
wiege, worin wir nur emma/erwachen, und unter ihrem Wiegen
an der Sonne nur ezn/Tza/entschlafen!
Ich erlebe keinen Sommertag mehr, darum will ich den schon-
sten, wo ich mit deinem Julius 1 zum ersten Male betend durch
Lichtwolken und durch Harmonien drang und mit ihm vor einem
donnernden Throne niederfiel und zu ihm sagte: >Oben in der un-
ermeBlichen Wolke, die man die Ewigkeit nennt, wohnt der, der
uns geschaffen hat und liebt< — diesen Tag will ich heute in meiner
Seele wiederholen; und nie erlosche er auch in meinem Julius und
Horion! 2°
Ich habe oft zu meinem Julius gesagt : >Ich habe dir den groBten
Gedanken des Menschen, der seine Seele zusammenbeugt und
doch wieder aufrichtet auf ewig, noch nicht gegeben; aber ich
sage dir ihn an dem Tage, wo dein und mein Geist am reinsten
ist, oder wo ich sterbe.< Daher bat er mich oft, wenn sein Engel bei
ihm gewesen war, oder wenn die Flote und die schauernde Nacht
oder der Sturm ihn erhoben hatte : >Sage mir, Emanuel, den groB-
ten Gedanken des Menschen !< -
Es war an einem holden Juliusabend, wo mein Geliebter an
meinem Busen auf dem Berge unter der Trauerbirke lag und 30
weinte und mich fragte : >Sage mir, warum ich diesen Abend so
sehr weine! - Tust du es denn nie, Emanuel? Es fallen aber auch
warme Tropfen von den Wolken auf meine Wangen.< - Ich ant-
wortete: >Im Himmel Ziehen kleine warme Nebel herum und ver-
1 Julius wurde erst im zwolften Jahre blind und hatte also Vorstellungen
des Gesichts.
25. HUNDPOSTTAG 887
schutten einige Tautropfen; aber geht nicht der Engel in deiner
■ Seele auf und nieder? Denn du streckest deine Hand aus, um ihn
anzuriihren.< - Julius sagte: >Ja, er steht vor meinen Gedanken;
aber ich wollte nur dich anruhren; denn der Engel ist ja aus der
Erde gegangen, und ich sehne mich recht nach seiner Stimme.
In mir wallen Traumgestalten ineinander, aber sie haben keine so
hellen Farben wie im Schlafe - lachelnde Angesichter blicken
mich an und kommen mit aufgebreiteten Schattenarmen auf mich
und winken meiner Seele und zerflieBen, eh' ich sie an mein Herz
10 andriicke — Mein Emanuel, ist denn dein Angesicht nicht mit
unter meinen Schattengestalten?< Hier schloB er sein nasses An-
gesicht gliihend an meines, das ihm abgeschattet vorzuschweben
schien; eine Wolke sprengte das Weihwasser des Himmels iiber
unsre Umarmung, und ich sagte: >Wir sind heute so weich bloB
durch das, was uns umringt und was ich jetzt sehe.< - Er ant-
wortete: >0 sage mir es, was du siehest, und hore nicht auf, bis
die Sonne hinabgegangen ist.<
Mein Herz schwamm in Liebe und zitterte in Entziicken unter
meiner Rede: >Geliebter, die Erde ist heute so schon, das macht
20 ja den Menschen weicher - der Himmel ruht kiissend und liebend
an der Erde, wie ein Vater an der Mutter, und ihre Kinder, die
Blumen und die schlagenden Herzen, fallen in die Umarmung ein
und schmiegen sich an die Mutter. - Der Zweig hebt leise seinen
Sanger auf und nieder, die Blume wiegt ihre Biene, das Blatt seine
Miicke und seinen Honigtropfen - den ofFnen Blumenkelchen
hangen die warmen Tranen, in die sich die Wolken zerteilen,
gleichsam in den Augen, und meine Blumenbeete tragen den auf-
gebauten Regenbogen und sinken nicht - Die Walder liegen sau-
gend am Himmel, und trunken von Wolken stehen alle Gipfel in
30 stiller WoIIust fest - Ein Zephyr, nicht starker als ein warmer
Seufzer der Liebe, hauchet vor unsern Wangen'vorbei unter die
rauchenden Kornbliiten und treibt Samen-Staubwolken auf, und
ein Luftchen urns andre gaukelt und spielt mit den fliegenden
Ernten der Lander, aber es legt sie uns hin, wenn es gespielt hat -
- O Geliebter, wenn alles Liebe ist, alles Harmonie, alles liebend
und geliebt, alle Fluren ein berauschender Blutenkelch, dann
888 HESPERUS
streckt wohl auch im Menschen der hohe Geist die Arme aus und
will mit ihnen einen Geist umschlingen, und dann, wenn er die
Arme nur an Schatten zusammenlegt, dann wird er sehr traurig
vor unendlicher, vor unaussprechlicher Sehnsucht nach Liebe.< -
>Emanuel, ich bin auch traurig<, sagte mein Julius.
>Siehe, die Sonne zieht hinab, die Erde hiillet sich zu - laB mich
alles noch sehen und es dir sagen.... Jetzo fliehet eine weiBe
Taube, wie eine groBe Schneeflocke, blendend uber das tiefe
Blau . . . Jetzo zieht sie um den Goldfunken des Gewitterableiters
herum, gleichsam um einen im Taghimmel aufgehangenen glim- :
menden Stern - o sie woget und woget und sinkt und ver-
schwindet in den hohen Blumen des Gottesackers .... Julius, fuhl-
test du nichts, da ich sprach? Ach die weiBe Taube war vielleicht
deih Engel, und darum zerfloB heute vor seiner Nahe dein Herz -
Die Taube fliegt nicht auf, aber Tau-Wolken, wie abgerissene
Stiicke aus Sommernachten, mit einem Silberrand, ziehen uber
den Gottesacker und iiberfarben die bliihenden Graber mit Schat-
ten Jetzo. schwimmt ein solcher vom Himmel fallender Schat-
ten auf uns her und iiberspult unsern Berg Rinne, rinne,
fliichtige Nacht, Bild des Lebens, und verdecke mir die fallende :
Sonne nicht lange ! . ... UnserWolkchen stent in Sonnenflammen ....
o du holde, so sanft hinter dem Erdenufer zuriickblickende Sonne,
du Mutterauge der Welt, dein Abendlicht vergieBest du ja so
warm und langsam wie rinnendes Blut aus dir und erblassest sin-
kend, aber die Erde, in Fruchtscrmiiren und Blumenbandern auf-
gehangen und an dich gelegt, rotet sich neugeschaffen und vor
schwellender Kraft .... Hore, Julius, jetzo tonen die Garten - die
Luft summet - die Vogel durchkreuzen sich rufend - der Sturm-
wind hebt den groBen Fliigel auf und schlagt an die Walder; hore,
sie geben das Zeichen, daB unsre gute Sonne geschieden ist . . . .
O Julius, Julius,< (sagt' ich und umfaBte seine Brust) >die Erde
ist groB - aber das Herz, das auf ihr ruht, ist noch groBer als die
Erde und groBer als die Sonne . . . Denn es allein denkt den grofiten
GedankenA
Plotzlich ging es vom Sterbebette der Sonne kiihl wie aus einem
Grabe daher. Das hohe Luftmeer wankte, und ein breiter Strom,
25. HUNDPOSTTAG 889
in dessen Bette Walder niedergebogen lagen, brauste durch den
Himmel die Lauf bahn der Sonne zuruck. Die Altare der Natur,
die Berge, waren wie bei einer groBen Trauer schwarz uberhiillt.
Der Mensch war vom Nebelgewolbe auf die Erde eingesperrt und
geschieden vom Himmel. Am FuBe des Gewolbes leckten durch-
sichtige Blitze, und der Donner schlug dreimal an das schwarze
Gewolbe. Aber der Sturm richtete sich auf und riB es auseinander ;
er trieb die fliegenden Trummer des zerbrochenen Gefangnisses
durch das Blau und warf die zerstiickten Dampfmassen unter den
10 Himmel hinab — und noch lange braust' er allein iiber die offne
Erde fort, durch die lichte gereinigte Ebene . . . Aber iiber ihm,
hinter dem weggerissenen Vorhang glanzte das Allerheiligste, die
Sternennacht. -
Wie eine Sonne ging der groBte Gedanke des Menschen am
Himmel auf- meine Seele wurde eingedrikkt, wenn ich gen Him-
mel sah — sie wurde aufgehoben, wenn ich auf die Erde sah -
Denn der Unendliche hat in den Himmel seinen Namen in
gliihenden Sternen gesaet, aber auf die Erde hat er seinen Namen
in sanften Blumen gesaet.
20 >0 Julius,< sagt* ich, >bist du heute gut gewesen?< - Er ant-
wortete: >Ich habe nichts getan, auBer geweint.<
>Julius, knie nieder und entferne jeden bosen Gedanken - hore
meine Stimme beben, fiihle meine Hand zittern - ich knie neben
dir.
Wir knien hier auf dieser kleinen Erde vor der Unendlichkeit,
vor der unermeBlichen, iiber uns schwebenden Welt, vor dem
leuchtenden Umkreis des Raums. Erhebe deinen Geist und denke,
was ich sehe. Du horst den Sturmwind, der die Wolken um die
Erde treibt — aber du horst den Sturmwind nicht, der die Erden
30 um die Sonne treibt, und den groBten nicht, der hinter den Son-
nen weht und sie um ein verhiilltes All fiihrt, das mit Sonnen-
flammen im Abgrund liegt. Tritt von der Erde in den leeren Ather :
hier schwebe und siehe sie zu einem fliegenden Gebirge ein-
schwinden und mit sechs andern Sonnenstaubchen um die Sonne
spielen - ziehende Berge, denen Hugel 1 nachflattern, stiirzen vor-
1 Planeten mit Monden.
890 HESPERUS
iiber vor dir und steigen hinauf und hinab vor dem Sonnenschein
- dann schau umher im runden, blitzenden,hohen, aus kristalli-
sierten Sonnen erbaueten Gewolbe, durch dessen Ritzen die un-
ermeBliche Nacht schauet, in der das funkelnde Gewolbe hangt -
Du fliegst Jahrtausende, aber du trittst nicht auf die letzte Sonne
und in die grofle Nacht hinaus - Du schlieBest das Auge zu und
wirfst dich mit einem Gedanken iiber den Abgrund und iiber die
ganze Sichtbarkeit, und wenn du es wieder offnest, so umkreisen
dich, wie Seelen Gedanken, neue hinauf.- und hinabsturmende
Strome aus lichten Wellen von Sonnen, aus dunkeln Tropfen von 10
Erden, und neue Sonnenreihen stehen einander wieder aus Mor-
gen und Abend entgegen, und das Feuerrad einer neuen Milch-
straBe walzt sich um im Strom der Zeit - Ja dich rucke eine un-
endliche Hand aus dem ganzen Himmel, du siehest zuruck und
heftest dein Auge auf das erblassende eintrocknende Sonnenmeer,
endlich schwebt die entfernte Schopfung nur noch als ein bleiches
stilles Wolkchen tief in der Nacht, du diinkst dich allein und
schauest dich um und ebensoviel Sonnen und MilchstraBen
flammen herunter und hinauf, und das bleiche Wolkchen hangt
noch zwischen ihnen bleicher, und auBen um den ganzen blen- '«>
denden Abgrund ziehen sich lauter bleiche stille Wolkchen. —
O Julius, o Julius, zwischen den wandelnden Feuerbergen,
zwischen den von einem Abgrund in den andern geschleuderten
MilchstraBen, da flatten ein Bliitenstaubchen, aus sechs Jahrtausen-
den und dem Menschengeschlecht gemacht- Julius, wer erblickt
und wer versorgt das flatternde Staubchen, das aus alien unsern
Herzen besteht? -
Ein Stern wurde jetzt herabgeschlagen. Falle willig, Stern, in
die Luft der Erde geheftet, auch die Sterne iiber der Erde taumeln
wie du in ihre entlegnen Graber herab - das Weltenmeer ohne Ufer 30
und ohne Grund quillet hier, versieget dort; die Miicke, die Erde,
fliegt um das Sonnenlicht und sinkt in das Licht und zerbrockelt -
O Julius, wer erblickt und erhalt das flatternde Staubchen auf der
Miicke, mitten im garenden, grunenden, verwitternden Chaos?
O Julius, wenn jeder Augenblick einen Menschen und eine Welt
zerlegt - wenn die Zeit iiber die Kometen geht und sie austritt wie
25. HUNDPOSTTAG 89I
Funken und die verkohlten Sonnen zerreibt - wenn die Milch-
straBen nur wie zuriickfahrende Blitze aus dem groBen Dunkel
dringen - werin eine Weltenreihe um die andere in den Abgrund
hinuntergezogen wird, wenn das ewige Grab nie voll wird und
der ewige Sternenhimmel nie leer: o mein Geliebter, wer erblickt
und erhalt denn uns kleine Menschen aus Staub? - Du, Allgutiger,
erhaltst uns, du, Unendlicher, du, o Gott, du bildest uns, du siehest
uns, du liebest uns - O Julius, erhebe deinen Geist und fasse den
groBten Gedanken des Menschen! Da wo die Ewigkeit ist, da wo
10 die UnermeBlichkeit ist und wo die Nacht anfangt, da breitet ein
unendlicher Geist seine Arrrie aus und legt sie um das groBe
fallende Welten-All und tragt es und warmt es. Ich und du und
alle Menschen und alle Engel und alle Wurmchen ruhen an seiner
Brust, und das brausende schlagende Welten- und Sonnenmeer
ist ein einziges Kind in seinem Arm. Er siehet durch das Meer
hindurch, worin Korallenbaume voll Erden schwanken, und sieht
an der kleinsten Koralle das Wurmchen kleben, das ich bin, und
er gibt dem Wurmchen den nachsten Tropfen und ein seliges
Herz und eine Zukunft und ein Auge bis zu ihm hinauf - ja, o
20 Gott, bis zu dir hinauf, bis an dein Herz.< -
Unaussprechlich geruhrt sagte weinend Julius: >Du siehst, o
Geist der Liebe, also auch mich armen Blinden - o! komm in
meine Seele, wenn sie allein ist, und wenn es warm und still auf
meine Wan gen regnet, und ich dazu weine und eine unaussprech-
liche Liebe fuhle: ach du guter groBer Geist, dich nab' ich gewiB
bisher gemeint und geliebt! - Emanuel, sage mir noch viel, sage
mir seine Gedanken und seinen Anfang.<
>Gott ist die Ewigkeit, Gott ist die Wahrheit, Gott ist die Hei-
ligkeit - er hat nichts, er ist alles - das gan^e Heri fasset ihn, aber
30 kein GeJanke; und Er denkt nur uns, wenn wir ihn denken. Alles
Unendliche und Unbegreif liche im Menschen ist sein Widerschein ;
aber weiter denke dein Schauder nicht. Die Schopfung hangt als
Schleier, der aus Sonnen und Geistern gewebt ist, iiber dem Un-
endlichen, und die Ewigkeiten gehen vor dem Schleier vorbei und
ziehen ihn nicht weg von dem Glanze, den er verhiilleu
Stumm gingen wir Hand in Hand den Berg hinab, wir ver-
892 HESPERUS
nahmen den Sturmwind nicht vor der Stimme unserer Gedanken,
und als wir in unsere Hiitte traten, sagte Julius: >Ich werde den
groBten Gedanken des Menschen immer denken, unter dem To-
nen meiner Flote, unter dem Brausen des Sturms und unter dem
Fallen des warmen Regens, und wenn ich weine, und wenn ich
dich umarme, und wenn ich im Sterben bin.< - Und du, mein ge-
liebter Horion, tue es auch.
Emanuel.«
Der kleine Erden-Kummer, die kleinen Erdengedanken waren
jetzt aus Horions Seele geflohen, und er ging, nach einem beten-
den Blick in den geoffneten Sternenhimmel, an der Hand des
Schlafs in das Reich der Traume hinein. — Lasset uns ihn nach-
ahmen und heute auf nichts weiter kommen. -
Ende des zweiten Heftleins
Drittes Heftlein
26.HUNDPOSTTAG
Drillinge - Zeusel und sein Zwillingbruder - die aufsteigende Periicke -
Entdeckung von Spitzbiibereien
Wenn ich in Coventgarden iiber das Trauerspiel geweint hatte :
so wiird' ich doch im Epiloge bleiben, den sie nachher halten, ob
ich gleich iiber ihn lachen miiBte. Allein nur aus dem Trauerspiele
fiihrt ein QuergaBchen in das Lustspiel, aber nicht aus dem Hel-
dengedicht; kurz der Mensch kann nach dem Erweicken, aber
nicht nach dem Erheben lachen. Ich darf es daher nie verstatten,
° daB ein Vielleser sogleich nach dem 25sten Kapitel dieses anfange.
Wenn man iiberhaupt selber zusieht, wie sie einen lesen - nam-
lich noch funfmal elender, gedankenloser, abgerissener, als man
schreibt - (ich rede bloB von FleiB; Kenntnisse fallen von selber
beim Lesen weg, und die Autorfeder kann die Lebengeister des
Lesers, wie der Pumpenstiefel das Wasser, doch nur auf eine ge-
wisse Hohe Ziehen) - wie sie bei den besten Stellen zwei Blatter
auf einmal umwenden, bald zwei ungleichartige Kapitel entern
lassen, bald in vier Wochen erst ein Kapitel gar hinauslesen, das
in einer Sitzung hatte durchsein sollen — wie solche klassische
io Leser oft kurz vor einem Besuche oder unter dem Andrehen oder
gar Ansengen der Haarwickel oder unter dem Auskammen der
Haare (die gar das erhabenste Kapitel einpudern) letztes lesen
oder ein riihrendes unter dem Keifen mit der ganzen Stube - wenn
man bedenkt, daB unter solche Leser die meisten Scheerauer und
Flachsenfinger gehoren, und bloB die Leserinnen nicht, die sich
in alle Bucher und Manner einzuschieBen wissen, und denen einer-
lei ist, was sie lesen oder heiraten - und wenn man gar die traurige
Betrachtung macht, daB, wenn iiber diese Leser nicht einmal der
Lesegroschen, den sie furs Buch bezahlen miissen, so viel Gewalt
to besitzt, um sie zum Genusse riihrender und erhabner Blatter zu
vermogen, daB es dieser lange Periode noch weniger erzwingen
896 HESPERUS
werde: so preiset man das deutsche Publikum glucklich, das doch
solche Werke nahren, an denen wie an Truthuhnern das Weifie
das beste ist.
Da ein solcher Truthahn auch die Wiener Zeitschrift ist, und
ich vorige Woche im Traume dachte, mein Hund schreibe daran :
so wirds hierher passen, daB ich meinen Irrsal widerrufe. Mir fallt
der Traum nicht auf — (da die Korrespondenzbestie gleichfalls
Hofmann 1 heiBt) -*, daB diese gar der in eine Hundshaut einge-
windelte und verpuppte Professor sei. Ich ware gar nicht darauf
verfallen, daB ein Professor der»praktischenE\oquenz« in der Form 1
eines Hundes der Welt Drucksachen apportierte, hatte nicht ein-
mal in Paris ein Kerl sich mit konterbanden Waren in eine Pudel-
haut einnahen lassen, um so verkappt durchs Tor zu kommen.
Schon aus der ungleichen GroBe beider Wesen hatt* ich wissen
konnen, welche Zeit es sei; aber ich ging im tollen Traume so
weit, daB ich den Hund wirklich examinierend zwickte und be-
fiihlte, als der Professor, den ich hinter dieser Charaktermaske
suchte, selber lebendig zur Tiir eintrat. Er hob zwar sofort alle
Verwechslung; ich legte mir aber, gleichsam um ihm Genugtuung
zu geben, die Strafe auf, das ganze Ding bekannt zu machen und *
noch dazu sein Mitarbeiter, d.h. seine Monattaube zu werden, die
monatlich heckt... Es sollen daher viele wirklich in der Wiener
Zeitschrift (denn in der ersten Auflage vergaB ich das zu sagen,
daB ich nur getraumt) nach Arbeiten von mir geforschet haben:
ist das moglich, ich bitte? —
Wir haben unsern Viktor unter lauter triiben Vermutungen
stehen lassen : jetzo finden wir ihn wieder vor einem Begegnis, das
sie alle bestatigt.
Wer den Apotheker Zeusel, um den sich der ganze Vorfall
dreht, nur von Horensagen kennt, weiB, daB er ein HasenfuB ist. 3
Besagter FuB - ein Hase und drr Teufel behalten, wenn auch das
ganze Fell abgestreift ist, noch den FuB - sah es gern, wenn ihn
1 Der Professor Hoffmann und seine Zeitschrift, worin er im Anfange der
Revolution jeden freien Geist als Thronenstiirmer gefangen nahm, ist frei-
lich langst vergessen; aber man kann ja den nachsten neuesten deutschen
Ultra statt seiner setzen.
26. HUNDPOSTTAG 897
ein Herr von Hofe ausschmausete und - auslachte; er konnte
nicht bescheiden verbleiben, sobald ihn ein Vornehmer zum Nar-
ren hatte. Der edle Matz benahm ihm daher seine Bescheidenheit
oft. Von diesem vertrug er wie die Flachsenfinger alles, von Vik-
tor nichts. Ich erklaV es nur daraus, weil Viktors Satiren allge-
mein und passend und fur das Bessern waren; die Menschen aber
vergeben lieber Pasquill als Satire, lieber Verleumdung als Er-
mahnung, lieber Spotten iiber Orthodoxe und Aristokraten als
Verniinfteln daruber 1 . - Demungeachtet, ob Zeusel gleich von
10 Matthieu diesesmalwiedergehanseltundgeprelletwurde^ollt'ers
ihm nicht recht vergeben, sondern bekam das Chiragra daruber.
Es war namlich kurz vor dem ersten April - manche haben.
jahrlich 365 erste Aprile -, als der Junker den Apotheker in jenen
April schickte. In St. Liine waren schon drei Bad- und Trinkgaste
angekommen, drei junge wilde Englander, die sich fur Drillinge
ausgaben, aber wahrscheinlich nur nacheinander, nicht mitein-
ander geborne Briider waren. BloB ihre Seelen schienen Drillinge
des Gemein- und Freiheitgeistes zu sein; sie waren so republika-
nisch, da 3 sie nicht einmal an dem Hofe erschienen, und hielten
20 wie jeder Englander uns alle (mich und den Leser und den Elo-
quenz-Professor) fur Christensklaven und die Freigelassenen fur
Steckenknechte. Die Zauberkraft eines ahnlichen Herzens trieb
bald den Regierrat Flamin in ihre kartesischen Wirbel; sie waren
kaum acht Tage da, so hatten sie mit ihm schon einen Klub beim
Kaplan gehalten. Er versprach ihnen auf Ostern das Gesicht ihres
Landsmanns Sebastian; und den edlen Matthieu hatt' er gleich
anfangs mitgebracht. Matzens Freiheitbaum war bloB ein satiri-
scher Dornstrauch; seine Satiren ersetzten die Grundsatze. Nur
ein einziger Drilling, den selber der Bose mit Hornern und Bocks-
fuBen, namlich der Satyr, ritt, konnte den beiBenden Evangelisten
und falschen Vte\he\t-Apostel recht leiden; denn in einem heitern
lichten Kopf nimmt jedes fremde Witz- und Blitzwort einen gro-
Bern Schimmer an, wie Johanniswurmchen in dephlogistisierter
Luftart heller glimmen.
1 Daher war es in Athen erlaubt, die Gotter zu verspotten, aber nicht zu
verneinen.
898 HESPERUS
Als Matthieu den Pfarrkutscher und den Lohnlakai der Eng-
ender, den Blasbalgtreter Zeusel - den Zwillingbruder des Apo-
thekers -, erblickte : erfand er etwas, das ich eben erzahlen werde.
Der Apotheker muBte sich bekanntlich seines leiblichen Bruders
schamen, weil er ein bloBer Balgtreter war und keinen andern
Wind machte als musikalischen - und weil er ferner schlechte
innere Ohren und auBen gar keine hatte. Jedoch hatt' er sich wegen
der letzten mit einem gerichtlichen Zeugnis gedeckt, das ihm nach-
riihmte, daB er seine Schallmuscheln auf eine ehrliche Art durch
einen Bader verloren, der ihm von seiner Schwerhorigkeit helfen ic
wollen. Aber sein Kopf war sein Ohr. Wenn er einen Stab an den
Redner oder an seinen Sessel hielt, oder wenn man gerade iiber
seinem Kopfe predigte: so horte er recht gut. Hatter erzahlt ahn-
liche Beispiele, z. B. von einem Tauben, der allemal einen Iangen
Stock an die Kanzel als Leiter und Steg der Andacht stieB. Seine
Taubheit, die ihn eher zu einem hochsten Staatsbedienten, als zu
einem Lehnbedienten berief, wendete ihm gerade den Sieg iiber
andere Wahlkandidaten zu, weil dem Kato dem Altern - so hieB
sich der lustige Englander - seine narrische Stellung gefiel.
Der edle Matthieu, dessen Herz eine ebenso dunkle Farbe hatte 2 <
wie seine Haare und Augen, hing die Drillinge als Koder-Wiirm-
chen an die Angel, um den Apotheker zwischen seinem und Fla-
mins Arm nach St. Liine zu bringen. Zeusel ging freudig mit und
ahnete das Ungliick nicht, das ihn erwartete, namlich seinen Bru-
der, mit dem ers schon seit vielen Jahren gegen etwas Gewisses
ausgemacht hatte, daB sie einander in Gesellschaften gar nicht
kennen wollten. Der Balgtreter' begriff ohnehin aus Einfalt gar
nicht, wie ein so vornehmer Mann wie Zeusel sein Bruder sein
konnte, und verehrte ihn im stillen von weitem; nur eine Sache
vertrug er nicht, trotz seiner blodsinnigen Geduld, die, daB sich y
derApotheker fiir denErstgebornen ausgab: »Bin ich nicht«,sagt'
er, »um eine Viertelelle Ianger und eine Viertelstunde alter als er?«
Er schwur, in der Bibel sei es verboten, seine Erstgeburt zu ver-
kaufen - und er war dann wie alle, denen eine dumme Geduld
ausreiBet, nicht mehr zu bandigen.
Der Apotheker bemerkte nach dem ersten Schrecken iiber den
26. HUNDPOSTTAG 899
dastehenden Bruder mit Vergniigen, daB niemand seine Verbru-
derung kenne; er wollte es daher auch nachtun und foderte vom
Bruder-Bedienten so kalt wie jeder, zu trinken. Der Balgtreter
besab, indem er den Kopf niederbog, damit der Bruder oben dar-
iiber die Befehle gabe, mit Erstaunen und wahrer Achtung die
silbernen Gattertore und Beinschellen auf den FiiBen seines Ver-
wandten und dessen Hiiftgehenk von Stahl-Girlanden der Uhren.
Zeusel hatte sich gern - ware dem Junker zu trauen gewesen -
gegen die Briten angestellt, als betrog* er sich und hielte des Tau-
10 ben Bucken fiir iibertriebene Kriecherei gegen Hofleute; er ware
dann imstande gewesen, dazuzusetzen, der Opisthotonus gegen
Niedere sei derselbe Krampf wie der Emprosthotonus 1 gegen
Hohere - aber wie gesagt, der Henker traue Hof junkern !
Die Briten indessen nahmen den Narren samt seiner Geldborse
am Hintern kaum wahr und wunderten sich bloB, was er da wolle.
Ihre republikanischen Flammen schlugen mit Flamins seinen zu-
sammen, und zwar so, daB der Hof junker sie fiir Franzosen und
fiir Reisediener und Zirkularboten der franzosischen Propaganda
wiirde genommen haben, wenn er nicht geglaubt hatte, nur ein
zo Narr konne eine versuchen und eine glauben. Matthieu hatte
Scharfsinn, aber keine Grundsatze -Wahrheiten, aber keineWahr-
heitliebe - Scharfsinn ohne Gefiihl — Witz ohne Zweck. Er war
heute nur darauf aus, durch losgezundete Streifschusse den Apo-
theker immer in der Angst zu befestigen, irgendeine Ideenver-
bindung werde ihn den Augenblick auf den dastehenden Bruder
lenken. So legt* er recht glucklich nebenher den armen HasenfuB
auf die Folter des »gespickten Hasens«, als er ironisch fiir den Ne-
potism us focht. »Die Papste, die Mimster« (sagt* er) »geben wich-
tige Posten nicht dem ersten besten, sondern einem Manne, den
;o sie genau gepriift haben, weil sie mit ihm fast auferzogen wurden,
namlich einem Blutfreund. Sie denken zu moralisch, als daB sie
nach ihrer Erhebung ihre Verwandten nicht mehr kennen sollten,
und sie halten den Hof fiir keinen Himmel, wo man nach seiner in
die Holle verdammten Magenschaft nichts fragt. Weil ein Minister
1 Emprosthotonus ist der Krampf, der den Menschen vorwdrts krummt -
der Opisthotonus beugt ihn riickwarts.
900 HESPERUS
so viet verdauen kann wie ein StrauB : so wundert man sich, daB
er nicht auch wie ein StrauB seine Eier voll Anverwandten in den
Sand und vor die Sonne wirft und ihr Aufkommen nicht dem Zu-
fall anvertrauet. Aber nichts vertragt sich weniger mit dem echten
Nepotismus als dies; ja selber der StrauB briitet zu Nacht und in
kaltern Orten personlich und unterlasset es nur dann, wo die
Sonne besser briitet: so sorgt auch der Mann von EinfluB nur in
solchen Fallen fur seine Vettern, wenn grofier Mangel von Ver-
diensten es fodert. Ich gesteh' es, die Moral kann so wenig Nepo-
tismus wie Freundschaften gebieten; aber das Verdienst ist desto i<
groBer, wenn man ohne alle moralische Verbindlichkeit mit sei-
nem Stammbaum gleichsam die halben Thronstufen iiberdeckt.«
- Dieser satirische Hiittenrauch und Schwaden nahm die Briten
fur ihn ein, zumal da der Rauch edle Metalle voraussetzte, nam-
lich die hochste Unparteilichkeit bei einem Sonne, dessen Vater
Minister war.
Da der Apotheker das Souper zerlegte - Matz hart' ihn ersucht,
le grand escuyer tranchant zu sein -, so paBte sein Freund es ab,
bis er einen groBen Truthahn an der Gabel hatte, urn ihn in der
Luft, wie Reiher die Fische, und noch dazu italienisch zu zer- *
fallen; dann nahm der Edle seinen Weg iiber den Partage-Trut-
hahn und iiber Polen durch die Wahlreiche, bis er in den Erb-
reichen anlangte, wo er stille lag, um da die Bemerkung zu machen,
daB ganz naturlicherweise der erste groBe Diktator seinen eignen
Sohn auf seinen Thron nach sich werde hinaufgezogen haben:
»so nab* er sich oft beim flachsenfingischen VogelschieBen an den
Kindern ergotzt, die mit den Kronen und Zeptern, welche die
Vater herabgeschossen, herumsprangen und damit warfen und
spiel ten .«- Der Taube unterhielt durch seinen Visierstab und seine
Ziindrute, die er an den Tisch stemmte, die freieste Verbindung 3
mit dem ganzen Klub und sah seinem arbeitenden Bruder zu, wie
er sagte und hie It. Matthieu, der den Vorschneider liebte, aber
die Wahrheit noch mehr, konnte seinetwegen nicht die Reflexio-
nen iiber die gekronten Erstgeburten unterschlagen, sondern er
merkte frei an, man sollte wenigstens unter der regierenden Fa-
milie, wenn auch nicht unter dem Volke, die Wahl frei haben.
26. HUNDPOSTTAG 9 01
»Jetzt denken wir nicht einmal wie die Juden, bei denen zwar eine
halbtierische MiBgeburt noch die Rechte eines Erstgebornen hat,
aber doch keine ganze tierische 1 .* - Der Balgtreter wurde durch
die fallopische Muttertrompete des Stabs mit neuen Ideen des
Erstgebornen geschwangert - sein Bruder wurde von der Angst
mehr zerlegt als der indische Hahn in der Luft. - Der Evangelist
fuhr fort: »Auch bei den Juden hat bloB die tierische Erstgeburt,
weil sie nicht mehr opfern diirfen, das beste Futter und ist heilig
und unverletzlich - das ubrige Vieh gehort unter die jungern
10 SohneA..,
- Darauf sagte er plotzlich und lachelnd das Kompliment : »Blofi
mein Freund hier mit dem Truthahn macht die glucklichste Aus-
nahme von meiner Behauptung und sein Herr Bruder mit dem
Stabe da die betriibteste; es sind aber Zwillinge, und er ist nur
eine Viertelstunde alter als der Taube.« Er wandte sich unbefan-
gen an den Gestabten, der sein Gesicht schon zum Krieg mobil
gemacht hatte : »Nicht wahr, eine Viertelstunde alter ?« - »Ja, straf '
mich Gott,« (sagt' er) »das bin ich: was sagt mein Bruder ?« - Der
Apotheker muBte matt den Dividendus an der Gabel senken, ob
20 er gleich durch die herabgeschnktenen Quotienten schon leichter
war. Der Balgtreter uberschauete fluchtig alle Gesichter und ent-
deckte iiberall darauf einen schweigenden Unglauben, den der
Junker durch seine kalten Versicherungen noch lesbarer machte.
»Der ganze Scherz« - sagte Zeusel leise - »ist wohl fiir niemand
interessant.« Da der Balgtreter die leise Exzeptionhandlung nicht
durch seinen langen Gehorknochen habhaft werden konnte - er
sah aber dann nicht ab, wie er seinen ProzeB und sein Erstge-
burtrecht behaupten wollte -, so trat er seinen Beweis an und
zog vier lange Fliiche als ebensoviel syllogistische Figuren
5° heraus und biickte den Kopf unter seinen Bruder, damit der
iiber demselben seine Salvationschrift einreichte. Der Apo-
theker, der nicht die Erstgeburt, sondern nur das wankend
machen wollte, daB er sein Bruder sei, und der ihn wegen
1 Siehe die Wochenschrift »Der Jude«, S. 380; z . B. nach dem Buch Lebusch
Atteret Sahaph ist ein Mensch mit einem Tierkopf eine menschliche Erst-
geburt, aber ein Insekt, ein ganzes Tier ist es nicht.
9©2 HESPERUS
Zweifel iiber dessen Titulaturen nicht gern anreden wollte, sagte
blttend zu Matthieu: »Geben Sie ihm recht, denn er weiB gar
nicht, wovon wir bisher gesprochen haben.« - Schnell und ab-
gerissen, aber mit einer unglaubigen Miene sagte daher der Jun-
ker zu ihm: »Er soil recht haben, mein Freund«, und setzte unter
dem Schein, ihn ablenken zu wollen, dazu: »recht frisch und jung
sieht er aus.« — »Bei Gott!« (versetzte er aufbrennend) »der da ist
junger; aber er kam hinter mir schon zusammengefahren auf die
Welt in der Gestalt eines Tabakbeutels — er ist aus den Bettel-
mannern 1 , die von mir abfielen, zusammengedreht und gezwirnt.« 10
Der Balgtreter brannte nun alle Kanonen auf dem Wall seines
Kopfes ab, erbittert durch die Essigmienen und Giftblicke und
die Unhorbarkeit seines Blutfreundes: er spannte daher den Dau-
men und den Ohrfinger aus und setzte sie wie ZirkelfiiBe an sein
eignes Gesicht, um es auszumessen ; dann wollt' er beide als ein
LangenmaB iiber das Gesicht seines Blutfreundes legen - er wiirde
dann, da der Mensch zehn Gesichtlangen hat, das fremde und sein
eignes Gesicht gegeneinander gehalten und dann aus ihrem ver-
schiedenen MaBe leicht auf ihre Statur geschlossen haben -; aber
der Apotheker wackelte, und der Balgtreter setzte den Daumen 20
ganz falsch iiber dem Kinnbacken ein. Hier hob den Daumen, der
sich in den wekhen Backen eintunken wollte, etwas Hartes und
Rundes auf, und der Balgdiener trieb durch das Heruntergleiten
an dem Kinnbacken eine Wachskugel zum Maule heraus, womit
der Apotheker seine eingekrempten Wangen ausgefiittert hatte
wie mit einem Polster, um das eingelegte Bildwerk des Gesichts
zum erhobenen aufzustiilpen. Die herausgleitende Kugel warf wie
eine Boselkugel den Apotheker um, d. h. seine Gelassenheit, und
er sagte zum Tauben, der jetzo gar zu einer Historie von seinem
Kahlkopfe uberschreiten wollte, mit blitzenden Augen nur so viel : JC
»Ihr Mensch habt keine Lebensart, und Euer alterer Bruder muB
Euch erst abhobeln.« Da aber der Kalkant schon in der Natur-
geschichte des Kahlkopfes fortschritt: so eilte Zeusel davon mit
der Entschuldigung, der Herr Hofmedikus Horion warte heut*
abends auf ihn. Der ernsthafteste unter den Englandern trat ganz
1 Die Spinner nennen das Abfallige der Baumwolle so.
26. HUNDPOSTTAG 9O3
nahe an ihn und sagte : »EmpfehIen Sie mich dem Doktor, und da
er so gute Kuren macht, so sagen Sie ihm in meinem Namen, Sie
waren ein groBer - Narr.«
Kaum war er zum Dorfe hinaus: so dauerte den Kalkanten der
Emigrant, und er wollte in der Historie des Kahlkopfes aufhoren.
Der Evangelist schickte ihn daher dem erbosten Zwilling nach,
urn ihn jetzt in der Nacht einzufangen; und nahm dafur selber den
historischen Faden auf. Namlich an einem Abend, wo der Hof
nicht im Schauspiel war, hielt der Hofapotheker (der Himmel
1D weiB wie) sein NuBknackergesicht aus einer der ersten Logen
heraus. Matthieu, damals noch Page, postierte den Balgtreter im
Scheitelpunkte seiner Periicke, namlich in der Galerie gerade uber
ihm. Der Kalkant lieB oben an einem unsichtbaren RoBhaar einen
kleinen Haken niedersteigen, der wie ein Raubvogel uber der
herausschauenden Periicke hing, die ich fur ein Ideal von Haaren
halte. Denn sie schien aus dem Kopfe, dem die Locken und die
Vergette langst ausgefallen waren, als Eingeborner und Fechser
herausgewachsen zu sein, und niemand nahm sie fur adoptiertes
Pelzwerk. Der Balgtreter HeB den Haken so lange uber der Periicke
*o wie einen Perpendikel schwanken, bis Gewifiheit da war, daB er
in die Vergette eingegriffen. Sofort bedient* er sich seiner Hande
als Fuhrmannwinden und hob (wie der Frost andre Gewachse)
die ganze Frisur aus den Wurzeln und zog langsam die Zopf-
perucke wie eine steigende Haar-Montgolfiere in die Hohe. Das
Parterre und der erste Dtbhaber und der Lichtputzer wurden vor
Erstaunen zu Eisschollen, da sie den Schwanzkometen in gerader
Aufsteigung zur Galerie aufgehen sahen. Auf dem Apotheker, der
seinen Kopf abgedeckt und kalt angeweht fiihlte, richteten sich
die wenigen naturlichen Haare auch empor vor Schrecken, wie
t o die kunstHchen ; und als er sich mit dem kahlen Scheitel umdrehte,
um der Kreuzerhohung seines Haarwuchses nachzusehen, HeB
sein Zwillingbruder (um nicht entdeckt zu werden) das ganze
harene Meteor, das dem Haar der Berenice im Himmel nachwollte,
gar unter die Leute herunterfallen vor seinem Gesichte vorbei und
sah gelassen herab auf die Kulmination im Nadir, wie die ganze
Galerie. —
904 HESPERUS
Wahrend unserer Erzahlung haben die Zwillinge einander ge-
prugelt. Der Erstgeburt-Akzessist rief drauBen auf dem mit Nacht
iiberdeckten Flachsenfinger Weg in einem fort: »Herr Hofapo-
theker!« Und da er keine Antwort vernehmen konnte, muBt* er
mit dem Horrohr an jedes Ding, ob es etwan rede, stochern. End-
lich stieB sein Visitiereisen an die Erstgeburt, und er ging hin, urn
sie um Vergebung und Retour zu ersuchen. Aber der Apotheker
war dermaBen im Kochen und Sprudeln, daB er, als der Balgtreter
seinen Kopf unterhielt, um dessen Antwort einzuholen, seine
Hand in eine Kugel anschieBen und sie wie einen Glockenhammer 10
auf die Pfeilnaht des untergehaltenen Hauptes fallen lieB, worauf
die Taucherglocke einen ordentlichen Ton angab. Der Apotheker
wiirde, wenn man ihn recht verstanden und ihm Zeit gelassen
hatte, durch diesen Zainhammer dieSuturenauf dem taubenHaupte
um vieles vorgehoben haben; aber so storte ihn sein eigner Bru-
der, der ihn am Kopfe - denn der Balgtreter wiirde seine Finger
als Schmucknadeln in die kunstlichen Haare gelegt und ihn daran
gelenkt haben, ware die Perucke am Kopfe festgemacht gewesen
- wie ein Gestrauch niederbog, um sein Horrohr als ein zweites
Riickgrat so stark und doch so behutsam iiber des Zwillings u
erstes zu legen, daB niemand komplizierte Frakturen davontrug
als der Hdrstab. — Darauf sagte er gute Nacht und empfahl ihm,
sich links zu halten, um nicht irrezugehen —
— Hatte ich gewuBt, daB diese Geschkhte so viele Blatter iiber-
schatten wiirde, ich hatte sie lieber weggeworfen. Am andern
Morgen stattete der unverschamte Matthieu einen Besuch beim
Kreuztrager ab, an dessen Handen jetzt das vom Zorn reifge-
warmte Chiragra gliihte; er wollte - weil er jeden Tadel seiner
Unverschamtheit mit einer groBern beantwortete — die gicht-
briichigen Hande zu neuen Katzenpfoten machen, um frische y
SpaB-Kastanien aus dem Feuer zu nehmen. Aber der Apotheker,
dessen Herz nur klein, aber doch nicht schwarz war, fuhlte sich
zu sehr gekrankt, und als Matthieu, iiber seine Klagen lachend
und schweigend, von ihm ging, ohne sich nur die Miihe einer Ent-
schuldigung zu geben: so schwur der Chiragrist, ihn - da haben
wir wieder den Narren - zu stiirzen.
26. HUNDPOSTTAG 9° 5
Tritt wieder auf, mein Viktor, ich sehne mich nach schonern
Seelen, als dieses Gebruder Narren da hat! - Niemand von uns
lebt und lieset so in den Tag hinein, daB er nicht wiiBte, in welcher
biographischen Zeitperiode wir leben : es ist namlich acht Tage
vor Ostern, wo Zeusel auf dem Krankenbette und Klotilde auf
dem Wege nach St. Liine ist. - Flamin hinterbrachte unserm Vik-
tor den SpaB mit dem kranken Zeusel. Er miBfiel ihm ganzlich,
so wie ihn Schriften wie der Antihypochondriakus, das Vademe-
kum oder die mundlichen Erzahler gedruckter SpaBe — die fade-
io sten aller Gesellschafter - ekelten. Er konnte nie eine Tierhatze
zwischen zwei Narren anlegen: nur der Entwurf eines solchen
Schlachtstiicks kitzelte seine Laune, absr nicht die Ausfiihrung, so
wie er Priigelszenen gern in Smollet (dem Meister darin) las und
dachte, aber niemals sehen mochte. Sogar von den Korper-Bon-
mots und Hand-Pointen am fremden Leibe dacht* er zu gering-
schatzig, die ich doch den stummen Witz (wie stumme Sunden)
nennen mochte, und die das wahre attische Salz kleiner Stadte
sind; denn wahrer Witz, diinkt mich, muB sich wie das Christen-
tum nicht in Worten, sondern in Werken offenbaren. Er sah
20 unsere Torheiten mit einem vergebenden Auge, mit humoristi-
schen Phantasien und mit dem ewigen Gedanken an die allgemeine
Menschennarrheit und mitschwermutigen Schlussen an. Sobald
er den bosen Punkt ausnahm, daB Zeusel sich jedem Edelmann
zum Miettier so lange, bis ihn dieser zuriickprugelte, vorstreckte,
wie man in Paris SchoBhunde zum Spazierengehen mieten kann:
so hatt' er gegen dessen Eitelkeit, da sie zumal in andern Fallen
gutmiitig, freigebig und oft sogar witzig war, wenig einzuwenden.
Niemand ertrug Eitelkeit und Stolz Hebreicher als er: »Was hat
denn der Mensch davon,« sagt' er viel zu lebhaft, »wenn er kein
3° Narr ist, oder wo soil er denn aufhoren, demutig zu sein? Ent-
weder zu gut oder gar nichts miissen wir von uns denken.«
Viktor stattete also bei seinem Hausherrn zugleicheinen freund-
schaftlichen und einen arztlichen Besuch mit seiner teilnehmenden
Seele ab. Diese Gesinnung griff herrlich in den Plan des Apothe-
kers ein, den Doktor anzuwerben, damit er gegen Matzen diene.
»Dazu brauche ich nichts,« (sagte Zeusel zu Zeusel) »als daB ich
9°6 HESPERUS
ihn die Intrigen, die das Schleunessche Haus gegen ihn spielet,
sehen Iasse, denn er ist ohne mich nicht raffiniert genug dazu.«
Denn er halt iiberhaupt den Helden der Hundposttage - ders auch
willig litt - ein wenig fur dumm, bloB weil dieser gutmutig, hu-
moristisch und gegen alle Menschen vertraulich war. In der Tat
gab ihm das Leben in der groBen Welt zwar geistige und korper-
liche Gewandtheit und Freiheit, wenigstens groBere; aber eine
gewisse auBere Wtirde, die er an seinem Vater, am Minister und
sogar oft an Matthieu wahrnahm, konnt* er niemals recht oder
lange nachmachen ; er war zufrieden, daB er eine hohere in seinem 10
Innern hatte, und fand es fast lacherlich, auf der Erde ernsthaft zu
sein, und zu gering, stolz auszusehen. Vielleicht konnten sich eben
darum Viktor und Schleunes nicht leiden; ein Mensch von Talen-
ten und ein Burger von Talenten hassen einander gegenseitig.
Eh' ich dem Apotheker erlaube, alle Faden des Schleunesschen
Kanker-Gespinstes vorzuzeichnen : will ich nur erklaren, warum
Zeusel hieruber so allwissend war, und doch Viktor so blind.
Dieser aber war es, weil er sich unter seinen Freuden auf das
Erraten gleichgiiltiger oder schlimmer Leute gar nicht legte;
er schwebte iiberhaupt wie ein Paradiesvogel immer in der Him- 20
melluft, vom Schmutzboden abgetrennt, und flog, wie alle Para-
diesvogel, der losen Federn wegen immer gegen den Wind; daher
bekam er, aus Mangel an Verbindungen, die munctticken Hofzei-
tungen erst, wenn alle Heiducken, die Lakaien der Pagen und die
Einheizer sie schon schwarz gelesen hatten; - oft gar nicht. - Der
Apotheker ist imentgegengesetzten Falle, weiler zwar die schlech-
ten Augen, aber auch die guten Ohren eines Maulwurfs hat, und
weil in der camera obscura seines ahnlichern Herzens sich leichter
die Bilder der verwandten Kniffe malen; noch dazu setzt er zwei
lange Horrohre - zwei Tochter - an die Kabinette oder vielmehr 30
an ihre Liebhaber an, die daraus kommen, und horcht durch die
Rohre manches weg, was ich in dieser Lebensbeschreibung recht
herrlich schon im dritten Heftlein nutzen kann. Es gibt Menschen
— der war so -, die nur Nachrichten, ohne Interesse fur den In-
halt, erhetzen wollen und Personalien ohne Realien, und die alle
groBe Gelehrte, aber keine Gelehrsamkeit - alle groBe Staats-
26. HUNDPOSTTAG 907
manner, aber keine Politik - alle Generate, ohne Liebe zum
Kriege - zu kennen suchen personlich und schriftlich.
Es kann sein, daB mancher feine Leser schon aus dem vorigen
von dem, was Zeusel jetzt entdecken will, Wind hat. Ich gebe des
Apothekers Darstellung in folgender verjiingten:
»Der Minister habe den Fiirsten sonst niemals in sein Interesse
ziehen konnen, selten in sein Haus; zwar nab' er zuweilen eine
Tochter, die ihm gefallen konnte, zu vermahlen nicht unterlassen ;
aber entweder das verschiedene Interesse des Tochtermanns war
, allemal dem seinigen ungiinstig, oder auch der EinfiuB Sr. Herr-
lichkeit (des Lords). Daher sei er mehr zu entschuldigen als zu
verdammen, daB er die Partei des Schwachern ergriffen, namlich
die der verlassenen Fiirstih, die doch allemal etwas sei, und welche
ihre italienischen Kiinste vielleicht nur noch verdecke. Im ganzen
genommen sei es also nicht unrecht, daB man die Furstin, die viel
Temperament habe, durch Matthieu an Schleunes* Haus zu kniip-
fen suche, worin man sich nach ihrer auBern Tugend-Grandezza .
geniere, indes man sie durch den Hofjunker iiber die Kdlte ihres
Gemahls beruhige.«...
>' Wenn sich der Leser das Schlimmste vorstellt: so begreift er
Viktors unglaubiges Erstarren und Verfluchen; er lieB aber Zeu-
seln erst ausreden.
»Zum Gliick habe Herr Hofmedikus dem Hause die Ehre er-
wiesen, oft hinzukommen; und die SchleunesscHen werden ihn
wahrscheinlich auf alle Weise zum oftern Geschenk seiner Be-
suche ermuntert haben, da er zumal dadurch auch den Fiirsten
eingewohne. Er wisse hieriiber allerlei von guter Hand.«...
Viktor erriet, was Zeusel aus Hoflichkeit verschwieg - den
Wink auf Joachime. »Sonderbar ists doch,« dacht' er, »daB mir
s mein Vater fast dasselbe schreibt! - Aber ein hubsches Gewirre
von Absichten! ich machte bei meinen Absichten auf die Furstin
den Minister zu meinem Deckmantel, und er mich bei seinen auf
den Fiirsten zu dem seinigen.« - Das hatt' er ohne mich wissen
sollen, daB bose Menschen die guten nie aus Liebe suchen, und
daB Joachimens Herz nichts ist als ein Koder in der Hand des
Ministers; aber dichterische Menschen, die immer die Fliigel der
908 HESPERUS
Phantasie aufsparmen, werden, wie die Lerchen wegen ihrer aus-
gesprei^ten Fliigel, sogar in Netzen festgehalten, wtlche die wei-
testen Maschen haben, wodurch sonst leicht ein glatter Vogel-
korper glitte. - Nur noch ein Wort: warum betrug sich Viktor
gegen die besten Menschen, gegen Klotilde, seinen Vater etc.,
feiner, anstandiger und schoner als der beste Weltmann; und
gegen mittelmaBige und schlimme benahm er sich doch so links:
warum? — Weil er alles aus Neigung und Achtung tat, und mchts
aus Eigennutz und Nachahrhung; die Weltleute hingegen be-
haupten ein immer gleiches Betragen, weil sie es nie nach frem- jo
den Verdiensten, sondern nach eignen Absichten abformen. Da-
her gab ihm sein Vater auf der Insel unter den Lebenregeln - die
uberhaupt eine feine versteckte Weissagung von seinen Fehlern
und Begebenheiten waren - diese mit: man begeht die meisten
Torheiten unter Leuten, die man nicht achtet.
»Da nun Klotilde dem Ftirsten gefalle: so werde dieser Mat-
thieu, der um sie schon vor einigen Jahren geworben, sie zu seinen
Eroberungen zu machen suchen, um durch sie viel wichtigere zu
machen.«
Pfui! rief Viktors ganze Seele, jetzt sen* ich erst alle Stacheln *°
der Dornenkrone, die auf dein Herz gedrucket wird, du arme
Klotilde!
»Matthieu ware langst mit seinen Heuratsantragen weiter her-
ausgegangen, hatt' er die gegenwartigen Aussichten (eines - Ehe-
bruchs) naher gehabt. Vielleicht sei auch Matthieu noch uber die
Zuriickkunft ihres Bruders (Flamins, wegen ihrer verkleinerten
Erbschaft) in Sorge, ob ihn gleich der Tod seiner Schwester (der
beerbten Giulia) ein wenig entschadige. Daher liebe die Furstin
Klotilden, da deren Heurat mit Matthieu nur eine Sache des
Interesse ser. Kam' es aber wirklich zu einer Vermahlung, wie 30
wahrscheinlich sei, da Matthieu sie schon durch Grobheit dem
Kammerherrn abnotigen wurde«.... (Es ist ein eigner Zug des
Evangelisten, da6 er gegen Schwache grob und oft gegen dieselbe
Person rauh und wieder fein war) - »so konnte jener und Jenner
sich im wechselseitigen Vergeben uben; und das Band der Freund-
schaft wiirde sich auf einmal um vier Personen in verschiedenen
26. HUNDPOSTTAG 9<39
Schleifen wickeln. Diese vierfache Verkettung risse dann keiner
mehr auseinander, und alles ginge zum Teufel. Der einzige Ma-
schinengott, der die Kniipfung dieses Knotens noch verhuten
konnte, sei der - Herr Hofmedikus. Ihm versage Herr Le Baut
vielleicht die Tochter nicht, da er ihr zum Hofdamenamt ver-
holfen - >welches damals, da ich mich Ihnen nicht deutlich er-
klaren durfte, ge'rade meine wahre Absicht war, die Sie ebensogut
errieten als ausfiihrten< - und da das Schicksal des Sohns (Fla-
mins, der nach der allgemeinen Meinung noch verschollen war)
o ja in den Handen Sr. Herrlichkeit stehe. Auch zweifle er am Ge-
winnen der Fiirstin nicht, da er (der Doktor) bisher ihre Gunst
besessen, und sie ihn dem Doktor Kuhlpepper vorgezogeri.
Durch den Verlust Klotildens und Agnolas waren den Schleunes-
schen die Fliigel beschnitten.«...
Schurke! hatte hier Flamin geflucht; aber Viktor, der glaubte,
diesen moralischen Staubbesen verdiene nur ein ganzes Leben,
nie eine Handlung, und der mit der groBten Unduldung der Laster
eine zu groBe Duldung der Lasterhaften verband, dieser sagte, aber
mit mehr Hitze, als man nun vermuten wird : »0 du gute Fiirstin !
'■o die deutschen Skorpionen sitzen um dein Herz und stechen es zur
Wunde und gieBen als Balsam Gift in die Wunde, damit sie nie-
mals heile! - Abscheuliche, abscheuliche Verleumdung!« Viktor
lobte und verfocht gern seine Freunde zu lebhaft - und zwar aus
Neigung zum Gegenteil ; denn da er bei seiner eignen Ehre die Be-
lbbbriefe seines Gewissens den Schandgemalden der Welt ruhig
und stumm entgegensetzte, so war's zwar seine Neigung gewesen ,
die Ehre seiner Freunde so kalt-zu verteidigen wie seine eigne, aber
es war Gehorsam gegen sein Gewissen, es (trotz dem Gefuhle der
Entbehrlichkeit) mit der groBten Warme zu tun.
o Das hofische und triumphierende Lacheln Zeusels war eine
zweite Verleumdung; der Tropf hielt Viktor fiir ein Zifferblatt-
oder Stundenrad bei der Sache und sich fiir den PerpendikeL Da-
her sagte Viktor mit einem aus Wehmut und Stolz gemischten
Unwillen : »Meine Seele erhebt sich zu weit iiber eure Hof-KIeinig-
keiten, iiber eure Hof-Spitzbubereien, mich ekelt euer Kram un-
aussprechlich. - O du edler Geist in Maienthal!« —
910 HESPERUS
Er ging mit durchschnittenem Herzen weg- der Nachtwachter,
der ihn allemal im hohern Sinne an die Zeit und an die Ewigkeit
dazu erinnerte, rief seines Lehrers Gestalt vor seine weinende
Seele und - Klotilde mit ihren blassen Mienen kam mit und sagte :
»Siehst du noch nicht ein, warum ich so bleiche Wangen habe und
so schnell in das fromme Tal Emanuels ziehe?« - und Joachime
tanzte voruber und sagte: »Ich lache Sie aus, mon cher!«-und
die Fiirstin verhiillte ihr unschuldiges Gesicht und sagte aus Stolz :
»Verteidige mich nicht !« -
Der Leser kann sich Ieicht denken, daB Viktor den Namen 10
Klotilde fur zu groB hielt, um ihn nur in einer solchen Nachbar-
schaft tiber die Lippen zu bringen - wie die Juden den Namen
Jehova nur in der heiligen Stadt, nicht in den Provinzen auf die
Zunge nahmen. Seine Seele heftete sich nun an den Nachflor sei-
ner Liebe, an die von Zeuseln besprutzte Agnola. Es war ihm er-
wiinscht, daB gerade jetzo der Kaufmann Tostato aus Kussewitz
ankommen muBte, um seine katholische Osterbeichte in der Stadt
abzutun : er konnte bei ihm doch auf Verschwiegenheit iiber die
Maskopei-Rolle in der Bude dringen, damit er der gemiBhandel-
ten Fiirstin wenigstens den Schmerz iiber eine gutgemeinte Be- 2C
leidigung, iiber die in die Uhr eingeklebte Lieberklarung, ersparte.
27. HUNDPOSTTAG
Augenverband - Bild hinter Bettevorhang - Gefahr fur zwei Tugenden
Klotilde ging in der Leidenwoche, unter Liebkosungen von der
Fiirstin entlassen, nach St. Liine. In der Osterwoche tragt sie ihr
Herz voll bedeckter Sorgen nach Maienthal zu ahnlichern Seelen,
wenn sie vorher durch die Vorholle gegangen, namlich durch
einen schimmernden Ball, den ihr - oder hoflicher zu reden, der
Fiirstin - der Furst am dritten Osterfeiertage gibt 1st diese
Blume mit dem Melonenheber des Todes oder Schicksals aus mei- 50
nen biographischen Beeten ausgestochen und versetzt: so werf
ich die Feder weg und priigle den Spitz zuriick - ich habe mich
27. HUNDPOSTTAG 9 1 1
so sehr an sie gewohnt wie an eine Verlobte: wo treib* ich am
Hofe wieder einen weiblichen Charakter auf, der wie ihrer heilige
und feine Sitten verbindet, Himmel und Welt, Tugend und Ton,
ein Herz, welches (ist es anders mit etwas Kleinem zu vergleichen
erlaubt) der unsern Helddn angstigenden und auch wie ein Herz
aussehenden montre a regulateur ahnlich ist, welche mit dem Zei-
ger der Hofstunden einen Zeiger der Sonnenstunden und den lie-
benden Magnet verknupft?
Jetzo sind wir noch die ganzen Osterfeiertage beisammen; denn
10 Sebastian muB zum Pfarrer Eymann, um ihn und die britischen
Drillinge und seine liebe Kaplanin und mehr Liebes zu sehen. Er
ware gern schon am Osterheiligenabend dem Regierrat dahin ge-
folgt (und dem Lebensbeschreiber war's so lieb gewesen wie ein
Osterfladen, well er der Stadte und Hofe auf dem Papiere uber-
satt ist); aber der Genius der zartlkhsten Freundschaft winkte
ihm, nur wenigstens bis den ersten Ostertag Flamins und Klotil-
dens wegen, welche beide einander so lange entbehret und so
sehnlich gewtinschet hatten, sich wechselseitig neue Wunden nun
mitbringend, zuriickzubleiben, gleichsam als woll' er fragen : »Die
20 ersten Freudenblicke dieser so lange auseinandergedrangten Ge-
schwister wird doch mein unglucklicher Sebastian nicht storen
wollen?« - Wahrlich, nein! antwortete seine Trane.
Die Stadt war nun von seinen Geliebten ausgeleert - die Lei-
denwoche war eine wahre fur ihn - nicht einmal die Fiirstin,
gleichsam die Elektrizitattragerin seiner auf sein eignes Herz zu-
riickgewehten Liebeflamme, war ihm seit langen erschienen -
denn mit dieser Stimmung konnt' er nicht zu Joachimen gehen -
— als ihn der Pater der Fiirstin, die heute bei ihm (am heiligen
Osterabend) gebeichtet hatte, besuchte und vor ihm einen Wund-
30 zettel ihrer Augen entfaltete und ihn freundlich schalt, daB der
Hofbeichtvater dem Hofmedikus Siinden, statt zu erlassen, vor-
zurucken habe. »Ich wollte morgen verreisen«, sagte Viktor -
»Gut!« sagte der Pater, »die Fiirstin verlangt schon heute Ihre
Hiilfe.«
Auf dem Wege zu ihr sagt' er zu sich : »Hat denn Tostato das
Osterbeichten verschworen, daB er jetzt abends noch nicht da ist?
912 HESPERUS
und wo wird ihn der Henker morgen haben?« - »Hier !« antwortete
- Tostato hinter ihm. - So einen lustigen BuBfertigen hatte noch
keine Sakristei gesehen. Das Freuden- und Teufels- und Beicht-
kind sagte die Ursache seines frohen Tobens : »die Furstin nab*
ihm alsLandsmann heute das halbe Gewolbe ausgekauft.« - Eh'
Viktor auf seinem Gesicht die ernsthaften Mienen in Reih und
Glied gestellet hatte, mit welchen er ihm die Bitte um Verschwei-
gung seines kaufmannischen Vikariats tun wollen, ich meine die
Buden-Verwaltung: so erfreuete ihn der springende Beichtsohn
mit der Nachricht, daB die Furstin nach seinen und ihren Lands- "
leuten, nach seinen Associes, gefragt, und daB er ihr gar nicht
verborgen, daB einer einmal das letzte ohne das erste gewesen —
namlich ihr Hofmedikus selber. — »Donner!« sagte der....
Der arme Narr von Kaufmann meint* es gut, und es war weiter
nichts anzustellen als die Untersuchung, ob nicht Agnolas Fragen
Zufall gewesen - ob sie die Uhr noch habe, oder je aufgemacht,
ob kein Wind die Lieberklarung als einen verschwisterten Wind
fortgetrieben.
Bedenklich bliebs, daB gerade der Pater und der Kaufmann,
gerade die bosen Augen und die guten Nachrichten in einen Tag 2C
zusammenfielen; in diesen 30sten Marz, in den Osterabend. Da
dieser Besuch fur meinen Helden sehr merkwiirdig ist: so bitt*
ich jeden, sich recht bequem zu setzen und die vom Buchbinder-
golde verpichten Blatter dieser Erzahlung vorher aufzuspalten
und achtzugeben wie ein Spion. -
Als Viktor im Schlosse war: stieB ihm der Pater auf, welcher
sagte, er gehe auch mit. Es war ein Gluck; denn ohne diesen Weg-
weiser hatt' er schwerlich den Pfad durch ein Labyrinth von Zim-
mern in das veranderte Krankenkabinett gefunden. Und mit ihm
ging wie ein Kibitz die Sorge durch alle Gemacher, er werde auf 5°
dem Gesichte der Furstin ein Klaglibell gegen das eingesperrte
billet doux erblicken ; aber nicht einmal ein Anfangbuchstabe oder
das Rubrum eines Urteils stand auf ihrem Gesichte, als er vor sie
trat, und seine Wetterwolke war seitwarts gegangen. Wenigstens
stieB eine, die uber der Furstin selber hing, seine ab; sie war nam-
lich krank, aber nicht an Augen bloB, und eine zweite Botschaft,
27. HUNDPOSTTAG $H3
die ihn holen sollte, hatt' ihn nur verfehlt. Sie empfing ihn im
Bette — nicht ihrer Krankheit, sondern ihres Standes wegen : denn
fur Damen von einigem Range ist das Bette das Hoflager - die
Moosbank - der Hochaltar - die Konigpfalz - kurz der Fursten-
stuhl und Sessel. Wie der Philosoph Descartes, der Abt Galiani
und der alte Shandy, so konnen sie in diesem Treibhaus am besten
denken und arbeiten. Ob sie gleich im Bette lag, so war sie, wie
gesagt, doch nicht gesund, sondern von Kopf- und Augenschmer-
zen angefallen. Daher hatte sie von ihrer fortgeschickten Diener-
10 schaft fur heute nichts behalten als eine Kammerfrau, die sie sehr
liebte, und die Miicke an der Wand, die sie irrte, und unsern Dok-
tor, der eines von beiden unterlieB. Ich hatte eine im offenstehen-
den Bilderkabinett sefihafte Hofdame gerne mitgezahlet; aber sie.
saB so stumm und unbeweglich drauBen, daB Viktor schwur, sie
ist entweder ein Kniestiick oder - eine Deutsche - oder beides.
Es ersparte den verbriihten Augen der Fiif stin ebensoviel Schmer-
zen, daB der griine Lichtschirm und die griinen Atlastapeten und
die griinen Atlasgardinen im Krankenkabinett ein wogendes
blaues Helldunkel zusammengossen, als es gesunden Augen Ver-
20 gniigen verschaffte. Eine einzige Wachskerze stand auf einem
Leuchter, den alle Jahreszeiten einfaBten, namlich abgebildete -
iiber welche Sitte der GroBen, die Natur immer nur in Spielmar-
ken, in effigie und durchs Kopierpapier, nie in natura selber zu ge-
nieBen, ich hier weder meine Meinung noch die Griinde sagen
kann, weil ein ganzes
Extrablatt
vohnoten ware, um nur unter so vielen moglichen Grunden, war-
um sie iiberall - auf den Tapeten - auf den dessus des portes - des
trumeaux - des cheminees - auf den Vasen - auf den Leuchtern —
30 auf den plats de menage - auf den Lichtscher-Untersatzen - in
ihren Garten - auf jedem Quark eine Landschaft, die sie nie be-
treten, einen Salvator Rosa-Felsen, den sie nie besteigen, gern
sitzen sehen ... ich sage, weil unter so vielen Grunden, warum sie
es tun und der alten Natur dieses jus imaginum einraumen, der
wahre nur von einem Extrablattchen auszuklauben ware, indem
914 HESPERUS
nur ein solches es weitlauftig entscheiden konnte, ob es davon
komme, daB ihnen die Natur, wie einem Liebhaber die Geliebte,
bei der ewigen Trennung ihr Bild geschenkt - oder davon, daB
die Kiinstler ihnen, wie den alten Gottern, das gerade am liebsten
bringen und opfern, was sie hassen - oder daB sie dem Kaiser
Konstantin gleichen, der zur namlichen Zeit das wahre Kreuz ab-
schafTte, und die Abbildungen desselben vermehrte und heiligte -
oder daB sie aus feinerem Gefuhl das dauerhafte, aber musivische
Gemalde der Natur, in welchem ganze Bergriicken die musivischen
Steinchen sind,den zartern, aber kleinern Vexierbi Idem der Kiinst- 10
Ier nachsetzen muljten - oder daB sie Leuten glichen (wenns
solche gabe), die auf den Theatervorhang sich die ganze Oper mit
alien Dekorationen abmalen lieBen, um sich das Aufziehen des
Vorhanges und das Beschauen der Akte zu ersparen Und
doch, wenn das Extrablattchen mitten im Entscheiden ware, wurde
jeder aus Hundhunger nach bio Ben Vorfallen ReiBaus nehmen
und auf nlchts auslaufen als auf die Fortsetzung der Vorfalle und
auf
das Ende des Extrablattes.
Die Fiirstin hatte zwei Verhullungenj wovon er die eine sehr 2 C
liebte und die andre sehr haBte. Die geliebte war ein Schleier, der
fiir ihre wunden Augen eine Heilbinde war; ihm aber war einer
die Folie und Fassung des weiblichen Gesichts, und er machte
sich anheischig, den Satz als Respondent und Prases zugleich zu
verteidigen, daB die Tugend nie besser mit Schonheit belohnet
werde als in St. Ferieux bei Besangon : denn beim Sittenfeste be-
kommt dort das beste Madchen einen Schleier zu 6 Livres. - Die
verhaBte Verhiillungwaren die Handschuhe, gegen die eruberall
seinen Fehdehandschuh hinwarf : »Eine Frau« - sagt* er im Han-
noverischen — »wag' es einmal und ziehe gegen mich von Leder, 5 c
namlich ihre Hand, und verfechte damit ohne Hulfe der Esaus-
hande die Esaushande und sage, man muB sie nicht abziehen als im
Bette. Anziehen mii Bte man sie hochstens da, konnt* ich versetzen ;
aber ich werde anfragen : zu was dienen denn am Ende die schon-
sten Hande, die ich sehe, wenn sie immer unter den Fliigeldecken
27. HUNDPOSTTAG 9 1 5
liegen, als waren wir Manner persische Konige? Und ist es
dann zu streng, wenn man Personen, die solche nachgemachte
Hande von Leder oder Seide tragen, ins Gesicht sagt, sie glichen
der Mediceischen Venus, sogar bis auf die Hande 1 ? Man ant-
worte!-
Oberhaupt ist in diesem dunkeln griinen Kabinett fast alles -
Agnolas schone romische Schultern ausgenommen - zugehullt;
sogar zwei Heiligenbilder warens. Denn ein gemaltes Marienbild
mit einer wahren metallischen Krone - es sollte kein Sinnbild der
io Regenten mit Vexier-Kopfen unter echten Kronen sein - deckten
die Zedern der Bette-Federbusche zu; und uber einen sehr hub-
schen heiligen Sebastian von Tizian - aus dem Palast Barbarigo
in Venedig kopiert - (der Mann sah mit seinen Pfeilen wie ein
Stachelschwein aus und hing doch neben ihrem Kopfkissen) hatte
sie die Bettgardine weiter vorgezogen, als sein Namenvetter ohne
Pfeile kam, der mehr anbetete als angebetet wurde. Viele ver-
sicherten mich seitdem, es sei ein Sebastian von van Dyk aus der
Diisseldorfer Galerie gewesen; aber weiter unten werd* ich zei-
gen, warum nicht.
ao AuBer einem weiblichen Auge, das hinter einem Schleier niht,
gibts nichts Schoneres als eines, das (hier hat der Teuftl sechs
End-S hintereinander) ihn gerade wegleget. Dem armen Doktor
schlug eine solche schone Glut entgegen - da er als Okulist ver-
fahren wollte - ? daB er sogleich als Protomedikus ihres Kopfes
verfuhr, um an ihre Hand zu fuhlen und sich dadurch zu retten.
Denn wahrend sie den Handschuh-Kallus von ihrer Hand - es
waren aber nur halbe Handschuhe mit nackten Fingern oder halbe
Fliigeldecken, d.h. hemiptera-herunterzupfte: so war der Dok-
tor, weil sie darauf hinsehen muBte, in der groBten Sicherheit von
30 der Welt, und das griechische Feuer fuhr ganz neben ihm vorbei.
Daher ist recht mit Bedacht in die Feuerordnung der Moral ein
ganzer, fast zu langer Artikel hineingesetzt, ders jungen Madchen
verbietet, mit den Augen frei wie mit bloBem Lichte in dem Be-
suchsaale herumzugehen, weil so viel brennbares Zeug darin steht
- wir samtlich -, sondern sie miissen solche in einen Strickstrumpf
1 Die Hande der Mediceischen Venus sind neu und erganzt.
5>l6 HESPERUS
oder Nahrahmen oder in ein dickes Buch - z. B. in die Hundpost-
tage — stecken wie in eine Laterne.
— Es ist wahrlich ein Jammer: seit ich und das Publikum im
furstlichen Zimmer sind, folgt eine Ausschweifung nach der an-
dern - ich meine Sternische^ -
Der furstliche Puis ging noch etwas erhitzter als dessen seiner,
der ihn hier beschreibt. Sie hatte kurz vorher, eh* er kam, einen
warmen Verband aus zerbratnen Apfeln von den Augen abge-
nommen. Sie begehrte einen Zwischenverband, indes man das zu-
bereiten wiirde, was der Doktor verordnete. Er konnte aber jetzt ic
in der Nacht, bei diesem Wirrwarr des Helldunkels, in alien vier
Kammern seines Gehirns und in den acht kleinern Gehirnen der
vierten Gehirnkammer keinen Augendoktor auftreiben als den
Doktor v. Rosens tein y welcher darin aufstand und ihm riet, er
solle raten, Safranpulver, ein jtel Kampfer und zerschmolzene
Winterapfel auf gezupfte feine Linnen zu streichen. Die Kammer-
frau wurde fortgeschickt, die Zubereitung des Rezeptes zu be-
sorgen oder zu befehlen, nachdem sie vorher ein schwarzes Taft-
band mit dem Apfeln-Oberschlage um zwei der schonsten Augen
vorgebunden hatte, die einer angenehmern Binde und Blindheit 20
wiirdig waren. Ich bin lebhaft, wenn ich schreibe: der Cberschlag
schien aus dem Apfel der Schonheit - und das schwarze Band aus
aneinander gestoBenen Schminkmuschen gemacht zu sein. Der
Pater ging auch fort, sobald er die Hoffnung der baldigen Heilung
vom Doktor hatte. Fur den Medikus wars aber wahrhaftig jetzt
kein Kinderspiel, einem italienischen Rosen- und Madonnenge-
sicht gegeniiber zu sitzen - noch dazu so nahe, daB er den Atem
flustern horen kann, nachdem er ihn vorher wachsen sehen konnte
- einem Gesicht gegeniiber zu halten (mem' ich, war kein Spiel),
auf dem Rosen den Lilien eingeimpfet sind wie Abendrote den 30
lichten Mondwolken, und das ein malerischer Schatten, namlich
ein schwarzes Ordenband, eine priesterliche Kopf binde, ein wah-
rer postilion d'amour, so schon zerteilt und hebt - ein zugebund-
nes Gesicht, das er recht bequem in einem fort anschauen kann,
und das sich (in einer malerischen Halbstellung) auf das Kopf-
kissen und auf die Hand, ihm zugerichtet, stiitzt
27. HUNDPOSTTAG 917
Ich hatte eine Steigerung versuchen und bej Sebastians Seele
anfangen sollen, die heute aus ihrer eignen Schwermut, aus ihren
Sorgen, aus ihrer durch die Zeuselsche Verleumdung vergroBer-
ten Liebe fur Agnola lamer Schonheitlinien und fiussige Tuschen
machte, um damit in dessen eignes Gesicht ein so schones neues
hineinzumalen, als je eine schone Seele eines auf Leinwand, oder
am eignen Kopf, oder an einem fremden erschaffen hat.
Agnola machte wohl diese Bemerkung eher als ich.
Es tat freilich dem Paare schlechten Vorschub, daB es unter -
o nicht vier Augen (denn Agnola war zugehangen), sondern unter
— zwei Augen war ; denn die beiden andern Augen der Hofdame
im Kabinett, aus denen Viktor nicht eher klug werden konnte als
jetzt, da die furstHchen zu waren und er ohne Fragen durch Blicke
und Anlacheln das starre Ding auf dem Sessel drinnen im Kabinett
untersuchen konnte, waren wahrhaftig. gemalt und der Rumpf
dazu, der sie trug.
Es frappierte ihn jetzo, daB er wider alle Hofordnung allein bei
der Furstin sein durfte; aber er sagte sich, sie ist eine Italienerin -
eine Patientin - eine kleine schone Phantastin - (letztes war sogar
o aus dem ungewohnlichen Winterneglige und Sizilien-Feuer er-
sichtlich). - Er konnte bisher (und auch heute vor dem Verbande
der Augen) den rechten Ton gar nicht bei ihr treffen; denn da sie
zu fein war fur eine Deutsche, zu wenig zartlich fur eine Eng-
landerin, zu lebhaft fiir eine Spanierin: so hatt' er auf sie freilich
geschrieben p. p. p. (passe par Paris, welches auf den iiber Paris
gelaufnen Briefen steht), er hatt* es, sag' ich, ware sie nicht wie-
der zu innig-leidensphaftlich gewesen fiir eine Pariserin. Daran
stieB sichs. — Aber da zwei Menschen sich mutiger und freier
unterreden, wenn einer oder beide im Finstern sitzen - und Agnola
> saB da -: so war Viktor doch heute nicht ganz und gar so ein-
faltig wie ein Schaf. Noch dazu machte ihn der Kleinodienschrank
beherzt, in dem er - sie konnt' es nicht sehen, daB er unhoflich
herumsah - zu seiner Freude unter 20 Uhren keine montre a re-
gulateur ausfand. Sie fragte ihn, ob sie bis zum dritten Feiertage
so hergestellt sein werde, daB sie zum Vergniigen des Fiirsten auf
dem Balle etwas beitragen konne. Er bejahete es, ob er gleich
91 8 HESPERUS
wuBte, sie truge noch mehr bei, wenn sie wegbliebe, und ob sie
gleich dasselbe wuBte. - Hier dauerte sie ihn, und er wollt* ihr
alles offenbaren. Er wollte nicht etwan plump sagen: »In GroB-
kussewitz HeB ich mich vom Teufel breitschlagen, daB ich in die
Uhr Ew. Durchlaucht einen Liebesantrag eingeschwarzet«; son-
dern er wollte im schonsten Seelenergusse mit dem pochenden
Busen niederfallen und sagen: »Nicht aus Furcht der Strafe, son-
dern aus Furcht, daB das Gestandnis meines Fehlers einige Ahn-
lichkeit mit der Wiederholung desselben erhalte, hab* ichs bisher
verborgen, daB ich einmal eine Hochachtung, in der ich nur Ihren i
Hof, und nicht den Gebieter desselben nachahmen darf, weniger
zu stark als zu kiihri ausgedriickt habe; aber die Starke der Ge-
fuhle wird leicht mit der RechtmaBigkeit derselben verwechselt.«
— Er setzte dieses Niederfallen npch aus, weil er hinter der Gar-
dine einen goldnen Streif wahrnahm, der der Anfang eines Bilder-
rahmens zu sein schien. Dieses EinfaBgewachs muBte doch um
etwas Herumlaufen, um ein Bild, mein' ich - und das wollt' er
gern wissen.
Der verdammte Hofapotheker samt seiner Verleumdung hatt'
es zu verantworten, daB er das wollte; nicht als ob er glaubte, daB 2
Matzens Gesicht umgoldet hinter dem Bette hinge: sondern weil
ihm heute allerlei aufgefallen war. Er konnt' es, da ihres Auges
Tapetentiir und Sprachgitter schwarz verhangen war, recht leicht
machen: er durfte nur die linke Hand leis' auf die Bettkante auf-
stemmen und so, hineingebogen und iiber ihr mit gehaltenem
Atem schwebend, mit der rechten iiber das Bette (es war schmal
und er lang) hinubergreifen und die Gardine ein wenig zupfen -
so wuBt' er, was dahinter hing. Ich sag' es noch einmal: ohne den
Apotheker war's ihm gar nicht eingefallen. Ein Verleumder macht,
daB man wenigstens jede Handhing um ihren PaB befragt - man 3
tuts bloB, um den Verleumder recht augenscheinlich zu wider-
legen - und da oft die unschuldigste keinen GesundheitpaB hat :
so schiittelt man den Kopf und sagt: es ist wahre Verleumdung,
aber aufpassen will ich denn doch.
Er hatte etlichemal den Versuch gemacht, hinuberzulangen;
aber da sie immer zu sprechen und er immer zu antworten hatte,
27. HUNDPOSTTAG 919
so gings nicht, wenn er nicht seine Annaherung an ihre Ohren
verraten wollte. Die Gesprache betrafen den Ball - die Gegen-
wart und Krankheit ihrer Hofdame Klotilde - die Stellvertreterin
der Ietzten, Joachime, iiber deren Anstellung sich Viktor herzlich
kalt ausdruckte; er konnte es bei Agnola niemals iiber Hof-Neuig-
keiten hinaustreiben ; sie schien alles Abstrakte und Metaphysische
zu hassen oder zu unkennen ; und vollends von Empfindungen
mit ihr zu reden - was er sonst bei jeder am liebsten tat, und wozu
ihm auch des Gemahls seine AnlaB und Stoffgenug gegeben hat-
10 ten — , kam ihm nicht viel besser vor, als sie gar zu haben.
Als er seine kalte Antwort iiber die Erhebung Joachimens ge-
geben hatte - eine Kalte, die mit seiner heutigen schwarmerischen
gefiihlvollen Warme fur die Fiirstin einen schmeichelhaften Ab-
stich machte-: so wollt* er in die halbe Takt-Pause darauf, welche
Agnola mit Denken ausfiillte, die Aufhebung des Vorhangs
verlegen. Er stemmte die Hand auf, hielt den Atem auf, zog den
Vorhang auf - aber der heilige Sebastian war dahinter, den ich
schon oben besagt, und der ganz gewifl von Tizian, und nicht von
van Dyk war,weil erunserem Viktor so ahnlich sari 1 , daB es ihm
20 selber glaublich wurde, der Pater habe ihn nach seiner Wachs-
statue in St. Liine dazu kopiert. Der Heilige kam ihm noch schlim-
mer vor als der Evangelist - nicht well er dachte, das Portrat sei
sein Namenvetter, sondern weil ihm einflel, warum die Weiber in
Italien zuweilen Heiligenbilder verkangen. Die Ursache kann be-
kanntlich einen Holzschnitt zu den zehn Geboten - Goschen und
Unger soil ten den Katechismus mit geschmackvollern Schnitten
zu den Verboten herausgeben, als die alten sind - ausfiillen. Auch
die Maria iiber dem Bette war mit Federbiischen und allem ver-
schleiert.... Zeusel, Zeusel! hattest du nicht verleumdet, diese
30 ganze Lebensbeschreibung liefe (soviet ich voraussehen kann)
wohl anders! -
Er erhielt sich, durch Anstemmung der Rechten an die Wand,
iiber der schonen Blinden schwebend, weil ihn eine kleine Welt-
kugel bei der Zentripetalkraft anfaBte und ihn aus seinem Zuriick-
laufe brachte. - Denn weil die Kranke auf der rechten Seite ruhte :
1 Denn der Sebastian van Dyks soil diesem Maler selber ahnlich sein.
920 HESPERUS
so war vom aufgerollten Haar eine Wolke nach der andern iiber
das Herz und iiber den Lilienhiigel, welchen Seufzer tragen, hin-
iibergeflossen, und die zum andern Hiigel sinkenden Locken hat-
ten dort nicht so viel iiberdecken konnen, als sie hier entkleidet
hatten. Den Locken sank langsam das Spitzengewebe nach, und
die Herzblatten und die reifen Bliiten blatterten sich ab von der
aufdringenden Apfel-Frucht... Teurer asthetischer Held dieser
Posttage, wirst du ein moralischer bleiben, jetzt ungesehen han-
gend iiber diesem wahren globe de compression von Belidor -
iiber dieser %unehmenden Mondkugel, wo von man nie die andere ic
Halfte sieht - neben dieser Anhohe, die man wie andre Anhohen
urn keine Festung dulden sollte - und noch dazu an einem Hofe,
wo man sonst alles Erhabne durch die Kleiderordnung erdriickt?
Sobald er aus dem Bette und Paulinum ist: will ich mich mit
dem Leser weitlauftig iiber den ganzen Vorfall entzweien - jetzo
muB er erst erzahlt werden in einem fort und mit vielem Feuer.
Er war gleichsam in die Luft geheftet - Aber endlich wars Zeit,
aus dieser heifien Zone aller Gefiihle und der Stellung zu weichen.
Noch dazu erhohte ein neuer Umstand Gefahr und Reiz zugleich.
- Ein langer Seufzer schien ihren ganzen Busen zu iiberladen und ^
aufzuheben und wie ein Zephyr durch einen Lilienflor zu wogen,
und der iiberbauende Schneehiigel schien vom schwellenden Her-
zen, das unter ihm gliihte, und vom schwellenden Seufzer zu zit-
tern. — Die Hand der zugehiillten Gottin bewegte sich mecha-
nisch nach dem eingekerkerten Auge, als wollte sie eine Trane
hinter dem Bande wegdrucken. Viktor, in Sorge, sie verschiebe
die Binde, zieht die Rechte ab von der Wand, und die Linke vom
Bette, um, auf den Zehen schwebend, ohne Bestreifen sich aus
diesem Zauberhimmel herauszubeugen.
Zu spat! - Das Band ist herab von ihren Augen - vielleicht 3c
war sein Seufzer zu nahe gewesen oder sein Schweigen zu lange. -
Und die enthullten Augen finden iiber sich einen begeisterten,
in Liebe zerronnenen, im Anfange einer Umarmung schweben-
den Jiingling .... Erstarrt hing er in der versteinerten Lage - ihre
von Schmerzen entbrannten Augen iiberquollen schnell vom mil-
dern Lichte der Liebe - sie sagte heiB und leise: »comment?« -
2J. HUNDPOSTTAG 921
Und gelahmt zur Entschuldigung, bebend, sinkend, gliihend,
sterbend fallt er auf die heiBen Lippen nieder und auf den schla-
genden Busen. - Er schloB seine Augen vor Entziickung und vor
Besturzung zu, und blind und liebestrunken und kiihn und bange
wuchs er mit seinen trinkenden Lippen an ihre an — als plotzlich
in sein auf jeden kommenden Laut gespanntes Ohr der Nacht-
wachter-Ausruf der zwolften Stunde fuhr - und als Agnola wie
mit einer fremden hereindringenden Hand ihn abstemmte, um
eine blutige Hemdnadel wegzuwerfen —
10 Wie ein Weltgericht in Nachtwolken schmetterte des Wachters
einfache Ermahnung, an den Tod und an die zwolfte Geister-
stunde dieses Mitternachtlebens zu denken, in seine Ohren, vor
denen die Blutstrome des Herzens voruberbrausten - Der Ruf
auf der Gasse schien von Emanuel zu kommen und zu sagen:
»Horion! Beflecke deine Seele nicht und falle nicht ab von deinem
Emanuel und von dir ! Schau an die Leinwand iiber ihrem kranken
Auge, als verhullte es der Tod - und sinke nicht !«
»Ich sinke nicht!« sagte sein ganzes Herz: er wand sich mit
ehrerbietigem Schonen aus den pulsierenden Armen und fiel, er-
20 starrend vor der Moglichkeit einer Nachahmung des elenden
Matthieu, den er so verachtet hatte, auBerhalb des Bettes an ihrer
hinausgenommenen Hand mit vorstromenden Tranen nieder
und sagte:
»Vergeben Sie dem Jiingling - seinem iiberwaltigten Herzen -
seinen geblendeten Augen ich verdiene alle Strafen, jede ist
mir eine Vergebung - aber ich habe niemand vergessen als mich.«
— »Mais c'est moi que j'oublie en Vous pardonnanw 1 , sagte sie
mit einem zweideutigen Auge, und er stand auf und suchte sich,
da ihm ihre Antwort die Wahl zwischen der angenehmsten und
30 der demiitigsten Auslegung anbot, gern selber mit der letzten
heim - Agnolas Auge blitzte vor Liebe - dann vor Zorn - dann
vor Liebe - dann schloB sie es - er trat in die ehrerbietigste Ent-
fernung zuruck - sie offnete es wieder und kehrte ihr. Gesicht kalt
gegen die Wand und gab durch einen geheimen Druck an die
Wand, der, glaub* ich, eine eigene Klingel im Zimmer der Kam-
1 Aber ich vergesse hingegen mich, wenn ich verzeihe.
922 HESPERUS
merfrau regierte, der letzten den Befehl zu eilen - und in einigen
Minuten kam diese mit der Augen-Gurt. Naturlicherweise spielte
man (wie im Leben des Menschen) den funften Akt so hinaus, als
ware der dritte und vierte gar nicht dagewesen. - Dann zog er
hoflich ab.
So ! - Nun fangen ich und der Leser daruber zu fechten an, und
Viktor daruber zu denken. Recht war seine Umarmung nicht—
seine Entdeckreise nach der Wand und seine Gemaldeausstellung
waren es auch nicht -, aber klug war sie; denn er konnte doch
wahrlich nicht zuriickpurzeln und sagen: »Ich dachte, Matz hange i<
hinter dem Bette.« ; — Darauf antworten mir freilich Leute von Er-
fahrung : »Wir sind hier nicht daruber mit ihm unzufrieden, daB er
die Klugheit der Tugend vorzog, sondern daruber vielmehr, daB
ers nach dem Kusse nicht wieder so machte - Dieser KuB ist ein zu
kleiner Fehler, als daB ihn Agnola vergeben konnte.« Ich merke,
diese Leute von Erfahrung sind Anhanger von der Sekte, welche
in meinem Buche die Fiirstin wegen so vieler halben Beweise
unter diejenigen Weiber rechnet, die, zu stolz und zu hart fur die
Liebe des Herzens, die Liebe der Smne nur fliichtig mit der Liebe
zum Herrschen abwechseln lassen, und die es nur tun, urn aUs *c
Amors Binde ein Leitseil, aus seinen Pfeilen Sporen und Steig-
eisen zu machen. Es sind mir auch die halben Beweise recht gut
bekannt, womit sich diese Sekte deckt- die Bigotterie der Fiirstin
— ihr Beichtabend — ihre bisherige Aufmerksamkeit fur meinen
Helden -das Verdecken der gemalten Marie und das Enthullen der
lebendigern - und alle Umstande meiner Erzahlung. Aber ich
kann so etwas von einer Freundin Klotildens (diese miiBte sich
denn gerade deswegen von ihr geschieden oder aus Seelengiite
diese nur dem mannlichen Geschlechte gewohnlichern Eilboten
des Temperaments gar nicht begriffen haben) unmoglich eher 3c
denken, als bis mich in der Folge offenbare Spuren eines mehr
erbitterten als gekrdnkten Weibes dazu notigen. -
Ich komme von meinem Versprechen ganz ab, einiges naher zu
legen, was gewiBbei Unparteiischen meinen Helden daruber, wo
nicht rechtfertigt, doch entschuldigt, daB er nach dem Kusse so-
zusagen wieder tugendhaft wurde, und nicht des leibhaften Teu-
27. HUNDPOSTTAG 923
fels lebendlg. Ich stelle keck unter die Milderunggrunde seine Un-
bekanntschaft mit solchen Weibern, die, gleich den Spartern,
mutig nicht nach der Zahlder Feinde ihrer Tugend fragen, son-
dern nach dem One derselben; er war wohl oft bei ihnen und in
ihrem Lager, aber seine Tugend hinderte sie, ihm die ihrige zu
zeigen. - Nicht so viel wie durch jenes wird er durch die Einwir-
kung des Nachtwachters und durch das Erinnern an den Tod
entschuldigt; denn dieses muB selber entschuldigt werden; - es
ist aber auch nur gar zu gewiB, daB gewisse Menschen, die zu
io Philosophen oder auch zu Dichtern organisiert sind, gerade dann,
und zwar allemal, statt ihres Zustandes allgemeine Ideen be-
schauen, wo es andere gar nicht konnen und wo sie nichts sind
als Ich, namlich in den groBten Gefahren, in den groBten Lei-
den, in den groBten Freuden. —
Ein Billiger schiebt alles auf den Apotheker, der Viktors mora-
lischer und mechamscher Be tt%opf oder Bettauf heifer war; denn
da der ihm den edlen Matz in einer ahn lichen Lage (aber ohne
Bettzopf ) vorgemalet hatte : so wurde der Abscheu, welchen Vik-
tor einige Tage vorher gegen des Evangelisten Betragen empfun-
*o den hatte, in ihm zum lahmenden Unvermogen, einige Tage dar-
auf im geringsten es zu kopieren. — O wenn wir doch jede Siinde,
zu der wir oder andre uns versuchen, ein paar Tage vorher von
einem wahren Schuft begehen sahen, den wir anspeien! - Konn-
ten wir dann dem Schufte nacheifern?
Endlich braucht man nur zu Viktor in den Erker, wo er jetzo
sitzt in einem sonderbaren Barometerstande, hinzusehen, wenn
man den vorigen beurteilen will. Sein jetziger ist namlich eine
Mischung von Leerheit, Unzufriedenheit (mit sich und jedem),
von groBerer Liebe gegen Agnola, von Rechtfertigungen dieser
50 Agnola, und doch von einem Unvermogen^ sie sich als eine nahe
Freundin Klotildens zu denken. -
Mich wird das wenige, was ich in der Eile zusammengetragen,
niemals reuen, wenn ich dadurch einige gliickliche Winke ge-
geben hatte, wie gut meinen Held bei seinem Betragen nach dem
Kusse, das strengen Leuten von Welt auffallen muB, eine unan-
genehme Vereinigung von moralischen Zwingmitteln vorschutzen
924 HESPERUS
konne, und wenn es mir also gegliickt ware, ihm die Hochachtung,
um die er sich brachte, weil er den fur seinen Finger zu weiten
Furstenring nicht mit dem langen Seidenfaden der Liebe iiber-
wickelte zum Anpassen, am Ende des 27sten Kapitels wieder zu
geben
28. HlJNDPOSTTAG
Osterfest
Einen Hundtag, der so lang und wichtig ist wie der 28ste, darf
man schon in drei Feiertage zerfallen.
Erster Osterfeiertag k
Ankunft im Pfarrhause - Klub der Drillinge - Karpfe
Am ersten Ostertage schlich Sebastian, voll Schneewolken wie
der Himmel iiber ihm, aus dem Totenhaus der Tugend, aus den
Wirtschaftgebauden der Leidenschaften, ich meine aus der Resi-
denzstadt -aber erst gegen Abend, um heute mit seinem von einem
halbjahrigen Gewitterregen bodenlos gewordnen Herzen keinem
Freunde lange zur Last zu sein. Auf dem Berge, hinter welchem
Flachsenfingen wie durch einen Erdfall einsinkt, kehrt' er sich um
gegen die- dunkle Stadt und lieB vor seiner Seele wie einen Abend-
nebel die Erinnerung voruberziehen, wie er vor drei Vierteljahren *c
im Abendglanze des Sommers und der Hoffnung so frohlich iiber
diese Hauser geblickt habe - ich beschrieb es langst -, und er ver-
glich seine damaligen Aussichten mit seiner heutigen Wiiste; er
sagte endlich : »Sage dirs nur geradezu, was du hast und willst -
du hast namlich nichts mehr, kein geliebtes und liebendes Herz
in der ganzen Stadt - aber du willst noch einmal nach St. Liine
marschieren und ganz verarmt vom blassen Engel, den dein ausge-
stohlnes Herz nicht vergessen kann,den ^weiten Abschied nehmen,
wie du der Sonne nachsteigst und sie, wenn du ihren Untergang
aus einem Tale gesehen, noch einmal auf einem Berge sinken 30
siehest.«...
28. HUNDPOSTTAG 925
Funf halbe Sabbaterwege vom Dorfe erblickte er den Hof ka-
plan, von einem Katechumenen (sowohl des Schneiderhandwerks
als des Christen turns) gejagt. Vergeblich suchte er und der junge
Schneider den vorausgehetzten Seelenhirten zu erlaufen. Der Hirt
stand nicht eher fest, als bis der Junge in sein Haus hinein war.
Ein Hundertundzwanzigpfiinder (das ist mein physisches Ge-
wicht) bekommt nicht mehr asthetisches, wenn er die unbedeu-
tende Ursache des unbedeutenden Rennens so lange bei sich be-
halt und es nicht eher sagt als jetzo, daB der Kaplan durchaus
10 niemand hinter sich gehen horen konnte, weil er besorgte, der
Mensch erschmeiB* ihn von hinten. Nun wollte der Lehrbursche
in die FuBstapfen seines geistlichen Meisters treten und ihm nach-
kommen - je arger der Meister ins Freie setzte, um jenen zuriick-
zulassen, desto weiter sprang der Schuler vor, ihn zu ertappen -
das war der ganze Bettel; aber so jagen Menschen Menschen.
Viktor Hef mit aufgeflognen Armen an hangende, die der Eig-
ner in der Angst nicht erheben konnte. Aber im Pfarrhause legten
sich zwei warmere um seinen ausgefrornen Busen, die seiner
Landsmannin ; und die Pfarrerin triibte seine und ihre Aufersteh-
20 Freude nicht mit einer einzigen Klage iiber seine bisherige Ent-
fernung - er erwiderte diese freundschaftliche Feinheit, die dem
andern unniitze Entschuldigungen erlieB, mit doppelter Warme
und mit einem dickbandigen Klaglibell gegen seine eigne Narr- *
heiten. Sie fuhrte ihn eine Treppe im freudigen, heute mit lauter
erleuchteten Stockwerken durchbrochnen Pfarrhause hinauf an
ihres lieben Sohnes Brust und vor die Augen der drei verwandten
Sonne aus einem Vaterland, vor die Drillinge
O ihr vier Menschen eines Herzens, druckt meines verlassenen
Viktors seines an eurem warm und macht den Guten froh, nur
30 auf einen Abend — Ich bins wahrlich selber, seit dem Pascha-
Ausgange aus dem fiachsenflngischen Agypten. Ich will daher das
28ste Kapitel so lang machen, wie das Baddorf selber ist. Meinem
Werke wird dadurch Gewicht erteilt bei wahren Kunstrichtern -
aber auch bei Postmeistern } die von mir, wenn ichs in die Verlags-
handlung absende, fiirs Wagen etwas Erhebliches ziehen... Soil
aber e'in Autor so schabicht sein und seine Empfindungenj bloB
926 HESPERUS
weil sie ein Postsekretar mehr nach seiner eignen abwiegt als nach
der Posttaxe, des Portos wegen abkiirzen? Und muntert mich
nicht die Kur-, die Fiirsten- und die Stadte-Bank in Regensburg
zum Gegenteil auf, zu verlangerten Empfindungen, indem be-
sagte Banke mir durch einen Reichsabschied zwei Drittel Post-
geld fur Drucksachen erlassen, um die Gelehrsamkeit, hoffen sie,
in Gang zu bringen und die Empfindsamkeit?
Der edle Evangelist war zwar auch mit droben - er und Jo-
achime hatten die Hofdame hof lich zu den Eltern begleitet -, aber
hier auf dem Lande, wo weniger moralisches Unkraut steht als in 10
S tad ten (so wie weniger botanisches in Feldern als in Garten) und
wo man Freuden ohne maitres de deplaisirs genieBet, hier, wo in
Viktor die Liebe des Vaterlandes die Sehnsucht nach jeder andern
stillte, konnte niemand unglucklich sein als der, ders verdiente.
Matz verschwand da wie eine Krote unter Tulpen. Viktor hatte
die Briten geliebt, auch ohne die vaterlandische Blutverwandt-
schaft - und hatte die Hollander gelastert, auch mit derselben;
daher schreibt sich seine unbesonnene Rede, diese Volker malten
sich in ihren Tabakpfeifen, indem die englischen aufgerichtete
Kopfe hatten und die belgischen hangende. 20
Alle drei waren von der Oppositionpartei und verloren ihr
kaltes Blut iiber das eiskalte von Pitt. Der Korrespondent der
Hundtage schreibt mir nicht, warum - obs war, weil sie vom Mi-
nister beleidigt wurden - oder ob sie am fiirchterlichen Welt-
gerichte und der Totenauferstehung in Frankreich, wo die Sonne
iiber Phonix-Asche und Krokodileneier zugleich briitet, nahern
Anteil nahmen - oder weswegen sonst. Er berichtet mir iiber-
haupt nichts weiter von ihnen als ihre Namen, narnlkh Kaspar,
Melchior und Balthasar, welches die Namen der heiligen drei
Konige aus Morgenland waren 1 . 3<=
1 Nach der gemeinen Meinung; denn ich bin der andern zugetan, nach der
sie heiCen A tor, Sator, Peratoras. - Diese Namen unterscheiden die Konige
ganz von den Hirten, die Misael, Acheel, Cyriakus und Stephanus heiBen
und auch eher kamen, was ich alles aus Casaub. exercit. ad Ann. Baron. II.
1 o. hier abschreibe, weil ich mich gar nicht schame, etwas Unniitzes zu wissen,
sobald ein Casaubonus sich desselben nicht schamt und sobald es noch dazu
ein gelehrtes ist.
28. HUNDPOSTTAG 927
Der, der sich aus Laune Melchior nannte, verbarg unter einer
phlegmatischen Eiskruste eine Gleicherglut und war ein Hekla,
der erst seine Eisberge spellt, eh* er Flammen ausschiittet; mit
kaltem Auge und schlaffer Stimme und welker Stirne sprach er,
einsilbig, vielsinnig, gepreBt - er sah die Wahrheit nur in einem
Brennspiegel, und seine Dinte war eine wegreiBende Wasserhose.
- Der zweite Englander war ein Philosoph und Deutscher auf
einmal. Den altern Kato, der zugleich den Mohrenkonig vor-
stellte, kennt jeder. Es ist mir so lieb, als wenn ichs selber ware,
to daB gerade mein Held durch eine groBere heitere Besonnenheit
der Denkfreiheit von ihnen alien unterschieden war - ich meine
jenes sokratische helle Auge, das frei iiber und durch den Garten
der Baume des Erkenntnisses umherblickt und das wahlet wie ein
Mensch, anstatt daB andre vom Instinkt irgendeinem Satze,
irgendeinem Apfel dieser Baume ausschlieBend zugetrieben wer-
den, wie jedes Insekt seiner Frucht. Die moralische Freiheit wirkt
so gut auf unsre Meinungen als auf unsre Taten ; und trotz der
Entscheidgrunde beim Verstande und trotz der Beweggriinde
beim Willen wahlt doch der Mensch sowohl sein System als sein
20 Tun.
Daher waren die Drillinge beinahe noch vor dem Abendessen
kalt gegen Sebastian geworden im Lieben, bloB weil ers war im
Urteilen. Er war heute mit ihnen zum ersten Male in einem Falle,
worein er mit Flamin jeden Tag dreimal geriet: gewisse Menschen
verschmerzen lieber uneingeschrankten Widerspruch als einge-
schrankten Beifall. Die Sache war die :
Matthieu gab durch seine satirischen Obertreibungen der klei-
nen Unahnlichkeit zwischen Viktor und ihnen ein immer groBeres
Hervortreten. Er sagte (nicht um anzuspielen, sondern um es zu
50 scheinen), die Fursten, von denen die Untertanen wie vom sine-
sischen Konig die Witterung des Staats erbaten, halfen sich wie
jener Rektor, der den Kalender selber verfaBte nnd seinen Schti-
lern (hier den Giinstlingen der Fursten) zulieB, das Wetter dazu
zu machen. Auch sagt' er, die Dichter konnten wohl fiir die Frei-
heit singen, aber nicht sprechen, sondern sie machten in furcht-
samer Verfassung unter der Larve der Tragodienhelden die Stimme
928 HESPERUS
der Helden nach, so wie er einen ahnlichen SpaB oft an einem
gebratnen Kalbskopfe gesehen, der der ganzen table zu briillen ge-
schienen wie ein lebendes Kalb, indes nichts als ein lebender Laub-
frosch darin gesteckt ware, der sich bloB mit seinem Quaken dar-
aus horen lassen. »Aber eine noch groBere Feigheit waVs,« sagte
Viktor, »nicht einmal zu singen; allein ich weiB, die Menschen
sind jetzo weder barbarisch noch gebildet genug, urn die Dichter
zu genieBen und zu befolgen ; die Dichter, die Religion, dieLeiden-
schaften und die Weiber sind vier Dinge, die drei Zeiten erleben,
wovon wir erst in der mittlern sind, sie zu verachten; die ver- :
gangne war, sie zu vergottern, die kiinftige ist, sie zu verehrenA
Die erziirnten Drillinge glaubten besonders, die Religion und die
Weiber waren bloB fur den Staat. Viktors republikanische Ge-
sinnungen waren ihnen ohnehin schon wegen seiner aristokra-
tischen Verhaltnisse zweideutig. Da er nun gar dazusetzte: die
Staatenfreiheit habe mit den kleinern Abgaben, mit groBerer
Sicherheit des Eigen turns, mit bssserem Wohlkben, kurz mit der
Steigerung des sinnlichen G liicks gar nichts zu schaffen, alles dies
wohne oft noch reichlicher in Monarchien, und das, wofiir man
Eigentum und Leben opfere, miisse doch etwas Hoheres sein als :
Eigentum und Leben — da er ferner sagte: ein jeder Mensch von
Bildung und Tugend kbe in einer republikanischen Regierform
trotz den Verhaltnissen seines Leibes, so wie ja Gefangne in De~
mokr atien doch die Rechte der Freiheit genieBen - und da er gar
nicht sowohl fur den Minister und das Oberhaus als fur das eng-
lische Volk der Waffentrager und Kontradiktor wurde, v/eil die
Grundsatze von den ersten beiden von jeher des letzten seine be-
kriegt und doch nicht bestimmt hatten; weil die jetzige Klage so
alt ware wie die (englische) Revolution ; weil der GrundriB der
letzten nur in einer formlichen Gegenrevolution zerschlitzet wer- 3
den konnte; weil alle Ungerechtigkeiten nach dem Schein der Ge-
setze begangen wiirden, welches besser ware als eine Gerechtig-
keit wider den Schein der Gesetze; und weil das Sprachgitter, das
man jetzt um die englische PreBfreiheit 1 gemacht, nicht schlimmer
sei als die athenischen Verbote, zu philosophieren, sondern besser
1 Oberali ist von den Jahren 1792, 1793 die Rede.
28. HUNDPOSTTAG 929
als die Erlaubnisse der rormschen Kaiser, auf sie zu pasquillie-
ren —
...Die Englander lieben lange Rocke und Reden. Da er mit
))da« anfing: so muB in seinem wie in meinem Perioden »jo« darauf
kommen \ . . .
So wars keinem Teufel recht, und Kato der Altere sagte : »wenn
er diese Prinzipien im Oberhause vortmge, so entstiinde der groBte
Larm dariiber, aber aus Beifall, und jeder Horer schriee noch:
hear him!« Viktor sagte mit der Bescheidenheit eines Weltmanns:
10 »er sei ein so warmer Republikaner und Altbrite wie sie alle, nur
heute sei er zu unfahig, um aus diesen Grundsatzen zu erweisen,
daB er ihnen gleiche'; - vielleicht im nachsten Klub!« - »Und der
kann« (sagte der Hofkaplan) »an meinem Geburttage gehalten
werden, in wenig Wochen.« - Wenn wirs erleben, ich und die
Leser, so wird man uns hoffentlich als Altgevattern mit dazu ein-
laden ; wir waren das erstemal (am 6ten Hundposttage) bekannt-
lich auch dabei.
Mein Held foderte den Menschen (zumal da er sich nicht Miine
gab) zu wenig Achtung ab. Er arbeitete zwar um diesen Arbeit-
20 lohn; wenn sie ihm aber nichts gaben: so wuBt' er tausend Ent-
schuldigungen fiir die Menschen und zog seinen Miinzstempel
heraus und schlug sich selber eineEhrenmedaille,indem er dabei
schwur : »Ich will verdammt sein, wenn ich mich nicht das nachste-
mal stolzer auffuhre und minder nachsichtig und iiberhaupt ernst-
hafter, um eine gewisse Ehrfurcht zu erregen.« Das nachstemal
soil noch kommen. Er vergab daher den Drillingen so schon, daB
sie endlich den Menschenfreund mit leidenschaftlichen Armen auf
immer an ihre Seele schlossen.
Nach einer solchen Gradualdisputation machte er nichts lieber
50 als etwas recht Tolles, Galantes, Kindisches - damals wars ein
Weg in die Kiiche. Catinat sagte : der nur sei ein Held, qui jouerait
une partie de quilles au sortie d'une bataille gagnee ou perdue -
oder der nach einer gewonnenen Disputation in die Kuche gehen
kann. Entweder nichts oder alles ist in diesem Tausch-Leben
wichtig, sagt* er. In die Kuche, die nicht so schmutzig war wie ein
franzosisches Schlafzimmer, sondern so rein wie ein belgischer
93<3 HESPERUS
Viehstall, war schon ein anderer Festhase und auBerordentlicher
Gesandter eingelaufen, der Hofkaplan, der da seinem Berufe ob-
lag. Er muBte zusehen, ob sein Karpfen-Vierpfunder - aus dem
Pastoralteich gebiirtig und fur den Adoptivsohn Bastian aus-
driicklich ausgewintert - nicht sowohl recht abgeschuppet (dar-
uber setzt' er mit wenig Philosophic sich hinweg) als recht
geschwanzet wurde. Es konnt' ihm doch wahrhaftig nicht gleich-
giiltig sein, sondern als Mensch muBt* er den Schmerz zugleich
empflnden und bekampfen, wenn ein Karpfe von soviel Pfunden,
als ein Sterblicher Gehirn hat, so jammerlkh hinausgeschlitzet i
wird, dai3 das eine Schwanzquotum nicht kleiner ist wie ein Haar-
beutel, und das andre nicht groBer als eine Flofifeder.-Und doch
ist diese ganze Nominalterrition von geringem Belang gegen eine
ganz andere Realterrition (so sehr verschwindet erheblicher Kum-
mer vor groBerem), die den Pfarrer mit der Drohung angstigte,
daB man die Gallenblase des Vierpfiinders zerdriicke Seine
hatte sich der andern sofort nachergossen — : »Um Gottes Willen
bedachtiger, Appel! verbitter* mir den ersten Ostertag nicht«,
sagt' er. Galle ist nach Boerhaave wahre Seife; daher waschet die
satirische die halbe Lesewelt gleiBend und rein, und die Leber 2
eines solchen Menschen ist die Seifenkugel eines Weltteils und
seiner Kolonien.
Es lief indes herrlich ab. - Aber beim Himmel! die Welt sollte
nach dem Abdruck dieses Buchs einmal einsehen, daB ein Karpfen
von vier Pfund - so lange gefiittert im Fischkasten, so geschickt
ausgeweidet - mehr wiege auf der Fischwaage der Zufriedenheit
als die goldnen Fischgrdten in rotem Felde des Wappens der Gra-
fen von Windischgratz ! -
Konnt' er denn lange in der Kuche - diesem Witwensitz seiner
alten geschiednen Jugend — unter so vielen Freundinnen Klotil- 31
dens, die ihm alle das Niedersinken und Weggehen derselben (im
doppelten Sinne) vorklagten, stehen, ohne daB der Honigessig zu-
riickgewunschter Freuden iiber seinen Gaumen lief und die Zuk-
kung des Mitleidens durch sein Herz; ob er heute gleich im zwei-
ten Stockwerk die Disputation iiber die Freiheit als ein wahres
zerteilendes Mittel, als ein SchuBwasser, wenigstens als eine Ader-
28. HUNDPOSTTAG 931
laBbinde uber seine offne Adern iibergeschlagen hatte? Ich fragte,
ob er an die Gute lange nicht denken konnte. - Aber ich wurde die
Antwort gar nicht geben und aus Mitleiden mit dem unschuldigen
Viktor es vor soviel uberrindeten Seelen - die in ihrer leeren
Brusthohle die poetischen Freuden der Liebe gutheiBen und doch
die poetischen Leiden derselben nicht - gar nicht offenbaren,
wie oft er jeden Milchzucker des Schicksals mit dem giftigen
Bleizucker der Erinnerung versetzte, wenn ich nicht deswegen
muBte:...
to - weil die kleine Julia wiederkam aus dem Schlosse und das
Versprechen mitbrachte, morgen komme Tante schon (Klotilde).
Dieses versprach also, daB die Ministers-Tochter morgen abfahre.
- Man verarge den Pfarrleuten die Zudringlichkeit um Klotilden
nicht: denn am dritten Feiertag geht sie zum Balle, am Tage dar-
auf nach Maienthal - sie hatten ja nur noch morgen und heute
Die kleine Julia hatte unser Flamin, dem ihr Penny-Postamt
wohlgefiel, mitgebracht. - Ich bin moralisch gewiB, die Kaplanin
sah meinem Helden soviel an, als ich von ihm schreibe, und sie
liebte ihn so sehr, daB, wenn sie statt des Schicksals hatte dekre-
10 tieren mtissen, sie vor Kummer gestorben ware, eh' sie es uber
sich gewonnen hatte, den Sohn auf Kosten des Freundes zu be-
gliicken. - So sehr gewann er durch eine schone Vereinigung von
Feinheit, Empfindung und Phantasie die schonsten und weichsten
Herzen, ich meine die weiblichen.
Diese winzige Julia, der Nachflor der untergegangnen Giulia,
band in Viktors Seele Rosen mit Nesseln zusammen^und alle
seine heutigen Blumen der Freude hatten ihre Wurzeln in tiefen
Tranen, die seine Brust verdeckte. Ihn ruhrte sogar der KuB von
Klotildens Freundin, von Agathen. Er dachte an das Stamitzische
jo Konzert und an ihr Nebeneinandersein und an den Florhut, der
den Schmerz von zwei geliebten Augen verhing. Er bat Agathen,
sie sollte von Klotilden diesen Hut entlehnen und ihm ein genaues
Ebenbild darnach machen, weil ers verschenken wolle. - »Wenn
sie fort ist« (sagte er zu sich) — »nein, aber wenn sie tot ist : dann
wein* ich unverhiillt und sage alien Menschen frei heraus, daB ich
sie geliebet habe.« - Du Lieber, uber dem Souper - ein Pfarrer
932 HESPERUS
kann eines geben - wird man den Glanz deiner Augen mehr dem
sich selber entladenden Witze zuschreiben als dem zuriickgepreB-
ten Tranenwasser, und ich konnte dich, wenn ich mitaBe, vor
Riihrung nicht ansehen, wenn du unter dem Aufhammern und
»Harten« der roten Eier dein uberquellendes Auge starr und halb-
zugedeckt auf einen roten Eierpol niederzuheften suchtest und
schweigend deinen Eier-Giebel dem Fallbocke des Eymannschen
Eies unterstelltest, um Zeit zum Siege iiber die Stimme und Augen-
hohle zu gewinnen! — Und doch kann ich nicht sehen, was du
aus dieser Maske fur einen erheblichen Vorteil dann zu ziehen ge- 10
denkst, wenn dir die alte Appel durch die kleine Iris und Expres-
sin Julia - sie selber kann sichs nie unterfangen - ein geflecktes
tatowiertes Ei, ein wahres gekochtes allegorisches Gemalde, zu-
schickt, und wenn du die mit Scheidewasser darauf eingebeizten
Blumenstucke und deinen Namen, mit VergiBmeinnicht umgraset,
auf der zerbrechlichen Schale iiberliesest; ich sagte, was konnte
dir deine vorige Verstellung helfen, wenn du jetzt, um den Ge-
danken »VergiBmeinnicht« nicht hinauszudenken, eilig hinaus-
gehest und den doppelten Vorwand nimmst, du mussest Apollo-
nien danken und wegen der Ermiidung schon zur Ruhe gehen? - 2°
O danken wirst du wohl, aber ruhen nicht ! . . .
Zweiter Osterfeiertag
Leichenrede auf sich selber - zweierlei entgegengesetzte Schicksale
der Wachsstatue
Der niedergefallene Schneehimmel lag auf der Gegend. Der
Schnee machte traurig und erinnerte an das winterliche Nestel-
knupfen der Natur. Es war der erste April, wo die Natur sozu-
sagen die Jahrzeit selber in den April schickte. -Viktor hatte so viel
mores langst gelernt, daB man, wenn man bei einem Hofkaplan
im Hause ist, auch mit ihm in seine Predigt gehen miisse. Auch ;
schritt er in Sakristeien aus demselben Grunde, warum er gern in
Schafer-, Jagd- und Vogelhutten kroch. Er fand es nicht iiber-
28. HUNDPOSTTAG 933
trieben, daB der Kaplan (wie er zuletzt selber) sein Ersteigen der
Kanzel - bloB weiler eine Menge Zurustungen dazu machte - dem
Ersteigen eines Walks in Hinsicht der Wichtigkeit an die Seite
setzte. Ja er disputierte unter dem Hauptliede mit ihm iiber die
Stolgebiihren eines totgebornen Fotus und tat mit wenigem dar,
daB ein Pfarrer von jedem Fotus - und war' er fiinf Nachte alt -
die gehorigen Begrabnisgebtihren, die filzigen Eltern mochten
immerhin fur das Ding keinen Leichensermon bestellen, fodern
konnte. Der Kaplan machte einen wichtigen Einwurf; aber Vik-
io tor hob ihn durch den wichtigen Vorschlag, daB ein Geistlicher
sich (weil sonst die besten Fotus unterschlagen wiirden) so oft
Leichengebuhren von jedem Paare zahlen lie Be, als es Taufgelder
entrichten konnte. Der Kaplan versetzte: »Es ist dumm, daB die
besten Pastoraltheologien liber diesen Punkt so hurtig weg sind
wie Schnupftabak.«
Bei soviel Laune meines Helden und bei soviel Lustigkeit mei-
nes Pfarrers - der an jedem heiligen Abend keifte und urtelte wie
ein Revolutionstribunalj und der sich an jedem ersten Feiertag
milderte, bis er am dritten gar ein Engel wurde - sollte sich die
20 Welt etwas anders versprechen, als was doch kommt: daB nam-
lich Viktor aus jeder Stunde des kommenden Abends, welcher
Klotilden zum vorletzten Male in seine Gesellschaft brachte, ein
vorragendes Opfermesser blinken sah, in das er seinen wunden
Busen driicken muB. Sie war auf heute gleichsam zu einem Valet-
Abendmahl geladen - die Driliinge ohnehin.
Endlich kam sie abends am Arme des verkannten Matthieu. -
Wenn Ruska behauptet, daB die Zahl von 44435 556 Teufeln, die
nach der Behauptung desGuliermusParisiensis um emesterbende
Abtissin fiankieren, viel zu schwach angegeben sei 1 : so kann man
50 leicht denken, wieviel Teufel um eine lebende, um eine bluhende
schwadronieren mogen; ich meines Ortes nehme um eine Schone
so viele Teufel an, als es Mannspersonen gibt.
Als Klotilde erschien mit dem ins Abbliihen hineinlachelnden
Angesicht, mit der erschopften Lautenstimme, die der Schmerz
als eine eigne Fortepianos-Veranderung durch den Driicker aus
1 Voetii select, disputat. theol. P. I. p. 918.
934 HESPERUS
uns bringt - aber ists nicht mit den Menschen wie mit den Orgeln,
deren Menschenstimme am schonsten mit dem Tremulanten geht?
- als sie so erschien : so hatte ihr schonster Freund die Wahl, ent-
weder vor ihr niederzusinken mit den Worten: »La6 mich friiher
sterben«, oder recht scherzhaft heute zu sein.
Das letzte wahlt* er (ausgenommen gegen sie), urn seine
Traume zu iibertauben. Daher warf er mit Historien und gesun-
den Anmerkungen um sich - Daher schenkte er in die Reichs-
operationskasse gegen die Empfindsamkeit auch diese Satire mit,
daB sie die Marz- oder NaBgalle am menschlichen Acker sei, d.h. 10
eine immer naBbleibende Stelle, auf der alles verfault. - Als das
nichts verfing : trat er mit ganzen Staaten in Allianz und versprach
sich, es wurde helfen, wenn er von ihnen anmerkte, daB die Gipfel
derselben wie Waldbaume ineinander verwachsen waren, und daB
es nichts wirkte, unten einen durchzusagen - daB die Gleichheit
der Reiche die Gleichheit der Stande ersetzte oder vorbereitete -
und daB das SchieBpulver, das bisher Heftpulver der Machte war,
die wasserscheuen Wunden des Menschengeschlechts endlich aus-
brennen und heilen werde. - Endlich als er offenbar merkte, daB
es ihm geringen Vorschub tat, da er vermutete, Europa werde 20
einmal zum Nordindten werden und derselbe Norden, der einmal
das Brech- und Bauzeug der Erde war, werd* es noch einmal sein,
aber der Norden auf der andern Halbkugel: so schlug er bei sei-
nem chymischen Prozesse den nassen Weg ein und nahm (wie
ein Gesandschaftsekretar) statt der Politik - Punsch vor.
Aber nur Sorgen, nicht Wehmut oder Liebe lassen sich ver-
trinken. Die in Nervengeist aufgelosten andern Geister ziehen
sich mit einem magisch-schimmernden Zirkel um jede Idee, um
jede Empfindung, die du darin hast, wie in Brauhausern die Lich-
ter wegen des Dunstes in einem farbigen Kreise brennen. Das 3°
Glas mit seinem heiBen Nebel ist ein papinischer Topf sogar des
dichtesten Herzens und zersetzt die ganze Seele; der Trunk macht
jeden zugleich weicher und kuhner. Ein weiches Herz war von
jeher neben einer tapfern geharteten Faust. Da es noch fort-
schneiete: so bot er Klotilden auf morgen seinen Muschel-Schlit-
ten und sich (da er ohnehin zum Balle geladen war) zum fahrenden
28. HUNDPOSTTAG 935
Ritter an - wodurch er den Evangelisten notigte, sich als Schlit-
ten-Gondelierer der Stiefmutter anzutragen.
Klotilde entfernte sich jetzt von der mannlichen lustigen Ge-
sellschaft ins Nebenzimmer, wo ihre Agathe und alles war - es ge-
schah nicht aus MiBbilligung der anstandigen mannlichen Froh-
lichkeit - noch weniger aus Verlegenheit, da es iiberhaupt ihrem
Geschlechte leichter ist und leichter gemacht wird, sich unter
vierzig Augen unbefangen zu benehmen als unter vier - noch
weniger aus Unvermogen der Verstellung ihrer Schwesterliebe
20 gegen Flamin; denn ihre fliegende Seele hatte langst die Flugel
zusammenzulegen, die Tranen und Wiinsche zu verhiillen ge-
lernt, unter Fremden erwachsen, in schwierigen Verhaltnissen und
unter uneinigen Eltern erzogen - sie tat es bloB, wie die Pfarrerin,
weil es britische Sitte ist, daB sich die Damen von Mannern und
ihrem Punsch-Weihkessel wegbegeben.
Da sie aus Viktors Augen war - und da er aus ihrem jet^igen
noch bleichern Aussehen den SchluB zog, daB ihr das Tal Ema-
nuels schwerlich die Lenzfarben wiedergeben werde, weil die Aus-
sicht der Abreise nichts geheilet habe- und da ihm diese kleine
20 Abwesenheit gleichsam in einem Taschenspiegel die Totener-
scheinung einer ewigen vorhielt - und da das schwellende Herz
doch endlich den Damm der Verstellung. uberwaltigt -; so eilte
er in den Winter hinaus - deckte die entziindete Brust den kiih-
lenden Flocken auf- und riB den Spalt weiter, in den das Schick-
sal seine Schmerzen impfte - und lief durch die weiBe Nacht auf
den Wartturm hinauf; - und hier, iibergossen von der still aus
dem Himmel steigenden Schneelawine, sah er in die graue, wuh-
lende, zitternde, flackernde Landschaft hinaus und in die weite,
von Schnee durchbrochne Nacht - und alle Tranen seines Her-
30 zens fielen, und alle Gedanken seiner Seele nefen : »So sieht die
Zukunft aus ! So schimmernd sinken die Freuden des Menschen
vom Himmel und zerflieBen schon unter dem Sinken! So rinnt
alles dahinl Ach welche Luftschlosser sah ich von dieser Hohe
um mich glanzen, und Abendrot glimmte an ihnen! Ach alle sind
unter Schnee verschuttet und unter Nacht !« Er sah in den Garten
Klotildens hinab, in dessen finstern, vom Schnee uberflatterten
93^ HESPERUS
Lauben er das Eden seines Herzens gefunden und wieder verloren
hatte. »Die Tone, die iiber diesen Garten flossen, sind versiegt,
aber nicht die Tranen, die ihnen nachrinnen«, dacht' er. Er sah in
den Garten ihres Bruders hinab, wo das Tulpen-K zerblattert und
die griinenden Namen vergangen und verhiillet waren.
Mit dieser Seele, die in diese Gegend wie in das Gebeinhaus
verweseter Tage hineingeschauet hatte, kehrte er zum freudigen
Klube zuriick. Der Wechsel mit Kalte und Warme hatte seine
Ahnlichkeit mit dem Punschverein fortgesetzt, der unterdessen
fortgetrunken. Alle und er betraten die Grenze des Trunkes, wo ic
man in einem Atem lacht und weint; aber es freuet mich, daB der
Mensch doch wahre Nahrung des Geistes und Herzens (wenn-
gleich aus keiner Klosterkuche oder Klosterbibliothek, doch) aus
einem — Klosterkeller ziehen kann; - daB erdie Gesundheit sei-
nes - Witzes trinkt; - daB ihn ein jeder Kelch (nicht bloB aiif dem
Altar) geistlich starkt, und daB er, wenn die Schlangen ihre Kro-
nen beim Trinken abnehmen, seine darunter aufsetzt - und daB
die Weinrebe Tranen nicht bloB selber oder aus den Augen eines
katholischen Marienbildes vergieBet, sondern auch aus denen
eines Mannes, der von ihr getrunken.DerKlub fiel darauf, Parla- 2c
mentreden zu halten. - Der Kaplan schlug Kasualreden vor. -
Viktor sprang auf einen Stuhl und sagte: »Ich halte den Leichen-
sermon auf mich selber - ich habe hier schon in meiner Kindheit
gepredigt.«
Alle tranken noch einmal, selber die Leiche, und diese perorierte
dann so:
»Geiiebteste und traurigste Zuhorer und Mitbriider!
Ein Mensch, tiefgebeugte Zuhorer, kann in die zweite Welt hin-
absinken, ohne daB ein Trauerpferd nachspringt, so wie er in
diese einlauft, ohne daB ein Paradegaul vorantrabt. - Wir unsers jo
Orts haben samtlich den Leichentrunk voraus eingenommen, um
alles auszuhalten; denn im Nassen dehnt sich der Mensch aus, und
im Trocknen dorret er ein, ich meine durch feste Speisen, gleich
dem Blutigel, der auBer dem Wasser vier Zoll kurzer ausfallt. Und
28. HUNDPOSTTAG 937
ich horfe, ich und das tiefgebeugte Trauergefolge haben dem
Hochseligen zu Ehren getoastet genug.
Und so seh* ich ihn denn vor mir« . . .
- Hier winkte er dem Pfarrer, seine Schlafmiitze hinzuwerfen,
damit etwas Totes dalage, an das sich sein Affekt wenden konnte -
»..vor mir da liegen den un verge Blichen Herrn Hofmedikus
Sebastian Viktor von Horion, und gestorben ist er und will hinab
unter das Erde-Zudeck, in die Statte voll langer Ruhe. Was sehen
wir noch vor uns ruhen als die Taucherglocke, worin die be-
io deckte Seele in dieses Dunstleben hereinsank - als die trockne
Schale eines Kerns, der erst in einem zweiten Planeten gesaet wird
- als seine Hiille, als, sozusagen, die weggeworfne Schlafmiitze
seines erwachten Geistes?
Besehet, weinende Zuhorer, diese figiirliche blasse Mutze ! Hier
liegt sie, der Kopf ist heraus, der darin sann - unser Viktor ist da-
hin und schweigt, der so oft sprach von Mathematik, Klinik, He-
raldik, Kautelarjurisprudenz, medicina forensis, Sphragistik und
ihren Hulfwissenschaften. - Wir haben viel an ihm verloren -
wer trostet Sie, vortrefflicher Herr v. Schleunes, iiber diese Ein-
20 buBe, und so die andern Herren auch? - Man hat aber in diesem
narrischen Leben, das wohl eine Art von Vor-Tod sein mag, gar
nicht so viel Zeit, um ordentlich zu trosten. Nicht bloB Kirchen-
stiihle sind oft auf Leichensteine gebauet, sondern auch Fiirsten-
stiihle — die vollends - und selber Kanzeln.
Sollte wohl deine Seele, hochseliger Sebastian, in ihrem mitt-
lern Zustande nach dem Tode etwas von ihrem Korper wissen,
aus dem sie wie aus ihrem Hut-Futteral ausgepackt ist, und von
der letzten Ehre, die wir hier ihrer Kap a el an tun? Falls sie noch
BewuBtsein hat und noch ein Auge fur diese Stube, worin sie so
jo oft war: so wird es sie freuen, daB die heiligen drei Konige, wo-
von der Mohr der Kato der Altere ist, um ihren abgezognen
Madensack herumstehen und den Sack kaum fahren lassen wol-
len; es muB ihr gefallen, daB wir samtlich klagen: wo ist seines-
gleichen in der gemeinen Chemie - in der Physiognomik und
Physiognomie - in den neuern Sprachen - in der Banclerlehre, aus
der er eine Liebe fur alle Arten von Bandern schopfte? - Wer
938 HESPERUS
suchte weniger als er strengen Zusammenhang der Gedanken,
der den Deutschen verleitet, gute durch schlechte zu verkitten
und mehr Mortel als Quader zu brauchen? - Nicht einmal der Hof
- daher er nicht gern hinging, wenn dort SpaB vorfiel - brachte
ihn von einem gewissen ernsthaften gesetzten Wesen ab, das er
bis zu einem Iacherlichen trieb, auf welches letzte er allezeit aus
war. — Beim Himmell durch das Stundenglas des Todes, durch
das er wie durch ein Taschenperspektiv guckte, brach ihm alles
so klein hervor, daB er nicht wuBte, weswegen er ernsthaft sein
sollte - ich will nicht gesund dastehen, wenn ihm nicht im be- 10
sagten Glase alle Stufen zum Throne so winzig vorkamen wie die
daumenlange Hofytreppe des Laubfrosches in seinem Einmach-
glase.
Er war ein recht guter Prediger, besonders ein Leichenredner,
daher ihn auch ein recht guter Prediger zu Gevatter bat, und das
Patchen steht mit da und weint seines Orts uber Leibschmer-
zen Nur groBe Hofprediger, die in der Hauptkirche die furst-
liche Leichenpredigt halten, konnen sich dessen riihmen, was ich
zu meinem groBten Vergniigen jetzo hore, daB das Leichenge-
folge lacht, und das ist mir ein Pfand, daB ich troste.... 20
Und doch hat einer, der auf dem Totenbette Hegt, mehr Trost
als einer, der nur neben dem BettfuB steht. Das Souterrain der
Erdrinde bewohnen lauter stille ruhende Menschen, die vorein-
ander zusammenriicken; aber auf dem Souterrain stehen ihre un-
ruhigen Freunde und wollen hinunter in die geliebten Arme aus
Staub; denn die Leinwand auf dem Toten-Auge ist ja ein Fallhut
der erkalteten Stirn, der Sarg ist der Fallschirm des Ungliick-
lichen, und das Lelchentuch der letzte Verband der weitesten
Wunden - ach warum fallt der mtide Mensch lieber in den kurzen
als in den langen ungestorten sichern Schlaf? - So nimm denn, 30
guter Sebastian, den Totenschein als ein ewiges Friedensinstru-
ment aus der Hand der sanften Natur...
Aber beim Henker! wo haben wir denn den Toten? was soil
die weiBe Miitze da unten? - Ich sehe die Leiche im Spiegel gegen-
uber - sie muB wo stehen - ich muB sie holen.« —
- Mit einem Schauer seines Ich sprang er herab - ein erhabner
28. HUNDPOSTTAG 939
Wahnsinn ging in den Stufen der Wehmut, des Lachelns, dcs
Erstarrens sein Angesicht auf und ab. Er lief hinter eine spanische
Wand, die vor seine Statue aus Wachs gestellet war - und trug
den wachsernen Menschen heraus - und warf ihn hin wie einen
Leichnam - und ein Schleier war iiber den Leichnam gewickelt -
und er stieg verzerret auf den Stuhl, um fortzufahren :
»Das ist die Nachtleiche — der verschlackte, der verkohlte
Mensch — in solche starre Klumpen sind die Ich geklebt und miis-
sen sie walzen - Warum bebet ihr uber mich, Zuhorer, weil ich
10 bebe, dafi ich dieses umgeworfene Menschenbild so starr an-
blicke? - Ich seh* ein Gespenst um diesen Leichnam schweben,
das ein Ich ist — Ich! Ich! du Abgrund, der im Spiegel des Ge-
dankens tief ins Dunkle zuriicklauft - Ich! du Spiegel im Spiegel
— du Schauder im Schauder! — Ziehet den Schleier vom Leichnam
weg ! Ich will den Toten keck anschauen, bis es mich zerstort.« . . .
- Jeder schauderte nach; aber ein Englander zog den Toten-
schleier weg Starr, sprachlos, ergriffen, erbebend sah Viktor
auf das enthullte Gesicht, das auch lebendig um seine Seele hing;
aber endlich ergossen sich Tranen iiber seine kalten Wangen, und
20 er sprach leiser, wie wenn sich sein Herz auf loste :
»Seht, wie der Leichnam lachelt! Warum lachelst du denn so,
Sebastian? Warst du etwan so glucklich auf der Erde, daB dein
Mund in einer Entziickung erkaltete? . . . Nein, glucklich warst du
wohl nicht - die Freude selber war oft fiir dich ein Samengehause
des Schmerzes - Und du sagtest selber recht oft: ich bin schon
zufrieden, und ich verdiene kaum meine HofTnungen und Wiin-
sche, geschweige ihre ErfuIIung. -
Flamin! schaue dieses umgelegte Gesicht hier an - es lachelt
.aus Freundschaft, nicht aus Freude - Flamin, diese erloschene
3 o Brust war iiber ein Herz gewolbt, das dich ohne Grenzen liebte
und bis in den Tod.
Und das ist im ganzen das einzige Ungliick des armen Seligen.
An und fiir sich und seiner origlnellen Lage und Laune wegen
hatte der gute Bastian schon gut genug fahren konnen; aber er
war zu weich zur Freude - zu unbesonnen - zu heiB - fast zu
phantastisch. Er wollte gar lieben (bei seinen Lebzeiten), und es
94° HESPERUS
war nicht zu tun. Die Blumengottin der Liebe ging vor ihm vorbei,
sie versagte ihm die Verklarung des Menschen, das Melodrama
des Herzens, das goldne Zeitalter des Lebens Kalte Gestalt,
richte dich auf und zeige den Menschen die Tranen, dieauseinem
weichen Herzen flieBen, das vor Liebe bricht und keine flndet! . . .
Wenn unser Horion nicht gliicklich war: so mag es ihm frei-
lich gar wohl tun, wenn er schon am Mittage des Lebens seine
Mittagruhe halten darf, wenn er sterben und, losgemacht vom
heiBpochenden Herzen, gestillt vom Todesengel, sich so friihe
legen darf unter das lange Leichentuch, das der Menschen- Genius 10
iiber ganze Volker, wie der Gartner das Verdeckuber den Blumen-
fior, gegen Regen und Sonne zieht - gegen die Glut unsrer Freu-
den, gegen den GuB unsers Wehs Ruhe du auch, Horionh.. .
- Seine Wehmut bei diesen Worten aus dem alten Traume war
so iibermannend, daB er aus ihr - zur Entschuldigung oder zur
Erholung — in eine fast wahnsinnige Laune iibertrat.
»Inzwischen ist der samtliche SpaB halb gegen meinen Ge-
schmack, den ich am Hofe ausbilden wollte. Das Leben verloh-
nets gar nicht, daB man seinetwegen den guten Tod auszankt
oder berauchert und erhebt. Die Furcht zu sterben ausgenommen, 20
gibts nichts Jammerlicheres als die Furcht zu leben. Leute von
wahren Talenten sollten sich betrinken, um das Leben aus dem
rechten Licht zu sehen und es uns nachher zu melden. - Am
allerelendesten aber (so daB das menschliche Leben dagegen noch
passabel ausfallt) ist das burger liche, auf das ich jahrelang los-
ziehen konnte, bloB weil es nichts hat als lange Troge fiir den
Magen, aus denen die Ketten fiir die Phantasie herabhangen -
weils den Menschen zum Kleinstadter umsetzt- weils unser fliehen-
des Dasein aus einem Fruchtacker zur Saemaschine macht — weils
einen fatalen Dunst ausdampft, der sich dick vor das Grab und 5°
iiber den Himmel ansetzt, und in dem sich der arme Expedition-
rat von Mensch schwitzend, kauend, feist, beschmieret, ohne einen
warmen Sonnenstrahl fiir sein Herz, ohne ein Streif licht fiir sein
Auge herumtreibt, bis ihn der Fall-Bock des Pflasterers 1 auf den
1 Er nennt den Tod und den Staat einen Pflasterer, obwohl in verschie-
denem Sinn.
28. HUNDPOSTTAG 94I
morastigen Drehplatz einrammt. - Den einzigen Nutzen hat so
ein armer Marmorstein, aus dem ein Pflaster statt einer Statue ge-
macht wird, daB er das ganze Menschenleben fur etwas recht Er-
hebliches ansieht, das er nicht genug preisen konne. - Inzwischen
konnte doch auch uns guten Narren das AuBere nicht so klein vor-
kommen, wenn nicht etwas ewiges GroBes in uns ware, womit
wirs zusammenhalten - wenn nicht ein Sonnenlicht in uns ware,
das in dieses Opertheater so hineinfallt, wie das Taglicht zuweilen,
. wenn eine Tiire aufgeht, in die nachtlichte Schaubiihne - wenn
10 wir nicht, wie Menschen in alten Auferstehgemalden, halb in der
Erde steckten, halb aber auBer ihr - und wenn dieses Eisleben
keine Aiguille percee 1 ware und keine Offnung in ein ewiges Blau
hinaus hatte .... Amen !
Ich hab' aber der leidtragenden Versammlung noch zu melden,
daB ich sie - in den ersten April geschickt; denn der Tote, dessen
Leichenrede ich hake, bin ich wirklich selber.«...
Aber hier umarmten ihn alle seine Freunde, urn seinem geist-
vollen Wahnsinne Schranken zu setzen - und um ein so heftiges
echt-britisches Herz an ihres zu driicken. Die Umarmung er-
ic warmte alle seine kalten Wunden sanft, und er war geheilt, obwohl
erschopft; das fremde Leben wuchs in seines hinein, und die Liebe
uberwand den Tod. Die Englander, in deren Augen die Tranen
einer doppelten Trunkenheit waren, konnten sich kaum abreiBen
vom humoristischen Liebling. -
Klotilde, die mit ihren Freundinnen der Leichenrede im Neben-
zimmer zuhorte, hielt sie anfangs bittend ab, dieses aufzumachen.
Aber als Viktor sagte: »Kalte Gestalt, richte dich auf und zeige
den Menschen die Tranen, die aus einem weichen Herzen flieBen,
das vor Liebe bricht« - so nahm sie eilend von ihnen gute Nacht,
30 weil sie iiber eine ihr ganzes Wesen hebende Riihrung nicht Mei-
ster werden konnte. Da man ihm die Zeit ihrer Entfernung be-
1 So nennt man eine hohe Felsenpyramide neben dem Montblanc, in der
ein Loch ist, wodurch man den Himmel sieht. Fur mich ists eine sanfte
Phantasie, mir neben dem hochsten Berg, der so viel Himmel als Erde nimmt,
einen kleinern vorzustellen, der sich in eine kleine Aussicht auftut, die unse-
rem Auge eine blaue Perspektive re ich c, aus welcher unsere Hoffnung die
Wolbung des Himmels bauet.
942 HESPERUS
richtet hatte: so wurde er, der jetzo schon so miide, weich und
zartlich war, es in einem unaussprechlichen Grade - alle durch die
Anstrengung erhohten Lichter auf seinem Angesicht schienen in
Liebe wie Mondschimmer in Tautropfen zu zerflieBen- er wartete
nicht, bis sein Zimmer leer wurde, sondern zeigte das, was Klo-
tilde in dem ihrigen verbergen wollte - er konnte sogar die un-
verschleierte Wachsstatue mit sanftem Geiste anschauen und
sagte lachelnd : »Ich glaube, ich habe mich darum gan{ in Wachs
wiederholen lassen, warum es der< Katholik mit einzelnen Glie-
dern tut, urn sie an eine Heilige zu hangen und dadurch um Ge- n
nesung zu danken oder zu bitten; oder wie die romischen Kaiser,
deren Wachsstatue die Arzte nach dem Tode des Originals be-
suchten.«
Die Gesellschaft ging ab, und er war endlich allein. Der Mond,
der um n Uhr 57Minuten aufgegangen war, warf sein nochver-
tieftes abnehmendes Licht erst oben an die Fenster von Klotildens
Wohnzimmer. Viktor loschte das Nachtlicht aus und setzte sich,
um mit seinem noch wogenden traumenden Herzen nicht in die
Traume des Schlafes zu treten, ans Fenster, beinahe an den ge-
wohnlichen Standort seiner Wachskopie und in ahnlicher Stel- *c
lung als das Schicksal es fugte, daB er, der heute die Wachs-
mumie fur seine Person ausgegeben hatte, jetzt umgekehrt fur
das Bild angesehen werden sollte —
- von Klotilden! Sie stand in einiger Entfemung von ihrem
Fenster, an welches kein Licht als das vom Himmel fiel; Viktor
war, da das letzte noch nicht zu ihm hineinkonnte, ganz im Schat-
ten und ihr mit Vierfunftel seines Profils zugekehrt. Kaum sah'
er, daB sie einen unverwandten fassenden, gleichsam einschlagen-
den Blick auf ihn hefte: so erriet er, daB sie ihn mit dem wachser-
nen Menschen vermenge ; auch bemerkte er aus dem Augenwinkel, 30
daB etwas WeiBes um sie flattere, d.h. daB sie sich die Augen oft
trockne. Aber wie war' es seinem feinen Gefuhle moglich ge-
wesen, ihr durch die geringste Bewegung ihren Irrtum zu nehmen
und sie fur ihr unschuldiges Anblicken verlegen und rot zu
machen! - Ein anderer, z.B. der verkannte Matz, hatte sich in
einem solchen Vorfalle gelassen in die Hohe gerichtet und gleich-
28. HUNDPOSTTAG 943
giilrig zum Fenster hinausgesehen; aber er verknocherte sich
gleichsam in seiner Stellung der Leblosigkeit. Allein nur die
Nacht und Entfernung konnten ihr sein Zittern zudecken, da ihre
fur seine Leiche fallenden Tranen wie ein heiBer Strom sein zer-
stortes Herz ergrifFen und das wenige, was der heutige Abend
daran noch fest gelassen, erweichten und auflosten in eine bren-
nende Welle der Liebe. Den Kindern flieBen die Tranen starker, ,
wenn man ihnen Mitleid bezeigt; und in dieser Stunde der Er-
schopfung wurde Viktor weicher, der sonst durch fremdes Mit-
10 leid mit ihm harter wurde, und als Klotilde sich ans Fenster setzte,
um das miide Haupt aufzulehnen: so war ihm, als ermahne ihn
etwas, das jetzo wahr zu machen, was er heute zu der Statue ge-
sagt: »Kalte Gestalt, richte dich auf und zeige den Menschen die
Tranen, die aus einem weichen Herzen etc.« ^
Klotilde zog endlich die Vorhange zu und verschwand. Aber
er setzte behutsam noch lange die Rolle seines Bildes fort, und
eben, da er sich weniger anstrengte, um eine Statue zu spielen,
gelang es ihm besser. Alle seine Gedanken flossen nun wie Bal-
sam iiber die Narben und aufgerissenen Stellen seines Innern, und
2° er sagte: »Wenn du auch nur meine Freundin bist, so genuget es
mir, und du kannst diesen von Sehnsucht emporten Busen stillen.
O dieses voile Herz wurde ohnehin auseinandergetrieben, wenn
es den Gedanken fassen sollte, daB du mich liebtest!« - Ubrigens
fiel ihm heute zum erstenmal die Unwahrscheinlichkeit seiner neu-
Hchen Vermutung ein, daB eine so zuriickhaltende Person wie sie
sich auf eine so wenig zuriickhaltende Art gegen den blinden Ju-
lius sollte benommen haben, und er fragte sich: »Ists denn zur Er-
klarung ihrer Abreise vom Hof nicht genug an Jenners und Mat-
thieus unheiliger Liebe und an Emanuels heiliger?« - Damit sie
30 aber am Morgen nicht ihre irrige Verwechslung entdeckte, so gab
er selnem wachsernen Figuranten genau die Stelle, die er selber
am Fenster eingenommen.
944 HESPERUS
Dntter Osterfeiertag
F. Kochs doppelte Mundharmonika - die Schlittenfahrt - der Ball - und —
Der Leser wird mit mir wiinschen, daB der dritte Ostertag etwas
Schlimmers endige als den langen 28sten Hundposttag.
Der Schlitten ging leidlich, soviel vorauszusehen war. — Ich
seh' aber noch etwas anders voraus: daB sich eine halbe Million
meiner Lesekunden (fiir die andre halbe steh' ich) nicht aus mei-
nem Helden finden kann. Es ist daher mein Amt, nur soviel ihnen
vorzusagen : Viktor war nie kleinmiitig, ihn ekelte die mensch-
liche Unterjochung unter das Gliick; der Tod nahm ihn jeden Tag 10
einmal auf den erhabenen Arm und lieB ihn von da herunter be-
merken, wie winzig alle Berge und Hugel sind, auch Graber. Jedes
Ungliick machte ihn stahlern, der Medusenkopf des Totenkopfs
machte ihn steinern, und er argerte sich nachher iiber den schmel-
zenden Sonnenblick der freudigen Ruhrung. Seine lustige Laune,
sein Ideal weiblicher Vollkommenheit, der Mangel an Gelegenheit
und das Schild Minervens hatten ihm iiber die Windmonate des
Gefuhls hiniibergeholfen, und er hatte bisher keine andre Sonne
angebetet als die um 21 Millionen Meilen entlegne - bis der Him-
mel oder der Henker die nahere herfiihrte, gerade im Jahr 1792. - 20
Noch war* es ganz leidlich gegangen und das Ungliick schon aus-
zuhalten gewesen, wenn er gescheut oder kalt gewesen ware; ich
will sagen, wenn er nicht zu sich gesagt hatte: »Es ist schon, nie
iiber sich zu weinen, aber doch iiber den andern; es ist schon,
jeden Verlust zu verbeiBen, aber nicht den eines Herzens, und
was wird ein geschiedner Freund aus seiner Hohe groBer finden,
entweder wenn ich mir Trostpredigten iiber sein Ableben mit
wahrer Fassung hake, oder wenn ich dem Geliebten im freiwilli-
gen iibermannenden Kummer nachsinke?« - Dadurch - und aus
Unbekanntschaft mit der Ubermacht edler, aber unbezahmter Ge- 3 o
fiihle - und weil er seine bisherige zufallige Herzstille mit einer
frei willi gen verwechselte - und aus einer uberschwenglichen
Menschenliebe hatte er absichtlich seinem innern Menschen bis
jetzt die Fiihlhorner zu gfoB wachsen lassen - und so war er durch
28. HUNDPOSTTAG 945
die Wirbel aller bisherigen Einflusse, der bisherigen Beraubungen,
der bisherigen Ruhrungen, dieser Ostertage, dieses schonen Ju-
genddorfes so weit verschlagen, daB er ungeachtet seiner Beson-
nenheit, seines Hoflebens, seiner Laune einiges von seiner alten
Unahnlichkeit mit jenen Genies (wenigstens fiir Ostern) ein-
biiBete, die gleich dem Seekrabben Fuhlfaden aufnchten, die
kaum ein Mann umklaftert
Jenes teilnehmende Anblicken Klotildens, das ihm gestern nach
der vorigen Hitze kiihlender Balsam gewesen, wurd* ihm heute
io ein sehr heiBer; ihr Auge voll Tranen seinetwegen richtete alle
Tage seiner Liebe fiir sie und ihr ganzes Bild in seinem Herzen
auf. Ich bin uberzeugt, sogar dem Regierrat, der ubrtgens durch
den gestrigen Leichensermon von seinem Argwohn, so wie durch
die republikanische Zerstreuung einiges von seiner Liebe gegen
Klotilden, hatte verlieren konnen, entwischte das Trunkne und
Traumerische seiner Augen nicht. Das Pfarrhaus selber war heute
zum Gluck eine Borse oder ein geistliches IntelHgenzkomtoir und
Werbhaus: der Kaplan registrierte - nicht etwan franzosische car
tel est notre plaisir, sondern - die Katechumenen ein, die auf
20 Pfingsten beichten wollten.
Er wollte nicht eher ins SchloB hiniibergehen - sein verkannter
Freund Matz hatt* ihm schon um io Uhr aus dem Fenster Mor-
gengruB und Gliickwunsch zum Schneewetter zugerufen — , als
bis sein Schlitten aus der Stadt da war, damit er sogleich abfiihre,
weil er druben keine lacherliche Running zeigen wollte. Seitdem
ihm die groBe Welt zur Werkeltagwelt geworden war, fiel ihm
Verstellung vor ihr schwerer; man verbirgt sich vor denen am
leichtesten, die man achtet.
Aber die Drillinge und Frani Koch trieben ihn fruher hiniiber,
jo schon abends um 5 1 /, Uhr. -
Ich fuhr in 'die Hohe beim Namen Franz Koch in des Hunds
Papieren. Wenn einer von meinen Lesern ein Karlsbader Brun-
nengast ist oder Se. Majestat der Konig von PreuBen Wilhelm II.
oder von dessen Hof oder der Kurfiirst von Sachsen oder der
Herzog von Braunschweig oder eine andre furstliche Person : so
hat er den guten Koch gehort, der ein bescheidner abgedankter
946 HESPERUS
Soldat ist und der iiberall mit seinem Instrument herumreiset und
spielet. Das letzte, das er doppelte Mundharmonika nennt, besteht
aus einem yerbesserten Paar zugleich gespielter - Maultrommeln
oder Brummeisen, die er immer nach den Spiel-Stiicken urn-
wechselt. Seine Brummeisen-Handhabung verhalt sich zur alten
wie Harmonikaglocken zu Bedientenglocken. Es ist meine Schul-
digkeit, solche von meinen Lesern, deren Phantasie Zaunkonigs-
Schwingen hat, oder die wenigstens vom Herzen an Lithopadia
(Stein-Fotus) sind, oder die das Ohrentrommelfell zu nichts .
haben als zum Trommeln darauf, solche Leser mit der wenigen i
Oratorie, die ich habe, dahin zu bringen, daB sie den besagten
Franz aus dem Hause werfen, wenn er kommen und vor ihnen
summen will. Denn es ist nichts daran, und die elendste Bratsche
und Strohfiedel schreiet meines Bediinkens lauter; ja sein Getone
ist so leise, daB er im Karlsbade vor nicht mehr als 12 Kunden auf
einmal aufspielte, weil man nicht nahe genug an ihm sitzen kann,
wie er denn sogar bei seinen Hauptliedern das Licht wegtragen
lasset, damit weder Aug' noch Ohr die Phantasien store. - Ist aber
freilich ein Leser anders - etwan ein Dichter - oder ein Verliebter
- oder sehr zart - oder wie Viktor - oder wie ich : so horch' er 2
ohne Bedenken mit stiller zerflieBender Seele dem Franz Koch -
oder — denn heute wird er nicht gerade zu haben sein - mir zu.
Der lustige Englander hatte Viktor diesen Harmonisten mit
der Karte geschickt : »t)berbringer dieses ist der Oberbringer eines
Echo, das er in der Tasche fuhrt.« - Viktor nahm ihn daher lieber
zur Freundin aller schonen Tone hiniiber, damit ihre Abreise sie
nicht um diese melodische Stunde bringe. Es war ihm, wie wenn
er durch eine Iange Kirche ginge, da er in Klotildens Lorettohaus
eintrat; ihr einfaches Zimmer war, wie Marias Wohnzimmer, von
einem Tempel eingefasset. Sie hatte schon ihre schwarze Putz- y
kleidung vollendet. Die schwarze Tracht ist eine schone Verfinste-
rung der Sonne, worin man das Auge von ihr gar nicht wegzu-
bringen vermag. Viktor, der bei seiner sinesischen Achtung fur
diese Farbe heute dieser schwarzen Magie eine wehrlpse Seele, ein
entzundetes Auge mitbrachte, wurde blaB und verwirrt iiber das
aufgehellte Angesicht Klotildens, iiber welches der Zug eines her-
28. HUNDPOSTTAG . 947
abgeregneten Kummers so wie ein Regenbogen iiber den hellen
blauen Himmel schwebte. Es war nicht die Heiterkeit der Zer-
streuung - die jedes Madchen durch das Ankleiden bekommt -,
sondern die Heiterkeit der frommen Seele voll Geduld und Liebe.
Er besorgte, in zweierlei Disteln zu treten, in die gemalten des
FuBbodens, iiber die er immer wegschritt, und in die satirischen
der feinen Beobachter um ihn, an die ersich immer stieB. Ihre Stief-
mutter war noch iiber der Stukkatur und Appretur ihres Maden-
sacks, und der Evangelist war in ihrem Ankleide-Zimmer als Putz-
io MeBhelfer und Mitarbeiter. Daher hatte Klotilde noch Zeit, den
Mundharmonisten zu horen; und der Kammerherr bot sich der^
Tochter und meinem Helden - denn er war ein Vater von Lebens-
art gegen seine Tochter - zu einem Teil der Zuhorerschaft an, ob
er gleich aus der Musik sich wenig machte, Tafel- und Ball-Musik
ausgenommen.
Viktor sah jetzt erst aus Klotildens Freude iiber den mitge-
brachten Musiker, daB ihr harmonisches Herz gern mit den Saiten
zittere; iiberhaupt wurd* er oft iiber sie irre, weil sie - wie du, teu-
erster**- sowohl ihr hochstes Lob durch Schweigen sagte als ihren
20 hochstenTadel. Sie.bat ihren Vater, der die Mundharmonika schon
im Karlsbad gehoret hatte, ihr und Viktor eine Idee davon zu
geben - er gab sie : »sie driicke nicht sowohl das fortissimo als das
piano-dolce meisterhaft aus und sei wie die einfache Harmonika
dem Adagio am angemessensten.« Sie antwortete darauf - an Vik-
tors Arm, der sie in ein dazu verfinstertes stilles Zimmer fuhrte -:
»die Musik sei vielleicht zu gut f iir Trinklieder und fiir lustige Emp-
findungen. Da der Schmerz den Menschen veredle und ihn durch
die kleinen Schnitte, die er ihm gebe, so regelmaBig entfalte, wie
man die Knospen der Nelke mit einem Messer aufritze, damit sie
jo ohne Bersten aufbliihen: so ersetze die Musik als kunstlicher
Schmerz den wahren.« - »Ist der wahre so selten?« sagte Viktor in
dem dunkeln, von einem Wachslicht beschienenen Zimmer. - Er
kam neben Klotilde, und ihr Vater saB ihm gegeniiber. -
Selige Stunde ! die du einmal mit den Echolauten dieser Harmo-
nika durch meine Seele zogest - fliehe noch einmal voriiber, und
der Nachklang jenes Echos klinge wieder um dich! -
Aber als der bescheidne stille Virtuos das Gerate der Entziak-
kung kaum in die Lippen geleget hatte: so fuhlte Viktor, daB er
es jetzo (bevor das Licht hinauskame) nicht so machen diirfe wie
sonst, wo er sich zu jedem Adagio eigne Szenen vormalte und
jedem Stticke besondere Schwarmereien seiner Texte unterlegte.
Denn es ist ein unfehlbares Mittel, den Tonen ihre Allmacht zu
geben, wenn man sie zu Ripienstimmen unserer Stimmung und so
aus Instrumental-Musik gleichsam Vokal-Musik, aus unartikulier-
ten Tonen artikulierte macht, anstatt daB die schonste Reihe Tone,
die kein bestimmter Gegenstand zu Alphabet und Sprache ordnet, k
abgleitet vom bespiilten, aber nicht erweichten Herzen. - Als da-
her die holdesten Laute, die je uber Menschenlippen als Mitlauter
der Seele flossen, von der bebenden Mundharmonika zu wehen
anfingen; als er fuhlte, daB diese kleinen Stahlringe gleichsam als
Fassung und Griffbrett seines Herzens ihre Erschutterungen zu
seinen machen wiirden : so zwang er sein fieberhaftes Herz, an dem
ohnehin heute alle Wunden aufgingen, sich gegen die Tone zu-
sammenzuziehen und sich keine Szenen vorzuzeichnen, bloB da-
init er nicht in Tranen ausbrache, bevor das Licht weg ware.
Immer hoher stieg das Zuggarn hebender Tone mit seinem er- *c
griffenen Herzen empor. - Eine wehmiitige Erinnerung um die
andere sagte in dieser Geisterstunde der Vergangenheit zu ihm:
»Erdriicke mich nicht, sondern gib mir meine Trane« - Alle seine
gefangnen Tranen wurden um sein Herz versammelt, und sein
ganzes Innere schwamm, aus dem Boden gehoben, sanft in ihnen
- Aber er faBte sich: »Kannst du noch nicht entbehren,« (sagt' er
zu sich) »nicht einmal ein nasses Auge? Nein, mit einem trocknen
nimm dieses beklommene Echo deiner ganzen Brust, nimm diesen
Nachhall aus Arkadien und alle diese weinenden Laute in eine
zerstorte Seele auf« - Unter einer solchen uberhiillten ZerflieBung, 5^
die er oft fur Fassung nahm, wars allemal in ihm, als wenn ihn aus
einer fernen Gegend eine brechende Stimme anredete, deren
Worte den Silbenfall von Versen hatten; die brechende Stimme
redete ihn wieder an : »Sind nicht diese Tone aus verklungenen
HofTnungen *gemacht? Rinnen nicht diese Laute, Horion, wie
Menschentage ineinander? O blicke nicht auf dein Herz! in das
28. HUNDPOSTTAG 949
staubende Herz malen sich wie in einen Nebel die vorigen schim-
mernden Zeiten hinein« - Gleichwohl antwortete er noch ruhig:
»Das Leben ist ja zu kurz fur zwei Tranen, fur die des Kummers
und fiir die andre« — Aber als jetzt die weifie Taube, die Ema-
nuel im Gottesacker niederfallen sah, durch seine Bilder flog -
als er dachte: »Diese Taube hat ja schon in meinem Traum von
Klotilden geflattert und sich an die Eisberge geklammert: ach sie
ist das Bild des verwelkenden Engels neben mir« — und als die
Tone immer leiser flatterten und endlich in dem flusternden Laube
10 eines Totenkranzes umherliefen - und als die brechende Stimme
wiederkam und sagte: »Kennst du die alten Tone nicht? - Siehe,
sie gingen schon in deinem Traum vor ihrem Wiegenfeste und
senkten dort bis ans Herz die kranke Seele neben dir ins Grab,
und sie He 6 dir nichts zuriick als ein Auge voll Tranen und eine
Seele voll Schmerz« »Nein, mehr lieB sie mir nicht«, sagte ge-
brochen sein miides Herz, und alle seine bekampften Tranen
drangen in Stromen aus den Augen ....
Aber das Licht ward eben aus dem Zimmer getragen, und der
erste Strom fiel ungesehen in den Schofi der Nacht.
io Die Harmonika fing die Melodie der Toten an: »Wie sie so
sanft ruhn ! etc.« - Ach in solchen Tonen schlagen die zerlaufen-
den Wellen des Meeres der Ewigkeit an das Herz der dunklen
Menschen, die am Ufer stehen und sich hinubersehnen ! - Jetzo
wirst du, Horion, von einem tonenden Wehen aus dem Regen-
dunst des Lebens hinubergehoben in die lichte Ewigkeit! - Hore,
welche Tone umlaufen die weiten Gefilde von Eden! Schlagen
nicht die Laute, in Hauche verflogen, an fernen Blumen zuriick
und umflieBen, vom Echo geschwollen, den Schwanen-Busen,
der selig-zergehend auf Fliigeln schwimmt, und ziehen ihn von
jo melodischen Fluten in Fluten und sinken mit ihm in die fernen
Blumen ein, die ein Nebel aus Diiften fiillt, und im dunkeln Dufte
glimmt die Seele wieder an wie Abendrot, eh' sie selig unter-
geht?
Ach Horion, ruht die Erde noch unter uns, die ihre Todeshiigel
um das weite Leben tragt? Zittern diese Tone in einer irdischen
Luft? O! Tonkunst, die du die Vergangenheit und die Zukunft
950 HESPERUS
mit ihren fliegenden Flammen so nahe an unsre Wunden bringst,
bist du das Abendwehen aus diesem Leben oder die Morgenluft
aus jenem? — Ja, deine Laute sind Echo, welche Engel den Freu-
dentonen der zweiten Welt abnehmen, urn in unser stummes
Herz, urn in unsre ode Nacht das verwehte Lenzgeton fern von
uns fliegender Himmel zu senken! Und du, verklingender Har-
monikaton! du kommst ja aus einem Jauchzen zu uns, das, von
Himmel in Himmel verschlagen, endlich in dem fernsten stummen
Himmel stirbt, der aus nichts besteht als aus einer tiefen, weiten,
ewig stillen Wonne — i
»Ewig stille Wonne,« (wiederholet Honons aufgeloste Seele,
deren Entzucken ich bisher zu meinem machte) »ja, dort wird die
Gegend liegen, wo ich meine Augen aufhebe gegen den Allgiiti-
gen, und meine Arme ausbreite gegen sie, gegen diese miide Seele,
gegen dieses groBe Herz - Dann fall* ich an dein Herz, Klotilde,
dann umschling* ich dich auf ewig, und die Flut der ewig stillen
Wonne hiillt uns ein - Wehet wieder nach dem Leben, Erden-
tone, zwischen meiner und ihrer Brust, und dann schwimme eine
kleine Nacht, ein wallender SchattenumriB auf euren lichten
Wogen daher, und ich werde hinsehen und sagen : das war mein 2
Leben — dann sag' ich sanfter und weine starker: ja der Mensch
ist unglucklich, aber auf der Erde nur.«
O gibts einen Menschen, uber welchen bei diesen letzten Wor-
ten die Erinnerung groBe Regenwolken zieht, so sag* ich zu ihm :
Geliebter Bruder, geliebte Schwester, ich bin heute so geruhrt wie
du, ich achte den Schmerz, den du verbirgst - ach du entschul-
digst mich und ich dich....
Das Lied stand still und tonte aus. - Welche Stille jetzt im
Dunkell Alles Seufzen war in ein zogerndes Atmen eingekleidet.
Nur die Nebelsterne der Empfindung funkelten hell in der Fin- 5
sternis. Keiner sah, wessen Auge naB geworden war. Viktor
blickte in die stille schwarze Luft vor ihm, die vor wenig Minuten
mit*hangenden Garten von Tonen, mit zerflieBenden Luftschlos-
sern des menschlichen Ohrs, mit verkleinerten Himmeln erfullt
gewesen und die nun dablieb als nacktes schwarzes Feuerwerks-
Geriist.
28. HUNDPOSTTAG 95 I
Aber die Harmonika fullte dieses Dunkel bald wieder mit Luft-
erscheinungen von Welten an. Ach warum mufit' es denn gerade
die meinen Viktor nagende Melodie des »VergiBmeinnicht« tref-
fen, die ihm die Verse vortonte, als wenn er sie Klotilden vor-
sagte : » VergiB mein nicht, da jetzt des Schicksals Strenge dich von
mir ruft - VergiB mein nicht, wenn lockre kuhle Erde dies Herz
einst deckt, das zartlich fiir dich schlug - Denk, daB ichs sei, wenns
sanft in deiner Seele spricht: vergiB mein nicht«... O wenn noch
dazu diese Tone sich in wogende Blumen verschlingen, aus einer
o Vergangenheit in die andre zuriickflieBen, immer leiser rinnen
durch die vergangnen, hinter dem Menschen ruhenden Jahre -
endlich nur murmeln unter dem Lebensmorgenrot - nur unge-
hort aufwallen unter der Wiege des Menschen - und erstarren in
unsrer kalten Dammerung und versiegen in der Mitternacht, wo
jeder von uns nicht war: dann hort der geriihrte Mensch auf,
seine Seufzer zu verbergen und seine unendlichen Schmerzen.
Der stille Engel neben Viktor konnte sie nicht mehr verhiillen,
und Viktor horte Klotildens ersten Seufzer. -
Ja, dann nahm er ihre Hand, als wenn er sie schwebend erhalten
10 wo lite iiber einem offnen Grabe.
Sie HeB ihm ihre Hand, und ihre Pulse schlugen bebend mit
seinen zusammen. -
Endlich warf nur noch der letzte Ton des Liedes seine melo-
dischen Kreise im Ather und floB auseinander iiber eine ganze
Vergangenheit - dann hullte ihn ein femes Echo in ein flatterndes
Liiftchen und wehte ihn durch tiefere Echo hindurch und endlich
an das letzte hiniiber, das rings urn den Himmel Hegt - dann ver-
schied der Ton und flog als eine Seele in einen Seufzer Klotil-
dens. -
jo Da entfiel ihr die erste Trane, wie ein heiBes Herz, auf Viktors
Hand.
Ihr Freund war uberwaltigt - sie war dahingerissen - er preBte
die sanfte Hand - sie zog sie aus seiner - und gihg langsam aus
dem Zimmer, um dem zu weichen Herzen, iiber dessen holde
Zeichen die Nacht ihren Schleier hing, wieder zu Hiilfe zu kom-
9^2 HESPERUS
Das kommende Licht nahm diese Traumwelten hinweg. -
Matthieu und die Kammerherrin erschienen auch. Wir wollen
aber in dieser weichen Stimmung, wo man gerade gegen Schlimme
in der hartesten ist, nichts sagen und nichts denken iiber das neue
Paar, das fiir den Abstich gegen unsere Erweichung nichts kann.
Viktor sagte sich dies auch, aber mehr als einmal; weil sich die
vom Apotheker erlogne Vermahlung Klotildens mit Matthieu
ihm mit den grellsten Farben aufdrang, ahnlich jener platonischen
Verbindung, wo der reine Geist aus seinem Ather getrieben und
mit zusammengekriimmten Flugeln in einen befleckten Leib ge- i<
mauert wird. Klotilde kam zuruck. Sie war in Verlegenheit gegen
Viktor, bloB weil er darin war oder neben ihr auf dem Schlitten
noch mehr darin sein muBte - ihren geschwollenen Augapfel ent-
fernte sie vom Licht. - Da Tranen-Versetzungen wie Milchverset-
zungen drucken und zerstoren: so suchte die in sein Inneres zu-
ruckgedriickte Wehmut einen Ausgang durch die Stimme, die
heftig und abgebrochen war, durch die Bewegungen, welche
schnell waren, sogar durch die Lebhaftigkeit des Ausdrucks -
kurz es war gut, daB sie fuhren.
Er dachte wieder das Gegenteil, als er auf dem Schlitten hinter «.
ihr stand. Die Nacht schien sich hinter die Wolken gezogen zu
haben, deren weites Gewolbe den Himmel einnahm. Er konnte
keine Materie zum Gesprach auftreiben, er mochte sinnen, wie er
wollte - er lief Klotildens, Viktors, aller Bekannten Leben durch
- es stieB ihm nichts auf. Der Grund war, seine Gedanken, die er
darauf ausschickte, kehrten ohne sein Wissen in jeder Minute um
und hingen sich wie Bienen an Klotildens edles Profil, oder an ihr
weiches Auge, oder sanken in ihre auf seine Hand gefallne Trane
ein und in das ganze Ather-Meer der heurigen Tone. Der dunkle
Himmel iiber ihm gab ihm endlich Emanuels letztes Schreiben in 3 c
den Sinn, und er konnte ihr daraus des BHnden Einweihung in
den hochsten Gedanken des Menschen erzahlen. Klotilde horte
ihm freudig zu und sagte endlich : »Niemand ist glucklicher als ein
Schiiler eines solchen Lehrers; aber er muB nie in die Welt treten
- da wird er es nicht sein. Sein Lehrer hat ihm ein zu weiches Herz
gegeben, und ein weiches hangt, wie Sie ja selber sagen, wie das
28. HUNDPOSTTAG 953
weiche Obst so tiefherab, daB es jeder erreichen und verwunden
kann; die hapten Friichte hangen hoher,«
Sie kamen jetzt bei den harten Residenzfruchten an, und ihre
Bemerkung war ihre eigne Geschichte. Aber die neuen Auftritte
- die rauschenden Wagen und Kleider - der Larm um nichts und
um wenig-die Saalleuchter wie Fixsternsysteme - die doppelten
Mund-Disharmonikas - die mannliche Hof-Fauna - die weibliche
Hof-Flora - das ganze mobil gemachte Lustlager, dieses MeB-
Getummel iiberschmetterte das gedampfte Echo, das zwischen
to zwei harmonischen Seelen hiniiber und heruber ging.
Unser Held wurde von der Fiirstin noch freundlicher angelas-
sen als vom Fiirsten. Joachime, die Amtverweserin Klotildens,
hatte noch auBer der kalten ziirnenden Freundlichkeit eine ju-
welenreiche montre a regulateur. An einem offentlichen Orte
kostet es weniger als in einem Kabinett, den auBern Menschen wie
eine Charaktermaske iiber den innern zu decken. Viktor, auf wel-
chen ohnehin jeder Schmeri die witzige Wirkung des Trunkes
machte, verriet den ersten hochstens durch das ObermaB seiner
Lebhaftigkeit.
ao Eine Frau verrat sich durch das Gegenteil - Klotilde durch
nichts. Er sagte ihr in der sonderbaren Obertaubung, in weiche
auBere Freudentone und innere Phantasien setzen, wenn sie wie
zwei Strome miteinander zusammenkommen, folgende Ideen;
»WaV ich die Gottin der Wonne (wenns eine gibt), so lieB' ich
drei Uhr schlagen - um die Wandleuchter machte ich Farben-
prismen oder hinge sie gar in die Kabinette und zoge iiber den
Tanzsaal durch Weihrauch eine Zauberdammerung - dann muBt*
ich die Tone des Orchesters in so viele Zimmer zuriickstellen, daB
davon nichts hereinkame als ein weiches Echo - und wenn dann
30 in dem dammernden, von Melodien durchwehten Wirrwarr nicht
die Leute nach einigen stillen Bewegungen vor Entziicken ver-
gehen wollten: so wufit* ich mcht«.... »Setzen Sie noch dazu,<c
(sagte sie) »damit wir auch eines haben, daB wir hier bleiben und
die Auf losung beobachten.« -
Aber seine Fassung uberlebte in jedem Balle kaum die Menuett.
Nach dem ersten Gerausch, wenigstens um die Geisterstunde,
954 HESPERUS
war allemal seine ganze Seele in eine eigne poetische, der Augen
kaum machtige Schwermut zersetzt. AuBer den Tonen kann ich
noch die Bewegung zum Erlautern dieser Erscheinung brauchen :
alle Bewegung ist erstlich erhaben - namlich die von groBen Mas-
sen, oder vielmehr jede schnelle Bewegung gibt dem Gegenstand
die GroBe des durcheilten Raums, daher bei Abstich mit dem
Zwecke bewegte Gegenstande komischer sind als ruhige - zwei-
tens das Bewegen der Menschen stellte ihm ihr Voriiberflattern,
ihr Fliehen in die Graber dar. Er blieb oft in der Nacht triibe
unten an Hausern stehen, in deren zweitem Stockwerke man i
tanzte, und sah hinauf, und das Voruberschweben freudiger Kopfe
war ihm der Gaukelsprung der Irrlichter auf dem Kirchhofe.
Heute fuhlte er dies bei einer zerschmolzenen uberlaufenden
Seele noch eher als sonst. Die Anglaise, worin aus der Kolonne
ein Paar nach dem andern verschwiridet, war ja das Bild unsers
schattigen Lebens, in das wir alle ausziehen mit Trommeln, und
von tausend Spielkameraden eingefaBt, und in dem wir fort-
riicken, jedes Jahr verarmend, jede Stunde einsamer, und worin
wir zu Ende laufen, von alien verlassen, auBer einem gemieteten
Mann, der uns eingrabt hinter das Ziel. - Aber der Tod breitet 2
gleichsam unsere Arme aus und drtickt sie urn unsere geliebten
Geschwister; ein Mensch fiihlt erst am Rande der Gruft, wo er
ans Reich unbekannter Wesen s to Bet, wie sehr er die bekannten
liebt, die ihn lieben, die leiden wie er, die sterben wie er.
Da ein Weib uns mit nichts die ganze selige Vergangenheit
riihrender aufdeckt, als wenn sie ihr Augenlid aufhebt und uns
ihr schimmerndes Auge zeigt: so muBte er ja wohl wenigstens
unter dem Tanze in ein Auge blicken, das ihm lauter Himmel
zeichnete, die versunken waren - und heute sollte ihm alles ver-
sinken, das Auge sogar. Und da Klotilde durch das Tanzen ge- 3
wohnlich erblaBte: so zog er durch ihre Augen in ihr Inneres und
zahlte darin an der stillen Seele die Tranentropfen, die unerschiit-
tert an ihr hingen - die vielen Impf-Einschnitte des Schicksals fur
neue Tugenden - die beschnittenen Wurzeln, die das Schicksal an
dieser Blume, wie wir an niedern Gewachsen, vor der Verpflan-
zung in eine andre Erde verkiirzt - und die tausend HoniggefaBe
28. HUNDPOSTTAG 955
schoner Gedanken. (Jnd da er an alle ihre bedeckten Tugenden
auf einmal dachte, an die Herrschaft ihrer weiblichen Vernunft
tiber ihre Empfindsamkeit, an ihr leichtes Einwilligen in den Ball,
den ihr jetzo der Ftirst, so wie das in die Schminke, die ihr sonst
die Fiirstin aufgedrungen, und an ihre Gefalligkeit, sobald sie
nichts aufzuopfern brauchte wie sich; und da er sich vorhielt, daB
sie, nicht ahnlich den Hof- und Stadtweibern, die wie Gewachse
sich ans Fenster des Gewachshauses nach dem Llchte ausspreizen,
sondern ahnlich den Friihlingb lumen gern im Schatten bluhe, und
o doch die Liebe zum Landleben so wenig wie ihre Bescheidenheit
zur Schau auslege : so muBt' er das Auge abwenden von der zar-
ten aufgerichteten Blume, auf die der Tod den Leichenstein nie-
derwarf, von der schonsten Seele, die ihren Wert noch nicht im
Spiegel einer gleichen sah, vom sterbenden Herzen, das doch
nicht glucklich war.
Alsdann stieg freilich der Gedanke, vor dem er zusammenfuhr,
wie ein Sturm empor: »Ich will ihrs heute sagen, wie gut sie ist -
o ich sen' sie doch nicht wieder, und sie stirbt sonst von sich un-
gekannt! - Ich will ihr zu FuBen sinken und meine unaussprech-
o Hche Liebe bekennen. - Sie kann nicht ziirnen; ich begehre ja
nicht ihr heiliges Herz, das keiner verdient, ich will ja nur sagen:
meines vergisset dich nie, aber es verlanget deines nicht, es will
nur sanfter brechen, wenn es vor dir gezitteft und geblutet und
geweinet und gesprochen haw. . .
Nahe hinter diesem Gedanken kam Klotilde selber zu ihm an
der Hand ihrer Stiefmutter, und das von der Warme wie Rosen
von der Sonne entfarbte Angesicht, die krankern miiden Ziige
taten die stille Bitte, in die frische Luft und nach Haus zu kommen.
Sie fuhr; die Stiefmutter entfernt hinter ihr. - Welcher Tausch
o der Biihnen! - Unter dem Morgentor des Himmels stand der
Mond, der den Leichenschleier aus Gewolk abgehoben hatte von
der MilchstraBe und von dem ganzen blauen Abgrund. Er trug
allmahlich einen Grund von Silber auf und zeichnete mit Schatten
und Blitzen ein riickendes* Nachtstuck hinein. Sein Licht schien
der Frost in Korper zu verdichten, in weiBe Auen, in taumelnde
Strdme, in schwebende Flocken, es hing blitzend als weiBes Blu-
956 HESPERUS
tenlaub an den Gebiischen, es glimmte die ostlichen Berge hinauf,
die die Sonne in Eisspiegel gegossen hatte. - Und alles iiber dem
Menschen und um den Menschen war erhaben-still - der Schlaf
spielte mit dem Tod — jedes Herz ruhte in seiner eignen Nacht. —
Und hier bei diesem Eintritt gleichsam aus dem Getummel der
Erde in die stille uberdammerte Unterwelt flossen kalte Schauer
und nach ihnen gliihende Schauer uber Viktors Nerven. - Dies
geschieht, wenn die Seele des Menschen zu voll ist und zu sehr er-
schuttert wird, und alle Faden ihres zitternden Korpergewebes
schwanken dann mit ihr. - Sein Schlitten wurde jetzt eine flie- it
gende Gondel. Die entgegenschlagende Nachtluft wehte alle seine
Flammen an. O ! der Strom voll Eisspitzen, wenn er iiber ihn ge-
zogen, die kiihle Decke von Schnee, wenn sie auf ihm gelegen
ware! - Immerfort rief es in ihm: »Du fahrst die Stille, die Ge-
duldige mit ihrem schwarzen Schleier dem Tode zu - es ist ihr
Leichenwagen - die edle Perlenfischerin hat dem Himmel ihr
Zeichen gegeben, daB sie hier unten Schmerzen und Tugenden
genug gesammelt habe, damit er sie wieder hinaufziehe zu sich.« -
Die voriiberriickenden Berge, die vorbeistiirzenden Baume, die
wegrinnenden Felder, diese Flucht der Natur schien in einen *c
groBen Wasserfall zusammenzuflieBen, der alles mittrieb und den
Menschen zuerst, und nichts stehen lieB als die Zeit. - Und als er
in das Tal, wo die Stadt verschwindet, wie vor einem Jahre seine
begleitenden Freundinnen, hinunterrollte und als der Morid
scheinbar hinter den Baumen durch den Himmel zu fliegen an-
fing: so richtete er seine Augen gegen die Sterne auf und redete
zuriickgebogen, hinaufstarrend, zertriimmert den Himmel laut
an: »Tiefes blaues Grab iiber den Menschen, du versteckst deine
weiten Nachte hinter zusammengeriickten Sonnen! Du ziehest
uns und unsre Tranen hinauf wie Diinste. - Ach wirf nicht die jc
armen, sich so kurz sehenden Menschen so weit auseinander,
nicht so unendlich weit! - Und warum kann der Mensch nicht
hinaufblicken zu dir, ohne zu denken : wer weiB, welches geliebte
Herz ich droben nach einem Jahre suchen muB!« -
Seine verdunkelten Augen fielen schmerzhaft vom Himmel
herab - auf Klotildens ihre, die aufgehoben seinen gegeniiber-
28. HUNDPOSTTAG 957
standen. Sie konnte die Trane, die vom Auge erst bis zur Wange
gefallen war, weder durch den Schleier entziehen, noch fiir eine
auf dem Anges'icht zergangene Schneeflocke ausgeben, da der
Schleier die Flocken abstieB; aber eine solche Trane hatte keinen
Schleier notig. Klotilde hatte gedacht, er meine blofi Emanuel,
und darum wurde sie weich Wie zwei scheidende Engel schau-
ten beide sich mit weinenden Augen an. Aber Klotilde zog die
ihrigen ab, und ihr Haupt biickte erliegend sich vorwarts. Gleich-
wohl wandte sie sich wieder um und tat mit dem Himmels-Ange-
o sicht und mit der Himmels-Stimme die schone Bitte an ihn : »Wiir-
digen Sie dieser warmen Freundschaft auch meinen Bruder; und
vergeben Sie der Sch wester heute diese Bitte, da ich sie vielleicht
lange nicht erneuern kann.« - Er biickte sich tief und konnte nicht
antworten. -
Aber da ihr Wohnort ihnen jetzt entgegenschimmerte und ihr
SchloB, von dem der Silberregen des Mondes niederrann - da die
Minute immer groBer und dunkler herankam, worin ihm der Ab-
schied (vielleicht die Maske des Todes) diesen stillen Engel von
der Seite nahm - da ihm jede gleichgultige Abschiedformel, die er
o sich aussinnen wollte, sein krankes Herz zerschnitt - da er sah, wie
sie ihr Haupt auf die Hand und auf den Schleier lehnte, um unbe-
merkt die ersten Zeichen ihres Abschiedes wegzunehmen oder
aufzuhalten: so stiirzte die ganze Wolke, die so lange einzelne
Tropfen in seine Augen fallen lassen, zerrissen auf ihn nieder und
uberflutete sein Herz Er hielt plotzlich still . . . Er sah mit un-
versiegenden Augen gegen St. Liine Klotilde kehrte sich um
und erblickte ein entfarbtes Angesicht, eine Stirn voll Schmerzen
und einen zitternden Mund und sagte blode : »Ihre Seele ist zu gut
und zu weich.« - Ja, dann brach sein uberfulltes Herz entzwei. -
o Dann quollen alle mit alten Tranen vollgegossenen Tiefen seiner
Seele auf und hoben aus den Wurzeln sein schwimmendes Herz,
und er sank vor Klotilden nieder, glanzend in himmlischer Liebe
und rinnendem Schmerz - von der Tugend uberflammt - vom
Mondenlicht verklart - mit der treuen erliegenden Brust, mit den
uberhullten Augen, und die zerrinnende Stimme konnte nur die
Worte sagen: »EngeI des Himmels! endlich bricht vor dir das
95 8 HESPERUS
Herz, das dich unaussprechlich liebt - o ich habe ja lange ge-
schwiegen. — Nein, du edle Gestalt weichest nie aus meiner Seele.
- O Seele vom Himmel, warum haben deine Leiden und deine
Giite und alles, was du bist, mir eine ewige Liebe gegeben, und
keine Hoffnung und einen ewigen Schmerz?« - Von ihm weg-
gebogen lag ihr erschrocknes Angesicht in ihrer rechten Hand,
und die linke deckte nur die Augen, aber nicht die Tranen zu. Ein
sterbender Laut fiehete ihn an, aufzustehen. Man horte den zwei-
ten Schlitten von feme. - »UnvergeBIiche ! ich martere Sie, aber
ich bleibe, bis Sie mir ein Zeichen der Vergebung geben.« — Sie ic
reichte ihm die linke Hand hinaus, und ein heiliges Angesicht
voll Ruhrung wurde aufgedeckt. Er preBte die warme Hand an
sein flammendes Angesicht, in seine heiBen Tranengtisse. Er fragte
zitternd wieder: »0 mein Fehler wird immer groBer, werden Sie
ihn denn ganz verzeihen?«. . .
Da verhiillte sie das errotende Angesicht in den verdoppelten
Schleier und stammelte abgewaodt: »Ach dann muB ich ihn tei-
len, edler Freund meines Lehrers.«
Seliger, seliger Mensch! nach diesem Wort bietet dir das ganze
Erdenleben keinen groBern Himmel an ! Ruhe nun in stillem Ent- zc
ziicken mit dem iiberwaltigten Angesicht auf der Engelhand, in
die das edelste Herz das fur die Tugend wallende Blut ausgieBet!
Weine alle deine Freudentranen auf die gute Hand, die dir sie ge-
geben hat! Und dann: wenn du es vermagst vor Entziicken oder
vor Ehrfurcht, denn hebe dein reines glanzendes Auge auf und
zeig ihr darin den Blick der erhabnen Liebe, den Blick der ewigen
Liebe und der stummen und der seligen und der unaussprech-
lichen! -
Ach der, den einmal eine Klotilde geliebt hatte, der konnte
jetzo vor Entziicken nicht weiterlesen - nicht weiterschreiben 3c
oder auch vor Schmerz ! -
Jetzt legte er den schonern Weg schweigend und geheiligt zu-
riick — der Mond hing wie ein betauter, mit weiBen Bliiten iiber-
legter Morgen vom Himmel herab - der Friihling bewegte seine
Auen und seine Blumen unter dem Schleier von Schnee - das
Entziicken schlug in Viktors Herzen, schwoll in seiner Brust,
28. HUNDPOSTTAG 959
glanzt* in seinem Auge - aber die Sprachlosigkeit der Ehrfurcht
herrschte iiber das Entzucken — Sie kamen an. Und als beide im
Zimmer der Harmonika, wo er abends vor Schmerzen ihre Hand
ergriffen hatte, einander einsam gegeniiberstanden, so verandert,
so selig zum ersten Male, zwei solche Herzen, sie wie ein Engel,
der vom Himmel niedersank, er wie ein Seliger, der aus der Erde
auferstand, um dem bloden Engel an das Herz zu fallen und mit
ihm sprachlos in den Himmel zuruckzugehen . . . welche Stunde!
- O nur fur euch, ihr schonen Seelen, die ihr solche Stunde nie er-
10 lebt und doch verdient, mal* ich diese fort! Wie zwei Selige
vor Gott schauen sie einander in die Augen und in die Seelen -
wie ein Zephyr, den zwei schwankende Rosen fortsetzen, wehet
zwischen den zitternden Lippen der sprachlose WonneseuFzer,
von der Brust in schnellen Ziigen eingetrunken und freudig
schauernd in langen ausgezittert — sie schweigen, um sich anzu-
blicken, sie heben die Augen auf, um durch den Freudentropfen
durchzusehen, und senken sie nieder, um ihn mit dem Augenlide
abzutrocknen . . . . Nein, es ist genug - o es ist eine andre Trane,
die jetzo druckend in dem schonen Herzen liegt, das schweigt und
to sagen will: ich war niemals glucklich, und ich werd* es auch nie!
Viktor hatte ihr so viel zu sagen und hatte so wenige Minuten
mehr dazu : gleichwohl machte ihn nicht sowohl die Freude als die
Ehrfurcht stumm — denn heilig ist dem liebenden Herzen die Ge-
stalt, die zu ihm gesagt: ich bin dein. - Denket aber nicht, er
wollte etwan die rohe Bitte tun, seinetwegen dazubleiben; nur die
Frage, ob er sie in Maienthal besuchen diirfe, nur die Bitte, da 6
sie fur ihr Genesen sorge, kann er wagen. Klotilde hatte nur eine
an ihn zu tun, die sie nicht genug uberhullen konnte; die nam-
lich, ihres eifersuchtigen Bruders wegen sie nicht in Maienthal zu
so sehen.
Unter dem Zogern der Entziickung schellet der zweite Schlit-
ten. Die Eile notigte sie zum Mut — Viktor verwandelte die Bitte
in den Wunsch, daB der Fruhling die Absicht ihrer Reise (die Ge-
nesung) begiinstigen moge, und die Frage in die Freude, wie
glucklich sie in Maienthal neben Dahore sein werde, wie selig er
sonst dort gewesen und wie wenig er sonst geglaubt, daB man es
960 HESPERUS
da noch mehr werden konne. Klo tilde antwortete (wahrschein-
lich auf seinen Wunsch nachzureisen) : »Ich hinterlasse Ihnen
ebensoviel, meinen Bruder und Ihren FreunJ; yergessen Sie meine
vorige Bitte nicht!«
Erst da die annahernden Eltern Klotilden erinnerten, den
Schleier zuruckzuschlagen, und ihren Geliebten anmahnten, den
ersten Abschied von dem errungenen Herzen zu nehmen ; da blick-
ten beide weit in das groBe Eden hinein,das sich ura ihrLeben auf-
getan - und die helle Minute, die jetzt im Strom der Zeit voruber-
floB, spiegelte in die Ewigkeit zwei himmlische Gestalten hinauf, i<
eine entschleierte, blaBrote, von Tranen verklarte, und eine von
Liebe verherrlichte, von HofFnung widerscheinende - und nun
lasset nicht langer die Hand Seelen zeichnen, die nicht einmal das
glanzende groBe Auge der Liebe abmalet...
Als die Eltern kameh : funk* er alle mogliche Kontraste, aber er
vergab alle mogliche. Er nahm bald Abschied, um zu Hause in der
Stille der Nacht den ersten betenden Blick iiber seinen kiinftigen
Lebensstrom zu werfen, der sich jetzt zum Grab hinzog in Schori-
heitlinien, und in welchem bunte Minuten spielten wie Gold-
fische. 2
In der Nachtstille, nicht weit von seiner Wachsmumie, wollte
der Gluckliche niederfallen vor dem unendlichen Genius und ihm
mit neuen Tranen danken fur diese Nacht, fur diese Freundin,
deren erste Liebe er ist. Aber der Gedanke, es zu tun, ist die Tat,
und o wie konnte unser geriihrtes Herz, das schon vor Menschen
verstummt, noch andere Worte vor dem Unendlichen finden als
Tranen und Gedanken? -
- Und in dieser ergebnen Stimmung voll tiefer Ruhe, worin
ich die Feder weglege, mogest du, lieber Leser, dieses Buch weg-
legen und auch sagen wie ich: es werden sich wohl mehr triibe j
Tage so beschlieBen wie der achtundzwanzigste Hundposttag.
SIEBENTER SCHALTTAG 961
VoRREDE ZUM DRITTEN HEFTLEIN
(das in der ersten Auflage um ein Dut^end Bogenfruher anging)
Da jetzt auch der Schalttag in die Vorrede einfallt und er noch
dazu beim Anfangbuchstaben V anfangt: so konnen ja beide un-
gemein glucklich miteinander abgefertigt werden.
SlEBENTER SCHALTTAG
Ende des Registers der Extra-SchoBIinge
uv
Unempfindlichkeit der Leser - Vorrede. Es gab gliickliche Zei-
to ten, wo man von seinem Nebenwilden und Nachsten nichts zu
befahren hatte, als totgeschlagen zu werden - wo nur der Hagel
der Knutenmeister der Haut war, anstatt daB jetzt der Passatwind
des Visitenfachers fur uns eine Windsbraut ist und der kuhle
Atem iiber die Teetasse hiniiber ein Seewind - wxd man weniger
am Kummer des andern Anteil nahm als an seinem FraBe - wo
die Damen die Herren in Barenhauten mit nichts verwundeten
(mit Blicken, Reizen, Locken am allerwenigsten), mit nichts als
mit Keulen, und wo sie sich zwar so gut wie heute und morgen
des Herzens eines ehrlichen Mannes bemachtigten, aber doch nur
10 so, daB sie den Inhaber desselben vorher auf einen Altar hin-
streckten und ordentlich abschlachteten, eh' sie ihm den Himmel-
globus aus dem Brustgehause ausschnitten. —
Um diese Zeiten sind wir nun alle gebracht; in den jetzigen
siehts schlecht aus. Beim Himmel, man hat ja nicht viel weniger
als alles vonnoten, um glucklich, und nicht viel mehr als nichts,
um ungliicklich zu sein - zu jenem braucht man eine Sonne, zu
diesem ein Sonnenstaubchen ! - Gut waren wir daran und groBe
Zimmer in alien Lustschlossern hatten wir innen, wenn es uns
vom Schicksal bescheret ware, daB wir etwan so viele Foltern er-
9<52 HESPERUS
Htten, wie die Juristen haben, namlich drei - nicht mehr Plagen,
als die Agypter trugen, namlich sieben - nicht mehr Verfolgun-
gen, als die ersten Christen ausstanden, namlich zehn. Aber auf
solche Gliick-Ziehungen sieht ein Mann von Verstand gar nicht
a.uf; wenigstens verspricht sich solcher Treffer einer nicht, der
sich wie ich hinsetzt und erwagt unsre Kolibrimagen — unsere
weiche Raupenhaut — unsere selber klingende Ohren - unsere
Selberztinder von Augen - und unsere culs de Paris, die nicht von
einem umgestulpten Rosenblatt, sondern schon vom Schatten
eines Domes gestochen werden - und unsere feine Hautfarbe, die i
ohne einen Mondschirm im Mondlicht schwarz wiirde .... Und
doch nab' ich in diese Rechnung unserer Leiden - weil ich mit
FleiB darauf aus bin, sie kleiner zu machen - noch ganz andere,
ganz verdammte Posten nicht gebracht, sondern z. B. den Reich-
rum vollig ausgelassen, dieses Schmerzengeld so vieler tausend
Schrammen und Splitterungen der Brust, unduberhauptMillionen
Seelenwunden, die unser durchlochertes Ich ganz durchsichtig
machen wiirden, war' es nicht zum Gliick ganz vom Kopf bis zum
FuB in englisches Taftpflaster gekleidet.... Aber ich HeB alles
dergleichen weg, weil ich wuBte, es ware doch so gut wie nichts, a
wenn ichs gegen ein ganz anderes Fegfeuer und Gewitter hielte,
in das vorziiglich wir Mannspersonen geworfen werden, wenn
wir so unglucklich sind, daB wir uns selber kielholen - namlich
uns verlieben, welches meines wenigen Erachtens ein geringer
Vorgeschmack der Holle ist, so wie des Himmels. Die beste Pee-
reB in diesem Fache schreib' an mich und kouvertier' es postfrei
an die Verlaghandlung in Berlin und nenne sich mir, wenn sie
fahig war, ihren armen Pastor fldo nicht zu schinden und zu spie-
Ben, noch mit Zwickelurteln zu verfolgen, noch ihm mit den
Druckmaschinen der Hande sein Herz voll Quetschwunden, mit \
der Facher-Bastonade seinen Kopf voll Fissuren, mit den Augen
die Brust voll Brandblasen zu machen und ihm wie dem Rauch-
tabak mit Tranen eine Beize zu geben — Wenigstens komm* ich
selber gegenwartig gerade aus einem solchen Zucht- und Hatz-
haus her und sen* erbarmlich aus in meiner Haut, als hatt' ich eine
skalpierte um mich geschlagen.
SIEBENTER SCHALTTAG 963
Wir wollen nichts weiter davon reden. Meine Absicht bei die-
sem alien ist, den Leser standhaft zu machen, weil ein ganz neues
Regengestirn, das ich gar nicht namhaft gemacht, fur ihn herauf-
steigt, urn ihn einzuschneien. Das tobet arger als alles vorige. Ich
meine so: ein Reichsbiirger kann schon mit allem zu Rande sein -
seine Kasse und seine Feinde konnen schon gesturzt und seine Ar-
beiten vom Publikum oder vom Kollegium recht gut aufgenom-
men - seine Fristgesuche bewilligt sein und die Quinquennells
seiner Schuldner abgeschlagen worden - seine jiingste Tochter,
to die, wie die alteste des Bruders des franzosischen Konigs, Made-
moiselle heiBet, kann schon die Blattern uberstanden haben und
die Verlobung nachher : es hilft ihm wenig, das Argste, eine ganze
Gehenna erwartet ihn noch - im Bucherbrett; denn dort konnen
die schonen Geister, er habe immer schon alle bittere Salze des
Geschicks hinuntergeschluckt, unter dem Namen Romanen-
Manna ein hartes Tranenbrot ihm vorgeschnitten haben, das ich
fiir meine Person weder backen noch kauen mochte - wahrlich
sie konnen (in einer andern Metapher) Totenmarsche und Trauer-
kantaten fiir ihn gesetzt und bereitgelegt haben, die ihn ganz nie-
10 derwerfen und ihm warm machen, daB ihm die Augen uber-
gehen.
Und zum Ungliick zeichnen sich gerade warmblutige und
weichhautige herrliche Manner am wenigsten durch standhaftes
maBigendes Ertragen der poetischen Leiden aus, die ihnen die
Schreiber zuschicken. Ich kann daher dieses dritte Heft, das zu
leicht riihret, unmoglich ohne alle Vorrede als eine Widerlage
Iassen, wenn ich nicht selber Ursache sein will, daB unschuldige
Menschen bei den besten Auftritten dieses Hefts weinen und mit
Ieiden. Solche zu weiche Menschen, denen die Natur die asthe-
o tische Apathie gegen groBe Leidensfalle in Tragodien und Ro-
manen versagt hat, sollten sich - sie miiBten denn fett sein; denn
Fetten tut der Kummer gut wie Hungerkur und Hollen stein -
diese sollten sich durch Philosophie kalt machen und bewaffnen
gegen den tragischen Dichter; sie sollten sich unter dem Lesen
eines groBen Jammers trosten und sagen : »Wie lange dauert ein
solches gedrucktes Ungliick? - Wie bald ist ein Buch und Leben
964 HESPERUS
hinaus - Morgen denkst du doch anders - Der ungluckliche Zu-
stand, in den ich durch Shakespeare hier gebracht werde, existiert
ja nur in meiner Vorstellung, und der Schmerz dariiber ist ja, nach
den Stoikern, nur Tauschung - Man muB, sagt Epiktet im Hand-
buch, das nicht bejammern, was nicht in unserem Willen liegt,
und hier die traurige Szene von Klopstock ist ja ein auBeres Ding,
das du nicht andern kannst - Willst du dich von einem Nord-
amerikaner, vom Halloren, vom Pobel, vom Cretin aus Gex be-
schamen lassen, der diese ganze Szene aus Goethe s Tasso still und
gelassenaushielte, ohne ein Auge naB zu machen?« - i<
Ich beteur' es den Lesern, daB ich hier nur gegen ihre Weiber
und Schwestern zu Felde liege: denn unter den Lesern fehlten
standhafte Zuschauer asthetischer Leiden niemals ganz und noch
weniger als selber unter dem Pobel, und ich mochte am wenigsten
den Schein haben, als stritt* ich dem groBern Teile der Geschaft-
leute, der Rezensenten, Kriminalisten und Hollander groBe Ge-
lassenheit unter dem Lesen iiberflorter triiber Szenen ab, die ich
und andre in die Presse gaben. Ich berede mich vielmehr gern,
daB - wenn jemals Hoftnung dazu war - es gerade jetzt ist, wo
der Deutsche jenen belgischen Stoizismus, jene edle Unempfind- i<
lichkeit anzunehmen verspricht, die ihn so ziert und durch die er
gegen Melpomenens Dolch schuB- und stichfest wird und in Dan-
tes Holle, wie Christus in der wahren, ohne Leiden ist. Wir hatten
zwar nie die Empfindlichkeit der Franzosen, und ihr Racine ware
immer fur uns ein kurzweiliger Rat gewesen; aber jetzo sind wir,
wenns ein Verfasser nicht gar zu,kraus macht und nicht gar zu
viele Schlachtfelder und Kelche mit Mausegift und Rabensteine
vorschiebt - denn das greift uns an -, sondern wenn er nur so
halb aufgeraumt - ich sen' ihn ordentHch reiten - auf einem
Trauerpferde dahersetzt und mit der einen Hand eine Toten- 3
glocke schiittelt und mit der andern einen Leichenmarschalls-Stab
Wehe schwenkt, oder wenn er vollends nur die unsichtbaren zu-
gequollenen Stichwunden der zartern feinern Seele vorzeichnet,
da sind wir jetzo schon imstande, unsere lustige Laune zu behaup-
ten und zu zeigen, was der Deutsche ertragt. Leute von geringerer
Kraft scklafen wenigstens, damit sie bei einer Goetheschcn I phi-
SIEBENTER SCHALTTAG 965
genie nicht leiden, weil der Schlaf Leidende aufrichtet; oder wir
vergessen solche Elegien gar, weil wir nach Platner kein Ge-
dachtnis fur Schmerzen haben, und weil die Vergessenheit - wie
ein Fiirst schrieb - das einzige Heilmittel der Schmerzen ist, oder
der Himmel schenkt uns, wie nach Leid Freude, nach einer Messi-
ade (wovon uns eine gute Travestierung anzuwiinschen ware)
eine blumauerische Parodie, woriiber wir die vorige Epopoe leicht
vergessen konnen.
W
10 Weiber. Ihr holden weichen Fruhlingblumen und Engel-Absen-
ker neben uns harten Winterkohlstriinken, ich habe ja schon im
vorigen Buchstaben eurer gedacht und eurer Weichheit im Gegen-
satz der deutschen Strengfliissigkeitl Was soil ich weiter sagen,
als daB ihr, sobald ihr gut seid, es im hochsten Grad seid, und
daB ihr und das englische Zinn einerlei Stempel habt - namlich die
Figur eines Engels? -
X siehe I K S - Y siehe I - Z siehe T S
Tz
Spiti* Der arme Spitz will so gut in Vorreden unter Extra-SchoB-
ao Hnge wie sein Herr und kommt gerade recht mit dem 29Sten Ka-
pitel.Ich kann stundenlang mitSpitzhunden reden, wie Yorickmit
Eseln. Ich will jetzt den Gotterboten auf die HinterfuBe stellen und
an den vordern halten, damit er mir aufgerichtet zuhort.
»Steh, leichte Bestie! - Ich rede nur mit dir uber etwas, damit ich
dich in die dritte Vorrede setzen kann. Es verdient, Spitz, bemerkt
zu werden, daB du ein Schelm bist wie Menschen und gleich ihnen
nicht gerade, sondern gekrummt und niedergebiickt verbleiben
willst, bloB um recht zu fressen; du und sie wollen wie Pharo-
karten durch Beugen und Krummen gewinnen, wie die gemeinen
*o Englander ihre schlechten Silbermiinzen krummen, damit sie nicht
fur weniger ausgegeben werden, namlich zwei fiir eine. - Du hast
966 HESPERUS
falsche Augen, aber du handelst doch gut. - Die Rezensenten,
ungeduldiges Vieh, sagen, wenn sie an deiner Stelle waren, sie
wiirden das biographische Bauzeug fleiBiger zutragen, damit die
Lebensbeschreibung aus ware, eh* es schneiet - Setze ihhen nicht
entgegen, daB ichs wie Baronius machen konnte, der seine An-
nalen ohne Bart angefangen und mit einem grauen ausgemacht -
Das konnen ihm nur Rezensenten (ich aber nicht) nachtun, die
Zeit haben zu feilen und die ein Werk unbdrtig anfangen konnen
am Rasiertage, und erst drei Tage darauf vollenden, wenn sie ein-
geseift sind. Fall nur nieder, Hofmann, und friB; du bist we- 1°
nigstens nicht ohne alien Verstand und gibst doch mehr auf das
Haranguieren acht als ein Dauphin-Fotus und wedelst doch, aber
der Fotus nicht — Ich habe nun mit ganz andern Leuten zu spre-
chen, und die wenigsten wedeln, Spitz !«
Jean Paul.
29. HUNDPOSTTAG 9<>7
29.. HUNDPOSTTAG
Bekehrung - Billetdoux der Uhr - Florhut
Des Morgens ging Klotilde nach ihrer Pappelinsel ab, und mit-
tags Viktor nach seinem pontinischen Sumpf - beide mit einer
Entfemung zufrieden, die sie wiirdig machte, eine Vereinigung
zu genieBen.
Das erste, was der Hofmedikus in Flachsenflngen vornahm,
war - daB er nachsann oder vielmehr nachempfand. Der Mensch
ist der Doppelspat der Zeit, der alle Szenen zweimal nebenein-
10 ander zeigt. Die Erinnerung ring in ihrem Spiegel noch einmal den
Mondschein der letzten Nacht und die Engel auf, die darin
schwebten, und kehrte den Spiegel mit diesem Schimmer, mit
dieser Perspektive meinem Viktor zu. Er iiberdachte Klotildens
bisheriges Betragen, aus dem er — und ich hoffe, mein Leser - die
Ziige der reinsten Liebe, die nur mit einem Auge aus dem Schleier
blickt, neben den Zugen einer entschiedenen Herrschaft der weib-
Iichen Gefuhle iiber die weiblichen Wunsche entdeckte. Sie
kommt den ersten Mai aus Maienthal mit einem weinenden Her-
zen, das, von einer Toten abgerissen, ofFen noch fortblutet. - Der
ao Schiiler Emanuels begegnet ihr, und sie eilet wieder zum Grabe
zuruck, um dort mit den Tranen der Trauer ihre erste Liebe aus-
zuloschen. - Aber Emanuel teilet dieser Liebe sein heiliges Feuer
mit durch die seinige, durch sein Lob des Geliebten, durch den
offnen Brief voll keimender Liebe, den dieser am Geburtfeste des
4ten Maies an ihn geschrieben. - Sie kehrt ungeheilet gegen die
Zeit seiner nahen Abreise zuruck. -Aber ihr guter Emanuel driickt
freundschaftlich-grausam das Bild, das ihr das Herz zu enge
macht, tiefer in die Wunden desselben hinein, indem er ihr Viktors
Leben in Maienthal und dessen Gestandnis berkhtet, daB er sie
30 liebe. - Viktor schweigt vor ihr, aber sie glaubt, er tu' es, weil er
von seinem Vater keine Erlaubnis habe, mit ihr uber Flamins Ver-
wandtschaft zu reden. - Er geht an den Hof und scheint sie zu
vergessen, ja er legt ihr die Ketten des Hofamts um, die doch, wie
er weiB, ihre Seele blutig driicken. - Ihre Eltern notigen ihr, um
968 HESPERUS
sie auszuforschen oder urn ihrem geheimen Werber Matthieu mit
ihrer weiblichen Verschleierung zu schmeicheln, durch eine ty-
rannische Frage das ungliickliche Nein ab, das ihren Bruder
tauscht und ihren Freund entfernt - Viktor weicht an ihrem Fest-
abende aus dem Garten, ohne sie anzureden, besucht darauf ihre
Eltern wieder und ist ganz erkaltet. - Nun hort sie nichts mehr
von ihm als hochstens Berichte seiner hofischen Freuden und sei-
ner Besuche bei Joachimen Ja, du Gute, so muBten ja im
Kampfe mit Wiinschen und mit Sorgen, im kranken Lechzen nach
der geliebten Seele alle deine Freuden einschlafen und deine Hoff- ic
nun gen aussterben und deine unschuldigen Wangen erblassen.
— Da nun Viktor so diese triibe Vergangenheit durchdachte und
sich erinnerte, wie ihr im Schauspielhause, wo er ihr seine Wissen-
schaft urn ihre Verschwisterung zeigte, die letzte Blute der Wange,
der letzte Zweig der Hoffnung wegbrach, weil sie sein bisheriges
Schweigen fur ein von seinem Vater befohlnes halten konnte -
und da alle diese Ziige in eine Himmelkonigin zusammenliefen,
vor welcher das Niederknien leichter als das Umarmen ist - und
da er weiter bedachte, daB dieses edle, von einem Emanuel ver-
schonerte und eines Emanuels wurdige Herz sich doch mit alien ic
seinen Himmeln dem wankelmiitigen Herzen des Schiilers ergab
— und daB der Guten nicht einmal dieser bescheidne Wunsch ge-
lang, weil das Schicksal die Blute ihrer Liebe wie die einer Rosen-
staude aufschob durch Verpflanzung, durch Setzen in Schatten,
durch Beschneiden der Knospen im Friihjahr und Herbs t - und
da er sah, daB gleichwohl diese Edle mit dem Finger auf dem
Munde, mit der Hand auf dem truben Herzen, ohne einen Wink
ihres Grams geschieden ware nach Maienthal, und daB die mora-
lische Kdlte diese Blume, wie die physische andere Blumen, erhoh y
aber ihr dadurch die Wurzeln des Lebens abriB - und da endlich 30
sein Traum am dritten Osterfeiertag, wo ihm vorkam, als sah* er
sie auf einem lichten Nebel singend aus der Erde steigen, wie eine
groBe Regenwolke voriiberging, und der Traum mit ihren er-
blaBten Farben vor seiner schmachtenden Seele srille stand, und
eine Stimme aus dem Traum ihn fragte: »Wirst du sie lange lie-
ben, da sich Engel nach ihr sehnen und sie aus dem Kummer
29. HUNDPOSTTAG 969
heben und dir nichts lassen als das Grab des zu lang verkannten
Herzens?« da alle diese Gedanken gluhend und aneinander-
gereihet wie Hiigelketten von roten Abendwolken um seine Seele
zogen: so wurde sein Herz wie ein Altar durch ein vom Himmel
fallendes Opferfeuer bedeckt, und alle seine erdigen Liiste, alle
seine Flecken vergingen in diesem Feuer - kurz, er beschloB, sich
zu bessern, um durch Tugend wiirdig zu sein einer Tugendhaften.
Er bekehrte sich den 3ten April 1793 gegen Abend, als der
Mond - und die Erie — unter seinen FiiBen im Nadir waren. -
10 Der Leser kann uber diesen Chronometer gelacht haben; aber
jeder Mensch, an dem die Tugend etwas Hoheres ist als ein zu-
falliger Wasserast und Holztrieb, muB die Stunde sagen konnen,
worin jene die Hamadryade seines Innern wurde - welches die
Theologen Bekehrung und die Herrnhuter Durchbruch nennen.
Wie soil die Zeit nicht unsre geistigen Empfindungen abmarken,
da ja bloB diese jene abstecken?
Es gibt - oder kommt - in jedem mehr solarischen als plane-
tarischen Menschen eine hohe Stunde, wo sich sein Herz unter ge-
waltsamen Bewegungen und schmerzlichen Losreifiungen end-
20 lich durch eine Erhebung plotzlich umwendet gegen die Tugend,
in jenem unbegreiflichen Obergang, wie der ist, wenn sich der
Mensch von einem Glaubenssystem auf einmal zum andern, oder
vom hochsten Punkte des Grolls schnell zu einer zerschmelzen-
den Vergebung aller Fehler hiniiberhebt - jene hohe Stunde, die
Geburtstunde des tugendhaften Lebens, ist auch die siiBeste des-
selben, weil dem Menschen ist, als ware ihm der driickende Kor-
per abgenommen, weil er die Wonne genie Bet, keine Wider spriiche
in sich zu fuhlen, weil alle seine Ketten fallen, weil er nichts mehr
furchtet im schauerlich-erhabnen All. - Der Anblick ist groB,
5° wenn der Engel im Menschen geboren wird, wenn alsdann am
Horizont der Erde die zweite Welt aufsteigt und wenn die ganze
Sonnenwarme der Tugend auf das Herz nicht mehr durch Wolken
fallt. -
Aber der arme Mensch, der gebundne, in Blut versunkne, von
Fleisch umfaBte Mensch empfindet bald den Unterschied zwi-
schen seinen Entzuckungen und seinen Kraften; er, der das ge-
97° HESPERUS
lobte Land erkampfen wollte, da ihm die Trauben desselben ent-
gegenkamen, stockt, wenn er gegen dessen Riesen ziehen soil
(gegen die Leidenschaften). Gleichwohl verwerf ' ich nicht einmal
die Obertreibung jenes Enthusiasmus; der Mensch muB wie Ge-
baude in die Hohe geschraubt werden, damit er umgebauet werde;
ein Syllogismus grabt die Blutstrome unserer Begierden nicht ab.
Es ist sonderbar, da6 der Teufel in uns allein das Recht haben
soil, das Blut, die Nerven, die Getranke, die Leidenschaften zu
seinen Kriegsoperationen und fur seine Reichskasse zu verwen-
den, der Engel aber nicht. . . 10
Indessen ists so: die Menschen sind lasterhaft, weil sie die Tu-
gend fur zu schwer ansehen, und sie werden es wieder, weil sie sie
fiir zu leicht hielten. Nicht die Vernunft (d. h. das Gewissen) macht
uns gut, sie ist der ausgestreckte holzerne Arm am Wege der
Tugend; aber dieser Arm kann uns weder hintragen noch hin-
drangen — die Vernunft hat die gesetzgebende, nicht die aus-
iibende Gewalt. Die Kraft, diese Befehle zu lieben, die noch gro-
Bere, sich ihnen zu ergeben, ist ein zweites Gewissen neben dem
ersten; und wie Kant nicht das mk Dinte anzeichnen kann, was
den Menschen schlimm macht, so ist auch das nicht darzustellen, 2 o
was sein Herz uber dem moralischen Kote aufrecht erhalt oder
aus diesem emporzieht.
Wer erklart es, wenn es Menschen gibt, die von Jugend auf
ein gewisses Gefiihl von Ehre entweder besitzen oder entbehren -
im weiblichen Geschlecht ist diese Abteilung noch schrorTer und
wichtiger -, wenn es Menschen gibt, die von Jugend auf eine ge-
wisse Sehnsucht nach dem Oberirdischen, nach der Religion,
nach dem Edleren im Menschen (und nach Systemen, die dieses
Edlere besiegeln und nicht bestreiten) entweder empfinden oder
ewig entraten? — (Bei Kindern ist warmes Gefiihl fiir die Reli- 30
gion oft ein Zeichen des Genies.) Der Mensch wird nicht gut
(obwohl besser), weil er sich bekehrt, sondern er bekehrt sich,
weil er gut ist.
Ware die Tugend nichts wie Stoizismus: so ware sie ein bloBes
Kind der Vernunft, deren Pflegetochter sie hochstens ist. Der
Stoizismus stellt die Tugend so niitzlich, so verniinftig dar, daB
29. HUNDPOSTTAG 97 1
sie nichts weiter ist als ein SchluB; man hat bei ihr nichts zu iiber-
winden als Irrtiimer. Da sie (nach ihm) nicht das hochste, son-
dern das einzige Gut ist; da alle Begierden nach ihm auf ein leeres
Nichts losgehen : so ist Tugend kein Verdienst, sonderri eine Not-
wendigkeit. Z.B. wenn es nichts Hassenswertes gibt; so ist der
Sieg uber den Zorn und die Liebe gegen den Feind nicht schwerer
oder verdienstlicher als die gegen den Freund, sondern eineriei.
Was hat denn der Stoiker der Tugend nach seiner Meinung
aufzuopfern als Vexiergiiter, Luftschlosser und Fieberbilder? -
io Gleichwohl tut der Stoizismus der Tugend, wie die Kritik dem
Genie, negative Dienste; die stoische Erkaltung treibt keinen
Fruhling heraus, aber sie richtet die Insekten hin, die ihn zer-
nagen; der stoische Winter nimmt, wie der physische, die Pest
hinweg, eh' die warmern Monate kommen, die neues Leben
reichen ....
Obgleich Viktor sagte: »Du Teure, kein Herz kann rein, still,
zart und groB genug fur deines sein, aber das schwache, das du
erduldest, wird an deinem sich heiligen und kommt gebessert zu
dir«: so war doch nicht die bio Be Liebe die Quelle seiner Tugend,
3° sondern umgekehrt konnte nur Tugend sich durch eine solche
Liebe offenbaren. Aber auch ohne das wird eine halb eigenntitzige
Sinnanderung durch Handeln zur uneigenniitzigen, wie die Liebe,
die von der Schonheit des Gesichts anfangt, sich zuletzt in Liebe
fur Schonheit der Seele veredelt.
Die Absonderung von Klotilden gab ihm durch den Gedanken
Freude, daB er wahrend derselben die eifersuchtigen Irrtiimer
ihres Bruders schone. Die Gesamtliebe riickte jetzt der Freund-
schaft gegen die bessern Weiber zu, und der Toleranz gegen die
schlimmern. Er hob seine satirische Intoleranz - die aber nicht
50 halb so groB war wie die junger schriftstellerischer SpaBvogel -
durch eigne Toleranzmandate auf. Er las Gullivers letzte Reise ins
Pferdeland als Rezept gegen Lugen, wenn man an den Hof geht.
Sein Kubach und Schatzkastlein und sein collegium pietatis be-
stand aus drei unahnlichen Banden : Kant, Jacobi und Epiktet.
Ich wollt* aber, er machte sich nicht lacherlich. Von einem
Manne, der neun Monate am Hofe gewesen, war man schon zu
972 HESPERUS
erwarten berechtigt, daB er sich anders benehmen und gegen jene
Gleichheit der Stande und der Laster nicht verstoBen werde, da
die Menschen die Siinden am besten gemeinschaftlich veruben,
wie in den schweizerischen Kirchen die Zuhorer gemeinschaftlich
husten miissen oder die Rekruten eines Transports zugleich pis-
sen. Wenigstens sucht der Mann von Lebensart seine Liebe gegen
seine Religion so gut zu verbergen wie die gegen seine Frau. - Ich
komme wieder zur Historie :
Viktor beschloB nun, lauter Besuche zu machen, die ihn arger-
ten und dem Nachsten gefielen. Der nachste war eine auBeror- 10
dentliche Steuer von Besuch bei der Fiirstin (denn seine tagliche
Prinzessinsteuer bei ihr horte nun auf). Freilich wurde die dicke
Stunden-Uhr des alten Zeidler Linds jede Minute ein Wecker, der
ihm seine vorigen tollkuhnen Scherze, seinen Uhr-EinschluB-
und Licbebrief an Agnola vorhielt. Ich kann mich der Sorge nicht
erwehren, daB die Leser ausglitschen und sichs nicht traumen
iassen, mit welchem Herzen Sebastian zur Fiirstin ging: o! mit
einem voll stummer Abbitten und - Lossprechungen, mit einer
ausgedehnten Brust voll stolzer Zuversicht und doch voll teil-
nehmender Milde. Woher kam das? - Aus der schonen Seele kam 20
es, die jetzt, von fremder Liebe ausgesohnt und ausgefiillt, nichts
mehr wiinschen konnte als Freundschaft, und die nun zu gliick-
lich war, urn nicht versohnlich zu sein. Aber er fand zwei kalte
raffinierte Gesichter bei ihr, denen ebenso schwer abzubitten als
zu verge ben ist — namlich ihr eignes und das des Grafen von O
aus Kussewitz, bei welchem ihre Obergabe geschehen war. Viktor
errotete ; der Graf schien ihn gar nicht zu kennen - sie wurden
einander nicht vorgestellt - sprachen aber zusammen so teil-
nehmend, als wenn sie es waren (zumal da es keinen Unterschied
machte) - und so ging man mit ktihlen Gefiihlen und mit der 30
groBten Gleichgiiltigkeit gegen eigne und fremde Anonymitat
hofmafiig auseinander. BloB Viktor angstigte sich nachher mit
Zweiftln, ob er nicht friiher als Agnola den unbekannten Grafen
einen Grafen genannt.
Obrigens fand er erst jetzt, seitdem er Klotilden liebte, die
Scheidewand zwischen Liebe und Freundschaft mit Weibern recht
29. HUNDPOSTTAG 973
sichtbar und dick: vorher konnt* er durch die Scheidewand gut
hindurchsehen. Eine Frau.kann sich keinen festern und reinern
Freund erwahlen als den Liebhaber einer andern.
Viktor muBte nun auch, und noch dringender, zu Joachimen
gehen. Der bose Geist, der im Menschen allzeit wie die jiingsten
Rate zuerst stimmt, machte die Motion: »er solle Joachimen den
kleinen Irrwahn, daB er sie liebe, lassen« - als dies nicht durch-
ging, nahm der Filou eine andere Stimme an und schlug damit
vor: »er sollte sie fiir ihre bisherige Zweideutigkeit durch die
10 deutHchsten Zeichen seines Hasses strafen«. - Aber er ging willig
dem guten Geiste nach , der ihn an der Hand f uhrte und unterweges
sagte : »Gehe jetzt zu ihr - ziehe dich von ihr ohne ihre Schmerzen
los - deine Hand gleite allmahlich aus ihrer und raume einen Fin-
ger nach dem andern, wie es Madchen mit ihrer physischen machen,
und stelle dich weder als ihren Feind noch als ihren Liebhaber an.«
Er ging ohne alien Eigennutz hin; denn letzter ware eher gewesen,
zu Hause zu bleiben und die Vergangenheit und Zukunft zu ge-
niefien und durchzublattern, oder auch aus dem Hause zu gehen
nach St. Liine, um sich zu Agathen neben den Florhut Klotildens,
20 den sie studierte, zu setzen.
Um aber seinem Besuche nicht zu vieles Gewicht in den Augen
Joachimens zu lassen, nahm er sich vor, sie um die Prospekte von
Maienthal, die in ihrem Zimmer hingen, anzugehen auf einige
Wochen. O Maienthal, wie viel hast du, wenn schon dein Schat-
tenrifi so gliicklich macht! - Aber sein Besuch lief sonderbar ab.
Er wiinschte unterweges, in ihrem Toilettenzimmer ware der feine
Narr und der wohlriechende und mehr Zeug - es war nichts da.
Sie nahm ihn mit einer sorglosen Lustigkeit auf, als ware sie die
Kolombine und der Medikus der Pickelhering. Er wollte aber
jo bloB das allmahliche Abschwachen oder diminuendo seiner mo-
ralischen Dissonanzen ausfiihren ; daher wurd* er durch das ewige
Hinsehen auf seinen Notenpult und auf die Partitur seiner innern
Harmonie etwas steif und ungelenk in seinem Spiel. Weiber unter-
scheiden leicht Kalte der Vernunft (schon am Mangel der Ober-
treibung) von Kalte der Laune. Jetzt verlangte er die Prospekte.
Joachime wurde nicht kalter, sondern warm, d.h. ernsthaft, und
974 HESPERUS
hob in der hohlen Hand ihre Uhr empor und sagte, darauf blik-
kend: »Ich geb' Ihnen so viele Minuten Frist, .als Sie Tage weg-
geblieben sind, um das Wegbleiben zu entschuldigen.« - Viktor
nahm ohne Verlegenheit - wie jeder, der nur nach einem entweder
guten oder bosen Grundsatz handelt - die Bestimm-Frist an und
hob die montre a regulateur unter dem Spiegel aus, um nicht von
Joachimen betrogen zu werden. Diese verdammte Uhr der Fiir-
stin grinste ihn uberall an, wie eine Druckkugel und Pulvermine
unter seinen F.iiBen. Er zog sie auf, um dieses nurnbergische Ei
(wie man sonst die Uhren nannte) aufzumachen und endlich ein- u
mal nachzusehen, ob die Lieberklarung, d. h. das punctum saliens
der Liebe oder der Amor - der nach Plato auch aus einem Ei aus-
kam — , noch darin sei. »Ich weiB schon,« sagt* er zu sich, »es ist
langst heraus, aber ich probier's nur.«
Es ware uberhaupt die Frage gewesen, obs diese lbe Uhr war,
da die in Tostatos Bude keine Brillanten hatte - wenn nicht aus
dieser Pandorabiichse, sobald er sie am Fenster aufgeschlossen
hatte, hervorgeflattert ware ein diinnes Blattchen, halb so groB
wie ein Schmetterlingflugel, so lang wie ein Tulpenstaubfaden. -
Die kleine Folie nahm vor jedem Luftchen die Flucht. Jo- 2c
achime fing das Ding - las das Ding - fand die Lieberklarung noch
darauf — hielt sie fur eine, die er ihr selber eben mache, um seine
Abwesenheit auszusohnen, und die er der Uhr Witzes halber (er
konnte auf ihre Herz-Gestalt anspielen) einverleiben wollen . . .
Jeder kann denken, wie ihm bei der Sache war. - Recht wohl
war* ihm dabei gewesen, wenn er hatte entsetzlich liigen durfen
oder wenn er nur wenigstens den wenigen Hof-Leuten hatte nach-
schlagen durfen, die unter die 28 Pfund Blut, die ihren Korper
wassern, nicht 28 ehrliche Bluttropfen - ein einziger kann, wie
ein liquor probatorius, in der iibrigen Masse verdammte Nieder- 3c
schlage nachlassen — geschiittet haben. Aber seine Seele ekelte
der neue Koder zur Luge. Der Leser kann gar noch nicht wissen,
daB Viktor fehlschoB, - daB er namlich (wegen der Entlegenheit
von Joachimens Argwohn) auf diesen gar nicht kam, sondern auf
den nahern, Joachime habe jetzt seinen ganzen narrischen Streich
gegen die Furs tin heraus. Er war niemals fahig, einen fremden
29. HUNDPOSTTAG 975
Leichnam als Schild den Pfeilschiissen gegen seinen eignen vor-
zuhalten - eine Sitte auf dem Hof-Moria, die nicht wie die alt-
testamentliche einen Isaak mit einem Widder loset, sondern einen
Widder mit einem Isaak, - er war heute am wenigsten fahig, die
Fiirstin preiszugeben, ura sich zu retten; aber auch nicht einmal
das vermocht' er, Joachimen preiszugeben, um jene zu retten, d. h.
den Teufelzettel zu einem SiiBbriefchen an Joachimen umzumun-
zen. Der Satan schrie sich in ihm heiser, um ihn nur so weit zu
bringen, daB er wenigstens durch schweigende Gebarde loge und
10 die ihrige rechtfertigte, worin der Schein immer mehr abnahm,
als glaubte sie es an eine fremde Dame gerichtet.
Er sagte ihr frei heraus, was er sei - ein Narr. Er erzahlte den
ganzen Handel in Kussewitz. Er schloB damit, es sei ein Gluck
fur ihn, daB die Fiirstin das tolle Einschiebsel der Uhr gar nicht
aufgestobert habe.... Da er nun dieses eintonig vorsang ohne
eine einzige Schmeichelei, aus der etwan eine neue verbesserte
Auflage des Einschiebsels zu machen gewesen ware: so war er so
gliicklich, bei seinem Abschiede die belehrte Joachime in einem
Zustand zu hinterlassen, der sich nach solchen magnetischen Hand-
20 habungen bei gebildeten Weibern in einer schonen stolzen Er-
hebung und bei ungebildeten in den Versuchen auBert, an den
Mann die bildende letzte Hand gerade so zu legen, wie sie die
griechischen Kiinstler an ihre Modelle legten — namlich mit den
Ndgeln der letztcn Hand. Viktor zog mit zweierlei sehr verschie-
denen Prospekten ab, mit denen der Zukunft und mit den maien-
thalischen. -
Sie behielt das Blattchen. Aber nicht die Furcht, sondern das
herbe Gefiihl, dafi seine bisherigen Torheiten sich bloB in einem
fremden Herzen mit einer fehlgeschlagnen Hoffnung endeten,
jo floB mit einigen bittern Tropfen in die siiBe verjungende Emp-
fmdung, daB er auf seine Kosten recht gehandelt habe. Eine Run-
ning, eine Trane ist ein Schwur vor dem Himmel, gut zu werden;
- aber eine einzige Aufopferung stahlet dich mehr als funf BuB-
tranen und zehn BuBpredigten.
Ich habe nicht den Mut, es zu erraten, warum die Fiirstin die
Uhr mit dem Einschlusse, den sie (schon nach dem Gesprach mit
97<> HESPERUS
Tostato) gelesen haben muB, Joachimen in die Hande gegeben;
aber fiir die argwohnischen Spitzbuben, deren ich im Kapitel ihres
Augenverbandes und Kusses gedacht, ist das ein Fund; das Ge-
schenk der Uhr bestatigt sie ganz in ihrem spitzbiibischen Glau-
betisatz; denn sie konnen - ich setze mich vergeblich dagegen -
das Geschenk fiir ein Zeichen der italienischen Rache ausgeben,
die Agnola an der Nebenbuhlerin Joachime, der sie Viktors Wi-
derstand zuschreiben muBte, dadurch habe nehmen wollen, daB
sie ihr seine anderweitigen Lieberklarungen mitgeteilt.
Viktor nahm sich, indem er zu Hause die groBten physischen x0
Schritte machte, vor, ahnliche politische zu tun und geradezu dem
Fursten zu bekennen : »Es ist nicht viel uber neun Monate, daB ich
Hochstderoselben Braut mit einer schmalen Lieberklarung be-
helligt habe, die sie gar noch nicht kann gelesen haben und die
nun aus einer Hand in die andre geht.« Aber jetzo war die Eroff-
nung der Uhrbrieftasche nicht tulich: Jenner war durch die Ent-
fernung Klotildens ein wenig verdruBlich; Viktor war seit einiger
Zeit auch weniger um ihn als sonst, wie doch ein rechtschaffener
Gunstling nicht sollte, da z. B. der beruhmte Graf von Briihl wie
eine Mutter von Morgen bis Mitternacht seinen Herrn umwachte, zo
Jenner schien in dieser Einsamkeit mehr an seine Kinder zu den-
ken, und Viktor konnte ihm keine Nachrichten vom Lord ertei-
len. Die Hauptsache war vollends seine Fruhlingkranklichkeit,
die ihn wieder zum glaubigen Jiinger des Doktor Kuhlpeppers
und des Podagra machte. Dieser Doktor- Rumpf unter einem
Doktorhute, dessen Gehirnfibern zu BaBsaiten gezwirnt waren,
versteigerte seine EinfaltigkeitenbloB durch dieernsthafte Schwer-
falligkeit, womit er ihrer los wurde, uber den Preis; von gewissen
Personen, z. B. von Arzten, von Finanz-Rechnern, von okono-
mischen Geschafttragern, fodern sogar Leute von feinen Sitten } c
steife und halten sich an eine Zipfelperiicke lieber als an einen
Haarbeutel von SchnallengroBe oder an einen Tituskopf Seba-
stian kam den Leuten viel zu spaBhaft vor, als daB sie hatten
denken konnen, er habe was gelernt. Im Punkte der Arzte - wie
in jedem Hauptpunkte des Vermogens oder des Lebens - denket
der vornehmste Pobel wie der niedrigste und schatzet Manner
29. HUNDPOSTTAG 977
und Schofihunde nach auBerer zottiger Wildnis. Noch dazu hatte
Viktor den Fehler, sich und die Arzte in den Verdacht der Ruhm-
sucht zu bringen, indem er sie geradezu lobte : z. B. »sie waren bei
ihrem Matrosen- und Taten-Pressen eine Art Seelenverkaufer fur
die andre Welt und dienten den guten Engeln, die den Kern ohne
die Korperschale begehrten, um ihn weiter zu stecken, zu NuB-
knackern; - wie oft heben wir nicht« (fuhr er fort) »die gefahr-
lichsten Krankheitverset^ungen durch eine leichte Krankenverset-
{ungl Ich konnte mich auf die refugies aus dieser Welt berufen,
10 ob unser Streu- und DintenfaB (das Gerate unserer Rezepte)
nicht die Saemaschine und GieBkanne der menschlichen Winter-
saat waren; aber die Hinterbliebnen sollen reden und antworten,
ob sie nicht die Pfriinden, die Regimenter, die Lehnguter, die
Ordenbander, die ihnen zugefallen, unsern Rezepten und Urias-
briefen zu verdanken haben, und ob sie und sogar Konige im
Trocknen saBen ohne unsere haufigen Abiuggrdben im Kirchhof. -
Und doch, diinkt mich, ist unser Ruhm im Heilen und Beleben
ebenso groB, wo nicht groBer: dieser Ruhm - so wie die Sterb-
lichkeitlisten, worauf er sich stiitzt - ist seit vielen Jahrhunderten
20 der ndmtiche geblieben, unsre Theorien, Spezifika, Einsichten
mochten sich andern y wie sie wollten.« . .
Den Fiirsten machten solche Satiren recht lustig und - un-
glaubig. Doktor Kuhlpepper hingegen hielt auf seine Wiirde und
wiirde gegen einen Satirikus, der vom langsamen Dezimieren der
Arzte gesprochen hatte, seinen Degen gezogen und ihn durch ein
schnelleres vollstandig widerlegt haben. Ich rate jedem, der in der
Welt etwas werden will (namlich etwas anders), bei den Mannern
auszusehen wie ein Leichenbitter - bei den Weibern wie ein Ge-
vatterbitter. - Der Furst hielt sich im siechen Fruhjahr aus zwei
30 Griinden wieder vom Zipperlein besessen, erstlich weil ich noch
keinen Nerven-Schwachling gekannt habe, der sich eine Krank-
heit, die ich ihm im Sommer ausgeredet hatte, nicht im nachsten
kranklichen Winter wieder in den Kopf gesetzt hatte - zweitens
weil Jenner nachgerechnet, daB er oft genug vor Damen auf die
Knie gefallen war, um das Anbeten daran noch als Gonagra oder
Kniegicht zu spiiren.
978 HESPERUS
So stands, als ein kleiner Zufall unsern Viktor wieder gliicklich
machte. Ich muB nur vorher sagen, daB er ohnehin gar nicht un-
glucklich war; denn ein Liebhaber bekiimmert sich urn nichts,
um einen Hof gar n^eht; er hat Amors Binde um und verzeiht
gern der Fortuna und der Justiz die ihrigen. Und das moralische
Osterfeuer losete - so wie Aberglaube dem physischen eine eigne
Kraft beimisset — alles Eis, womit man Viktors Blut andammte, in
Freuden-Lymphe auf; der Osterwind - der nach den Wetterpro-
pheten bis zu Pfingsten fortwehet - setzte seine alten Freuden-
blumen in Bewegung und saete aus ihnen den Samenstaub ktinf- 10
tiger weiter; der Schnee zerging auf dem aus dem Winterschlafe
erwachenden heiBen Friihling, und die ersten Blumen und die
tausend Knospen gaben alien* Herzen Krafte und Hoffnungen und
Liebe. O wenn Viktor drauBen dem griinenden Steige nachsah,
der ihn mit frischen Saftfarben mitten aus der Grummetsteppe
(denn im. Friihling griinen die FuBwege zuerst) in das maientha-
lische Eden locken und tragen wollte; und wenn er dann gliihend
und diirstend umkehrte und in das gezeichnete Maienthal ein-
lief, in die entlehnten Prospekte, und da jeden Farbenberg er-
stieg und jeden punktierten Garten umzingelte mit seinen Fin- 20
gern und Phantasien : so dachte er selber nicht, daB ein kleiner
Zufall ihn noch froher machen konnte. - Und doch machte ers
ihn.
Es ist nicht wohlgetan von mir, daB ich das - und das nab* ich
mir in dieser Lebensbeschreibung so sehr angewohht - immer
einen Zufall nenne, was ein naher Blut-Urenkel voriger Kapitel
ist und was ja kommen muB. Denn der Florkut — das war der
Zufall - muBte ja kommen, weil er bestellt war. Es war aber das -
Urbild selber. In so schmaler Zeit ware ohnehin von der flinkesten
Putz-Bauherrin kein Hut zu machen gewesen; aber Sebastian $0
hatt' es doch nicht bedacht, wenn ihn nicht Puderspuren und auf-
gegangne Spitzen-Gitter gezwungen hatten, den alten Hut von
einem neuen zu unterscheiden. Kurz : Klotilde hatte ihn Agathen,
die es ihr nicht verschweigen konnte, fur wen sie das Nachbild
davon nehme, vor dem dritten Ostertage gegeben zum Abkopie-
ren, und nach dem besagten Tage ihr geschrieben, ihr die Kopie
29. HUNDPOSTTAG 979
zu schicken und dem Medikus das Urbild fiir das Nachbild (wie
bei der Wachsstatue) anzuhangen. - Und warum wohl? - O das
fuhlte ihr Freund in siiBer Ruhrung nach : es dauerte sie, dafi sie
einem scheuen zartlichen Herzen nichts geben konnte, keinen
Laut, keinen Blick, keine Freude, kein Andenken des schonsten
Abends, als bloB den herbstlichen Nachflor desselben, als nach-
genahte Seidenblumen dieser Freudenblume, den Taftschatten
eines Taftschattens .... Nein, sie bezwang sich, um dem stummen
Liebling wenigstens mehr als die Kopie des Schattens zu geben. -
io O vor wem das liebevolle zugedriickte Herz eines guten Weibes
aufginge: wie viel bekampfte Zartlichkeit, verhiillte Aufopferun-
gen und stumme Tugenden wiird* er darin ruhen sehen!
- Man muB nur dem deutschen Reichstage und seinen Quer-
banken kein Geheimnis daraus machen, daB Viktor den neunten
Kurhuty oder gar den achten und letzten, nicht annehmen will,
wenn er dafiir den Ftorhut abstehen soil .... Was konnen, sagte
er, die plumpesten dicksten Kronen, die man mir auf meinen Rei-
sen vorgezeigt, in der einen Schale wiegen - gesetzt man wtirfe
auch noch einige Tiaren und Dogermitzert mit Biigeln und papst-
io liche Hiite zu den Kronen hinein -, wenn auf der andern Klotil-
dens Florhut zieht? Da der Leser ebensoviel Verstand hat wie ich
selber: so entscheid* er hierauf. - Dieser Hut gab ihm ein unaus-
sprechliches Sehnen nach Maienthal und war fiir ihn ein Dedika-
tionkupfer, das ihm (wie durch eine investitura per pileum) Klo-
tilden erst schenkte; er blieb vor dieser Krone als Kronerbe - jede
Minute zog seinen Kronwagen - mit zwei groBen Freudentropfen
stehen, die das gliickliche Auge nicht faBte, und sagte, langsam
den Kopf wiegend: »Nein, das giitige Schicksal gibt mir zu viel -
Ach wie kann ich diese Seele vom Himmel verdienen? - Ich werde
30 bloB zu ihr sagen : >Ich bin dein !< und spat einmal : >Du bist mein !< «
Und als gar seine Phantasie hinter dem Flor-Gegitter die zwei gro-
Ben Augen aufschloB, die sonst darunter die Tranen eines zuruck-
gestoBenen Herzens verborgen hatten, und als er die entruckte
Stimme wieder hinter diesem Sprachgitter aus Schattenfaden re-
den lieB : so konnt* er sichnicht mehr halten, sondern er schrieb -
damit er nach Maienthal durfe - dem Hute gegeniiber den ersten
980 HESPERUS
Brief an sie, den ich morgen abends gewiB mit der Post erhalten
werde vom Hunde. —
Ich glaube, ich nab' es gar noch nicht gesagt, daB Agathe ihm
den Hut auslieferte und daB sie ihn - es ist gegen das Ende des
Aprils - auf den 4ten Mai zum Geburttag des Vaters einlud. Vik-
tor dachte an den melancholischen 4ten Mai vom Jahre 92 und
wurde noch sehnsiichtiger nach der entrissenen Freundin.
Eh' ich das Kapitel schlieBe, will ich nur den jiingern Klotilden,
den Vize-Klotilden, den Kebs-Klotilden und den Gegen-Klotil-
den, die mich und meine Kapitel auf dem SchoBe haben, das noch ic
sagen: seid kalt! Ihr konnt die weibliche Tugend-Kalte gar nicht
zu weit treiben, ihr miiBtet ihr denn gar keine Grenzen stecken. -
Ich will euretwegen diese Lehre in weise Spriiche und witzige
Sentenzen kleiden, damit sie besser auf Facher und in Stamm-
biicher geht.
Die Liebe muB wie der Aurikelsame auf Schnee gesaet werden,
beide warmen sich durch das Eis schon durch und gehen dann
desto frischer auf - Ihr musset euch nie zu einem bloBen Ge-
schenke machen, sondern zu einem Frauenzimmerdank der Ritter
- Ihr erhaltet und verdient gerade so viel Achtung, als ihr fodert, *c
und ihr konnt, ihr mogt legiert sein, wie ihr wollt euren Miinz-
stempel oder Pragstock aus der Tasche ziehen und. euch damit
pragen zu einem Damend'or fur den einen Herrn und zu einem
elenden Fettmannchen fiir den andern - Ein Wiistling zeigt in
einer Gesellschaft wie ein Luftreinigkeitmesser durch die ver-
schiedenen Grade seiner Kuhnheit die verschiedenen Grade des
weiblkhen Verdienstes an, aber in umgekehrtem Verhaltnis . . . .
Sogar wenns nicht zum weiblichen Ehrenpunkte gehorte, miiBte
mans doch begehren, um nur eine Mtihe mehr zu haben - weil
mein Geschlecht hieriiber vollig so denkt wie ich, der ich aus 3c
keinem Eidams-Werbehaus eine Tochter verlange, wo nicht we-
nigstens die Eltern etwas wider mich haben; - und es kann hiemit
bekannt werden (ich lasse es deshalb nicht in die Zeitung setzen),
daB ich mir von Eltern, die aus ihrem Versteigersaal voll Tochter,
aus ihrem Liebes-Inokulationhospital eine oder die andre ab-
stehen wollen, und denen ein Berghauptmann, Gerichthalter,
30. HUNDPOSTTAG 98 1
Musikmeister und Lebensbeschreiber - das mogen meine wenigen
Amter sein - keine zu verachtliche Partie ist, daB ich, sag' ich,
von diesen Eltern erwarte, daB sie (wenn ihnen die Sache ein
Ernst ist) mir wenigstens das Haus verbieten oder den haufigen
Briefwechsel : - das frischet Schwiegersohne an.
30. HUNDPOSTTAG
Briefe
Hatt' ich oder ein anderer hinter einem Busch oder in einem Hohl-
wege aufgepasset und waren wir zu rechter Zeit vorgebrochen :
10 so hatten wir die zwei ineinandergesiegelten Briefe, die Viktor
nach Maienthal schickte, dem Boten abnehmen konnen, der kein
Deutsch verstand, namlich seinem italienischen Bedienten. Der
Brief an Emanuel war der Umschlag des Briefes an Klotilde - die
Freundschaft ist immer das Umschlagtuch der Liebe. Vom Um-
schlage will ich nur einen Auszug und einen Ausschnitt geben,
eli* ich den Brief an Klotilden ganz mitteile. Er bat seinen Emanuel,
dieses nur fur eine Briefdecke zu nehmen und die Inlage Klotilden
allein zu ubergeben - er sagt' es ihm ohne weitere Erklarung, er
hange nicht von seinen Wiinschen, sondern von Blumenketten
20 ab, die ihn zuruckzogen von den andern Blumenketten in Maien-
thal, und eine vielfache Umschniirung mit Girlanden konne man
nicht durchbrechen, weil man nicht wolle - er war absichtlich uber
sein neues Verhaltnis mit Klotilden undeutlich, weil er ihre Er-
laubnis zum Gegenteil nicht voraussetzen durfte - er bat scherz-
haft seinen Freund, seine Freundin zu bitten, daB sie ihm befehle,
nach Flachsenfingen zu reisen, damit sie einander zu sehen be-
kamen - (ich komm* aus dem Perioden, wenn ich die Absicht
dieser Wendung zeige) - er strich in seinem Kopfe die Frage wie-
der aus: ob Klotilde noch des Arztes bediirfe? bloB weil er einer
30 fur sie im doppelten Sinne war, und fragte nur, ob sie genesen sei
- Endlich schloB er so:
»Und so flatter* ich denn mit ziemlich abgestaubten Schmetter-
lingschwingen im unabsehlichen Tempel, der fur unser Phalanen-
982 HESPERUS
Auge in kleinere zerfallt und dessen Saulen-Laubwerk wir fur die
Saulen selber halten und dessen Pfeilerreihen durch ihre GroBe
unsichtbar werden, da flattert der Menschenzweifalter auf und
nieder - zerstoBet sich an Fenstern - ruder t durch staubige Ge-
spinste - schlagt seine Fliigel endlich um eine hohle Blume - und
der groBe Orgelton der ewigen Harmonie wirft ihn bloB mit
einem stummen auf- und niedergehenden Sturme umher, der zu
groB ist fur ein Menschenohr. —
Ach ich kenne jetzo das Leben ! Ware nicht der Mensch sogar
in seinen Begierdeh und Wiinschen so systematisch - ging' er 10
nicht iiberall auf Zurtindungen sowohl seiner Arkadien als des
Reichs der Wahrheit aus: so konnt* er glucklich sein und mutig
genug zur Weisheit - Aber eine Spiegelwand seines Systems, ein
lebendiger Zaun seines Paradieses, die ihn beide nicht ins Un-
endliche sehen oder laufen lassen, sprengen ihn sofort auf die
entgegengesetzte Seite zuriick, die ihn mit neuen Gelandern emp-
fangt und ihn neuen Schranken zuwirft — Jetzt, da ich so ver-
schiedene Zustande durchlaufen, leidenschaftliche, weise, tolle,
asthetische, stoische; da ich sehe, daB der vollkommenste ent-
weder meine irdischen Wurzeln in der Erde oder meine Zweige 20
im Ather verbiegt und einklemmt und daB er, wenn ers auch nicht
tate, doch uber keine Stunde dauern konnte, geschweige ein
Leben lang; — da ich also klar einsehe, daB wir ein Bruch, aber
keine Einheit sind und daB alles Rechnen und Verkleinern am
Bruche nur Annahern zwischen Zahler und Nenner ist, ein Ver-
wandelri des 10M /io i in 10,co ',«o,: so sag' ich : >Meinetwegen! die
Weisheit sei also fur mich Auffinden und Ertragen bloB der klein-
sten Liicke im Wissen, Freuen und Tun.< Ich lasse mich daher
nicht mehr irremachen, und meinen Nachbar auch nicht mehr,
durch die gewohnlichste Tauschung, daB der Mensch jede Ver- 30
anderung an sich — jede Verbesserung ohnehin, aber auch sogar
jede Verschlimmerung - fur groBer ansieht, als sie hinterher ist.
- Genug! aber seit dieser Bemerkung - o noch mehr, seit das
hohe Schicksal mir Freuden gab, damit ich sie verdiente - ist
neues Morgenlicht auf meinen Schattensteig gefallen, und ich habe
nun Mut, mich zu bessern .... Der klare Strom der Zeit geht iiber
30. HUNDPOSTTAG 983
einen hinabgelagerten Blumenboden schoner Stunden, auf wel-
chem ich einmal stand und zu dem ich ganz hinunterschauen kann
- o wenn sich diese Eden-Aue wieder aufwarts hebt und ich kann
an deiner Hand darauf treten und neben dir niederknien und dan-
kend bald zum Morgenhimmel, bald iiber die wehenden Blumen-
felder dieses Lebens blicken: dann sink* ich stumm an dich
zuriick urid umfasse dankbar deine Brustund sage: >0 mein Ema-
nuel, durch dich verdien' ichs ja erst.< - Ja, ich sag* es heute, ge-
liebter Lehrer, und bleibe du recht lange neben deinem Schuler
o auf der Erde, so lange, bis er wurdig ist, dich zu begleiten aus
ihr.« -
*
So lang auch dieses Schreiben war, so liebte Viktor seinen Lehrer
doch zu sehr - und haBte die furstliche Unart, Menschen zu Werk-
zeugen zu machen, zu sehr -, als daB ers ihm nicht geradezu hatte
sagen sollen, daB dieser Brief - nicht sowohl seine Entstehung
als - seinen Geburttag dem Briefe an seine Geliebte verdanke.
Hier ist der an Klotilde, in den er mit folgenden Worten seine
Bitte, sie zu sehen, bringt:
l0 »Wenn ich wiiBte, daB ich die geliebte Seele, die jetzo neben
dem hohen Emanuel, neben dem Friihling und unter ihren scho-
nen Gedanken gliicklich sein wird, nur einen Augenblick durch
dieses Blatt beklemmte oder storte : o recht gerne opferte ich diese
selige Stunde auf, um sie vielleicht zu verdienen. Aber nein, ewige
Freundin, Ihr weiches Herz begehrt mein Schweigen nicht! Ach
der Mensch muB so oft Kalte und Kummer verbergen, warum
noch gar Liebe und Freude? - Und ich wiird' es auch heute nicht
konnen.
O wenn ein Erdenmensch in einem Traum durch das Elysium
[o gegangen, wenn groBe unbekannte Blumen iiber ihn zusammen-
geschlagen waren, wenn ein Seliger ihm eine von diesen .Blumen
gereicht hatte mit den Worten : > Diese erinnere dich, wenn du er-
wachst, dafi du nicht getraumt!< wie wiirde er schmachten nach
dem elysischen Lande, sooft er die Blume ansahe. - UnvergeB-
Hche ! Sie haben in der Schimmernacht, wo mein Herz zweimal er-
984 HESPERUS
lag, aber nur einmal vor Schmerz, einem Menschen ein Eden ge-
geben, das hinausreicht uber sein Leben; aber mir war bisher, als
wiird* ich wacher aus der zuriickgehenden Traumnacht - Siehe!
da behielt ich aus dem paradiesischen Traum eine Blume 1 , die Sie
mir gelassen haben, damit ich unaussprechlich glucklich bliebe -
und damit meine Sehnsucht so groB wtirde wie meine Seligkeit,
Warum zieht dieser Flor alle heiBen Traneri tief aus meinem Her-
zen herauf, warum sen* ich hinter diesem gewebten Gegitter die
Augen aufgehen, die so weit von mir sind und die mein Inneres
so wehmtitig bewegen? O nichts befriedigt die liebende Seele, als *
was sie mit der geliebten teilt - darum schau* ich den Fruhling
mit so siiBem Wallen an; denn sie genieBet ihn auch, sag' ich -
darum gefallst du mir so, du lieber Mond und Abendstern; denn
du umspinnst mit deinen Silberfaden auch ihre Schatten und ihre
Maiblumen - darum vertief ' ich mich so gern in jedes schattierte
Tal Ihres Eldorados'; denn ich denke: in den vergroBerten Schat-
ten, in den duftenden Bliiten dieser Bilder wandelt sie jetzt, und
die Mondsichel wendet die Blitze der Sonne gemildert auf ihr
Auge zuriick. Wenn ich dann zu freudig werde, wenn der Abend-
regen der Erinnerung auf die heiBen Wangen fallt, wenn sich ic
meine Entziickung auf einem einzigen bebenden langen Dreiklang
des Klaviers auf- und niederwiegt: dann tut dem taumelnden Her-
zen das Zittern und Schweigen und die unendliche Liebe zu weh,
dann serin* ich mich nur nach dem kleinsten Laut, womit ich der
Geliebten meines Herzens sagen darf, wie ich sie liebe, wie ich sie
ehre, daBich fur sie leben will, daB ich fiir sie sterben will. — O
mein Traum, mein Traum tritt mir jetzt wie eine Trane ans Herz!
In der Nacht des dritten Ostertags traumte mir : ich und Emanuel
standen in einer dunkeln Nachtgegend. Eine groBe Sense am
westlichen Horizont warf widerscheinende laufende Blitze auf die 30
hohen Fluren, die sogleich vertrockneten und erblichen. Wenn
aber ein Blitz in unser Auge flatterte: so zog sich unser Herz suB
zergehend empor in der Brust, und unsere Korper wurden leich-
ter zum Wegschweben. >Es ist die Sense der Zeit,< sagte Emanuel,
1 Den Florhut.
2 Die Prospekte von Maienthal.
30. HUNDPOSTTAG 985
>aber von was hat sie wohl den Widerschein?< - Wir schaueten
nach Morgen, und dort hing weit in der Feme und hoch in der
Luft ein weites dunkelgliihendes Land aus Duft, das zuweilen
blitzte. >Ist das nicht die Ewigkeit?< sagte Emanuel. - Da sanken
vor uns lichte Schneeperlen wie Funken nieder; - wir blickten
auf, und drei goldgriine Paradiesvogel wiegten sich oben und
zogen unaufhorlich in einem kleinen Kreis hintereinander umher,
und die fallenden Perlen waren aus ihren Augen oder ihre Augen
selber. - Hoch uber ihnen stand der Vollmond im Blauen, aber
10 auf der Erde war doch kein Licht, sondern ein blauer Schatten;
denn das Himmelblau war eine groBe blaue Wolke, bloB an einer
Stelle vom Monde geoffnet, der nur auf die drei Paradiesvogel
und unten auf eine helle, von uns abgekehrte Gestalt Schimmer
niedergoB - Sie waren diese Gestalt und wendeten Ihr Angesicht
bloB gegen Morgen, gegen die hangende Landschaft, als ob Sie
etwas da sogleich erblicken wiirden. Die Paradiesvogel saeten die
Perlen haufiger in Ihre Augen: >Es sind die Tranen, die unsere
Freundin weinen muB<, sagte Emanuel; auch fielen sie dann aus
Ihren Augen, aber lichter und blieben glimmend auf dem Blumen-
20 boden stehen. Das Blau auf der Erde wurde plotzlich heller als
das Blau am Himmel, und eine schiefe Hohle, deren Mundung
gegen die Ewigkeit aufklaffte, wiihlte sich ruckwarts durch die
Erde gegen Abend bis nach Amerika hinab, wo unten die Sonne
in die Offnung schien - und ein Strom von Abendrote, so breit
wie ein Grab, schoB aufwarts aus der Erde und Iegte sich mit sei-
nem Abendscheine an das feme Duftland der nebeligen Ewigkeit
wie diinne Flammen an. Da zitterten Ihre Arme ausgebreitet, da
zitterten Ihre Lieder voll sehnsiichtiger Wonne, da konnten
wir uhd Sie die erleuchtete Ewigkeit ganz sehen. Aber sie wech-
jo selte schillernd unter dem Sehen, wir konnten das nicht denken
und behalten, was wir sahen, es waren unfaBIiche Gestalten und
Farbenspiele, sie schienen nahe, schienen fern, schienen mitten in
unseren Gedanken zu sein. - Wolkchen, aus der Erde aufziehend,
schwebten um die gliihende Ewigkeit, und jedes hob einen auf
ihm stehenden singenden Menschen hinauf zu dieser Lichtinsel,
die sich gegen die Erde spaltete, bloB mit einer unabsehlichen
986 HESPERUS
Reihe von weiBen Baumen, aus Licht und Schnee gegossen und
statt Bliiten Purpurblumen treibend - Und wir sahen unsere drei
Schatten erhaben an dem lichtweiBen Hain, hiniibergeworfen,
liegen, und auf Klotildens Schatten hingen die Purpurblumen wie
Kranze nieder; ein Engel umflog den holden Schatten und lachelte
ihn zartlich an und beriihrte an ihm die Stelle des Herzens - Da
erbebtest du plotzlich, KlotiIde,und wandtest dich um gegen uns,
schoner als der Engel in der Ewigkeit, dein ganzer Boden glimmte
unter den gefallnen Tranen und wurde durchsichtig - Und als
deine niedersinkenden Perlen jetzt den Boden in eine aufdrin- ic
gende Wolke aufloseten: reichtest du uns eilig die Hand und
sagtest: >Die Wolke hebt, wir sehen uns wieder.< - Ach mein zer-
flossenes Herz faBte sein Blut nicht mehr, ich kniete nieder, aber
ich konnte nichts sagen, ich wollte meine Seele in einen einzigen
Laut zerschmelzen, aber die gebundne Zunge vermochte keinen,
und ich starrte die aufsteigende Unsterbliche an mit unendlicher
und tros'tloser Liebe - Ach, dacht* ich, das Leben ist ein Traum;
aber ich konnte ihrs vielleicht sagen, wie ich sie liebe, war' ich nur
erwacht.
Dann erwacht' ich - O Klotilde, kann es der Mensch sagen, wie *<
sehr er liebt?
H.«
Sein Charakter und der Inhalt dieses Traums schlieBen den Arg-
wohn der Erdlchtung aus. - Obrigens wenn ihm auch Klotilde
den eingehiillten Wunsch, sie in Maienthal zu sehen, versagt: so
muB sie es doch auf einem Blattchen und mit drei Zeilen tun, die
er dann tausendmal lesen kann und die das Bilder- und Siegel-
kabinett, worin schon Hut und Prospekte liegen, um ein Ansehn-
liches bereichern. Inzwischen stand er in seinem schonen Alpen-
tal zwischen zwei hohen Bergen, auf deren jedem sich der Stoff $<
zu einer Schneelauwine regte - vielleicht ist schon oben eine im
erquetschenden Gange, und er kann sie noch nicht sehen. - Die
erste Lauwine, die sein geringster Laut iiber ihn herunterwerfen
kann, ist sein tolles Verhaltnis mit seiner hofischen Bekanntschaft.
Er kann sich ruhmen, sie samtlich aufgebracht zu haben : die Fur-
3°' HUNDPOSTTAG 9 8 7
stin, Joachimen, Matthieu. Aber auch ohne das mufi schon irgend-
ein Konduktor - bloB weil er nicht auf dem gemeinschaftlichen
Isolierschemel des Thrones mit steht - mit einem verjiingten
Blitze in seine Finger oder Augen einschlagen; in'Kollegien und
an Hofen bleibt ohne Verbindung keiner aufrecht, es ist da wie
auf den Galeeren, wo alle Sklaven ihre Ruder zugleich bewegen
miissen, wenn keiner die Schneide der Kette empfinden soil. Aber
Viktor sagte zu sich: »Sei kein Kind! sei kein umgekehrter Fuchs,
der saure Trauben, bloB weil er sie nicht mehr erspringen kann,
to fur suB ausgibt! Ich schmeichle mir, du kannst hofische Herzen
entraten, die wie ihre Gerichte tiber einem Warmbecken voll
flimmernden Weingeist erst aufgewarmt werden miissen. - Beim
Himmel, ein Mensch wird doch essen konnen, wenn auch das,
was er anspieBet, nicht von einem Gardesoldaten aus der Kiiche
geholt, dann einem Pagen eingehandigt, dann von einem Kammer-
herrn oder sonstigen Ordonnanzkavalier aufgetragen worden ist.
— Nur meinen Vater wenns nicht verschlagtk Das wars eben; am
Sohne war nichts zu fallen, sondern am Vater 1 , fur den man den
Wald- und Opferhammer wahrscheinlich so lang aufgehoben
k> schweben lasset, bis er mit seinem Kopfe daruntersteht, der ohne
seine Zuriickkunft nicht zu haben ist.
Aber ein Pastor fido fragt den Henker nach der ersten Schnee-
lauwine. Auf den Harmonikaglocken seiner Phantasie.horen die
auBern Obelklange des Schkksals, wie das Wagen-Gerolle des
Pflasters auf einem Saitenbezuge, in sanft auffliegendem Ertonen
auf. Bei ihm war, wie bei den Astrologen, der April, gleich mei-
nem Buche dem Abendsterne, d. h. der Venus geweihet.
Hingegen die andere Schneelauwine lag schon im voraus auf
seiner Brust - der mogliche Bruch mit Klotildens Bruder. Einen
3 o Eifersiichtigen bekehren die zwolf Apostel und die zwolf kleinen
Propheten nicht; - wenn er am Sonntage kuriert ist: so wird er
am Montage wieder krank, am Dienstage raset er, und am Mitt-
woche konnt ihr ihn wieder losbinden, er ist matt und klug und
— passet nur auf. Der eifersiichtige Krebs auf der Brust ist nie
1 Weil die Hofleute auch hierin den ersten Christen gleichen, die nur solche
Statuen zerschlugen, die an Gottes Statt Anbetung empfangen hatten.
988 HESPERUS
ganz zu schneiden, wenn ich groBen Heilkunstlern glauben soil. -
Dasmal war noch dazu etwas Wahres dran; auch schaffet es der
Eifersiichtige zeitig bei; Eifersucht erzwingt Untreue, und das
gequalte Weib will, sbviel an ihr ist, den Mann nicht in lrrtum
lassen. Ich kann mir die Muhe nicht machen (sondern der Leser),
in meiner Lebensbeschreibung meinem Helden alle kleinen Fugen
und F-Locher nachzuzahlen, wodurch er bisher seinen Flamin in
sein verliebtes Herz sehen und horen lassen : diese Astlocher sind
desto groBer, da er vor dem dritten Ostertag eben darum unvor-
sichtiger war, weil er unschuldiger war, oder vielmehr ungluck- 10
licher.
Dazu kam, daB Flamin - der den teuern Evangelisten Mat-
thaus taglich aufrichtiger und offner fand (wie ein ausgeschossenes
Zilndloch) - seinen treuen Bastian taglich fur hinterlistiger und
undurchsichtiger ansah. Ich wollt', der Regierrat ware gescheuter :
aber dichte Seelen, wie Viktors seine, die mehre Krafte und eben
darum mehre Seiten haben, scheinen freilich weniger poros zu
sein, so wie vollotigeSchriftsteller weniger deutlich — ein Mensch,
der euch alle seine ineinanderschillernden Farben seines Herzens
mit Offenheit aufdeckt, verliert dadurch den Ruhm der Often- 20
heit - einer, der wie Viktor fremde Kniffe aus Laune sammelt und
vormacht, scheint sie nachzumachen - ein veranderlicher, ein iro-
nischer, ein feiner Mensch ist in eingeschrankten Augen ein fal-
scher Dieb von Haus aus. - Auch sprang Viktor, wenns ohne
Larm anging, langen Erwahnungen Klotildens, d.h. langen Ver-
stellungen, aus dem Wege; und eben diese Flucht vor Hinterlist,
eben seine jetzige groBere Menschenfreundlichkeit gegen Flamin
verschatteten gerade seine edle Gestalt; und iiber den verdrehen-
den Argwohn trostete ihn nichts als die siiBe Betrachtung, daB er
dem Bruder seiner Geliebten und seines Herzens zu Gefallen den 30
schonsten Tagen in Maienthal den Riicken zukehre.
31. HUNDPOSTTAG 989
31. HUNDPOSTTAG
Klotildens Brief- der Nachtbote - Risse und Schnitte im Bande
der Freundschaft
Ich wollt' es in die Literaturzeitung rticken lassen, ich hatte
Herrnschmidts osculologia zu meinen (gelehrten) Arbeiten von-
noten - Namlich zu diesem Kapitel: ich wollte daraus sehen, wie
man zu Herrnschmidts Zeiten mit den Weibern umging. Zu Jean
Pauls Zeiten geht man schlecht mit ihnen urn, in Romanen nam-
lich. BloB der Englander kann vortreffliche Weiber portratieren.
10 Den meisten deutschen Roman-Formern schlagen die Weiber zu
Mannern urn, die Koketten zu H-, die Statuen zu Klumpen, die
Blumenstucke zu Kuchenstiicken. DaB die Schuld mehr an den
Malern als an den Urbildern liege, wissen nicht nur die Urbilder
selber, sondern auch der Berghauptmann schon daraus, weil die
Romanleserinnen alle noch romantischer sind als die Romanhel-
dinnen, noch feiner und zuruckhaltender. Der Berghauptmann
tut hier - ohne die Absicht zu haben, daB ihn acht vornehme
Weiber in Mainz, wie den Weiber- und Meistersanger Heinrich
Frauenlob, zu Grabe tragen - einen gedruckten Eidschwur (d. h.
ao Schwurschwur), daB er die meisten seiner Zeitgenossinnen besser
antraf, als sie der gute orlne, aber leere rohe Kopf des Verfassers
des Alcibiades und Nordenschilds zeichnen kann. In der Tat,
wenn die Weiber nicht den Mannern alles verziehen, sogar den
Autoribus (und zwar taglich siebenzigmal, und sie reichen den
andern Backen dar, wenn der eine durch Kiissen beleidigt wor-
den): so konnt' es keiri Biicherverleiher erklaren, wie Menschen,
deren Kopf doch schwerer, deren Zirbeldriise kleiner ist, und die
sechs Knorpelringe der Luftrohre mehr haben - namlich 20 iiber-
haupt, wahrscheinlich zum Mehr-Reden -, deren Brustbein kiir-
30 zer und deren Brustknochen weicher sind als bei den Mannern, wie
doch solche Menschen weiblichen Geschlechts noch die Magd
oder den Kerl in eine Lesebibliothek mit dem Auftrag schicken
konnen: »Einen Ritterroman fur meine Mademoiselle !« Meine
/Wer-Kollegen - in Riicksicht der Weiber bin ich nach der Berg-
990 HESPERUS
sprache bloB von der Feder, nicht von Feuer noch von Leder -
werden zur Erziehung der Leserinnen, wie nach Lessing die Juden
zur Erziehung der Volker, nur darum gewahlt, weil sie roher sind
als die Zoglinge.
Jede Frau ist feiner als ihr Stand. Sie gewinnt mehr durch die
Bildung als der Mann. Die weiblichen Engel (aber auch die weib-
lichen Teufel) halten sich nur in den hochsten feinsten Menschen-
Schubfachern auf; es sind Schmetterlinge, an denen der Samt-
Fittisch zwischen zwei rohen Mannsfingern zum nackten hautigen
Lappen wird — es sind Tulpen, deren Farbenblatter ein einziger ^o
Griff des Schicksals zu einem schmutzigen Leder ausdruckt.
Ich bringe dies alles vor, damit Herr Kotzebue und der freche
Poetenwinkel in Jena 1 und das ganze romantische Schiffvolk es
meiner Klotilde nicht ubelnehmen, daB sie ihr eignes Geschlecht
als das besagte Volk nachahmt, urn so mehr, da sie vorschutzen
kann, sie habe dieses noch nicht gelesen.
Durch Agathen kam sehr bald eine von Emanuel iiberschrie-
bene Antwort Klotildens an, die innen gesandten-maBig besiegelt,
geometrisch beschnitten und kalligraphisch geschrieben war, weil
Frauenzimmer alle Dinge, die sinnlicke Aufmerksamkeit verlan- 20
gen, besser betreiben als wir, und weil sie - denn kaum vier aus
meiner Bekanntschaft brauch' ich auszunehmen - gerade im
Gegensatz der Manner desto schoner schreiben, je besser sie den-
ken. Lavater sagt, der schonste Maler gebiert die schonsten Ge-
malde, und ich sage, schone Hande schreiben eine schone Hand.
Klotildens Brief stellet sich mit einer Lusthecke und einem le-
bendigen Zaun voU Bliiten unserem Doktor in den Steig und las-
set ihn nicht nach Maienthah Denn er heiBet so:
»Wiirdigster Freund!
Kein Madchen ist vielleicht so gliicklich als eine Dichterin; und $c
ich glaube, hier in diesem aufgeschmuckten Tale wird man zu-
letzt beides. Sie sind iiberall glucklich, da Sie sogar an einem Hofe
ein Dichter sein konnen, wie mir Ihre schone poetische Epistel be-
^Namlich in den Jahren der Lucinde, der Herders Feinde etc*
31. HUNDPOSTTAG 991
weiset. Aber die Phantasie malet gern aus Schminkdosen - das
wahre Maienthal kann der Ihrigen nicht soviel geben, als Sie in
die drei Landschaft-Blatter desselben zu legen wissen. Sooft ich
und Sie einerlei durch Dichtung ersetzen miissen: so ist bloB bei
Ihnen der Ersatz grofier als das Opfer.
Wenn ich Ihnen das Vergniigen, Herrn Emanuel zu sehen,
durch Oberreden hatte verschaffen konnen: so hatt* ichs gern ge-
tan; aber ich war zuletzt aus Gewissenhaftigkeit nicht beredt ge-
nug, um ihn zu einer Reise zu Ihnen zu bringen, die seine sieche
io Brust der Gefahr des Verblutens aussetzte. Sehen Sie ihn fur einen
Friihling an, den man alle Jahre neun Monate lang erwarten muB.
Ach die Besorgnis fur meinen unvergeBlichen und unersetz-
lichen Lehrer wirft einen Schatten iiber den jetzigen ganzen Friih-
ling, wie ein Grabmal tiber einen Blumengarten. Ich habe niemals
einen Friihling so gern und so freudig angesehen wie diesen - ich
kann oft noch bei Mondschein an die Bache hinausgehen und eine
Blume aufsuchen, die vor dem flieBenden Spiegel zittert und um
welche ein Mond oben und einer unten schimmert, und ich stelle
mir das Blumenfest in Morgenland vor, bei dem man (wie man
20 sagt) nachts um jede Gartenblume einen Spiegel und zwei Lichter
setzt. Aber doch kann ich nicht zum Blumenflor meines Lehrers
hiniiberblicken, ohne zu weich zu werden, da ich denken muB:
wer weiB, ob seine Tulpen nicht langer stehen als seine zerknickte
Gestalt. Hat denn die ganze Arzneikunst kein Mittel, das seine Ho ff-
nung zu sterben vereitelt? - Ich glaube, er stimmt mich nach und
nach in seinen melancholischen Ton, womit ich mich vor einem
andern als dem Freunde Emanuels lacherlich machen wiirde; aber
eine stille verborgene Freude bricht auch gern in Schwermut aus;
>nur in der kalten, nicht in der schonen Jahrzeit unsers Schick-
30 sals<, sagten Sie einmal, >tun die warmen Tropfen weh, die aus den
Augen auf die Seek fallen, so wie man bloB im Winter die Blu-
men nicht warm begiefien darf.< Und warum sollt* ich Ihrer offen-
herzigen Seele nicht alle Schwachen der meinigen offenbaren?
Dieses Zimmer, worin meine Giulia ihr schones Leben endigte,
dieser Spiegel sogar, der mir, als ich mich vor Schmerz von ihrem
Sterben wegkehrte, meine erblassende Schwester noch einmal
99* HESPERUS
zeigte, die Fenster, aus denen mein Auge so oft des Tages auf
einen traurigen dornenvollen Rosenstrauch und auf einen ewig
geschlossenen Hiigel komraen muB, alles das darf ja wohl mei-
nem Herzen einige Seufzer mehr geben, als eine Gluckliche sonst
haben solL Ich weiB nicht, sagten Sie oder Emanuel es: >Der Ge-
danke des Todes mufl nur unser Besserungmittel, aber nicht unser
Endzweck sein; wenn in das Herz wie in die Herzblatter einer
Blume die Grabeserde fallt, so zerstoret sie, anstatt zu befruchten< ;
aber auf mein, Laub hat wohl das Schicksal und Giulia schon einige
Erde geworfen. - Und ich trage sie gern, da ich seit Ihrer Freund- 10
schaft nun zu einem Herzen fluchten kann, vor dem ich meines
offnen darf, um ihm darin a lie Kummernisse, alle Seufzer, alle
Zweifel, alle Fragen einer gedriickten Seele zu zeigen. O ich danke
dem Allgiirigen, daB er mir so viel, als er mir in meinem Lehrer
zu entziehen drohet, schon voraus in seinem Freunde wiedergibt
— meine Freundschaft wird unserm Emanuel nachreichen bis in
die andre Welt und seinen Liebling begleiten durch diese; und
sollte einmal auf uns beide der gemeinschaftliche Schlag seines
Todes fallen, so wiirden wir unsere vereinigten Tranen geduldi-
ger vergieBen, und ich wurde vielleicht sagen: ach, sein Freund 20
hat mehr verloren als seine Freundin !
+ Klotilde.«
Das Schlagen meines fremden Herzens misset mir das Schlagen
des gliicklichern ab. Aber eh* ich erzahle, was Viktors Freude
iiber diesen Brief anfangs storte und dann verdoppelte, sei es .mir
erlaubt, zwei gute Bemerkungen zu machen. Die erste ist : die ver-
groBerte Empfindsamkeit ist in einer stolzen Brust (wie Klotil-
dens), die sonst die Seufzer zuruckholte und nur weibliche Sati-
ren iiber uns Herren ausschickte, das schonste Zeichen, daB ihr
Herz im Sonnenschein der Liebe zergehe. Denn diese kehret die jo
Weiber um; sie macht aus einer Kolumbine eine Youngin, aus
einer Ordentlichen eine Unordentliche, aus einer Feineh eine
Offenherzige, aus einer Putzmacherin und Putztragerin eine Phi-
losophin und wieder umgekehru - Und du, Hebe Philippine, priife
die zweite Bemerkung, da du jetzo so gut bist wie dein eigner
31. HUNDPOSTTAG 993
Bruder: ist nicht das Verhehlen der Liebe das schonste Entdecken
derselben? Zeigt nicht ein Schleier - ein moralischer, mein* ich -
das ganze Gesicht und ist fur nichts unzuganglich als fur den
Wind *- den moralischen, mein* ich -? Decket nicht das glaserne
Gehause der Damenuhr das ganze darauf gefirniBte Uhrportrat
am Boden auf und wendet bloB das Beschmutzen, nicht das Be-
schauen ab? - Und was wirst du fur Bemerkungen machen, wenn
ich dir diese beiden vorlese!
Per Brief starkte zugleich Viktors Wunsch, um Klotilde zu
to sein, und seine Kraft, ihn aufzugeben — bis des andern Tags in der
Nachttisch-Stunde ein Zufall alles anderte. Matthieu, der fast mehr
Besuche bei Feinden als bei Freunden ablegte, kam vom Apothe-
ker herauf. Er sah die Prospekte von Maienthal und den Florhut;
und er da wuBte, daB seine Schwester Joachime beides habe: so
sagte er scherzhaft: »Ich glaube, Sie wollen sich verkleiden, oder
man hat sich entkleidet.« Viktor flatterte mit einem leeren lustigen
»Beides!« dariiber. Er nahm nicht gern den Namen der Liebe oder
eines Weibes vor einem Menschen in den Mund, der an keine Tu-
gend glaubte, am wenigsten an weibliche, der zwar, wie andre
20 Spinnen auf andere Musik, sich an seinem Faden auf die Liebe
niederliefl, der aber, wie Mause aus Liebe zu den Tonen, iiber die
Saiten kroch und sie zersprengte. Viktor war ungern (vor seinem
Hofleben) mit solchen philosophischen Ehrenraubern unter un-
bescholtenen Madchen, weil es ihm schon wehe tat, an den Ge-
sichtpunkt der ersten erinnert zu werden. »Von meiner Tochter«,
sagt* er, »miiBten sie nicht einmal das Dasein erfahren, weil sie
einenVater schon dadurch beleidigen, daB sie sich sie vorstellen.«-
Matthieu sprach von dem nachsten patriotischen Klub (den
4ten Mai am Geburttag des Pfarrers) und fragte, ob er dabei ware.
50 Agathe aber hatte ihn schon gestern (am vorletzten April) daran
erinnert. Endlich fiihrte Matz seine Frage vor: »ob er nicht auch
zu Pfingsten Von der Partie sei? - Er habe mit dem Regierrate
(Flamin), der dazu immer Ferien brauche, eine kleine Lustreise
abgekartet nach Grofikussewiti zum Grafen von O - Er habe da
zu tun, noch einige Quartiere des Hofstaats den Kussewitzern zu
bezahlen und den Grafen von O zu einem giitlichen Vergleich
994 HESPERUS
iiber das neuliche MiBverstandnis umzustimmen, daher er den
Juristen mithaben miisse - Vielleicht seien die Englander bei die-
sem Kongresse — das Reisekorps konne dann so groBe Vergnii-
gungen haben wie ein corps diplomatique, nachdem es vorher
ebensolche Geschafte gehabt. Der Graf von O Hebe uberhaupt
Englander sehr, ob er gleich nicht gern Englander reite - denn er
nab' es sehr bedauert, daB er neulich mit dem Herrn Hofmedikus
bei der Fiirstin gesprochenj ohne ihn zu kennen.« Sebastian hatte
seine lange stumme Aufmerksamkeit mit einem kalten »Nein !« be-
schlossen, weil die Ausdiinstung dieser falschen fliegenden Katze k
mit einem atzenden Gift sein unbeschirmtes Herz iiberzog. »Was
nab' ich« (dacht* er unter jener Einladung) »diesem Menschen ge-
tan, daB er mich ewig verfolgt - daB er mit einem Messer, dessen
eine Seite vergiftet ist oder beide, meinen Jugendfreund unter
unsern doppelten Schmerzen von meiner Seele schneidet - daB er
seine Minier-Hohlen bis an fremde Orte fortfiihrt, um mich in
alien Stellungen iiber seinem Pulver zu haben !« Viktor muBte
namlich nach allem besorgen, daB die Pfingst-Reise eine Ent-
deckreise sei, worauf Joachime dem Briider, wie Ritter Michaelis
den Morgenlandfahrern, Fragen iiber die Uhrbriefsache, iiber *
Tostato u. s. w. mitgebe, um wohl gar beim Fursten eine Anklage
daraus zu bilden. Er hielt das Untere seiner Karte, d.h. seines
tugendhaften Schmer^ens, so, daB es Matthieu nicht ganz sehen
konnte, um ihm eine boshafte Freude zu entziehen. Dieser, der
nicht eine Spitzenmaske, sondern eine eiserne und noch dazu eine
mit einem Halse trug, hatte oft eine solche Kalte, daB man seinen
wiitigen Zorn nicht begriffund umgekehrt - aber jene hatte er im
Lager, diesen in dem Gefechte gegen den Feind. Wenn ihn je-
mand sogleich aufbrachte, so wars ein gutes Zeicheri und bedeu-
tete, daB er nichts gegen ihn im Schilde fuhre. jc
Nach dem Abmarsch des Evangelisten - als er sich auszankte,
daB er ihn den Florhut finden lassen, den er uberhaupt mehr ver-
schlossen hatte, ware Flamin ofter gekommen - sah er sich nach
Klotildens SchattenriB um, damit der reizende Schatte sein Ziir-
nen kuhle. Er war nicht anzutreffen : seine erste Hypothese war,
Matz hab* ihn still gestohlen, um so mehr da er ihn geschnitten.^
3 1 . HUNDPOSTTAG 995
Hat er den SchattenriB wirklich eingesteckt: so ware der Evan-
gelist - denn mir wurde wie bekanntlich gleich beim Anfange
dieser Geschichte die Silhouette ubermacht - gar mein korre-
spondierendes Mitglied Knef, und er schickte mir die Avisfre-
gatte, den Spitzhund, zu. - Toll ists, daB mich der Korrespondent
durch solche Nachrichten selber auf den Argwohn bringt.
Indem Viktor den lieben Florhut als den Ersatz des Bildes in
die Hand nahm und traumend besah: so schlugen am Hute ganz
neue frische Blumen fur seine Seele aus. »Wie,« sagt' er zu sich,
io »muB ich denn gerade den SchattenriB anschauen? Kann ich nicht
das - Urbild selber dazu wahlen?« Kurz der Hut wurde ein Gliick-
topf, aus dem er eine frohe Stunde zog, namlich den Vorsatz, auf
Pfingsten zu verreisen, aber nach - MaienthaL Er hielt sich ernst-
lich vor, daB ihm und Klotilden die zu weit getriebene Schonung
eines eifersuchtigen Bruders, dessen irre Hoffnungen ja keine
Schwester zu starken verpflichtet sei, noch dazu durch die men-
schenfeindlichen Eingebungen Matthieus erschweret und ver-
eitelt werde - daB also ihr Absondern so wenig erleichtere, als ihr
Besuchen verbreche - daB es indessen schon sei, den Bruder zu
*o schonen und bloB in seine Abwesenheit einen verdachtigen Aus-
flug zu verlegen, bis ihm einmal die heruntergezogne Binde in
der Ungetreuen die Schwester entdecke und im Nebenbuhler
den schonenden Freund - und daB es immer besser sei, sie in
Maienthal als bei ihrer Zuriickkunft in seiner Nahe zu sprechen -
und daB der uber seine Abstammung belehrte Bruder ihm einmal
doch bloB vorriicken konne, er habe ihm keine Tauschungen ge-
nommen als hochstens unangenehme. - O die Liebe und die Tu-
gend haben ein nacktes Gewissen und entschuldigen ihre himm-
Hschen Freuden langer und mehr als andere ihre hollischen !
jo Als Viktor noch dazu daran dachte, daB den Tagen der Liebe
so bald das Laub und die Bluten abfallen, und daB Emanuel und
selber Klotilde zwei hart ans Ufer des Grabes geriickte Blumen
sind, deren lose nackte Wurzeln schon erstorben hinunterhangen :
so war sein EntschluB befestigt, und er schrieb an Emanuel die
Nachricht seiner Ankunft zu Pfingsten, urn Klotilden durch kei-
nen Uberfall zu erzurnen und urn ihr noch dazu die Gelegenhei
99<> HESPERUS
eines Verbotes zu lassen. Seine Wendung war die : »Wenn es ein
sokratischer Genius erlaube (d.h. Klotilde), der ihm immer sage
was er nicht tun solle: so komm' er zu Pfingsten, da obnehin die
Stadt da verode, da Flamin auf 4, 5 Tage nach Kussewitz reise« etc.
Als er den Brief fertig hatte : fiel ihm ein, dafl er gerade heute
an diesem 29. April vor einem Jahre die ganze Nacht gereiset sei,
um mit dem ersten Mai am Morgen durch den Nebel ins Pfarr-
haus zu treten. »Ich kann ja wieder die schwiile Zephyr-Nacht
nicht unter dem Deckbette, sondern unter den Sternen verbrin-
gen. - Ich kann in einem fort ins Abendrot nach Maienthals Ber- 10
gen schauen. — Ich kann ja lieber den halben Weg darauf zugehen
- oder gar den ganzen. - Ich kann mich auf einen Berg stellen und
ins Dorfchen schauen - Wahrlich ich kann dann mein Billet hier
irgendeinem Maienthaler inkognito einhandigen und wieder ReiB-
aus nehmen noch vor tags « -
Um sieben Uhr nachts ging er wie das Meer von Osten nach
Westen. Orion, Kastor und Andromeda blinken in Westen nicht
we it vom Abendrot iiber den Gefilden der Geliebten und werden
wie diese bald aus einem Himmel in den andern untergehen. Das
von lauter Hoffnungen erschiitterte Herz, seine erhititen Gehirn- 20
kammern, an denen das mit sympathetischer Dinte gezeichnete
Maienthal immer Hchter und farbiger vortrat, dieses innere, fast
schmerzliche Brausen der Freude raubte ihm anfangs das Ver-
mogen, den in griechischer Schonheit aufgebaueten Fruhling-
tempel in eine stille helle Seele aufzufassen. Die Natur und die
Kunst werden nur mit einem reinen Auge, aus welchem die
beiden Arten von Tranen weggewischet sind, am besten genos-
sen.
Aber endlich xiberdeckte das ausgebreitete Nachtstiick seine
heiBen Fieberbilder^ und der Himmel drang mit seinen Lichtern 50
und die Erde mit ihren Schatten in sein erweitertes Herz. Die
Nacht war ohne Mondlicht,' aber ohne Wolken. Der Tempel der
Natur war wie ein christlicher erhaben verdunkelt. Viktor konnte
sich aus den Laufgraben langer Taler, aus Walder-Finsternissen
und aus dem schillernden Nebel der Wiesen nicht eher erheben
als in der Mitternachtstunde, wo er einen Berg wie einen Thron
31. HUNDPOSTTAG 997
bestieg und sich da auf den Riicken legte, um die Augen in den
Himmel unterzutauchen und sich abzukiihlen vom Traumen und
Laufen. Das hereinhangende Himmelblau schien ihm eine diinne
blaue Wolke, ein in blaue Diinste zerschlagnes Meer zu sein, und
eine Sonne um die andre teilte mit ihren langen Strahlen diese
blaue Flut ein wenig auseinander. Der Arkturus, der dem liegen-
den Menschen gegeniiberstand, stieg schon von der Zinne des
Himmels herab, und drei groBe Sternbilder, der Luchs, der Stier,
der groBe Bar, zogen weit voraus unter das Abendtor. - Diese
> nahern Sonnen wurden von entriickten MilchstraBen mit einem
Hof umschwommen, und tausend groBe, in die Ewigkeit geworfne
Himmel standen in unserm Himmel als weiBe spannenlange Diifte
als lichte Schneeflocken aus der UnermeBlichkeit, als silberne
Kreise aus Reif. - Und die Schichten aneinandergeruckter Sonnen,
die erst vor dem tausendaugigen Auge der Kunst den Nebel-
schleier fallen lassen, spielten, wie Streife unserer Sonnenstaub-
chen, im gliihenden, durch das UnermeBHche brennenden
Sonnenstrahl des Ewigen. — Und der Widerschein seines durch-
gliihten Thrones lag hell auf alien Sonnen -
► - Plotzlich stellen sich nahere zerschmolzene Lichtwolkchen,
nahere Nebel, aufgeflogen aus Tau, unter der Versilberung, tief
herab. vor die Sonnen, und der Silberblick des Himmels lauft mit
zertragenen dunkeln Flocken an, — Viktor begreifet die iiber-
irdische Entziindung nicht und richtet sich bezaubert empor
und siehe, der gute verwandte nahe Mond, der sechste Weltteil
unserer kleinen Erde, war still und ohne das Freudengeschrei des
Morgens neben der Triumphpforte der Sonne hereingetreten in
die Nacht seiner Mutter-Erde mit seinem halben Tage,
Und als jetzt die Schatten von alien Bergen rannen und durch
» die aufgedeckten Landschaften nur in Bachen zwischen Baumen
zogen und als der Mond dem ganzen dunkeln Fruhling in der
Mitternacht einen kleinen Morgen gab: so faBte Viktor nicht
nachtlich-melancholisch, sondern morgendlich-verjungt den gro-
Ben runden Spielraum der jahrlichen Schopfung in sein erwachtes
Auge, in seine erwachte Seele, und er uberschauete den Fruhling
unter dem innern Freudengeschrei mitten in der weiteh Verstum-
998 HESPERUS
mung, unter dem Gefiihle der Unste.rblichkeit im Kreise des
Schlafes. —
Auch die Erde, nicht nur der Hirnmel, macht den Menschen
groB!
Ziehet in meine Seele und in meine Worte, ihr Mai-Gefiihle, die
ihr in der Brust meines Viktors schluget, da er iiber die knospende
schwellende Erde sah, von Sonnen iiber seinem Haupte bedeckt,
von griinendem Leben umstrickt, das von Gipfeln zu Wurzeln,
von Bergen zu Furchen reichte, und von einem zweiten Friihling
unter seinen FiiBen getragen, da er sich hinter der durchbrochenen 10
Erdrinde die Sonne mit einem Glanztage unter Amerika stehend
dachte. - Steige hoher, Mond, damit er den quellenden, geschwol-
lenen, dunkel-griinen Friihling leichter sehe, der mit kleinen bias-
sen Spitzen aus der Erde dringt, bis er sich herausgehoben v6ll
gliihender Blumen, voll wogender Baume - damit er die Ebenen
erblicke, die unter fetten Blattern liegen und auf deren griinem
Wege das Auge von den aufgerichteten Blumen, an welchen die
gespaltenen Reize des Lichtes wachsen und sich befestigen, zu
den in Bliiten zerspringenden Biischen und zu den langsamen
Baumen aufsteigt, deren gleifiende Knospen in den Friihlingwin- zz
den auf- und niederschwanken — Viktor war in Traume gesun-
ken, als auf einmal das kalte Anwehen der Lenzluft, die jetzo mehr
mit kleinen Wolken als mit Blumen spielen konnte, und das
Rauschen der Fruhlingbache, die neben ihm von alien Bergen und
iiber jedes dunklere Griin wegschossen, ihn erweckte und be-
riihrte. - Da war der Mond ungesehen gestiegen, und alle Quellen
glommen, und die Maiblumen traten weiBbliihend aus dem Griin,
und urn die regen Wasserpflanzen hiipften Silberpunkte. Da hob
sich sein wonneschwerer Blick, um zu Gott zu kommen, von der
Erde auf und von den griinenden Randern der Bache und stieg 3=
auf die herumgebognen Walder, aus denen die eisernen Funken-
und Dampf-Saulen 1 iiber die Gipfel sprangen, und zog auf die
weiBen Berge, wo der Winter in Wolken schlaft; — aber als der
heilige Blick in dem Sternen-Himmel war und zu Gott aufsehen
wollte, der die Nacht und den Friihling und die Seele geschaffen
1 Von den Eisen- und Kohlenhutten.
31. HUNDPOSTTAG 999
hat: so fiel er mit zuriicksinkendem Flugel und weinend und
fromm und demiitig und selig zuriick..*. Seine schwere Seele
konnte nur sagen: Er ist! —
Aber sein Herz sog sich voll Leben an der unendlichen, quel-
lenden, wehenden Welt um ihn, uber ihm, unter ihm, worin Kraft
an Kraft, Blute an Blute reicht, und deren Lebensquellen von einer
Erde in die andere sprutzen, und deren leere Raume nur die Steige
der feinern Krafte und der Aufenthalt der kleinern sind - die ganze
unermeBliche Welt stand vor ihm, deren ausgespannter Wasser-
10 fall, in Diifte und Strome, in MilchstraBen und Herzen zersprun-
gen, zwischen den iwei Donnern des Gipfels und des Abgrunds
reiBend, gestirnt, geflammt herabfahrt aus einer vergangnen
Ewigkeit und niederspringt in eine kiinftige - und wenn Gott auf
den Wasserfall sieht, so malt sich der Zirkel der Ewigkeit als
Regenbogen auf ihn, und der Strom verriickt den schwebenden
Zirkel nicht
Der selige Sterbliche stand auf und wandelte im Gefuhle der
Unsterblichkeit durch das um ihn pulsierende Friihlingleben wei-
ter; und er dachte, daB der Mensch mitten unter den Beispielen
20 der Unverganglichkeit den Unterschied zwischen seinem Schlaf
und Wachen irrig zum Unterschied zwischen Sein und Nichtsein
zerdehne. Jetzo war seinen kraftigen strotzenden Gefuhlen jedes
Getose willkommen, das Schlagen der Eisenhammer in den Wal-
dern, das Rauschen der Lenzwasser und der Lenzwinde und das
aufprasselnde Rebhuhn. -
Um drei Uhr morgens sah er Maienthal liegen. Er trat auf den
von fiinf einzelnen Tannenbaumen gehobnen Berg, auf dem man
durchs ganze Dorf und wieder hiniiber zum andern Berge schauen
kann, wo die Trauerbirke seinen Emanuel beschattet. Die uber-
30 wachsene Zelle des letzten konnt* er nicht erblicken; aber am
Stifte, wo seine Freundin traumte, schimmerten alle Fenster im
ausfunkelnden Mondlicht. In seiner Brust war noch der Rausch
der Nacht und auf seinem Angesicht das Brennen der Traume -
aber das Tal zog ihn in die Erde heraus und gab seinen Freuden-
blumen bloB einen festern Boden; und der Morgenwind kiihlte
seinen Atem und der Tau seine Wangen ab. Die Tranen stiegen
IOOO HESPERUS
in seine Augen, als sie auf die weiBverhangnen Fenster fielen,
hinter denen eine schone, eine weise, eine geliebte und eine lie-
bende Seele ihre unschuldigen Morgentraume vollendete. Ach, es
traume dir, Klotilde, von deinem Freunde, daB er dir nahe ist, daB
er seine uberstromenden Augen auf deine Zelle wendet und daB er
verschwindet, wenn du erscheinst, und daB er doch seliger werde
von Minute zu Minute - ach er traumt ja auch, und wenn die
Sonne aufgeht, ist das geliebte Tal wie dein Traum mit dem Ster-
nenhimmel versunken. - O die Berge, die Walder, hinter denen
eine geliebte Seele wohnt, die Mauern, die sie umschlieBen, i
schauen den Menschen mit einem riihrenden Zauber an und han r
gen vor ihm wie holde Vorhange der Zukunft und Vergangenheit.
Der Berg fuhrte ihm das Bild des Malers vor, der sonst hier ge-
wesen war, um Klotildens Reize gleichsam wie ein goldnes Zeit-
alter nur aus der Feme abzuzeichnen und naher zu ziehen - und
dieses fuhrte sein Auge wieder in die Tage ihrer friihern Jugend
und ihres stillen frommen Lebens im Stift, und es schmerzte ihn,
daB eine Zeit sonst gewesen und verloren war, in der er sie nicht
lieben konnen. Da er sich umsah und sich dachte, auf alien diesen
Steigen, neben diesen Bachen, unter diesen Baumen ist sie gegan- 2
gen: so wurde ihm die ganze Gegend heilig und lebendig, und
jeder daruber hinziehende Vogel schien seine Freundin zu suchen
und zu lieben wie er.
Aber nun wachte mit jedem Stern, der oben im Himmel zu-
riicksank, unten auf der Erde eine Blume und ein Vogel auf- der
Weg von der Nacht zum Tage wurde schon mit Halbfarben be-
legt - kleine Nebel stiegen an der Kiiste des Tages auf - und Vik-
tor war noch auf dem Berge. Seine Besorgnis, daB sich die weiBe
Fensterhiille rege und ihn zeige, war so groB wie sein Wunsch,
daB die Besorgnis immer groBer werde! Zuweilen wankte ein *
Vorhang, aber keiner ging auf. - Auf einmal wecken die Vogel-
kehlen eine Zauberflote an dem FuBe seines Berges, und der stille
Julius kam der Sonne, die ihm nicht mehr leuchtete, mit seinen
Morgentonen entgegen. Da entschleierte sich plotzlich Klotildens
Fenster, und ihre schonen hellen Augen nahmen den erfrischten
Morgen in die fromme Seele auf. Viktor trat, der Entfernung un-
31. HUNDPOSTTAG IOOI
geachtet, von Gestrauch hinter Gestrauch; aber die Fluent vor
den geliebten Augen fiihrte ihn der Flote naher; er wollte jedoch
ebensowenig vor Emanuel, den er in der Nachbarschaft des Blin-
den glaubte, erscheinen als vor Klotilden. Als ihn nur noch einige
Gebiasche von den Tohen schieden, erblickte er auf dem Berge
seinen Freund Emanuel unter der Trauerbirke. Nun eilt' er froh
und zitternd zu Julius herab und fand ihn mit dem Lilienangesicht,
schon wie den jiingern Bruder eines Engels, umflogen und urn-
sungen von Vogeln, an einer Birke lehnen : »Welche Gestalten,
io welche Herzen«, dacht' er, »schmucken dieses Paradies!« Wie hatt*
er sich an einem solchen Morgen, an einem so heiligen One, gegen
einen so guten Jiingling verstellen und ihm etwa mit der nachge-
machten Stimme seines italienischen Bedienten den Brief an Ema-
nuel ubergeben konnen? - Nein, das konnt' er nicht; er sagte mit
leiser Stimme, um ihn nicht zu erschrecken: »Lieber Julius, ich
bins!« - Dann sank er Jangsam an den zarten Menschen und um-
armte an einer Brust - drei Herzen; und reichte ihm den Brief mit
den Worten : »Gib ihn deinem Emanuel !« und floh mit dem warm-
sten Druck der lieben Hand den Berg tiefer hinab und davon. -
50 Gerade um diese Stunde an diesem Tage vor einem Jahr ver-
schwand auch Giulia aus Maienthal und nahm nichts von dem
schonen Blumenboden mit als einen - Grabhiigel.
Als er jetzt hinter Staudengangen ungesehen dem Orte der
Seligen entronnen war: machte seine nachtliche Erheiterung einer
unbezwinglichen Wehmut Platz. Die aufgehende Sonne zog alle
hellen Farben aus seinem nachtlichen Traum - »Hab' ich denn
wirklkh Maienthal und Julius und alle Geliebte gesehen, oder ist
nur auf einer unter dem Monde schillernden Wolke ein zerflos-
senes Schattenspiel voriibergeronnen?« sagt* er - und der Tag
30 briitete die frische Nachtluft seiner Seele zu einem schwiilen
Flattern des Siidwinds an. Anstatt daB der Mensch sonst, wie
Raguel, in der Mitternacht Graber aushauet und in der Morgen-
sonne sie wieder verschuttet, kehrte heute Sebastian es um. -
Eigentlich war es nicht ganz so: sondern das schnelle Vor-
springen und Einsinken der geliebten Gestalten, die vergroBerte
Sehnsucht darnach, der ruhrende Abstich des Morgen-Getummels
mit der Nacht-Pause, des Sonnenfeuers mit dem Mond-Dam-
mern und die mit der Ermudung der Phantasie und des Korpers
verkniipfte traumende Ermattung der Schlaflosigkeit, alle diese
Dinge driickten aus dem Herzen und Tranendriisen unsers Nacht-
wandlers unwillktirliche, siiBe Tranen aus, die keinen Gegenstand
betrafen, die weder vor Freude noch vor Kummer flossen, son-
dern vor Sehnsucht.
Auf einmal lieB der schone nebellose erste Maitag das Anden-
ken an den vorjahrigen, wo er, wie ein Frtihling und homerischer
Gott, im Nebel ankam, voriibergehen - und der gute Mensch ic
schauete mit den Tautropfen in den Augen die Tautropfen in den
Blumen an und sagte unaussprechlich geruhrt: »Ach vor einem
Jahre kam ich so gliicklich, wurde so ungliicklich, und bin wieder
so gliicklich - o ihr fliehenden, spielenden, nachtonenden, zittern-
den Jahre des Menschen!« - und das Feiertag-Gelaute aus alien
Dorfern (es war Philippi Jakobi) setzte mit dem sanften Beben
eines Echo alle seine Trauersaiten in ein weiteres Zittern.
»0 vor einem Jahre« (tonten ihn die Glocken an) »begleiteten
wir Giulia wie dich aus Maienthal heraus.« Dann zog vor der
Sonne, die am Himmel ihre weiBen Bliiten aufschlug, der warme 20
Gedanke sein Herz auseinander: »Vor einem Jahre, an diesem
Morgen, ging dir dein Flamin entgegen und vergoB an deiner
gliihenden Brust so viele Freudentranen - und am Ende des heu-
tigen Tages zog er dich wieder an sein Herz und sagte gleichsam
ahnend : >VergiB mich nicht, verrat mich nicht, und wenn du mich
verlassen willst, so laB mich mit dir untergehen!< -
»0 du Treuer,« (sagten alle seine Gedanken) »wie trostet es mich
heute, daB ich einmal alle meine Wunsche gern den deinen auf-
geopfert habe, um dir getreu zu bleiben 1 - Nein, ich kann ihm
nichts verbergen, ich gehe jetzt zu ihm.« - Er ging gerade zu Fla- 30
min, um (wiewohl ohne Meineid gegen den Lord und mit Scho-
nung der Eifersucht) es zu bekennen, daB er auf Pfingsten nach
Maienthal verreise. Sein auseinandergegangnes Herz bedurfte ein
1 Es war, als er in der Laube mit seinem Vater fur Klotildens Verbindung
mit Flamin sprach - und als er sich vorsetzte, vor derselben sogar ihre Freund-
schaft zu entbehren.
31. HUNDPOSTTAG IOO3
entgegenweinendes Auge so sehr - sein feines Ehrgefuhl ver-
schmahte es so sehr, eine fremde Reise zur spanischen Wand der
eignen zu machen - seiner erneuerten Liebe tat das kleinste Ver-^
hehlen vor seinem Freunde so weh - Matthieu war aus diesem
himrnelblauen Eden unter der Gehirnschale so ganzlich verstoBen
- daB er, je langer er dachte und lief, desto mehr aufschliefien
wollte. Er wollt* es namlich seinem Flamin sogar entdecken, daB
er heute nachts die Einladkarte eigenhandig an den BHnden ab-
gereicht: durch eine Tauschung wurde ihm die kunftige Pfingst-
IO reise durch die heutige zulassiger, und diesen eignen Gesichts-
punkt sah er fiir einen fremden an.
Aber so weit trieb seine traumerische und nachttrunkne Seele
ihre gefahrliche ErgieBung nicht, die desto mehr schaden konnte,
da Flamin im Zorne auf keine Unterschiede und Rechtfertigungen
mehr zu horen vermochte und sogar alte eingeraumte wieder ver-
warf. Denn beim Eintritt zog ein Maifrost auf Flamins Gesicht
den aufbrechenden Bliitenkelch seines Herzens ein wenig zusam-
men. Er bat Flamin mit seiner kontrastierenden Warme des Ge-
sichts um einen Spaziergang an diesem hellen Tage. DrauBen
20 wurde der Abstich noch schneidender, da Flamin seinen Spazier-
stock bis zum Knicken einstieB, Blumen kopfte, Laub abschlug,
mit dem Stiefelabsatz FuBstapfen aushieb, indes Viktor in einem
fort zu reden suchte, um seine Seele in der mitgebrachten Warme
zu erhalten.
Es freuet mich an ihm, daB er sein von den heutigen Entbeh-
rungen uberrinnendes Herz gerade in eines ergieBen wollte, dem
er die Entbehrungen schuld zu geben hatte. Endlich sagte er, um
das erschwerte Gestandnis nur von der Seele zu werfen, eilend:
»Auf Pfingsten gen* ich nach Maienthak - und ging fliegend zu
3° den Worten uber: »0 gerade heute vor einem Jahre gingst du
mir . . .«
Flamin unterfuhr ihn, und das Eisgesicht wurde wie ein Hekla
von Flammen zerspalten: »So so! - Zu Pfingsten? - Nach Kusse-
witz gehst du nicht mit uns\ - LaB mich doch einmal recht aus-
. reden, Viktor !« - Sie blieben also stehen. Flamin streifte die BIu-
ten und Blatter von einem Schlehenast mit blutiger Hand und
1004 HESPERUS
blickte seinen sanften Freund nicht an, um nicht erweicht zu wer-
den. »Heute vor einem Jahre, sagst du? Sieh, da ging ich eben
abends mit dir auf die Wane, und wir versprachen uns entweder
Treue oder Mord. Du schwurst mir, dich hinabzustiirzen mit mir,
wenn du mir alles genommen hattest, alles - oder etwan ihre Liebe ;
denn in deinem Beisein sieht sie mich kaum mehr. an. - Bin ich
denn beim Teufel blind? Sell' ich denn nicht, die Maschinerie mit
ikrer und deiner Reise ist abgekartet? - Was tust du mit den Maien-
thaler Landschaften gerade jetzt? Wem gehort der Hut? - Und
was soil ich mir aus allem nehmen? - Wem, wem? sags sags -O 10
Gott! wenns wahr ware! - Hilf mir, Viktor !« - Dem gemiBhan-
delten, heute erschopften Viktor standen die bittersten Tranen in
den Augen, die aber Flamin, der sich durch sein eignes Sprechen
erziirnte, jetzt ertragen konnte. Niemals nahm dieser in einer Er-
grimmung Vorstellungen an: gleichwohl erwartete er sie und
staunte uber sein Rechthaben und uber das fremde Verstummen
und begehrte, daB man widersprache. Er quetschte seine Hand in
die Schlehenstacheln. Sein Auge brannte in das weinende hinein.
Viktor bejammerte den festen Schwur vor seinem Vater und sah
auf die zitternde Waage, worauf der Eid und die schonende *c
Freundschaft sich ausglichen. Er sammelte noch einmal alle Liebe
in seiner Brust und breitete die Arme auseinander und wollte mit
ihnen den Straubenden an sich ziehen und konnte doch nichts
sagen als : »Ich und du sind unschuldig; aber bis mein Vater kommt,
eher kann ich mich nicht rechtfertigen.« - Flamin dnickte ihn von
sich ab: »Wozu das? - So wars im Gartenkonzert auch, und du
warst seitdem tagtaglich bei ihr und auf Osterballen und auf
Schlitten, ohne mich- Sag lieber geradezu, willst du sie heiraten?-
Schwor, daB du nicht willst! - O Gott, zoger' nicht - schwor
schwor! - Ja ja, Matthieu! - Kannst du noch nicht? - Nu so liig v
wenigstens!«
»Oh!« - sagte Viktor, und Blutstrome schossen verfinsternd
durch sein Gehirn und uber sein Angesicht - »beleidigen darfst du
mich doch nicht gar zu sehr, ich bin so gut wie du, ich bin so stolz
wie du — vor Gott ist meine Seele rein« — Aber Flamins Blut an
der Schlehenstaude driickte Viktors ziirnende Erhebung nieder,
31. HUNDPOSTTAG 1005
und er hob bloB das mitleidige Auge voll Freundschaft-Tranen in
den hellern sanftern Himmel. - »Nur die Heirat verschworst du
doch nicht? - Gut, gut, du hast mich erwiirgt - mein Herz hast
du zerstampft und mein ganzes Gliick - ich hatte niemand als
dich, du warst mein einziger Freund, jetzo will ich ohne einen
zum Teufel fahren - Du schworst nicht? - O ich reiB' mich von
dir blutig und elend und als dein Feind - wir scheiden uns - gehe
nur — weg ! es ist aus, ganz ! — Adieu !« — Er entfloh mit dem in den
Weg hauenden Stock, und sein zerriitteter Freund, zu FiiBen
10 liegend der Wahrheit, die das Flammenschwert gegen den Mein-
eid aufhebt, und in Tranen sterbend vor der Freundschaft, die
auf das weiche Herz den schmelzenden Blick voll Bitten wirft,
Viktor, sag' ich, rief dem fliehenden Geliebten im Sterben nach:
»Lebe wohl, mein teurer Flamin! mein un verge Blicher Freund!
ich war dir wohl treu! - Aber ein Schwur liegt zwischen uns -
Horst du mich noch? - eile nicht so! - Flamin, horst du mich?
ich Hebe dich noch, wir finden uns wieder, und komm, wann du
willst.«.. . Er rief starker, obwohl mit erstickten gedampften To-
nen nach: »Redliche, teure, teure Seek, ich habe dich sehr geliebt
20 und noch und noch - sei nur recht glucklich - Flamin, Flamin,
mein Herz bricht, da du mein Feind wirst.« - Flamin sah sich
nicht mehr urn, aber seine Hand war, wie es schien, an seinen
Augen. Der Jugendfreund schwand aus seinen Augen wie eine
Jugend, und Viktor sank unglucklick nieder unter dem schonsten
Himmel, mit dem BewuBtsein der Unschuld, mit alien Gefiihlen
der Freundschaft! - O die Tugend selber gibt keinen Trost, wenn
du einen Freund verloren hast, und das mannliche Herz, das die
Freundschaft durchstochen hat, blutet todlich fort, und aller
Wundbalsam der Liebe stillet es nicht! -
ioo6
32. HUNDPOSTTAG
Physiognomie Viktors und Flamins - Siedpunkt der Freundschaft —
prachtige Hoffnungen fur uns
Wer hatt' es von Cicero gedacht (wenn ers nicht gelesen hatte),
da 6 ein so bejahrter gescheiter Mann sich in seiner Johannis-Insel
hinsetzen und Anfdnge, Eingange, praexistierende Keime im vor-
aus auf den Kauf verfertigen wiirde? Inzwischen hatte der Mann
den Vorteil, daB er, wenn er einen Torso iiber irgend etwas
schrieb, die Wahl unter den fertig liegenden Kopfen hatte, wovon
er einen dem Rumpfe nach der Korpuskularphilosophie auf- 10
schrauben konnte. — Von mir, an dem nichts Gesetztes ist, kanns
nicht wundernehmen, daB ich auf meinem molukkischen Fraskati
ganze Zaspeln von Anfangen im voraus geweifet und gezwirnt
habe. Wenn nachher der Spitz einen Hundtag bringt: nab* ich
ihn schon angefangen und stoBe nur den historischen Rest gar an
die Einleitung. - Eben gegenwartigen Anfang nab* ich fur heute
erlesen.
Anfangs aber wollt' ich freilich diesen nehmen:
Mich qualet bei meinem ganzen Buche nichts als die Angst, wie
es werde ubersetzt werden. Diese Angst ist keinem Autor zu ver- 20
denken, wenn man sieht, wie die Franzosen die Deutschen und
die Deutschen die Alten iibersetzen. Im Grunde ists wahrlich so
viel, als werde man exponiert von den untern Klassen und den
Lehrern derselben. Ich kann jene Leser und diese Klassen in Rtick-
sicht ihrer Seelenkost, die durch so viele Zwischenglieder vorher
geht, mit*nichts vergleichen als mit den armen Leuten in Lapp-
land. Wenn da die Reichen sich in dem Trinkzimmer mit einem
Likor, der aus dem teuern Fliegenschwamm gesotten wird, be-
rauschen : so lauert an der Hausture das arme Volk, bis ein be-
mittelter Lappe herauskommt und p-ss-t; das vertierte Getrank, 30
die Vulgata von gebranntem Wasser, kommt dann den armen
Teufeln zugute.
Aber diesen Anfang heb' ich mir auf fur den Vorbericht zu einer
Obersetzung.
32. HUNDPOSTTAG IOO7
Es gehort zu den schonen Gaukeleien und Naturspielen des Zu-
falls, deren es recht viele gibt, da 6 ich dieses Buch gerade in der
Philippi-Jakobi-Nacht 1793 anfing, wo Viktor die Hexen-Fahrt
zum maienthalischen Blocksberg unter die Zauberer und Zaube-
rinnen vornahm und wo er 1792 aus Gottingen anlangte.
Ich kann nicht schreiben: »der Leser kann sichs leicht vor-
stellen, wie Viktor die ersten Maitage verlebte oder vertrauerte«;
denn er kann sichs schwer vorstellen. Vielleicht wir alle hielten die
Bande, die ihn mit Flamin verschlangen, fiir dunne wenige Fibern
o oder unempfindliche Gewohnheitflechsen; es sind aber weiche
Nerven und feste Muskeln das Bindwerk ihrer Seelen. Er selber
wuBte nicht, wie sehr er ihn Hebe, als da er damit aufhoren sollte.
In diesen gemeinschaftlichen Irrtum fallen wir alle, Held, Leser
und Schreiber, aus einem Grunde: wenn man einem Freunde, den
man schon lange liebte, lange Zeit keinen Beweis der Liebe geben
konnte, aus Mangel der Gelegenheit: so qualet man sich mit dem
Vorwurfe, man erkalte gegen ihn. Aber dieser Vorwurf selber ist
der schonste Beweis der Liebe. Bei Viktor trat noch mehr zusam-
men, ihn selber zu bereden, er werde ein kalterer Freund. Die
:o Vesperturniere um Klotilde, diese Disputationen pro loco, taten
ohnehin das Ihrige; aber immer krankte er sich mit der Selbst-
rezension, daB er zuweilen seinem Preunde kleine Opfer abge-
schlagen, z, B. seinetwegen Versaumung einer Lustpartie, das
Wegbleiben aus gewissen zu vornehmen Hausern, die Flamin
haBte. Aber in der Freundschaft sind groBe Opfer leichter als
kleine - man opfert ihr oft lieber das Leben als eine Stunde, lieber
ein Stuck Vermogen als eine kleine unangenehme Unart, so wie
euch manche Leute lieber einen Wechsel schenken als ein so
groBes leeres Papier. Die Ursache ist: groBe Aufopferungen
30 macht die Begeisterung, kleine aber die Vernunft. Flamin, der
selber niemals kleine machte, foderte sie vom andern mit Hitze,
weil er sie fiir groBe nahm. Viktor hatte sich hieriiber weniger
vorzuriicken; aber Klotilde beschamte ihn, deren langste und
kurzeste Tage wie bei den meisten ihres Geschlechts lauter Opfer-
tage waren. - Auch wurde seine natiirliche Delikatesse, die jetzo
durch sein Hof leben den Zusatz der kiinstlichen gewonnen hatte,
1008 HESPERUS
tiefer als sonst von seines Freundes Ecken verletzt. - Die feinen
Leute geben ihrem innern Menschen (wie ihrem auBern) durch
Mandelkleien und Nachthandschuhe weiche Hande, bloB um das
Untere der Karten besser zu fuhlen, um niedliche halbe Damen-
Ohrfeigen zu geben, aber nicht, wie die Wundarzte, um damit
Wunden zu handhaben.
Zum Ungliick schrieb ihm dieser Wahn der Erkaltung ein
auBeres freundliches Bestreben vor, Warme bei Flamin zu zeigen.
Da nun der Regierrat nicht bedachte, daB auch das Ge^wungne
ebensooft von Aufrichtigkeit entstehen konne als das Unge- «
zwungne von Falschheit: so hatte der Teufel immer mehr sein
Bestia-Spiel (wo eine Freundschaft der hohe Einsatz war), bis
solcher am Hexentage' es gar gewann.
Aber am 4ten Mai soil er alles wieder verlieren, denk* ich. Denn
Viktor, dessen Herz bei der geringsten Bewegung wieder den
Verband durchblutete, nahm sich vor, nicht nur am 4ten Mai dem
Wiegenfeste des Hofkaplans in St. Liine beizuwohnen, sondern
auch einen Geburttag der erneuerten Freundschaft mit Flamin zu
begehen. Er wollte gern den ersten, zweiten, zehnten Schritt tun,
wenn nur jener stehen bliebe und keinen zuriick tare. Denn er kann *°
ihn nicht vergessen, er kann die aufgedrungne Entbehrung nicht
verwinden, so leicht ihm sonst die freiwillige wurde. Er driickt
alle Abende Flamins schones Bild, das gemacht war aus seiner
Liebe fur ihn, aus seiner unbestechlichen RechtschafTenheit, sei-
nem Felsen-Mut, seiner Liebe zum Staat, seinen Talenten, sogar
aus seinem Aufbrausen, das aus dem doppelten Gefiihl des Un-
rechts und der eignen Unschuld entstand, dieses warme Bild
driickte er an das aufgerissene Herz, und wenn er ihn am Morgen
in das Kollegium gehen sah, so Iiefen ihm die Augen uber, und
er pries den Bedienten glucklich, der ihm die Akten nachtrug. 3=>
Wenn der 4te Mai des groBen Versohntages mit dem Suhnopfer
nicht so nahe ware : so wiirde er die kleine Julia an sich angewoh-
nen miissen als einen dritten Stand zwischen den zwei andern, als
einen Leitton zwischen Widertonen. BloB die Hoffnung des
Maies setzte seinen Gedanken statt der Nesseln-Brennspitzen
wenigstens Rosenstacheln an. - Der Jugendfreund, lieber Leser,
32. HUNDPOSTTAG IOO9
der Schulfreund wird nie vergessen, denn er hat etwas von einem
Bruder an sich ; - wenn du in den Schulhof des Lebens trittst, wel-
ches eine Schnepfenthaler Erziehanstalt ist, eine berlinische Real-
schule, ein breslauisches Elisabethanum, ein scheerauisches Maria-
num : so begegnen dir die Freunde zuerst, und eure Jugendfreund-
schaft ist der Friihgottesdienst des Lebens.
Viktor wufite Flamins Versohnlichkeit gewiB voraus, er sah
ihn sogar schon ofter am Fenster stehen und zum Erker hinuber-
schielen, aus dem ein freundliches, urn alle MiBdeutungen des
10 Ehrenpunktes unbekummertes Auge frei und gerade zum Senior
schauete; — aber dies nahm doch seine weiche Sehnsucht nicht
weg, sondern sie wurde vermehrt durch die Wiedererblickung des
so schonen betrauerten geliebten Angesichts. Flamin hatte eine
groBe mannliche Gestalt, seine ineinander- und zuruckgedrangte
schmale Stirn war der Horst des Muts, seine durchsichtigen blauen
Augen - weiche seine Schwester Klodlde auch hatte und die sich
recht gut mit einer feurigen Seele vertragen, wie ja auch die alten
Deutschen und das Landvolk beides haben - waren von einem
denkenden Geiste entziindet, seine gepreBten und eben darum
20 dunkelroteren ubervollen Lippen waren in die menschenfreund-
liche Erhebung zum Kusse befestigt; bloB die Nase war nicht
fein genug, sondern juristisch oder deutsch gebildet. Die Nase
grofier Juristen sieht meines Erachtens zuweilen so elend aus wie
die Nase der Justiz selber, wenn ihr biegsamer Stoffsich unter zu
langen Drehfingern zieht. Nicht zu erklaren ists, beilauflg, warum
die Gesichter groBer Theologen - sie miiBten denn noch etwas
anderes GroBes sein - etwas von der typographischen Pracht der
Cansteinischen Bibeln an sich haben. Viktors Gesicht hingegen
hatte am wenigstens unter alien, weder jene burschikosen Trivial-
30 Ztige mancher Juristen, noch das Mattgold mancher Theologen;
seine Nase lief, ihre Schneide und ihren Wurzel-Einschnitt abge-
zogen, griechisch-gerade nieder, der Winkel der geschlossenen
diinnen Lippen war (falls er nicht gerade lachte) ein spitziger von
1'"" und bildete mit der scharfen Nase das Ordenzeichen und
Ordenkreuz, das oft satiflsche Leute tragen; - seine weite Stirne
wolbte sich zu einem hellen und geraumigen Chor einer geistigen
Rotunda, worin eine sokratische gleich beleuchtete Seele wohnt,
obgleich weder diese Helle noch jene Stirn sich mit angeborner
milder Festigkeit, wenn auch mit erworbener gatten ; - seine Phan-
tasie, dieser groBe Gewinn, hatte wie mehrmals gar keine Lotterie-
devise auf seinem Gesicht; - seine Achataugen 'aus Neapel ver-
kiindigten und suchten ein Iiebendes Herz; - sein weiBes, weiches
Gesicht kontrastierte, wie Hof mit Krieg, gegen Flamins braunes,
elastisches, den zwei Glutwangen als Grund dienendes Angesicht.
- Cbrigens war Flamins Seele ein Spiegel, der unter der Sonne
nur mit einem einzigen Punkte flammte; an Viktors seiner aber 10
waren mehre Krafte zu schimmernden Facetten ausgeschliffen.
Klo tilde hatte mit ihrem Bruder dieses ganze Feuerzeug und diese
Schwefelminen des Temperaments gemein; aber ihre Vernunft
deckte alles zu. Der reiBende Blutstrom, der sich bei ihm von
Felsen zu Felsen schlug, zog bei ihr schon still und glatt durch
Blumenwiesen.
Ich sari* es gern, er erneuerte wieder mit dem Regierrat den
Vcrtrag der Freundschaft : ich wiirde dann seine Pfingst-Reise
nach Maienthal zu beschreiben bekommen, die vielleicht das
Septleva und das Beste wird, wozu es noch der menschliche Ver- 20
stand gebracht hat. Aus diesem Septleva wird aber nichts, wenn
sie nicht wieder Friede machen; neben jede Blume in Maienthal,
neben jede Entziickung wiirde sjch dem Freunde die abgegramte
Gestalt des Freundes stellen und fragen : »Kannst du so glucklich
sein, da ichs so wefiig bin?« -
Gescheiter war* es, beide waren Monche oder Hof leu te; dann
ware ihnen zuzumuten, daB sie, da die Freundschaft die Ehe der
Seelen ist, enthaltsam im Zolibate der Seelen verblieben . . .
Eben beim Schlusse des Kapitels bringt der Hund das neue,
und ich flechte beide gar ineinander und fahre fort: 30
Ohne sonderliche Argernis uber das Ausbleiben'der Antwort
aus Maienthal ging Viktor den 4ten Mai einsam nach St. Liine
und mit jedem Schritte, um den er naher kam, wurde seine Seele
weicher und versohnlicher, - Als er ankam : —
Es gibt in jedem Hause Tage, die in der Litanei vergessen wur-
den - verdammte, verteufelte, verhenkerte Tage - wo alles ge-
32. HUNDPOSTTAG IOII
kreuzt geht und die Quere - wo alles keift und knurrt und mit
dem Schwanze wedelt- wo die Kinder und der Hund nicht Muck!
sagen diirfen und der Erb-, Lehn- und Gerichtsherr des Hauses
alle Tiiren zuwirft und die Haus-Herrin das Schnarrkorpus-Re-
gister des Moralisierens 1 zieht und den Silberton der Teller und
Schliisselbunde anschlagt- wo man lauter alte Schaden aufstobert,
alle Waldfrevel der Mause und Motten, die zerknickten Sonnen-
schirm- und Facherstabe und daB das SchieBpulver und der wohl-
riechende Puder und das Kavalierpapier dumpfig geworden und
j daB der Wurstschlitten ausgesessen ist zu einem holzernen Esel
und daB der Hund und das Kanapee im Haren begriffen sind -
wo alles zu spat kommt, alles verbrat, alles iiberkocht und die
Kammerdonna die Stecknadeln ins Fleisch der Frau wie in eine
Puppe treibt - und wo man, wenn man sich bei dieser hundfotti-
schen Krankheit ohne Materie genugsam ereifert hat ohne Ur-
sache, sich zufrieden gibt wieder ohne Ursache —
Als Viktor anlandete in der Pfarre : hort' er den Geburthelden
des Tages, den Pfarrer, in seiner Studierstube dozieren und
schreien. Eymann goB seinen heiligen Geist in die langen Ohren
) seiner Katechumenen aus, in die keine feurigen Zungen zu brin-
gen waren. Er handhabte eine Dunsin aus einer Einode (einem
einzigen Hause im Walde) und wollte vor ihr den Unterschied
des Lose- und des Bindeschlussels aufklaren. Es war aber nicht
zu machen : der Kaplan und Wiedergeborne hatte schon eine halbe
Stunde iiber die Schulzeit mit dem Aufklaren zugebracht; die
Dunsin vergrirlsich immer in den Schlusseln, als ware sie eine -
Weltdame. Der Kaplan hatte seinen Kopf darauf gesetzt auf die
Erhellung des ihrigen - er stellte ihr alles vor, was Eisenholz und
Eisensteine geruhrt hatte, sein heutiges Wiegenfest, die allgemein-
» versalzene Lust, die halbe OberschuB-Stunde, um sie zu iiber-
reden, daB sie den Unterschied begriffe — sie tats nicht, sie sah'
ihn nicht ein - er lieB sich zu Bitten herab und sagte : »Schatz,
Lamm, Bestie, Beichttochter, faB t es, fieri* ich - mache deinem
1 Die meisten Weiber sind nicht eher Galgenpatres (eigentlich : Galgen-
matres) und Kasernenpredigerinnen, als bis sie teufelstoll sind, wie Sterne
die meisten Einfalle hatte, wenn er nicht wohl war.
Seelenhirten die Freude und repetier' ihm den auBerordentlichen
Unterschied zwischen Bind- und Loseschlussel — mem' ichs denn
nicht redlich mit dir? - Aber mein Pfarramt fodert es von mir,
daB ich dich nicht wie ein Vieh, ohne einen Schliissel zu kennen,
weglasse. - Ermanne dich nur und sprich mir nur Wort fur Wort
nach, teuer-erkaufte Christen-Bestie.« - Das tat sie endlich, und
da sie fertig war, sagt' er freudig: »So gefallst du deinem Lehrer,
und merk ferner auf.« - DrauBen rekapitulierte sie es wieder, und
sie hatte alles gut gefasset, ausgenommen, daB sie statt der Bind-
und Loseschlussel allemal vernommen hatte Bind- und Ldseschiis^ i o
sein. —
Die Drillinge wollten erbarmlicherweise erst nach dem Essen
kommen - Die Seele der roten Appel dampfte eben darum ein
Wildprets-Fumet aus und roch wie angebrannte Milchsuppe und
klagte, sie behielte alle Arbeit allein auf dem Hals, und als Agathe
ihr beispringen wollte, sagte sie: »Ich kann es, Gott sei Dank! so
gut machen wie du!« - Der Regierrat war angelangt, aber leider
wieder auf die Felder hinausgelaufen bis zum Essen - Agathens
Gesicht war wie ein Felsenkeller von der Kalte ihres Brudersgegen
Viktor ausgeschlagen - Nur die Pfarrerin war die Pfarrerin, nicht 20
bloB ein Vaterland, sondern ein Liebeatem reihete ihr Herz an sein
Herz, und es war ihr unmoglich, auf ihn zu ziirnen. Sie lkbte ein
Madchen, wenn ers lobte ; ware sie ohne Mann gewesen : so wtirde
sie entweder Liebebrief-Stellerin oder Brief-Tragerin fur ihn ge-
worden sein. - So Heben Weiber: ohne MaB! Oft hassen sie auch
so. - Dazu setzet nun mein Korrespondent noch, daB er aus dem
Baddorfe einen ganzen Zeugenrotul zum Beweise ausziehen
konnte, daB die Pfarrerin nicht bloB allemal, sondern auch am
heutigen Ventos- und Pluvios-Tage es mit ungeschminkter Fas-
sung einer Christin auszuhalten und zu erleben vermochte, wenn 30
eine etwas fallen lieB, eine Tasse oder ein Wort. Zu so etwas -
zur Apathie gegen einen gegenwartigen ganzlichen Verlust eines
Suppen-, eines Spiilnapfes, eines Fruchttellers - ist vielleicht eben-
soviel Gesundheit als Vernunft vonnoten.
- Endlich trat abends der Hof junker ein und sagte, Flamin sei
noch im Garten. Viktor nahm es auf, als sei es ihm gesagt, und
32. HUNDPOSTTAG IOI3
ging hinaus und trug sein beklommenes Herz einem andern ban-
gen entgegen. Flamin fand er in einer uberlaubten Ecke hinauf-
starrend mit den Augen zum Wachsbilde des verstoflenen Ge-
liebten; Viktors Herz ging wie zwischen Tranen schwer in der
ubervollen Brust. Flamins Gesicht war nicht mit dem Panzer des
Zorns, sondern mit dem Leichenschleier des Kummers bedeckt.
Denn hier auf dem Vorgrund einer hellen warmen Jugend,
gleichsam auf dem klassischen Boden der vorigen unersetzlichen
Liebe, wurde er zu weich und zu warm - auf dem Dorfe widerrief
10 er die Harte der Stadt - und was noch mehr war, lauter Freunde
seines Freundes, lauter liebevolle Lobreden auf den verschmahten
Liebling drangten und warmten sein verarmtes Herz, und er
konnte ihn hier noch leichter entschuldigen als entbehren. Viktor
bewillkommte ihn mit der sanften Stimme eines gedruckten Her-
zens, aber dieser sagte alle Gedanken und Worte nur halb. Viktor
schauete tief in die Seele, die um die Freundschaft trauerte; denn
nur ein Herz sieht ein Herz; so sieht nur der groBe Mann grofie
Manner, wie man Berge nur auf Bergen erblickt. Er hielt es daher
fur kein Zeichen des Grolls, da Flamin langsam von ihm weg-
20 ging; aber er muBte, so einsam da gelassen, seine Augen von der
geweihten Erde des Gartens, wo ihre Freundschaft sonst die Blu-
ten gedffnet hatte, und von der Opferlaube, wo er bei seinem
Vater fiir Klotildens und Flamins Verkniipfung gesprochen, und
von der hohen Warte, dem Tabor der freundschaftlichen Ver-
klarung, von alien diesen Begrabmsstatten einer schonern Zeit
muBt' er die Augen abwenden, um die armere zu ertragen. Allein
das, was er nicht anschauen wollte, stellte er sich desto heller vor.
Jetzo dehnte die Gebet- und Abendglocke ihre melanchoHschen
Bebungen aus bis an die Herzen der Menschen - die vergangnen
30 Zeiten schkkten die Tone, und die Abendklagen sanken wie heiBe
Bitten in die getrennten Freunde: »0 sohnet euch aus und gehet
zusammen ! 1st denn das Leben so lang, daB die Menschen ziirnen
diirfen, sind denn der gute Seelen so viele, daB sie einander fliehen
konnen? O diese Tone zogen um viele Aschen-Leichen, um
manches erstarrte Herz voll Liebe, um manchen geschlossenen
Mund voll Grimm, o Vergangliche, liebet, liebet euch!« - Viktor
IOI4 HESPERUS
ging willig (denn er weinte) dem Freunde nach und fand ihn am
Beete stehen, worauf Eymann dessen Namens-F in Kohlrabi-
pflanzeh griinen lie 8, und er schwieg, weil er wuBte, daB zu alien
sympathetischen Kuren geschwiegen werden rauB. O eine solche
schweigende Stunde, wo Freunde wie Fremdlinge nebenein-
ander stehen und mit dem Verstummen das alte ErgieBen ver-
gleichen, hat zu viele Herzstiche und tausend erdriickte Tranen
und statt der Worte die Seufzer !
Viktor, so nahe am Freund, wollte, da unter dem Gelaute seine
schonere Seele, wie Nachtigallen unter Konzerten, immer lauter 10
wurde, von Minute zu Minute an dieses schone edle Gesicht, an
diese zum Versohnkusse geriindeten Lippen fallen - aber er er-
schrak vor der neulichen AbstoBung. Er sah jetzo, wie Flamin ins
Beet immer weiter schritt und die Herzblatter der Kohlrabi lang-
sam umtrat und auseinander quetschte; endlich merkte er, dieses
Zerknirschen des griinenden Namens sei bloB die stumme Sprache
der Trostlosigkeit, die sagen wollte: »Ich hasse mein gequaltes
Ich, und ich mocht' es zermalmen wie meinen Namen hier: fiir
wen soil er?« - Das riB Blut aus Viktors Herzen und weggekehrte
Tranen aus seinem Auge, und er nahm sanft die lang entzogne 20
Hand, um ihn wegzufuhren vom Selbermorde des Namens. Aber
Flamin drehte sein zuckendes Angesicht seitwarts nach dem
wachsernen Schatten seines Freundes und sah, starr abgekriimmt,
hinauf. — »Bester Flamin !« sagte Viktor mit dem geriihrtesten
Laute und driickte die brennende Hand. Da riB sie Flamin aus
seiner heraus und stieB mit den.zwei Handballen die Tranen-
tropfen in die Augen zurlick - und atmete laut - und sagte er-
stickt: »Viktor!« - und wandte sich mit groBen Tranen um und
sagte noch dumpfer: »Liebe mich wieder!« - Und sie stiirzten zu-
sammen, und Viktor antwortete: »Ewig und ewig lieb' ich dich, 30
du hast mkh ja nie beleidigt«, und Flamin stammelte gluhend und
sterbend: »Nimm nur meine Geliebte, und bleibe mein Freund !«
- Viktor konnte lange nicht reden, und ihre Wangen und ihre
Tranen brannten vereinigt aneinander, bis er endlich sagen
konnte : »0 du ! o du ! du edler Mensch ! Aber du irrest dich irgend-
wo ! - Nun verlassen wir uns nicht mehr, nun wollen wir ewig
3 2. HUNDPOSTTAG I O I 5
so bleiben. - Ach wie unaussprechlich werden wir uns einmal
lieben, wenn mein Vater kommt!«
Hier holte sie die vielleicht um beide besorgte Pfarrerin ab,
und Flamin ehrte sie, was er selten tat, in seiner Erweichung mit
einer kindlichen Umarmung; und aus vier verweinten Augen las
sie entzuckt die Erneuerung ihres unverganglichen Bundes.
Nichts beweget den Menschen mehr als der Anblick einer Ver-
sohnung, unsere Schwachen werden nicht zu kostbar durch die
Stunden ihrer Vergebung erkauft, und der Engel, der keinen
10 Zorn empfande, miiBte den Menschen beneiden, der ihn iiber-
windet. - Wenn du vergibst, so ist der Mensch, der in dein Herz
Wunden macht, der Seewurm, der die Muschelschale zerlochert,
welche die OfTnungen mit Perten verschlieBet.
Diese Aussohnung zog gleichsam eine mit dem Gliick nach
sich — der Brumaire- Abend wurde zu einem Floreal-Abend - die
Drillinge a Ben vom g'ebratnen Ruhm der Appel nach - der Pfar-
rer hatte mit keinen Schlusseln weiter zu tun als mit Loseschlus-
seln, den geistigen Musikschlusseln - und das Geburtfest war zu
einem Bundfeste aufgebluhet, zu einem Oppositionklub, wo sich
20 alles, aber in einem hohern Sinne als Quaker und Kaufleute,
Freund nannte. Die Drillinge hielten altbritische Reden, die nur
freie Menschen verstehen konnten. Viktor wunderte sich uber die
allgemeine Freimiitigkeit vor einer so gestachelten SchmeiB-
Mouche, wie Matthieu war — aber die Englander fragten nach
nichts. Der Pfarrer schickte Herzgebete ab und sagte : »er seines
Orts nehme wenig Notiz davon und bitte nur leiser zu haran-
guieren, damit er nicht in den Ruf kame, als ob er pietistische
Konventikel in seiner Pfarre zulieBe; inzwischen steifer sich ganz
auf den Herrn Hofmedikus und Herrn Hof junker, die ihn gegen
30 Fiskalate gewiBlich decken wiirden; sonst wiird* er Frau und
Sohn nicht mit dreinsprechen lassen.« Die Pfarrerin zog die Er-
innerungen an ihr freies Vaterland den besten Verleumdungen
und Moden vor. Viktor muBte heute sein Versprechen halten,
seine republikanische Orthodoxie auBer Zweifel zu setzen; und da
er solches vor unsern Ohren gab, wollen wir auch mit sehen, wie
er es halt und ob er ein Alt-Brite ist.
IOl6 HESPERUS
Er ahmte meistens den Stil nach, den er zuletzt gelesen oder -
wie heute - gehort hatte; daher sprach er in Sentenzen wie der
eine brennend-kalte Englander.
»Kein Staat ist frei, als der sich liebt; das MaB der Vaterland-
liebe ist das MaB der Freiheit. Was ist denn nun diese Freiheit?
Die Geschichte ist der La Morgue-Platz 1 , wo jeder die toten Ver-
wandten seines Herzens sucht: fragt die groBen Toten aus Sparta,
Athen und Rom, was Freiheit ist! Ihre ewigen Festtage - ihre
Spiele - ihre ewigen Kriege - ihre steten Opfer des Vermogens
und Lebens - ihre Verachtung des Reichtums, des Handels und 10
der Handwerker konnen den kameralistischen Landesflor nicht
zum Ziel der Freiheit machen. Aber der konsequente Despot muB
cfen sinnlichen Wohlstand seiner Neger-Pflanzung betreiben. Der
Druck und die Milde, die Ungerechtigkeit und die Tugend eines
Einzelnen machen so wenig den Unterschied zwischen sklavischer
und freier Regierform aus, daB Rom eine Sklavin war unter den
Antoninen, und eine Freie unter dem Sulla*. - Nicht jeder Bund,
sondern der Zweck des Bundes, nicht das Vereinigen unter ge-
meinschaftliche Gesetze, sondern der Inhalt derselben geben der
Seele die Fliigel des Patriotismus; denn sonst ware jede Hansa, 20
jeder Handelsbund ein pythagorischer und zeugte Sparter. Das,
wofur der Mensch Blut und Guter gibt, muB etwas Hoheres als
beides sein ; - eignes Leben und Vermogen zu beschiitzen, hat der
Gute nicht so viel Tapferkeit, als er hat, wenn er fur fremdes
kampft; - die Mutter wagt nichts fur sich und alles fiir das Kind -
kurz nur fiir das Edlere in sich, fiir die Tugend, offnet der Mensch
seine Adern und opfert seinen Geist; nur nennt der christliche
Martyrer diese Tugend Glauben, der wilde Ehre y der republika-
nische Freiheit. - Nehmt zehn Menschen, sperrt sie in zehn ver-
schiedene Inseln: keiner wird den andern (ich habe keine Welt- 30
burger genommen), wenn er ihm auf seinem Kahn begegnet,
lieben oder beschiitzen, sondern ihn bloB wie ein unschuldiges un-
1 Ein vergitterter Platz in Paris, wo man die in derNachtgefundenenToten
ausstellet, damit Jeder Verwandte den seinigen aussuche.
1 GroB ist die Seele, die wie er unter lauter Feinden aller Gewalt entsagt -
groCer ist das Volk, vor dem mans tun durfte. Ein anderes ware den Lausen
Sullas zuvorgekommen.
32. HUNDPOSTTAG IO17
gebildetes Tier unbeschadigt voruberfahren Iassen. Werft sie aber
samtlich auf eine Insel 1 : so werden sie gegenseitige Bedingungen
des Beisammenlebens, des Unterstiitzens u.s.w., d.h. Gesetze
machen - jetzo haben sie oftern GenuB und Gebrauch des Rechts,
folglich ihrer Personlichkeit, die sie von bloBen Mitteln unter-
scheidet, folglich ihrer Freiheit. Vorher auf ihren zehn Inseln
waren sie mehr ungebunden ahfreu Je mehr die Gegenstande ihrer
Gesetze sich veredeln, desto mehr sehen sie, daB das Gesetz den
innern Menschen mehr angehe als der Schutthaufen, den es be-
10 schirmt, das Recht mehr als das Eigentum, und daB der edle
Mensch seine Guter, seine Gerechtsame, sein Leben verfechte,
nicht wegen ihrer Wichtigkeit, sondern wegen seiner Wurde. -
Ich will die Sache von einer andern Seite beschauen, urn den Satz
zu verteidigen, womit ich die Rede anfing. Wenn ein Volk seine
Verfassung hasset: so geht der Zweck seiner Verfassung, d.h.
seine Vereinigung, verloren. Liebe der Verfassung und Liebe fur
seine Mitbiirger als Mitburger ist eins. Ich hole so aus: waren alle
Menschen weise und gut, so waren sie alle einander ahnlich, folg-
lich gewogen. Da das nicht ist: so ersetzt die Natur diese Gute
*° durch Ahnlichkeiten der Triebe, durch Gemeinschaft des Z weeks,
durch Beisammenleben u.s.w. und halt durch diese Bander - der
ehelichen, der Geschwister- und der Freundesliebe - unsere
glatten schlupferigen Herzen zusammen in verschiedenen Entfer-
nungen. So erzieht sie unser Herz zur hohern Warme. Der Staat
gibt ihm eine noch groBere, denn der Burger liebt schon mehr
den Menschen im Burger als der Bruder ihn im Bruder, der Vater
im Sohn. Vaterlandliebe ist nichts als eine eingeschrankte Welt-
biirgerliebe; und die hohere Menschenliebe ist des Weisen groBe
Vaterlandliebe fiir die ganze Erde. In meinen jiingern Jahren war
30 mir oft die Menge der Menschen schmerzlich, weil ich mich un-
vermogend fiihlte, iooo Millionen auf einmal zu Heben; aber das
Herz des Menschen nimmt mehr in sich als sein Kopf, und der
bessere Mensch muBte sich verachten, dessen Arme nur um einen
einzigen Planeten reichten.«...
1 Viktor nahm zu seinem Bunde zehn Personen, vielleicht weil gerade so
viele zu einem Tumulte gehoren. Hommel rhapsod. observat. CCXXV.
1 01 8 HESPERUS
- Jetzo setz* ich wie in einer Komodie nur die Namen der Spie-
ler vor die Anmerkungen. Der kalt-philosophische BaltJiasar:
»Daher muB die ganze Erde einmal ein einziger Staat werden, eine
Universalrepublik; die Philosophic muB Kriege, MenschenhaB,
kurz alle mogliche Widerspriiche mit der Moral so lange guthei Ben,
als es noch zwei Staaten gibt. Es muB einmal einen Nationalkon-
vent der Menschheit geben; die Reiche sind die Munizipalitaten.«
Matthieu: »Jetzt leben wir also erst im men Oktober und ein
wenig im 4ten August.«
Viktor*. »Wir sehen, gleich dem David, den salomonischen 10
Tempel nur in Traumen und die Stifthutte im Wachen; aber die
Philosophic ware jammerlich, die von den Menschen nichts fo-
derte, als was diese bisher ohne Philosophic leisteten. Wir miissen
die Wirklichkeit dem Ideal, aber nicht dieses jener anpassen.«
Der heiB-philosophische Melchior: »Die meisten jetzigen
Bewegungen sind nur Griffe, die ein unter dem Gehirnbohrer
Schlafender nach der blutigen Gehirnhaut tut. - Aber die fallende
Stalaktite der Regentschaft tropfet endlich mit der steigenden
Stalagmite des Volkes zur Saule zusammen.«
Flamin: »Setzen aber nicht Sparter Heloten voraus, Romer 20
und Deutsche Sklaven, und Europaer Neger? - MuB sich nicht
immer das Gluck des Ganzen auf einzelne Opfer griinden, so wie
ein Stand sich dem Ackerbau widmen muB, damit ein anderer
dem Wissen obliege?«
Kato der Altere : »Dann spei* ich aufs Ganze, wenn ich das Opfer
bin, und verachte mich, wenn ich das Ganze bin.«
Balthasari »Besser ists, das Ganze leidet freiwillig eines einzi-
gen Gliedes wegen, als daB dieses wider seine gerechte Stimme
fur das Ganze leide.«
Matthieu: »Fiat justitia et pereat mundus.« 30
Viktor: »Auf deutsch; das groBte physische Obel muB man vor-
ziehen dem kleinsten moralischen, der kleinsten Ungerechtigkeit.«
Melchior 1 »Durch die physische, von der Natur gemachte Un-
gleichheit der Menschen wird irgendeine politische so wenig
entschuldigt als durch Pest der Mord, durch MiBwachs das Korn-
judentum. Sondern umgekehrt muB eben die politische Gleich-
1019
heit das Ersatzmittel der physischen sein. Im despotischen Staat
kann die Aufklarung wie das Wohlleben an InnengehaltgroBer
sein, aber im freien ist sie an AuBengehalt groBer und unter alle
verteilt. Denn Freiheit und Aufklarung erzeugen einander wech-
selseitig.«
Viktor: »Wie Unglaube und Despotic Ihre Behauptung zeigt
den Volkern zwei Wege, einen langsamern, aber gerechtern, und
einen, der beides nicht ist. - Die wilden Eingrifle ins Zifferblatt-
rad der Zeit, das tausend kleine Rader drehen, verriicken es mehr,
io als sie es beschleunigen, oft breehen sie ihm Zahne ab*: hange
dich ans Gewicht des Uhrwerks, das alle Rader treibt; d.h. sei
weise und tugendhaft, dann bist du groB und unschuldig zugleich
und bauest an der Stadt Gottes, ohne den Mortel des Bluts und
ohne die Quader der Totenkopfe.« —
Hier wird diese politische Predigt ausgelautet, unter welcher
Viktor seiner sokratischen Haltung,und MaBigung ungeachtet
doch diese wilden Kopfe zu Freunden des seinigen machte. Dem
einzigen Matthieu war nur um Spott zu tun, auf den er jeden
Ernst zuruckfiihrte, anstatt es umzukehren. Er hatte in einem
20 eigentumlichen Grade jene Unverschamtheit von Stand, gewisse
Torheiten zugleich zu begehen und zu verspotten, gewisse Toren
zugleich zu suchen und zu verachten und gewisse Weise zugleich
zu meiden und zu loben. Wo er nur konnte, bewarf er den gut-
mutigen Fursten von Flachsenfingen mit satirischen Distelkopfen
und zeigte eine Feindseligkeit gegen den Ehemann, die sonst das
Zeichen einer zu groBen Freundschaft gegen die Frau ist. - So
sagte er heute in Beziehung auf Jenners oder Januars Neigungen,
die mit seinem Monats- und Heiligen-Namen abstechen : »Fiir den
heiligen Januarius in Puzzolo 8 war ein Fisch der Doktor Kuhl-
;° pepper.« -
1 Denn es gibt keine groBen Begebenheiten aus kleinen Ursachen, sondern
nur groBe aus i oooooo kleinen Ursachen, wovon man immer die letzte fur
die Mutter der groBen Geburt ausgibt. Ist denn das Ziindpulver die Ladung
des Geschosses?
" Fur diese Statue konnte namlich kein Bildhauer eine zweite Nase machen,
die paftte - denn die erste war abgebrochen -; endlich nach 400 Jahren fand
ein Kind in einern groBen Fische die marmorne, welche anlag. Labats Reisen
jter Teil.
1020 HESPERUS
Ich gesteh' es, ich habe unter dem ganzen Klub wieder den nar-
rischen Gedanken gehabt, den ich mir schon oft, so toll er ist,
nicht aus dem Kopfe schlagen konnte - denn er wird freilich ein
wenig dadurch bestatigt, daB ich wie ein Atheist nicht weiB, wo
ich her bin, und daB ich mit meinem franzosischen Namen Jean
Paul durch die wunderbarsten Zufalle an ein deutsches Schreibe-
pult getrieben wurde, auf dem ich einmal der Welt jene weit-
lauftig berichten will - wie gesagt, ich halt' es selber fur eine
Narrheit, wenn ich mir zuweilen einbilde, es sei moglich, daB ich
etwan — da in der orientalischen Geschichte die Beispiele davon 10
tausendweise da sind - gar ein unbenannter Knasensohn oder
Schachsohn oder etwas Ahnliches ware, das fur den Thron ge-
bildet werde und dem man nur seine edle Geburt verstecke, um
es besser zu erziehen. So etwas nur zu iiberlegen, ist schon Toll-
heit; aber so viel ist doch richtig, daB aus der Universarlhistorie
die Beispiele nicht auszukratzen sind, wo mancher bis in sein
2£stes Jahr — ich bin um zwei Jahr alter - nicht ein Wort davon
wuBte, daB ein asiatischer oder anderer Thron auf ihn warte, wo-
von er nachher, wenn er darauf kam, prachtig herunter regierte.
Setze man aber, ich wurde aus einem Jean ohne Land ein Johann 20
mit Land, so ging* ich sofort aufs Billard und sagte jedem, wen er
vor sich hatte. Ware einer von meinen Landskindern mit da und
stieBe : so wiird' ich ihn dort sofort regieren - und eine Lands-
tochter ohne Bedenken - Ich wurde mit Bedacht verfahren und
nur mit Subjekten aus meiner Billard-Gespannschaft die wichti-
gern Amter besetzen, weil der Regent den kennen muB, den er
voziert, welches er beim Spiel bekanntlich am ersten vermag. -
Ich wiirde meinen Landsassen und alien durch ein Generalregle-
ment auf alle Zeiten strenge befehlen, gliicklich und wohlhabend
zu sein, und wer arm wiirde, den setzte ich zur Strafe auf halben 50
Sold; denn ich denke, wenn ich die Armut so nachdriicklich
untersagte, so wiird' es zuletzt so viel sein, als regierten Saturn
und ich miteinander. - Ich wiirde in meinem Staate nicht, wie ein
Sultan in seinem Harem, physische Stumme und Zwerge begeh-
ren, sondern nach Gelegenheit moralische - Ich gesteh* es, ich
hatte eine eigne Vorliebe fiir Genies und stellte bei alien, sogar
32. HUNDPOSTTAG 1021
beim elendesten Posten die groBten Kopfe an. - Ich wurde mich
vor nichts furchten (Feinde ausgenommen) als vor der Kopf-
wassersucht, vor der ein gekrontes Haupt oder ein infuliertes in
Angsten sein muB, wenn es wie ich in dem Doktor Ludwig oder
auch in Tissot von den Nerven gelesen hat, daBdergleichen durch
starke Binden um den Kopf am ersten entstehe, welches ich noch
mehr von meiner Krone befahre, zumal wenn der Kopf, der hin-
eingetrieben wird, dick ist und sie eng. . .
Wir kommen wieder zur Geschichte. Den andern Tag kehrten
10 Viktor und Flamin, in den schonen, neu angezognen Schlingen
des freundschaftlichen Bundes, nach Flachsenfingen zuruck. Jetzo
konnte Viktor durch Maienthals Himmelpforte eingehen, wenn
Klotilde sie nicht verriegelte. Alles kam auf Emanuels Antwort
an. Die Mailufte wehten, die Maiblumen dufteten, die Maibaume
rauschten. O wie fachte dieses Wehen die Sehnsucht an, alle diese
Seligkeiten in Maienthal zu genieBen und das Einlafiblatt zum
schonsten Konzertsaal der Natur vom Freunde zu bekommen.
Es kam keines; denn es war schon - gekommen durch den Zeidler
Lind aus Kussewitz, der als Feudal-Postilion vom Grafen O an
20 Matthieu gesendet worden und den Weg uber Maienthal genom-
men hatte. Es war von Emanuel:
»Horion!
Komm eher, Geliebter! Eil in unser Edental, das ein Gartensaal
der Natur mit griinenden Wanden zwischen lauter Gangen ist,
die aus dem Himmel in den Himmel laufen..Die blumigen Hchten
Stunden rucken vor dem Auge des Menschen voriiber wie die
Sterne vor dem Sehrohre des Himmelmessers. Blutenschlingen
aus Jelangerjelieber sind dir gelegt und mit Diiften zugedeckt;
und wenn du darin gefangen bist, fassen die aufwallenden Diifte
30 dich mit einer Wolke ein, und unbekannte Arme dringen durch
die Wolke und ziehen dich an drei Herzen voll Liebe! Ich habe
schon Maiblumen aus dem Walde ausgehoben und neben mich
gepflanzt - deine Stadt ist ja auch ein Wald um dich stille Mai-
blume. Ich habe schon zwei Balsaminen und funf Sommerlev-
1022 HESPERUS
kojen versetzt; aber meine erste versetzte Balsamine war Klotilde.
Du siehst, der Fruhling streckt sich mit seinen iippigen treiben-
den Saften aucja durch meine aufknospende Seele, und "der Mai
spaltet an ihr, wie ich jetzt an den Nelken, alle Knospen auf. -
Erscheine, erscheine, eh ich wieder triibe werde, und sage dann dei-
nem Julius, wer der Engel war, der ihm den Brief an mich gereicht.
Emanuel.« ^
Julius hatte wahrscheinlich dabei wieder an jenen anderh Brief
gedacht, den ihm ein bis jetzt unbekannter Engel zum Aufsiegeln
auf diese Pfingsten gegeben - Aber was gehen mich hier Engel «
und Briefe an? Kurier-schreiben will ich jetzt, damit ich das 32ste
Kapitel hinausgemacht habe, eh der Hund mit seinem 33sten
Pfingstkapitel auftritt, das nicht bloB, weil es 32 Kapitel-Ahnen
hat, sondern wegen der wahrscheinlichen AusgieBung eines freu-
digen heiligen Geistes darin, oder wegen eines ganzen Tauben-
flugs von heiligen Geistern, und wegen der historischen Gemalde
darin — und wegen meiner eignen Anstrengung - ein Kapitel
(glaubt man) werden muB, dergleichen in jeder dionysischen
Periode kaum ein halbes und in jeder konstantinopolitanischen
ein ganzes kann geschrieben werden - Der Pfingst-Hundtag kann «
lang ausfallen, aber gut und gottlich - Philippine wird den Bruder
rtitteln und sagen (sie schmeichelt gern) : »Paul ! Paulus war auch
im dritten Himmel, aber so hat er ihn nicht beschrieben in seinen
Briefen an die Romerk - Ich wollte selber, ich konnte meinen
33Sten Hundtag Iesen, bevor ich ihn gemacht.. .
Das Viele, was ich noch mit Wenigem und mit der bisherigen
Eile herzuwerfen habe, 1st laut den Kiirbis-Akten das: Viktor
freuete sich ebenso wie ich auf die Pfingst-Evangelien. Sein Ge-
wissen setzte seinem Genusse nicht das dunnste Speisegelander,
nicht den niedrigsten Weidstein weiter in den Weg, und er konnte 3°
wie eine unschuldige Freude zur geliebten Klotilde gehen und
sagen : nimm mich an. Er tat jetzt die Abschied- und Kranken-
besuche bei Hofe regelmaBig ab und schor sich um kein Wort
voll Hollenstein und um kein Auge voll Basiliskengift. Er ver-
doppelte die schonern Besuche bei Flamin, um dessen edle Ver-
32. HUNDPOSTTAG IO23
sohnung mit einer warmern Freundschaft zu belohnen, und er
druckte auf die vergangne Geschichte und auf den Gegenstand
der Eifersucht das Sekretinsiegel des schonenden Schweigens.
Seine Traume stellten zwar bei ihrem Theater voll Schattenspielen
und Lufterscheinungen Klotildens Gestalt nicht an (gerade die
geliebtesten Gesichter versaget der Traum), aber indem sie ihn
in die alten dunkeln Regenmonate fuhrten, wo er wieder ungluck-
lich und ohne Liebe und ohne die teuerste Seele war, so gaben sie
ihm durch die niedergeregnete Nacht einen hellern Tag, und die
10 verdoppelte Wehmut wurde zur verdoppelten Liebe - Und wenn
er am Morgen nach solchen Traumen vom vergangnen Traum
durch den Maien-Reif neben den xippigen Freudentropfen der
Weinreben und unter dem Morgenwind, der ihn mehr trug als
kiihlte, hinaustrat, um die festen westlichen Walder, die mit
einem griinen Vorhang die Opernbiihne seiner Hoffnung ver-
hingen, wie teure Reliquien mit den sehnenden Augen zu be-
tasten — Ein Rezensent, der sich an meine Stelle setzt, kann mir
unmoglich bei dieser Kiirze der Zeit und auf meiner Extrapost-
kutsche des Phobuswagen (jetzt in den kiirzern Tagen) zumuten,
20 dem langen Vorsatze seinen Nachsati zu geben.
Sogar der steilrechte Klimax des Barometers und das waag-
rechte Stromen des Ostwindes faBten die Segel seiner Hoffnung
an und zogen ihn in das stille Meer der Pfmgst-Zukunft und in
den Kalender von 1793, um zu sehen, ob der Mond zu Pfingsten
voll ware — Beim Himmel, er wirds wenigstens halb, welches noch
viel besser ist, weil man ihn sogleich bei der Hand mitten am Him-
mel hat, wenn man seinen Abend anfangen will. . .
Ich hab's doch durch auBerordentliches Rennen dahin ge-
bracht, daO ich mit dem 32Sten Hundposttage fertig bin, eh Spitz
30 mit seinem Freudenpokal am Halse iiber das indische Meer ge-
setzt ist - Und da ich ohnehin nach der capitulatio perpetua mit
dem Leser (bei der bekanntlich die Fursten- und Stadtebank ins
Gras beiBet) jetzt einen Schalttag machen mufi : so will ich dazu
, die Vakanz des Hundes verwenden; aber ich flehe alle meine Tag-
wdhler und Kunden, die bisher am Springstabe des Zeigefingers
iiber die Schalttage weggesetzt sind, ernsthaft an, es bei diesem
1024 HESPERUS
nicht zu tun, erstlich weil ich erbotig bin, mich erschieBen zu
lassen, wenn ich in diesem Schalttage mein obwohl unter mehren
Regierungen bestatigtes Schalttags-Privilegium, die witzigsten
und tiefsinnigsten Sachen vortragen zu diirfen, nur im get ingsten
exerziere - und zweitens weil der Hund schon am Schalttage in
den Hafen laufen und mir Fakta bringen kann, die ich nicht im
33sten Hundtage auftische, sondern schon am - VIII. Schalttage
oder an der VIII. Sansculotide.
~- Der Inhalt davon ist, gleich der Gegehwart, ein toller Vor-
bericht von der Zukunft. - 10
Ich muB sagen, wenn erstlich Bellarmin (der katholische Vor-
fechter und Kontradiktor) behauptet, jeder Mensch sei sein eigner
Erloser - woraus meines Erachtens folgt, daB er auch seine eigne
Eva und Schlange fur seinen antiken Adam ist - wenn zweitens
die Feder eines auBerordentlich guten Autors eine Lichtputze der
Wahrheit ist, so wie umgekehrt dem Herrn von Moser im Gefang- ,
nis die Lichtputze die Feder war - wenn drittens der Despotismus
statt der lebendigen Baumstamme zuletzt (denn er sagt in die Welt
hinein wie blind) den Thron-Sagebock selber zersagen kann -
ferner muB ich sagen, wenn viertens jede Handlung (sogar die 20
schlimmsten) wie Christus zwei unahnliche Geschlechtregister
hat — wenn vollends funftens ein und der andere Rezensent sein
kritisches Auge, womit er alles besieht, nicht auf dem Scheitel-
Wirbel tragt (wie etwan Muhammeds Selige, um die Schonheiten
nicht zu sehen), noch wie Argus hinten und vornen, sondern
wirklich vornen gleich unter dem Magen iiber dem Gedarm mitten
im Nabel, wenn dieser Mann noch dazu kein anderes Herz besitzt
als das leinene, das die Nahterin unten im Winkel des Hemdjabots
einflickt und das auf der Herzgrube aufliegt, die man gescheuter
die Magengrube nennen sollte - endlich muB ich sagen (wenig- 3<=
stens kann ichs), wenn sechstens wahrer Zusammenhang, strenge
Paragraphen- Verkettung vielleicht die groBte Zierde und Seele
der ungebundnen Rede ist, die aber einem gebundnen Klaviere
gleicht, und wenn daher der Verstand, wie eine epische Hand-
lung, am Ende der (rhetorischen und der Zeit-) Periode anfangen
muB, weil sonst gar keiner daware : . .
32. HUNDPOSTTAG IO25
- Es wird aber auch keiner mehr kommen. - Aber jene vler
Punkte sehen wie die Hasenfdkrte im Schnee aus. - Kurz: der
Spitzhund, unser biographischer Handlanger und Spediteur, liegt
schon unter demTische und hat einige elysische Felder und Him-
melreiche abgeladen. - Da ich ohnehin im obigen nicht ganz
wuBte, was ich haben wollte (ich will nicht gesund vor dem Publi-
kum sitzen, wenn ichs gewuBt): so erwies mir der Hund einen
wahren Liebedienst, daB er dem Perioden den Nachsatz-Schwanz
sozusagen gar abbiB. Es war ohnehin metn Plan, blbB so lahge
10 Hasenspriinge zu machen in einem ellenlangen Perioden, bis der
Hund mir die Angst uber die Zweifelhaftigkeit der Pfingstreise
benommen hatte. - Oberhaupt wollt* ich nie Worte und Gedanken
miteinander aufwenden, sondern diese sparen, wenn ich jene ver^
tat; Peuzer schrieb langst an die Regensburger und Wetzlarer:
viele Gedanken brauchen einen kleinen WortfluB, aber je groBer
der Bach ist, desto kleiner kann das Miihlrad sein. - Einen recht-
schaffenen Rezensenten krankt ein lakonisches Buch auch schon
darum (nicht bloB weil das Publikum es nicht versteht), weil ein
Deutscher ja an den Juristen und Theologen die besten Muster
20 vor sich hat, weitschweifig zu schreiben, und zwar mit einer Weit-
lauftigkeit, die vielleicht - denn der Gedanke ist die Seele, das
Wort der Leib - unter den Worten jene hohere Freundschaft der
Menschen stiftet, die nach Aristoteles darin besteht, daB eine Seele
{ein Gedanke) in mehrern Korpern (Worten) zugleich wohnet. -
- Ich hebe Viktors Vigilie, den heiligen Abend vor Pfingsten,
jetzt an. Es war schon Sonnabend - der Wind ging (wie die Wis-
senschaften) von Morgen - das Quecksilber sprang in der Baro-
meterrohre (wie heute in meinen Nervenrohren) fast oben hin-
aus. - Flamin war friedlich von seinem Freunde am Freitage
jo geschieden und kehrte vor fiinfTagen nicht zuruck.- Viktor will
morgen, am ersten Pfingsttag, vor der Sonne aufbrechen, um am
dritten wieder zuriickzukommen, wenn sie in Amenka aussteigt. -
(Ich wollt', er bliebe langer.) - Es ist ein schoner blatter Montag
in der Seele (jeder blaue Tag ist einer) und eine schone Dispen-
sation von der Trauerzeit des Lebens, wenn man (wie mein Held)
das Gluck hat, an einem heiligen Abend, unter dem Gebetlauten,
1026 HESPERUS
und wenn der Mond schon iiber die Hauser herauf ist, vor den
Aussichten in die schonsten Pfingsttage und in die schonsten
Pfingstgesichter, ruhig und schuldlos in Zeusels Erker zu sitzen,
alle Voressen der Hoffnung anzuschneiden, alle Vorsteckrosen
und Anzeigen des schonsten Morgens zu sammeln und unter den
larmenden Budenvorspielen des Festes den zweiten Teil der Mu-
mien gerade in den Freudensektoren zu lesen, wo ich meinen und
Gustavs Einzug in das himmlische Jerusalem zu Lilienbad ab-
zeichne. — Alles das hatte, wie gesagt, der Held,...
Aber als er, der zwischen seiner Pfingstreise und jener Badreise ic
im Buche so viele Verwandtschaft ausfand, endlich mit seiner be-
wegten Seele an die Zerstorung jenes Jerusalems kam : so sagte
er mit dem ersten traurigen Seufzer fur heute : »0 du gutes Schick-
sal, ein solches Schlachtmesser lege nie am Herzen meiner Klo-
tilde an : ach ich stiirbe, wenn sie so ungliicklich wiirde wie Beate.«
— Und er dachte weiter nach, wie die roten Morgenwolken der
Hoffnung nur schwebender erhohter Regen sind und wie oft der
Schmerz der bittere Kern der Entzuckung ist, gleich dem goldnen
Reichsapfel des deutschen Kaisers, der zwar 3 Mark und 3 Lot
schwer ist, aber innen mit Erde ausgefiillet... *<
Beim Himmel! wir versalzen uns da alle mit Nachtgedanken
den heiligen Abend ohne Not, und es weiB keiner von uns, warum
er so seufzet. - Ich habe ja das ganze Pfingstfest schon kopeilich
vor mir, und es steht kein einziges Ungliick darin, es miiBte denn
Viktor noch einen vierten Pfingsttag als Nachsommer anstoBen,
und in diesem miiBte es etwas absetzen. Ich gestehe es, ich bin
gern asthetischer frere terrible und setze der Welt, die in meine
unsichtbare Mutter-Loge sich hineinlieset, gern den Degen auf
die Brust und dergleichen Streiche mehr - das kommt aber davon,
weil man in der Jugend Werthers Leiden Heset und besitzt, von 3
welchen man, wie ein MeBpriester, ein unblutiges Opfer veran-
staltet, ehe man die Akademie bezieht. Ja wenn ich noch heute
eiruen Roman verfaBte : so wurd' ich - da der blaurockige Werther
an jedem jungen Amoroso und Autor einen Quasichristus hat,
der am Karfreitage eine ahnliche Dornenkrone aufsetzt und an
ein Kreuz steigt - es auch wieder so machen ....
32. HUNDPOSTTAG IO27
- Aber es ist Zeit, da 6 ich mein Maienthal offne und jeden ein-
lasse. Ich will nur nicht langer verheimlichen, daB ich gesonnen
bin, dieses ganze Paphos und Rittergut an den Leser gar zu ver-
schenken, wie Ludwig XI. die Grafschaft Boulogne der hei-
ligen Maria zuwarf. Ich gedenke dadurch vielleicht iiber andere
Schriftsteller, die ihren Lesern nur ihre Kiele bescheren, ebenso
weit vorzustechen als der Konig iiber den alten Lipsius, der der
Maria nur seine silberne Feder vermachte. Anfangs wollt' ich
dieses Elysium mit seinen dreimahtigen Wiesen und Nadelholr
10 zern selber behalten, weil ich im Grunde ein armer Teufel bin und
wirklich nicht mehr einzunehmen habe als ein Prinz von Wurt-
temberg sonst, namlich 90 fl. rhn. Apanage und 10 fl. zu einem
Ehrenkleide, und weil ich mir auf die mir von Gott und Rechts
wegen zustandigen zwei Quadratmeilen Landes - dehn soviel
wirft die ganze Erde bei ihrer gleichen Zerschlagung nach einem
guten Teilplane auf den Mann aus - wahrlich so wenig Rechnung
mache, daB ich die zwei Meilen an jeden gern urn einen elenden
Schaf-Pferch hingeben will. - Und was mich am meisten zuruck-
zog, diese Schenkung unter den Lebendigen mit meinem Maien-
10 thai zu machen, war die Sorge, daB ich ein Feudum Leuten,
Lesern, Landboten, Knasen zuwende, die tausendmal groBere
Woiwodschaften und Schatullgiiter innenhaben und die man
aufbringt, wenn man sie der Maria ahnlich macht, die aus einer
Himmels-Konigin eine Grafin von Boulogne wurde, oder dem
romischen Kaiser, der zugleich am Krontage ein Mitglied des
Marienstifts zu Aachen werden muB. -
Aber was konnen denn alle ihre Majorate - ihre Deutschmeiste-
reien-ihre Afterlehn-und ihre patrimonia Petri (eine Anspielung
au£mein patrimonium Pault) - und ihre gro Bvaterlichen Giiter und
alles ihr auf das Erdenschiff geladne Schiffgut, kurz ihre europa-
ischen Beskzungen auf der Erde, was konnen, sag* ich, diese Hol-
landereien Fur Produkte liefern, die vor den maienthalischen nur
von weitem bestanden? Und wachsen auf ihren Kronengutern
himmelblaue Tage, Abende voll seliger Tranen, Nachte voll
groBer Gedanken? - Nein, Maienthal tragt hohere Blumen, als
die das Vieh abreiBet, schonere Hesperiden-Apfel, als die Obst-
1028 HESPERUS
kammern bewahren, iiberirdische Schatze auf unterirdischen,
Eden-Kompetenzstiicke, wie Klotilde und Emanuel sind, und
alles, was unsre Traume malen und unsre Freudentranen be-
gieBen. —
- Und eben dies entschuldigt mich, wenn ich das maienthalische
Freuden-Tafelgut tausend Mitwerbern abschlage, wenn ich als
dessen Lehnprobst mit diesem schwabischen Schupflehn nicht
belehnen kann solche Leute, die auch zu keinem eigentlichen Feu-
dum taugen, moralische Blinde, Lahme, Minderjahrige, Ver-
schnittene etc. - Und hier muB ich mir viele Feinde machen, wenn 10
ich aus den Vasallen und Mitbelehnten, denen man das Maienthal
mit alien seinen poetischen NutznieBungen zu Lehn gibt, nament-
Hch alte Salbader ausstoBe, die den Rittersprung der Phantasie
nicht mehr tun konnen - 47 Scheerauer und 103 Flachsenfinger,
deren Herzen so kalt sind wie ihre Kniescheiben oder wie Hund-
schnauzen - die groBten Minister und andere GroBe, an denen
wie an grofien gebratnen Fleischklumpen bloB die Mitte noch roh
ist, namlich das Herz - V« Billion Okonomen, Juristen, Kammer-
und Finanzrate und Plus-, d. h. Minusmacher, in denen die Seele,
wie an Adam der Leib, aus einem ErdenkloBe geknetet worden, 2c
die einen Herzbeutel haben, aber kein Herz, Gehirnhaute ohne
Gehirn, Pfifflgkeit ohne Philosophic, die statt des Buchs der Na-
tur nur ihre Manualakten und Steuerbucher lesen - endlich die,
die nicht Feuer genug haben, um vor dem Feuer der Liebe, der
Dichtkunst, der Religion zu entbrennen, die statt weinen greinen
sagen, statt dichten reimen, statt empfinden rasen....
Bin ich denn toll, dafi ich mich hier so erbose, als wenn ich
nicht auf der andern Seite das schonste Leser-Kollegium, das ich
zum primus adquirens des maienthalischen Manner- und Kunkel-
lehns erhebe, vor mir hatte; eine mystische moralische Person, 3 <
die es einsieht, daB der Nutzen nur eine niedrigere Schonheit und
die Schonheit ein hoherer Nutzen 1st? - Es ist alien Empfindungen
eigen (aber nicht den Einsichten), daB man sie nur allein zu haben
glaubt. So halt jeder Jiingling seine Liebe fiir eine auBerordent-
liche Himmelerscheinung, die nur einmal in der Welt sei, wie der
Stern der Liebe, der Abendstern, oft einem Kometen gleichsieht.
33- HUNDPOSTTAG IO29
Aber es wird nicht lauter Flachsenfinger und Hollander geben,
die auf die Alpen steigen, weniger um groBe Gedanken und Er-
hebungeriy als um Sedes 1 zu haben, oder zu SchifFe gehen, nicht um
auf das erhabne Meer den Blick des Dkhters zu werfen, sondern
um die Schwindsucht zu verfahren . . . Sondern es wird uberall in
jedem Marktfleck, auf jeder Insel schone Seelen geben, die der
Natur am Busen ruhen - die die Traume der Liebe achten, wenn
auch sie selber aus ihren eignen wach geworden - die mit rauhen
Menschen umpanzert sind, vor denen sie ihre Idyll en phantasien
10 iiber das zweite Leben und ihre Tranen iiber das erste verhiillen
miissen - die schonere Tage geben, als sie empfangen - diesem
ganzen schonen Bunde mach' ich das verschenkte Feudum von
Maienthal, wovon schon so viel Redens war, endlich auf und gehe
als beleihender Lehnhof mit einigen Freunden und Freundinnen
und meiner Schwester vorn an der Spitze voran hinein.
Nachschrift oder eigenhandige Dispensationbulle. Der Berg-
hauptmann kann nicht leugnen, daB der S. T. Verfasser dieser
Lebensbeschreibung dadurch,daB derHundfaulist,und daB diese
Posttage voluminoser sind, und daB er in diesem Kapitel gar zwei
20 in eines zusammengeschmolzen hat, hinlanglich bei denen ent-
schuldigt ist, die das Recht haben, ihn zu fragen, warum er erst in
der Mitte des Septembers oder Fruktidors den 32sten Posttag hin-
ausgebracht. Vier Monate weit sitzet er noch mit seiner Beschrei-
bung von der Geschichte ab. 1793.
J. p.
Erster Pfingsttag
(3 3 . Hundposttag)
Polizeiordnung der Freude - Kirche - der Abend - die Bliitenhohle
Viktor war am Pfingstmorgen kaum aus seinem Schlafe, obwohl
nicht aus seinen Traumen erwacht: so sagte ihm das Leisereden
30 aller seiner Gedanken, die elysische Stille durch sein ganzes Herz,
1 Nach Scheuchzer sind Alpen die beste Arznei gegen Verstopfung.
IO30 HESPERUS
daB heute seine Sabbatwochen angehen. Ohne Vorwiirfe und Vor-
satie eines Fehltritts, ohne einen Seufzer seines Gewissens ging er
unschuldig der Freude und der Liebe entgegen. Je zarter und
weicher eine Blume der Freude ist, desto reiner muB die Hand
sein, die sie abbricht, und nur tierische Weide vertragt den
Schmutz; so wie diejenigen, die den Kaisertee abpfliicken, sieh
vorher alle grobe Kost versagen, um das gewiirzhafte Laub unbe-
sudelt abzunehmen. - Viktor hatte drauBen kaum Morgenrote
genug, um auf seiner breiten Stundenuhr vom Zeidler Lind die
erste Stunde seines Sabbats zu sehen; aber diese Uhr, der Schritt-
zahler auf dem so schonen Lebenswege des Bienenvaters, und der
Friihgottesdienst der Natur, der in Stille besteht, machten seinen
Vorsatz fester, sein jetziges Leben dem zweiten nach dem Tode
als einen stillen, kiihlen, gestirnten Friihlingmorgen vorauszu-
schicken.
»Bei euch schwor' ich«- sagt* er, als nach und nach immer mehr
Lerchen aus ihrem Tau mit Singen in die Morgen-Hora stiegen -
»ich will, sogar in der Freude, gelassen bleiben ganze dreiBig
Jahre lang in einem fort, wenigstens drei ganze Pfingsttage - ich
will ein Universitat- und Hausfreund, aber nicht ein Werther- :
scher Liebhaber der Freude sein - Handelt nicht der Mensch, als
miiBte sein Lebensteigeine Brticke zusammengeschobener Honig-
waben sein, durch die er mottenartig sich durchzukauen habe, als
waren seine Hande nur zwei Zuckerzangen der Lust? - Ich will
wieder meinen Freuden und meinen Schmerzen den Scherz als
einen Zaum anlegen. Die warmen Tranen der Melancholie, be-
sonders die der Entziickung, eine Art heiBer Dampfe, die starker
treiben und zersetzen als SchieBpulver und papinische Maschinen,
will ich wohl noch vergieBen, aber vorher ein wenig kiihlen. -
Und wenn ich Klotilde nicht jeden Vormittag ansichtig werde: =
so will ich bloB sagen : ein Mensch kann nicht immer im dritten
Himmel sein, er muB auch zuweilen im ersten ubernachten.« —
Er hat vielleicht mehr Recht als Kraft; aber es ist wahr, die Ge-
sundheit des Herzens entfernet sich gleich weit von hysterischen
Zuckungen und von phlegmatischer Erstarrung, und die Ent-
ziickung grenzet naher an den Schmerz als die Ruhe. Aber keine
33- HUNDPOSTTAG IO31
' Ruhe und Kalte ist>etwas wert als die erworbene - der Mensch muB
der Leidenschaften zugleich fdkig und mdchtig sein. Die Ober-
stromungen des Willens gleichen denen der Flusse, die alle Brun-
nen eine Zeitlang verunreinigen; nehmet ihr aber die Fliisse weg,
so sind die Brunnen auch fort. -
Das Morgenrot deckte eine feme Sonne nach der andern zu;
und als endlich die nahe aufgegangen war oder vielmehr die Na-
tur : so konnte Viktor - sehen und lesen und mein Werk (die be-
kannten Mumien) aus der Tasche ziehen. Ein Buch war fur ihn in
10 der treibenden freien Natur eine Gartenschere seiner uppig auf-
schieBenden Traume und Freuden, Dieser mit einem ganzen
Friihling prangende Morgen, dieses Schimmern auf alien Bachen,
dieses Summen aus Bluten in Bliiten, dieses hangende blaue Meer,
wortiber die Sonne wie ein Bucentauro schifTte, um auf den Meer-
grurid der Erde den Vermahlungring zu werfen, eine solche Ge-
genwart wurde neben einer solchen Zukunft schon in der dritten
Stunde ihm die Kraft genomnien haben, seiner neuen Staatver-
fassung zufolge iiber seine Wonne zu regieren und immer soviel
Ruhe zu bewahren, als zur Mittettinte zwischen einem entziickten
20 und einem truben Tage notig ist - ich sage, er wiirde das nicht
vermocht haben ohne seinen Lebensbeschreiber, ich meine, wenn
er nicht mein Buch vorgenommen hatte, in dessen zweiten Teile
er noch den Schulmeister Wut^ zu lesen hatte. Aber dieses ge-
lehrte Werk setzte — getrau* ich mir ohne Eigendunkel zu schmei-
cheln - seiner Entziickung die ordentlichen Grenzen. Denn so -
indem er lesend ging (wie andere, z. B. Rousseau und ich, lesend
essen und bald aus dem Teller, bald aus dem Buche einen Bissen
nehmen) - indem er dem Leben des Schulmeisters so lange zu-
schauete, bis ein neues Tal aufging oder ein neues Waldchen -
30 indem er bald diesem abgedruckten Kantoi*, bald einem lebenden
zuhorchte, vor dessen Pflngstliedern er vorbeiging: so konnte er
seine Ideen bei alien ihren Rondos und Rosselsprungen in einer
solchen schonen Ballordnung und Kirchenzucht erhalten, daB er
so gliicklich war als der gelesene Wutz. Ich schrie ihm noch dazu
in einem fort aus meinen Mumien zu, gescheit zu sein und auf
mein Schulmeisterlein als einen Flugelmann der Freudenhand-
IO32 HESPERUS
griffe achtzugeben und jeden Tag, jede Stunde aus^ukernen. »Ich
bin ohnehin verdammt,« (sagt* er) »wenn ichs nichttue: ist denn
nicht, du guter Gott, schon das Gefiihl des Daseins ein stehendes
Vergniigen und der erste siiBe ImbiB nach jedem Erwachen?« -
Er dachte zwar daran, daB die Kultur uns Brillen gebe und dafiir
die Zungenwarzchen nehme und uns die Freuden durch bessere
Definitionen derselben vergiite (so wie der Seidenwurm als Raupe
Geschmack, aber keine Augen, und als Schmetterling Augen ohne
jenen hat), er gestand sich zwar zu, er habe zu viel Verstand, um
soviel Vergniigen zu haben wie der Auenthaler Schulmann Wutz, 10
und er philosophiere dazu zu tief; aber er bestand auch darauf :
»eine hohere Weisheit miisse doch (weil sonst der Allweise der
Allungliickliche sein miiBte) wieder aus dem schwiilen Horsaal-
Parterre den Weg in ein Blumenparterre finden. Hohe Menschen
tragen wie die Berge den siiBesten Honig.«...
Ob er gleich schon im letzten Dorfe, gleichsam der Vorstadt
von Maienthal, auslauten horte: so erziirnte er sich doch nicht
iiber die Verspatung des Eintritts. Ja um sich selber zu zeigen, er
sei der Philosoph Sokrates, schritt er mit FleiB trager fort und
libierte nicht wie der Athener den Freudenbecher, sondern fiillte 20
ihn gar noch nicht. »Werde immer«, sagt' er zu einem aus Lilien-
Samenstaub zusammengelaufenen Wolkchen, »vor mir friiher
iiber die Guten geweht, du Wolkensaule vor dem gelobten Land!
— Und dein kleiner Schatten silhouettiere ihnen den festern, der
trager nachkdmmt und den das Himmelblau spater einsaugt!« -
Und eh' ihn der herumgekrummte FuBsteig vor das mit Blumen
behangne Tor des Tals stellte, worin die geliebte Wiege und
Baumschule seiner schonen dreitagigen Zukunft stand; so hielt
ihn noch eine zugeknopfte Distel auf, um deren versiegelte Honig-
gefaBe ein weiBer Schmetterling seine dritte Parallele zog - und 3c
die musivischen Disteln auf Le Bauts Diele traten vor ihm ins
Leben und zeigten ihm die Stacheln der Vergangenheit; da fand
er es jetzt unbegreif lich, wie er seine Schmerzen ertragen konnen,
und leichter, den Freudenhimmel zu tragen
Er zog Linds Uhr heraus, um die Geburtstunde seiner Honig-
und Flitterzeit zu wissen - gerade um 1 1 Uhr trat er vor das nette
33- HUNDPOSTTAG IO33
Dorf, vor das Treibhaus seines Himmels, vor die Pflanzstadt sei-
ner HofFnung, vor Eden .... Ach das sauselnde, in Lauben ver-
wachsene Dorfchen schien alle seine bliihenden Zweige als Arme
um ihn zu legen und ihn an sich zu stricken ; es war grim und weiB
und rot - nicht angestrichen, sondern uberlaubt und uberbliiht.
Und als er unter dem Auslauten - um sich die Umarmung seines
Emanuels geizig aufzusparen, und um den maienthalischen Kir-
chengesang mit einem von der Natur geoffneten Herzen zu be-
schleichen - in das lange saubere Dorfchen sich stahl und den
10 Freundschaftzoll auf eine Minute bei Emanuels Hause umfuhr:
so war ihm, als wenn sein stillfrohes Herz sich in den stillen Gassen
mit den Vogeln auf den die Fensterscheiben vergitternden Kir-
schenzweigen wiegte und mit den Bienen in den Kirschenbliiten
schwankte. »Komm nur herein, « (schien alles zu sagen) »du guter
Mensch, wir sind alle gliicklich, und du sollst es auch werden.« -
Er trat an die blanke Kirche, deren blendende Obertunchung dem
Himmelblau durch den Abstich ein erhabenes Dunkel zuwarf,
und sein pochendes Herz zitterte gliicklich mit der wogenden
Orgel darin und mit der vor dem Kirchtore raschelnden einge-
20 rammten Birke und mit dem trocknen, vom Morgenwind gebeug-
ten Maienbaum mitten im Dorfe....
»Aber«, sagt mein Leser, »konnte denn sein Auge so lange die
schonern Prospekte und sein Herz die geliebtere Schonheit ent-
raten und statt der Abtei nur die Kirche aufsuchen?« - O er sah zu
allererst nach jener, und sein Auge lief zitternd um alle Fenster
seines Sonnentempels; aber da er daran alle offen und leer und
alle Vorhange aufgezogen antraf: so vermutete er, daB die scho-
nen Konklavistinnen desselben und darunter die Konklavistin
seiner Brust da waren, wo er sie suchte — und fand : im Tempel.
30 Er stieg unter dem Heruntertraben der Kirchganger ungehort
hinauf in die auBen leer scheinende adelige Frontloge, dieses
Blumengestell der Stift-Nonnen. Es war heute nichts darin als
entfallne Birkenblatter; denn die samtlichen Nonnen und die
Abtissin und Klotilde standen - unten in der Kirche und faBten
den Altar mit einem Chor von singenden Engeln ein und emp-
fingen daran das AbendmahL - Mit einem Freudenschauer blickte
1034 HESPERUS
er die Konigin seines Himmels an, die so teuer Geliebte und so
Unverdiente, den glanzenden Engel, der seine Hiille aus Erden-
schnee mit der himmlischen Warme zu Tranen zerschmilzt, urn
bald unsichtbar zu werden. — Sein Geist bog sich, als sie kniete:
»Himmelfrieden trinke« (sagt* er) »aus dem Ordenkelch des gro-
Ben Menschen, unter dessen Gedanken keine Wolke und kein
Seufzer war — o der Gedanke, den du jetzo mit so fester Andacht
anschauestj musse immer leuchtender und unbeweglich wie eine
Sonne werden -und immer ein warmes Abendlicht iiber die nriide
Seele werfen!« - Dieser Engel im Trauerkleide zog in seinem In- 10
nern durch eine Totenauferweckung alle Tugenden seines Le-
bens und alle Fehle.r desselben herauf und gab jenen einen Him-
mel und diesen ihre Holle; daher war ef jetzt zu heilig, um eine
Heilige zu storen durch seine Erscheinung, wenn anders ihr
ruhendes, nur in fromme Riihrungen eingesenktes Auge, das
nicht einmal auf die nahern frommen Schonheiten zur Hohen-
messung der Taille fiel, sich bis zu ihm hatte versteigen konnen.
Die Birke am ersten Fenster der Empor nahm er als belaubten
Facher vor; - dieser griine, an seinen Wangen spielende Schleier
bedeckte seine Aufmerksamkeit und seine Freudentranen vor der 20
ganzen Kirche. Der Ort, wo er so gliicklich war, schien, nach
einer Glas-Inschrift zu urteilen, sonst der gewohnliche Stand Klo-
tildens gewesen zu sein; denn Giulias ihrer war darneben, wie ich
gewiB weiB, weil auf dem Logenfenster ein von einem Kranz um-
fafites Gund K eingeschnitten war mit denWorten von Giulia:
»So vereinen uns die Blumen des Lebens und der Zirkel der Ewig-
keit.«...
Viktor schlich ungesehen und fruh sich aus dieser Bilderblinde
weggestellter Gottinnen fort und trug das von der Liebe gefiillte
Herz an die offne Brust der Freundschaft - an Emanuel. Er sah 30
schon dessen Stifthutte im Tempel der Natur - als seine Ent-
ziickung aufgeschoben wurde durch eine friihere. Julius lag im
bliihenden Grase, von dessen Wellen bespiilt, und hielt einen Kir-
schenzweig voll offner Honigkelche in der Hand, um die Bienen
an sich zu Ziehen und sich an ihrem summenden Schweben iiber
den Bliiten zu belustigen. Viktor umschlang ihn und vergaB in
33- HUNDPOSTTAG IO35
der Entziickung, seinen Namen zu nennen -»Bist du mein Engel?«
sagte er. - »Ich bin nur dein Viktor !« - »0 komm, o komm!«
sagte der Blinde, wie ein Wohllaut bebend, und zog den Freund
zu Emanuels Haus; aber er fuhrte ihn, hinter der Wolke seiner
Augen, den langern Weg und drehte sich noch dazu bei jedem
vierten Schritte um zu einer erneuerten Umschlingung.
Als sie ans Wasserrad kamen, das seine GieBkannen laut auf
die Blumensaaten ausschuttete und dessen zersplitterte BHtze an
den Fenstern und an der Stubendecke Emanuels flatterten: so
10 sagte der Blinde: »Umfasse mich noch einmal recht sehr.« - Aber
unter dem Getose der Regengiisse und unter der Betaubung der
Liebe wurden sie von andern Armen als den ihrigen zusammen-
gedriickt, und die zwei jungen Herzen wurden an ein drittes an-
gereiht, und der Indier schauete wie ein Gott der Liebe zwischen
sie und sagte : »0 ihr guten Jiinglinge, bleibet immer so und wei-
net fort in eurer seligen Liebe! - Sei gesegnet, mein Horion, sei
willkommen im groBen Fruhling um uns her !« - Und als Emanuel
und Viktor aneinandersanken, so war es, als ob alle Blumenbeete
sich vor Wonne niederbogen, als ob alle Wogen Hchter flammten
20 unter dariiberfliegenden iiberirdischen Blitzen, als ob die Zephyre
von Seufzern der Liebe anschwollen, als ob hohere Wesen im
freudigen UbermaBe fliistern muBten: o, ihr guten Menschen, ihr
liebet ja wie wir! -
Ein Arm aus einem Paradiesesflusse trug diese Hebende Drei-
einigkeit hebend in die iibergriinten Zimmer, und hier sah erst
Viktor, daB der Fruhling auf Dahores Wangen war und der Som-
mer in seinen Augen, so wie zwolf Wonnemonate in seinem Her-
zen. Die weifien Trauerrosen auf seinen Wangen, die immer als
Mauerkronen des Todes dem Johannistage entgegenzubliihen
30 schienen, waren den roten gewichen — kurz Emanuels Gestalt gab
die Hoffnung, daB er iiber seinen Tod ein falscher Prophet ge-
wesen sei. —
In diesem wehenden Zimmer, dessen goldne Wandleisten Lin-
denaste und dessen Prachttapeten Lindenblattern waren, und iiber
dessen Tiir als Turgemalde der Widerschein und die Nebenson-
nen des schimmernden Wasserrades zitterten, in diesem vom
IO36 HESPERUS
Freudenmeere der Natur umbrauseten Eiland von Zimmer, durch
dessen offne Fenster die Zephyre Schmetterlinge und Bienen iiber
die Fensterblumen in die Linden warfen, gingen meinem Helden,
dem noch dazu das Mittaggelaute wie ein Gelaute zu einem Frie-
denfeste der Erde vorkam, die Blumen der Freude, worin er wa-
tete, bis an das Herz. - Emanuels Poesie klang ihm in dieser epi-
schen Berauschung wie Prose; er war gleichsam eingesunken in
ein Blumengebusch und erblickte oben daruber einen genesenen
Unsterblichen, der die Blutenuberhiillung auseinanderbog - und
noch hoher eine ewige Pfingstsonne im endlosen Blau - und naher i
das SprieBen des Blumenlaubes und das Bienengewimmel dar-
uber - und eine goldne Morgenrote als Einfassunggewachs rund
um die ganze bunte rauchende Waldung geschlungen —
— Beim Himmel! nur in einer unfigur lichen solchen Blumen-
holzung zu liegen, ware schon etwas — geschweige gar in einer
metaphorischenl — Viktor war fromm aus Freude, aus Oberful-
lung still, aus Dankbarkeit geniigsam. Der Anblick des gemein-
schaftlichen Lehrers gab zwar Klotildens Bilde warmere Farben
und seiner Seele hohere Flammen, aber seinen Wunschen keine
Unersattlichkeit und keine Ungeduld. 20
Emanuel sprach sogleich von dieser geliebten Schulerin; gar
nicht als ob Klotilde ihm den dritten Osterfeiertag klar erzahlt
oder als ob Emanuel ihn erraten hatte, sondern dieser unschuldige
Mensch wuBte nur den Unterschied zwischen Liebe und Freund-
schaft nicht, und er hatte so gut von sich als von Viktor gesagt, er
liebe sie. Und eben diese kindliche Unbefangenheit, die einer off-
nen weiblichen Herzenskammer keine Durchganggerechtigkeit,
keine Breschen ablauerte, sondern die eignen entbloBte, und die
keine Gestandnisse erangelte, keine verargte, keine benutzte, diese
muBte mit dem gordischen Nervenknoten der Sympathie die 30
scheueste weibliche Seele an eine so ofFne mannliche binden. Ja,
ich glaube, Klotilde hatte ihre Liebe leichter ihrem Lehrer als
ihrem Geliebten bekannt. - Da ihm dieser Emanuel nun erzahlte,
wie er ihr alle Szenen seines vorigen Hierseins vorgemalet habe -
und alle seine Entziickungen - und sein Gestandnis der Freund-
schaft fur sie — wie er ihr seine Briefe vorgelesen und wie der
33* HUNDPOSTTAG IO37
zweite (jener trostlose in der Nacht des Stamitzischen Konzerts)
so vieleTranen in ihre Augen getrieben -und da Viktor sah, wie
sehr sein Freund ihre Liebe wie einen zugehenden Tulpenkelch
auseinandergehaucht habe: so fachte dieses seine Liebe fur sie,
seine Freundschaft fur'ihn bis zur Andacht an, und er kiiBte selig
verlegen den Blinden. Aus dieser verdoppelten Liebe erklart' er
sich jetzt Klotildens leichte Einwilligung in seine Piingstreise.
Er hatt* es fiir einen Engels- und Petrus-Abfall von der Freund-
schaft gehalten, bei Emanuel nicht geradezu anzufragen, wann er
10 diese Geliebte - der Tugend sehen diirfe. »Jetzt!« sagte dieser, der
ungeachtet seiner indischen achtenden Milde gegen die Weiber
die Nasenringe, Bindeschlussel und Dampfer unserer Harams-
Dezenz nicht kannte. Aber Viktor handelte anders und dachte
doch ebenso. Er hatte schon im Auslande gefragt: »Warum laBt
man die elende Reichspolizeiordnung fur Madchen stehen, dafi
sie z. B. nicht einzeln, sondern immer wie Niirnberger Juden unter
dem MeBgeleite einer Alten oder wie die Monche paarweise aus-
wandeln miissen? Nicht etwan als ob mich dies beschwerte, wenn
ich einen Roman spielte, aber doch, wenn ich einen schriebe, wo
20 ich mich an das weibliche Marschreglement auf Kosten des kunst-
richterlichen halten und ein Geleite von Auxiliar-Weibern durchs
ganze Buch mit mir zum Verhack meiner Heldin herumschleppen
wurde. MuBt' ich nicht, wenn ich sie nur iiber die Haustiire hin-
aushaben wollte, mit einer Kronwache von Siegelbewahrerinnen
neben ihr herziehen? War* ich nicht durch diese verdammte Mit-
belehnschaft und Kompagniehandlung mit der Tugend - es fehlte
an einer Proprehandlung - genotigt, meiner Heldin wider alle
Wahrscheinlichkeit Freundinnen aufzuheften? Ich wiird' es zwar
einem spanischen Madchen verdenken, wenn sie mir ihren FuB,
30 und einem tiirkischen, wenn sie ihr Gesicht vorwiese, und einem
deutschen, wenn es allein zum besten Jtingling ginge; aber eben
weil die tollsten blauen Geset^ die doch blauer Dunst an blauen
Montagen werden, zum wahren Sittengesetze fiir sie werden: so
arger' ich mich iiber die jammerliche Kleinherzigkeit und wiinsche
nichts verboten zu sehen als das - Walzen und Fallen.«. . . Er hat
hier vielleicht Satire in petto; denn ernsthaft davon zu sprechen,
IO38 HESPERUS
hat diese Heils-Ordnung, da8 sich Madchen bei uns allemal wie
Gesuche bei Fiirsten in Duplikaten einreichen mussen, offenbar
die Absicht, sie alle aneinander zu gewohnen, weil sie ihre Freund-
schaft haben miissen zu Besuchen - zweitens sollen Geschwister
einander aus den Haaren kommen, weil sie nicht wissen, wenn sie
einander bediirfen zu Ruckbiirgen ihrer Tugend und zu Sekunda-
wechseln der Liebe - drittens geben diese Menschensatzungen der
weiblkhen Tugend durch den kleinen Sitten-Dienst (weil groBe
Versuchungen zu selten sind) tagliches Religion-Exerzitium und
hohere Wichtigkeit und verhalten sich wie die Talmudischen Ar- 10
tikel zur Bibel, wiewohl ein rechter Jude lieber gegen die Bibel als
den Talmud verstoBt - viertes verdanken wir diesen symbolischen
Biichern des Wohlstandes die fruhere Bildung des weiblichen
Scharfsinns, dem wir leider keine andern Gelegenheiten der Auf-
merksamkeit verschafTen, als die der Schwur auf jene Biicher gibt.
Viktor tadelte und befolgte zugleich, wie ein gutes Madchen,
die weiblichen Ordenregeln; der Hof hatte ihn beherzter, aber
auch feiner gemacht, und unter den Weibern wurd* er wie jeder
mit dem Linienblatt des Zeremoniells versohnt. Daher wollt' er
erst am zweiten Pfingsttage sein ordentliches Gesandtenauffahren 20
bei der Abtissin abtun, da heute alles zu spat war und er uberdies
in die schonen frommen Bewegungen driiben nicht wie ein Haar-
stern fahren wollte. Und seine Zufriedenheit sagte ihm ja auch,
wie wenig die Nachbarschaft eines geliebten Herzens verschieden
ist von der Gegenwart desselben, die ohnehin nichts ist als bloB
eine nahere Nachbarschaft.
Inzwischen uberwand er sich doch so weit, daB er mit seinen
Zwillingbriidern des Herzens - hinausging ins Kolosseum der
Natur, ob er gleich sich nicht verbarg, drauBen werd' er den
Schrecken haben, Klotilden zu begegnen. Und Emanuel ver- 30
ringerte diese Sorge schlecht, da er ihm gestand, sie sei bisher alle
Tage mit ihrem verwundeten Leben um die Teiche wie um ma-
gnetische Heil-Wannen und durch die Flur wie durch Feldapo-
theken gegangen. - Eilet endlich hinaus,ihr drei guten Menschen,
ins Jubilaum des Fruhlings, das die Erde jahrlich zum Andenken
der Schopfung begeht. Eilet, eh* die Minuten auf eurem Leben,
33- HUNDPOSTTAG IO39
wie die breiten Wellen auf den zwei Bachen, jetzo noch fliehend
und schillernd und tonend, zerspringen und ausloschen an einer
Tranerweide - eilet, eh' die Blumen eurer Tage und die Blumen
der Wiese von dem Abende iiberzogen werden, wo sie statt der
Lebens- und Feuerluft nur giftige verhauchen - und genieBet den
ersten Pflngsttag, eh' er verrinnt!
- Und er ist verronnen, und ein Sommer liegt heute schon wie
ein Grab auf ihm; aber die drei lieben Menschen haben geeilt und
ihn genossen, eh' er sich entfarbte .... Sie wandelten unter die aus
10 alien Gestrauchen fliegenden Zephyre hinein, welche die Sae-
maschinen der Blumen sind - sie traten vor die fiinf Taschen-
spiegel der Sonne, vor die Teiche, da die Fliisse Pfeilerspiegel
sind und die bunten Ufer die Spiegeltische - sie sahen, wie die
Natur gleich Christus ihre Wunder verbirgt, aber sie sahen auch
die Brautfackel des vermahlenden Maies, die Sonne, und eine
Hochzeitkammer in jedem singenden Gipfel und ein Brautbett in
jedem Blumenkelch - sie, die Hochzeitgaste der Erde, schlugen die
Biene nicht weg, die um sie honigtrunken taumelte, und trieben
die atzende Mutter nicht auf, vor der der junge Vogel mit zittern-
20 den Fliigeln zerfloB - und als sie auf alle Erdenstufen des ewigen
Tempels, dessen Saulen MilchstraBen sind, gestiegen waren: so
sank die Sonne, wie die Gedanken des Menschen, einer andern
Welt entgegen ....
Der Springbrunnen im Garten des Endes x y der mitten auf dem
Abhange des sudlichen Berges sich emporrichtet und hoch uber
den Berg wegschimmert, trug schon auf seiner kristallnen dunnen
Saule einen von der Abendsonne zu einem Rubin umgegossenen
Schaft, und diese glimmende aufgeblatterte Rose zog sich wie
andere entschlafende Blumen schon zu einer roten Spitze ein -
30 und die hangenden Marschsaulen der Miicken im letzten Strahle
schienen zu sagen : morgen wird es wieder schon, geht zuriick,
ach ihr spielt doch Ianger in der Sonne als wir. -
1 So hiel5 der Park der Abtei,den der Lord Horion in seinem romantischen
Geschmack anfangen, aber nicht vollehden lassen, weil er auf die Insel der
Vereiniguhg fiel. Ich webe die Beschreibung davon nur stiickweise in die
Begebenheiten ein.
IO4O HESPERUS
Sie gingen zuriick; aber als Viktor im Abend die funf hohen
weiBeri Saulen am westlichen Ende des geliebten Gartens blinken
sah : wurde sein erhohtes Herz sehnsiichtig und beklommen, und
er wehrte ihm nicht, zu seufzen : »Gute Klotilde ! ach ich mochte
wohl dich heute noch sehen, mein Herz ist voll Freudentranen
iiber diesen heiligen Tag, und ich mochte es wohl ausschiitten vor
dir.« - Und als der ganze Park der Abtei sich stolz neben den
Abendhimmel stellte und in ihre Herzen trat: sagte auf einmal
Emanuel — der sich immer gleich blieb, sogar in seinen Ent-
ziickungen -: »Ich will es der Abtissin schon heute sagen, damit 10
Klotilde sich auf morgen freut«, und er trennte sich.... Schoner
Mensch! der du in vier Wochen aus diesem Blumenfruhling zu
gehen hoffst in die Sterne iiber dir - du denkst mehr die Unsterb-
lichkeit als den Tod, dich hat keine drohende Rechtglaubigkeit,
sondern die indische Blumenlehre erzogen, darum bist du so
selig; du bist ohne Zorn, wie jeder Sterbende, und ohne Gier und
ohne Angst; in deiner Seele, wie am Pole, wenn jeden Morgen die
schwiile Sonne ausbleibt, geht der Mond der iweiten Welt den
ganzen Tag, die ganze Nacht nicht unter! -
Viktor fiihrte allein den Blinden nach Haus, und beide schwie- 20
gen und umarmten sich mit Brudertranen hinter jeder Verhiillung
und fragten einander weder um die Ursachen der Umarmung
noch der Tranen. Da sie durchs stille Dorf waren und dem Park
der Abtei vorbeikamen : sah Viktor seinen Emanuel aus der letz-
ten Laube in das blendende Kloster treten. Es war ihm, als kennte
ihn schon jede darin, als miiBt' er sich verstecken. Der Garten der
Begeisterung sollte in dem Tale nur das Blumenbeet in einer Wiese
sein und nicht durch grelle Schranken an der Natur zuriickprallen,
sondern sanft wie ein Traum insWachen durch bliihende, belaubte
Grenzen in sieiiberhangen und iiberflieBen durch Hopfengarten, 5 o
durch griine, dicht zusammengeriickte Zaune um Fruchtfelder und
durch versaete Kindergartchen. Eine weite Kastanien-Saulenreihe,
von zwei Bachen in Silber gefasset, schloB sich frei und weit
gegen die funf von Bliiten durchbrochenen Teiche auf. Der nord-
Hche Berg richtete sich dem Parke gegenxiber wie eine Terrasse
empor und fiihrte das Eden scheinbar iiber ungesehene Taler fort.
33" HUNDPOSTTAG 1041
Viktor wich jedem aufgehenden Fenster des Klosters durch die
Kastanien aus, unter die er seinen Blinden fiihrte und hinter denen
er naher und doch unbeobachtet beobachten konnte. Auf dem aus
griinenden Dachlatten verwachsenen Wetterdach der Allee lag der
Abend, wie ein Herbst, mit rotem durchfallenden Schimmer. Er
ging trotz der Gefahr der Ertappung bis in die Mitte, wo die
Allee in zwei Arme zerspringt; aber hier wahlte er den rechten
Arm der belaubten Halle, der sich mit ihm vom Kloster wegbog,
so wie von einer Nachtigall, die mitten im Garten aus einer ge-
10 heiligten Dornhecke ihre Jungen und ihre Tone aussandte. Der
Baumgang.tat ihm durch die sanften Entfernungen von den Bra-
vourarien der gefiederten Primadonna die Dienste einesDampfers
und Lautenzugs - leise wurd' er von den Kriimmungen, die die
allmahlkheVerdunkelung und Verengerung der Allee verbargen,
fortgezogen zwischen den nachfliegenden Tonen der Nachtigall,
zwischen den dunner durch die Blatter tropfenden Abend-
strahlen, zwischen den zwei Bachen, die jetzt innerhalb der Kasta-
niengasse dahinschliipften. - Die Bache gingen enger aneinander
und lieBen nur fur die Liebe Raum, - Der Portikus senkte sich
*° defer herein. - Die zerstreuten Blumen der zwei Ufer drangten
sich zusammen und gingen in Gestrauche uber. - Die Gestrauche
verwuchsen zur Gartenwand und beriihrten sich anfangs in lose
und durchsichtig zuhangenden Gipfeln und endlich in finster zu-
sammengestrickten. - Und die Allee und der unter ihr aufge-
wachsene Laubengang grunten ineinander hinein, um mit ihren
zusammenfallenden Blutenhiillen nur eine einzige Nacht zu
machen. - Dann versperrte in der griinen Dammerung ein Je-
langerjeliebergespinst und Blutengeniste die Laube, aber fiinf auf-
steigende Stufen lockten zum ZerreiBen des bliihenden Vorhangs
30 an. Und wenn man ihn zerteilte : sank man in ein Bliitengekluft,
in eine enge durchwachsene Gruft, gleichsam in einen vergroBer-
ten Blumenkelch. In dieser delphischen Hohle der Traume war
der Polster aus hohem Grase gemacht und die Arme des Sitzes
aus Bliitenzweigen und die Riickenlehne aus gedrangten Blumen
und die Luft aus dem Hauche von staubendem Zwergobst. Dieses
Blumen-Allerheiligste wurde nur von Bienen und Traumen be-
I O42 HESPERUS
wohnt, nur von weiBen Bliiten erhellt, es hatte statt des Abend-
rots nur den Purpur der Nachtviole, statt des Himmelblaues nur
den, Azur der Holunderbliite, und der Selige darin wurde nur von
Bienenfliigeln und von den um ihn versammelten funf Miindun-
gen der Bache in den Schlummer eingesungen, in welchem die
feme Nachtigall die Harmonika- und Abendglocken des Traumes
anschlug ....
— Und da heute Viktor neben dem Blinden die funf Stufen be-
trat und die aus Bliiten gewobene Tapetentur des Himmels aus-
einandertat: siehe! da - o der Selige diesseits des Todes! - ruhte 10
darin eine Heilige mit weinenden Augen, in Philomelens ver-
klungne Klagen untergesunken . . . Du, Klotilde, warst es und
dachtest an ihn mit weicherer Seele und mit groBerer Liebe - und
er an dich mit der erwiderten ! O wenn zwei liebende Menschen
einander in der namlichen Running begegnen : dann erst achten
sie das menschliche Herz. und seine Liebe und sein Gliick! -
Decke, Klotilde, mit keiner Bliite die Tranen zu, unter denen
deine Wangen erroten, weil sie nur vor der Einsamkeit nieder-
fallen sollten! Zittere, aber nur vor Freude, wie die Sonne zittert,
wenn sie aus einer Wo Ike am Horizont herausriickt! Schlage dein 20
von Blumen verhangnes Auge noch mcht nieder, das zum ersten-
mal so ruhig geoffnet und mit einem solchen Strom der Liebe an
den Menschen sinkt, der dein schones Herz verdient, und der alle
deine Tugenden mit seinen belohnt! . . . . Viktor wurde vom Blitze
der Freude getroffen und muBte im siiBen Lacheln der Entziik-
kung erstarren, da die Geliebte hinter dem Blumengewolk wie ein
Mond hinter einem in voller Bliite stehenden Eden aufging und
in der weiblichen Verklarung der Liebe einem in ein Gebet zer-
floBnen Engel glich.
Der BHnde wuBte noch nichts vom dritten Begliickten. Sie be- 30
wegte suBverwirrt die Hand nach einem zu diinnen Zweige, um
sich von der tiefen Grasbank aufzuheben; dem Geliebten war, als
reiche ihm aus den Wolken des zweiten Lebens diese Hand ein
zweites Herz, und er zog die Hand zu sich an und sank mit seinem
stummen iiberflieBenden Angesicht durch die Bliiten auf ihre
klopfenden Adern nieder. Aber kaum hatte Klotilde beide stam-
33* HUNDPOSTTAG IO43
melnd willkommen geheiBen unter dem Heraustreten aus dem
griinen Klosett: so erschien ihnen der Engel - Emanuel, der aus
dem Kloster geeilet war, um die Freundin aufzusuchen. Er sagte
nichts, aber er sah beide mit einer namenlosen Wonne an, um zu
finden, ob sie sich recht' freueten, und gleichsam um zu fragen :
»Seid ihr denn jetzt nicht recht gliicklich, ihr Guten, liebt ihr euch
denn nicht unaussprechlich?« — O, zum Mitleiden gehort nur ein
Mensch, aber zur Mitfreude ein Engel; es gibt nichts Schoneres
als den glanzenden Christuskopf, auf welchem das Weglegen der
io Mosisdecke den stillen frohen Anteil an fremden unbescholtenen
Freuden, an fremder reiner Liebe zeigt; und es ist ebenso gottlich
(oder noch mehr), einer fremden Liebe mit einem stumm-gluck-
wunschenden Herzen zuzuschauen, als sie selber zu haben....
Emanuel, dein groBeres Lob wird in verwandten Seelen aufbe-
halten, aber auf keinem Papier! -
Auf dem Kreuzwege der Allee teilte sich der schone Bund aus-
e.inander, und der linke Zweig derselben fiihrte Klotilde neben der
Nachtigall vorbei in die Wohnung der sanften Herzen zuriick.
Viktor kam, von der vergroBerten Liebe fur drei Menschen zu-
20 gleich aufgeloset, in den dunkeln, nur von untergehenden Ster-
nen erleuchteten Zimmern Emanuels an und fand da einen ge-
deckten Tisch, den die feine Abtissin dem Gaste oder dem Wirte
gesendet hatte (well Emanuel abends nur Obst genoB). Man will
alles mit der Geliebten teilen, sogar die Kiiche. Emanuel ziindete
nach Ostern kein Licht mehr an. Im Helldunkel, aus Mondsilber
und Lindengrun zusammengegossen, bliihte das selige Kleeblatt
unter dem Abendstern. Viktor machte heute durch seine arzt-
lichen Schilderungen der Nachtkalte den siechen Freund abtriin-
nig von den Nachtwandlungen und ging nur allein mit dem Blin-
30 den noch hinaus an die Schlafstatte der verstummten Natur...
Selig ist der Abend, der der Vorhof eines seligen Morgens ist.
Der Maifrost hatte die Sterne vom warmen Dunsthauch gereinigt
und das Blau des Halbhimmels vertieft, um eine schone Nacht
zum Biirgen eines schonen Tages zu machen. .Alles schwieg urns
Dorfchen, ausgenommen die Nachtigall im Garten und die rau-
schenden Maikafer, diese Herolde eines hellen Tages. - Und als
1044 HESPERUS
Viktor nach Hause ging mit einem emporgeseufzeten Dank fur
diese Pfingststunden, von denen jede der andern die Zuckerstreu-
biichse gab, um die engen Minuten eines stillen Menschen zu ver-
siiBen; als er vorbeiging vor den gedampften Beichtliedern, die
hier ein zwolf jahriger Mensch, der morgen das Abendmahl nahm,
dort einer neben seiner Mutter sang ; und als endlich ein verhauch-
tes Abendlied aus der Abtei, das gleichsam auf einem einzigen
Lautenton fortschwamm, den schonen Tag mit einem Schwanen-
gesang zu Ende fiihrte, und da vom sanften Tage nichts mehr
ubrig war als dessen Nachhall im Herzen des Glucklichen und im i°
Abendliede des Klosters, als dessen Widerschein in der ziehenden
Abendrote am Himmel und in dem befriedigten, noch lachelnden
Angesicht des schlafenden Emanuels: so sahen in Viktor die
stummen Freuden wie Gebete aus, die ungestorten Tranen wie
iiberlaufende Tropfen aus dem Freudenkelch, seine Stille wie eine
gute Tat und sein ganzes Herz wie die warme Freudenzahre eines
hohern- Genius.
Viktor fiihrte den blinden Geliebten Ieise an seine Lagerstelle,
wo der Traum seine zerriitteten Augen herstellte und ihnen die
kleinen Landschaften seiner Kindheit mit Morgenfarben heller um ao
sie stellte. — Er selber legte sich unentkleidet, dem tief herabge-
riickten Monde gegeniiber, auf die Baustelle unserer schonern
Luftschlosser, auf den Resonanzboden der Kindheit, wo der
Morgentraum den geheiligten Menschen aus der Wiiste des Tages
auf den Berg Mosis fiihrt und ihn schauen laBt in das dunkle ge-
lobte Land der Ewigkeit
Der erste Pfingsttag, Heber Leser, hat in diesem Wonne-Drei-
klang verhallt; aber in diesen drei hohen Festen von Freude wird,
wie bei denen im Kalender, das zweite noch schoner, und das
dritte am schonsten. Ich werde mit dem Steigen meiner Feder 3 o
durch diese drei Himmel gar nicht eilen - ja wenn ich gewiB
wissen konnte, daB die handelnden Personen in dieser Geschichte
mein Werk nie zu sehen bekamen, ich wiirde (zur Grenzenver-
ruckung dieses Edens) gar manches dazumachen, was, naher be-
sehen, nicht historisch wahr ware. -
34- HUNDPOSTTAG IO45
ZWEITER PfINGSTTAG
(34. Hundposttag)
Der Morgen - die Abtissin - der Wasserspiegel - stummer InjurienprozeB -
der Regen und der offne Himmel
Um zwei Uhr zog der Morgenwind lauter und kiihler durch
Viktors offnes Zimmer und riittelte schon Tautropfen von ge-
glattetem Laub, das nahe Blatter-Gefiuster wirbelte sich durch
seine Ohren in seine Traume. Die Lerche fuhr als Ouvertiire des
Tages hoch ins Himmelgrau hinauf und lautete das Trommeten-
10 fest des Morgens ein. Dieser Wecker wurde durch sein Traumen
zum umherfliegenden Nachhall, das sich mit dem Morgen ver-
mischte; unter dem sanften Einfallen des nachbarlichen Getones
schloB er langsam die Augen auf und traumte weiter und tat sie
wieder zu und erwachte mehr, und der Schlaf fuhr nicht wie ein
dickes Leichentuch aus Nacht hinweg, sondern wallete wie ein
Schleier aus Morgenduft empor, und seine Seele schloB sich, ohne
eine einzige Bewegung mit dem Korper zu machen, mit dem stil-
len Erwachen eines Blumenkelchs vor dem Morgen ausein-
ander ....
io — Jetzt bin ich schon wieder im Sieden und Flammen - und
doch nehm* ich mir, sooft ich eintunke, vor, die Kunstrichter zu
gewinnen und mit meiner Feder zu schreiben wie mit einem Eis-
zapfen. Aber es ist mir unmoglich - erstlich weil ich in die Jahre
komme. Bei den meisten Menschen hort zwar wie bei den Vogeln
das Singen mit der Liebe auf; aber bei denen, die ihren Kopf zu
einem Treibhaus ihrer Ideen machen, geben die Jahre, d.h. die
Exerziertage darin, der Phantasie wie den Leidenschaften einen
hohern Wuchs. Dichter gleichen dem Glase, das im Alter bei dem
Zerfallen bunte Farben annnimmt. — Aber zweitens, wenn ich
jo auch erst in meinem zwanzigsten Jahre bliihete: so konnt* ich
doch jetzo nicht frostig schreiben, maBen der Winter vor der Tiir
ist. Rousseau sagt, im Stockhause brachte er das beste Gedicht
auf die Freiheit heraus - daher die staatsgefangenen Franzosen
sonst bessere Prosa daruber schrieben als die freiern Briten - da-
IO46 HESPERUS
her dichtete Milton im Winter. Ich nahm oft im Sommer meine
Schreibtafel hinaus und wollte ihn an dieses Silhouettenbrett an-
pressen und dann abschatten; aber die Phantasie kann nur Ver-
gangenheit und Zukunft unter ihr Kopierpapier legen, und jede
Gegenwart schrankt ihre Schopfung ein - so wie das von Rosen
destillierte Wasser nach den alten Naturforschern gerade zur Zeit
der Rosenbliite seine Kraft einbiiBet. Daher muBt' ich allemal
warten, bis ich untreu wurde, eh' ich mit meinem ReiBzeug an die
Liebe gehen konnte .... Hingegen ein Mensch, der jetzt auf einer
molukkischen Insel gegen den Nachsommer hin den Fruhling 1
grundiert und auszeichnet, muB ihn aus den vorigen Griinden und
noch aus dem neuen, weil der fliegende Sommer der sehnen-er-
regende Nachklang und die Silberhochzeit des Fruhlings ist, mit
viel zu hellen Saftfarben den Galerleinspektoren einhandigen. —
Die bunt ausgenahete Beschreibung von Viktors Aufenthalt
in Maienthal kann so lang werden wie die von Voltairens seinem
in Paris, mit deren Ehrensolde der magere SpaBvogel den Miet-
zins seiner chambres garnies hatte bestreiten konnen. Denn eben
hat der Hund gar einen vierten Pfingsttag abgeliefert und die tri-
nomische Wurzel der Freudenpotenz zu einer quadrinomischen 2
ausgebreitet. Da in dieser Freuden-Quadruplik wiederum kein
Jammer stent, kein Mord, keine Landplage, sondern nichts als
Gutes: so fang' ich freudig die ubrigen Bilder dieses Fruhlings in
meiner dunkeln Kammer auf und schwebe nicht in der Angst, daB
ich meinen Helden (Knef hat mir alle Pfingsttage ubermacht und
sendet nur ein kleines Erganzblatt gar nach), wie etwan meinen
Gustav y aus dem zusammengesturzten Schutt seines Lust- und
Sommerhauses zu ziehen habe. -
Emanuel tat vormittags sein Schreibtagwerk in seinen astro-
nomischen Tabellen ab, um den ganzen Nachmittag mit seinem 3
Gaste bei der Abtissin zu verbringen; auch trug er ihm eine kleine
Mitarbeiterstelle bei seinen Blumen an, namlich die Rosmarin-
bluten auszupflucken und uber das Nelkengestell den Sonnen-
schirm zu spannen. Bei Emanuel hingen auch in der prosaischen
Ruhe des Tages immer die Fliigel noch weit unter den Halb-
flugeldecken hervor. Viktor hielt die Bitten seines Lehrers fur
34* HUNDPOSTTAG IO47
Geschenke. Da er draufien am Rosmarin abblattete: so offnete
die aufgehende Sonne das Ventile des Windes, und dann fingen,
von ihm angeweht, alle Register der groBen Wesen-Orgel zu
gehen an, und vor seinem Ohre wogte der Tremulant der Bache,
schrie das Flotenwerk der Vogel und brauste das zweiunddreiflig-
fuBige Pedalregister der Waldungen. Ein eingepfarrter kleiner
Kopf um den andern, der seine zwolf Jahre samt ebensoviel Her-
kules-Arbeiten des Gedachtnisses zum heiligen Abendmahl trug,
schlich hinter dem Vater mit einem Kranz-Knauf und iiberhaupt
10 mit Goldflittern gestickt und aufgesteift vor ihm voriiber. Wel-
chen schonen zweiten Pfingsttag, der sonst voll Regenwolken ist,
habt ihr Kleinen jetzt! -Viktor gonnte recht gern der Grandezza
des Dorfes, d. h. den Vollspannern und dem Schulmeisters-Sohne,
den Haarformer und Zopfprediger Meuseler, der am zweiten
Pfingsttag die benachbarten Dorfer frisierte, und der mit seinem
Puder-Weihwedel die letzte PfingstausgieBung auf die kleinen
Kopfe betrieb, die der Pfarrer schon sechs Wochen einge-
feuchtet hatte. Viktors Herz schlug vor Freude, als wenn er ein
Kind mit darunter hatte oder eins ware, als die bunte gepuderte
20 Wesenkette mit hiipfenden Flittern, mit hochstammigen Blumen-
strauBern, mit schwarzgleiBenden geistlichen Musenalmanachs,
vor dem Kommando- und Hirtenstab ihrer zwei Konsuln, sin-
gend und besungen und eingelautet und angeblasen durchs Kir-
chen-Siegtor einzog. - Ach! Kindern steht die Freude noch scho-
ner wie uns, so wie ein ungliickliches, ein bettelndes, dem das
Schicksal das erste Kindergartchen zertritt, und vor dessen Augen
beim ersten Aufschlagen ins Sein nichts hangt als schwarzes un-
gestaltetes Morgengewolk, unser Herz betriibter macht als der
Vater desselben neben ihm. -
30 »Beeret jede Minute eures ersten Triumphtages ab, ihr guten
Kinder, und ich wollte, die Predigt wiirde recht lang, damit ihr
den schonen Anzug langer anbehieltet!« sagte Viktor und sah sich
nach dem Kloster um, dessen Fenster voll unkenntlicher Zu-
schauerinnen waren; er setzte sich vor, bei der Riickkehr der
Kinder-Prozession sich unter den Fenstern das mit dem schon-
sten Inhalt auszusuchen durch ein Taschenperspektiv. - Gehe
IO48 HESPERUS
nur, menschenfreundlicher Mensch, der die schonen Seelen liebt
wie die schone Natur und die kalten ertragt wie die Winterge-
gend, und der sich nie racht, gehe nur an den Bachen auf und ab,
weil da der FuBsteig der Fischer ist, und weil du auf deinen dich-
terischen Ringrennen keinem Bauern nur einen Zwieselwagen
voll Heu, wie ihn die Kinder aus Haselruten flechten, niedertre-
ten willst! Fiille den Zwischenraum zwischen dem ersten und dem
dritten Himmel, wo du mittags nicht mit Abraham, sondern mit
deiner Klotilde am Tische der Abtissin sitzest, mit einem zweiten,
namlich mit dem Umarmen der ganzen Natur, die nie holder in "
die Seele hineinschauet, als wenn auf ihr nicht weit von der Seele
eine - Geliebte wohnt! -
Ein Wandelgang zwischen zwei zusammenblitzenden Bachen
und zwischen ihren Iackierten, von Schaumwurmern beschneieten
Weiden iiberzog das ganze Innere bis auf jeden Winkel einer
dunkeln Trane mit Morgenglanz. - Noch dazu schauete Viktor
immer uber die Wiese hinauf zu Emanuels offnem Fenster und
HeB sich ein Lacheln von ihm wie eine laufende Welle voll Licht
herunterwehen. - Noch dazu blieb er nicht da, sondern ging zwei-
mal hinauf und storte ihn mitten in seinem Schreiben durch ein 20
kindliches Umfassen. - Noch dazu legt* er seinen Augen Meilen-
stiefel an und lief uber die ganze, sich hier baumende, dort sich
biickende, hier leuchtende, dort schattende Landschaft, um eine
Post- und Reisekarte zu den schonsten Stellen fiir die Nachmittag-
Spaziergange mit Klotilden schon hier voraus aufzunehmen und
zu leimen, weil nachmittags die Entziickungen vielleicht die Wahl
der Entziickungen verfalschen ! - Und so schuf die Natur in sei-
nem Geiste ihren Morgen und ihren Fruhling noch einmal aus
dem ErdenkloB des ersten Friihlings, d.h. aus der heiBen Sonne,
aus dem kxihlen Bache, aus dem Schmetterling, den der Mai aus 30
der Hiilse schalte, aus den bunten Miicken, welche die gebarende
Erde aus dem Larvensamen wie fliegende Bliimchen hervortrieb.
- Da schloB er unter dem Spatzen- und Schwalbengetobe im
Dorfe und unter dem Feldgeschrei der Lerchen und vor den
blendenden Wellen der Bache die Augen zu und HeB seine Seele
in das klingende Meer und in das vom Augenlid gemalte Hell-
34* HUNDPOSTTAG IO49
dunkel untertauchen; aber dann ware sein Herz erdriickt worden
von der Schopfungflut, die iiber dasselbe ging aus alien Rohren
und Betten und Miindungen des Lebens urn ihn, aus dem ver-
strickten Geader des Lebensstroms, der zugleich durch Blumen-
rinnen, durch Baumgassen, durch weiBe Miickenadern, durch
rote Blutrohren und durch Menschennerven schieBt . . . . er ware
Freuden-ohnmachtig ertrunken im tiefen weiten Lebens- Ozean,
den Lebensstrome durchkreuzen und nachfullen, hatt' er nicht
wie jener Ertrunkne ein Glockengelaute in die Wellen hinunter
10 gehort,...
Kurz - die Kirche war aus, und er muBte hinter einen Blatter-
Jagdschirm gehen, urn, wenn die kleinen Abendmahls-Panisten
aus der nachorgelnden Kirche und unter dem nachtrompetenden
Turm vorbeizogen, dann mit dem Taschenperspektiv zuzu-
schauen, wer zuschaue aus dem Kloster. Klotildens Angesicht
schwebte, wie durch Magie vorgerufen aus der zweiten Welt,
dicht am Glase, und er konnte unvertrieben seine Schmetterling-
flugel um diese Blume schlagen; er konnte frei in ihre groBen
Augen wie in zwei mit Tauglanz gefullte Blumenkelche sinken.
20 Er sah nie einen so reinen Schnee des Augapfels um die blaue
Himmeloffnung, die weit in die schonere Seele ging; und wenn
sie das Auge in den Garten niederschlug, stand das groBe ver-
hiillende Augenlid mit seinen zitternden Wimpern ebenso schon
dariiber wie eine Lilie tiber einer Quelle. Die Liebe fangt sich, wie
das Zeichnen und der keimende Mensch, beim Auge an. - Da die
Kinder voriiber waren: so wandte Klotilde ihr Angesicht lang-
sam und frei gegen Emanuels Laubhutte und schauete mit dem
weiten sehnsuchtigen Blicke der Liebe heruber....
Und mit einer solchen Liebe, die wie ein Herz in seinem Ich
30 pochte, kam Viktor samt seinen zwei Freunden droben im Kloster
an. Die Abtissin (ihr Name wird mir gar nicht berichtet, nicht
einmal ein falscher) empfing ihn mit einem hohen Air, das ihr
Stand nicht gegeben, sondern gemildert hatte. Ihre Seele wurde
gekront geboren. Die ** Fiirstin, deren Oberhofmeisterin sie war,
spielte zuweilen gern das Kind (Kinder erwidern es umgekehrt
und reprasentieren ihre Reprasentanten) : aber ob sie gleich einen
IO5O HESPERUS
dreiBigjahrigen Stolz besaB, so fiel sie doch ihrem Steckenpferd
in den Zugel, sobald die monarchische Oberhofmeisterin erschien,
die im ganzen Lande (die Schwanen ausgenommen) den Kopf am
meisten zuriickbog. Eine Frau wie diese, deren BHcke Thronin-
signien und deren Worte mandata sacrae caesareae majestatis pro-
pria waren, hatte aus den Handen der Natur selber die Huldigung-
miinze und das Throngeruste, um ihren Reichsapfel gegen die
Schbnheitapfel junger Madchen abzuwagen - eine solche konnte
die Klotilden beherrschen und formen. Ihre Seele war von drei
Meistern gemalt: der Hintergrund von der Welt - der Vor- :
grund von der Kirche - der Mittelgrund von der Tugend. Ihre
aszetischen Bestandteile setzten sie auf eine sonderbare Weise in
einige Wahl-Verwandtschaft mit Emanuels indischen. -
Ich kenne nichts Riihrenders und Schdneres als die weibliche
Verbeugung aus jener tiefen Achtung, mit der gute Madchen ihre
Liebe allein zu sagen wagen. - Gliicklicher Viktor ! deine Klotilde
empfing dich mit so vieler Achtung wie ihren Lehrer. Nur die
Kokette wird durch die Liebe befehlhaberischer (ein kieselstei-
nernes Juristenwort!); aber die Stolze wird dadurch bescheiden
und sanft. - Nie aB er froher als in diesem hellen LustschloB, vor :
dessen offnen Fenstern ein blauer Horizont und naher brausende
und mit Musik besetzte Alleen ruhten, als in dieser geputzten
Orangerie aufbliihender Madchen, anstatt daB ein Gymnasium
eine Menagerie ist, und ein Schwesternhaus eine Voliere. - Vik-
tor, der Weiber noch besser zu lenken verstand als Manner, war
im arbeitenden Ameisenhaufen dieser lebhaften Madchen so ge-
sund wie in einem Ameisenbad und war ein zweiter Bienenvater
Wildau, der sich aus dem Immenschwarm bald einen Bart zu-
sammensetzte, bald einen Muff. Es gehort mehr mannlicher Ver-
stand zu einef gewissen feinen Galanterie, als die haben, die sie in - :
ihren Satiren mit der faden vermengen; so wie nur Gebirge den
suBesten Honig darbieten. Der Ernst muB den Scherz grundieren,
die Achtung und das Wohlwollen das Lob. Viktor konnte leichter
vor zwei als vor 32 weiblichen Augen in Verlegenheit geraten,
welche letzte iibrigens der grobste Donatschnitzer und Germanis-
mus in der weiblichen Grammatik ist. Er hatt* es langst gelernt,
34-HUNDPOSTTAG IO51
die flilchtigen Sake des weiblichen Witzes mit denjixen des mann-
Hchen zu binden, so wie die- Kunst, in grofien Zirkeln jede Seele,
jede Raiipe auf das rechte Nahrblatt zu setzen.
Fur ihn, der einmal gesagt: »Ich wollte, ich hatte wenigstens
viermal des Jahrs mit Damen zu konversieren, bei denen man so
viel Tournure anbringen miiBte, daB man gar nicht wiiBte, was
man wollte, und die fein bis zum Unsinn waren« - fur ihn war
eine hohe Dame wie die Abtissin, die man seit dem Niederlegen
ihres Oberhofmeistertums ein klein, klein wenig mit einer Prezi-
10 osen verwechseln konnte, ein wahres Labsal; denn er konnte ihr
doch die physiognomischen Fragmente vom Hofe mit tausend
Wendungen, d.h. ein Vollgesicht durch/wn/Punkte vorzeichnen.
Aber er hatte dabei die noch edlere Absicht, seine anbetende Auf-
merksamkeit, sein zuweilen in Gestalt einer Trane ins Auge tre-
tendes Herz von seiner geliebten Klotilde wegzurufen, um ihr
eine ganz andere Aufmerksairrkeit zu ersparen als die seinige. Auf
eine sonderbare Weise zog immer gerade sein satirisches Gefuhl
seinen ernsten Gefiihlen, seiner erweichten Seele die Mosis-Decke
ab - er schamte sich namlich keiner Trane, bloB weil er wuBte,
20 daB ihn seine Laune gegen den Verdacht der Obertreibung und
gegen den Spotter beschiitzen konnte; so wie wieder umgekehrt
sein schillernder Witz unter Tranen, wie Phosphor unter Wasser,
sein Licht aufbehielt und nahrte. -
Zum Gluck machte jetzt Emanuel, der mitten unter dem Essen
in den Garten gegangen war, da er wiederkam, den Antrag eines
Spazierganges. Denn in seiner Seele standen nur groBe Ideen noch
vom Leben iibrig, wie vom alten Agypten nur Tempel, keine
Hauser nachblieben; und seine Unwissenheit in kleinen Dingen
muB kleinen Dtngern lacherlich sein. — Die Abtissin hatte Klotilde
30 als Unterkonigin der feurigen Nonnen neben sich auf den Thron
genommen. Viktor stellte mit seiner einzigen Person das kurmar-
kische Pupillenkollegium unter diesen flatternden Grazien vor.
Klotilde ubergab den Blinden gerade einem ganzen Tauben-
Fluge der lebhaftesten Wegweiserinnen, weil sie alle um das
Bootmanns- und Zeigefinger-Amt beim Blinden warben; sie lieb-
ten ihn alle wegen seiner himmlischen Schonheit, aber (da er
IO52 HESPERUS
die ihrige nicht sah) nur so, wie sie einen schonen Knaben von
funf Jahren herzen.... Zu einer andern Zeit wiirde Viktor sich
gewiB umgesehen und fein angespielet haben, daB die Schonhett
die Blindheit ftihre; aber heute sah er sich nur um aus andern
Grunden.
— Endlich war die Insel der Seligen, die schon durch den Nebel
seiner Kindertraume weit, weit vorgeschimmert hatte, jetzo der
Boden unter seinen FiiBen, und er machte die Entdeckreisen
durch seinen Himmel - er und Klotilde schwiegen einige Minuten,
weil ihre Herzen sanft vor Freude zu wallen anfingen, daB sie end- »
lich allein nebeneinander und vor der groBen Esplanade des
Fruhlings standen. Unter dem seligen Lacheln, dem stummen
Buchstaben der Wonne, und unter zitternden Atemziigen, dieser
heiligen Sankritsprache der Liebe, waren sie schon am ersten Tei-
che, iiber dessen Kristallspiegel sich eine Briicke wie vergoldetes
Laubwerk schlangelt. - Sie stockten in der Mitte dieser glatten
Mond- und Spiegelscheibe geblendet, weil der Sonnenschirm nicht
gegen zwei Sonnen auf einmal, die imWasser dazu gerechnet, dek-
ken konnte; sie kehrten sich halb um und suchten mit den Blicken
im malenden Wasser das tiefere Himmelblau und zwei stille be- 30
gliickte Gestalten auf, dieeinander mit ihren feuchten Augen an-
blickten. O sein Auge ruhte warm in ihrem widergestrahlten, wie
die Sonne in der unterirdischen Sonne, und sein zitternder Blick
wurde das lange Beben und Aushalten eines einzigen Tons; denn
die im Wasser wohnende Gottin sank mit ihren Augen seiner
Seele entgegen, weil sie die verdoppelte Entfernung seiner Ge-
stalt benutzen wollte, die sich auf 10 FuB belief. - Um endlich
das ubermachtige Entzucken zu schliefien, fiihrt' er seine Augen
weg von dieser Glasmalerei und richtete sie (d.h. er verdoppelte
es bloB) an das Urbild selber; und das Ineinanderrinnen der 30
Blicke, das Zusammenzittern der Seelen warf in den engen Augen-
blick die Gefilde eines langen Himmels. - Und sie sahen, daB sie
sich gefunden hatten und daB sie sich geliebt hatten und daB sie
sich verdienten. Unter dem Weitergehen konnte Viktor nur sa-
gen: »0 mochten Sie so unaussprechlich gliicklich sein wie ich
heute.« - Und sie antwortete leise, wie ein unter weiche blatter-
34« HUNDPOSTTAG IO53
lose Bliiten verhauchter Zephyr so leise: »Ich bin es wohl.«....
Ach ich habe mir oft es vorgemalt, wenn wir uns alle einander so
liebten wie zwei Liebende, wenn die Bewegungen aller Seelen,
wie bei diesen, gebundne Noten waren, wenn die Natur uns alien
zugleich den Nachklang ihres bis uber die Sterne reichenden
Saitenbezuges ablockte, anstatt daB sie nur ein liebendes Paar wie
ein Doppelklavier bewegt - dann wiirden wir sehen, daB ein
Menschenherz voll Liebe ein unermeBliches Eden einschlosse,
und daB die Gottheit selber eine Welt erschuf, um eine zu lieben.-
10 Aber ich will wieder so schreiben, wie Klotilde sprach, die den
dichterischen Geist nur durch Taten, nicht durch Worte ofFen-
barte, gleich Schauspielern, die den Reim und das SilbenmaB
ihres Dichters im Sprechen zu umgehen wissen.
Das Dorf oder das Wirtshaus vielmehr gab ihrer Himmelleiter
eine vierte Sprosse, den vierten Pfingsttag. - Der Englander Kato
der Altere fuhr heraus, der aus Kussewitz mit einem wandernden
Orchester Prager Virtuosen von seiner Gesellschaft weggelaufen
war, urn das Maienthal auch zu sehen. Er konnte nie in seinem
Leben auf etwas warteh. Er sagte zu Viktor, morgen komm* er
20 zu ihm, heute beschau* er die besaeten Prospekte, und er passe mit
der Ouverture der Prager nur auf das Auslauten der Vesperpre-
digt. Endlich sagt' er ihm, daB Flamin und Matthieu ubermorgen
verreiseten und wieder zuriickgingen nach Kussewitz und folg-
Hch da langer verweilten, als sie gewollt. Diese Gegenwart des
Englandes und die spatere Zuriickkehr des Eifersiichtigen machte
auf einmal den letzten Willen in Viktor fest, auch den vierten
Pfingsttag als die vierte Saite auf dieses Freuden-Tetrachord auf-
zuziehen. Und da an diesem vierten Tage gerade das durch alle
Heftlein dieses Buchs laufende Ratsel mit dem Engel in die Ent-
30 zifferkanzlei der Zeit getragen wird, weil Julius den Brief desselben
Klotilden zum Vorlesen xibergibt: so konnt* er sich weis-
machen, er bleibe bloB deshalb, und zu sich sagen: »Wunders-
halber sollte mans doch abwarten, was es mit dem Engel fur eine
Bewandtnis habe.« - Guter Held! du vermengst jeden Engel mit
deinem, und ich wuBte nicht, warum nicht!...
Jetzo lief ein Wolkenschatten liber sie, gleichsam als Vorlaufer
1054 HESPERUS
eines dunklern, der ihre Seelen suchte. Denn Viktor, der vor ei-
nem schonen Herzen niemals seines versperren konnte, der in der
Heiligung der Liebe alle Verstellung verschmahte, erzahlte Klo-
tilden mit jener Herzlichkeit, die sich so leicht mit Feinheit ver-
mahlen laBt, die Ursachen von Matthieus Reise, namlich seine
eigne kleine Torheit in Kussewitz, wo er der Furstin das ge-
schriebene billet doux mitgab. Er hatt' ihr auch ohnedas diese Er-
ofTnung machen miissen, um der fremden eines Anklagers vorzu-
bauen. Aber er setzte bei Klotilde voreilig die Zeitrechnung seiner
kleinen Jahrbiicher voraus und merkte nicht an, daB er das Billet 10
geschrieben, eK er wuBte, daB Klotilde nicht Flamins Geliebte^
sondern nur dessen Schwester sei 1 . Sie schwieg lange. Er befurch-
tete diese Pantomime des Zurnens; und wagt* es nicht, sich davon
zu uberzeugen durch einen BHck in ihr Angesicht. Endlich bat sie
ihn an ihrem Lieblings-Grunplatz, wo in der groBten Vertiefung
des Tals gruner Schatten seine gemalten Zweige im Sonnen- und
Wasserscheine wiegt, da bat sie ihn weder mit kalter noch stolzer
Stimme, sondern mit einer fast geriihrten, sie ein wenig auf ihrer
Lieblings-Grasbank, deren Seitenlehnen groBe Blumen waren,
ausruhen zu lassen. Als er vor ihr stand : so erblickte er erschrocken zo
in ihrem beseelten Angesicht - nicht einen mit der Hoflichkeit
ringenden Groll, sondern - den riihrenden Kampf gegen das
Schicksal, das ihr den Liebling ihrer Seele verdunkelte, den un-
eigenniitzigen Schmerz iiber die geschlossene Narbe, die sie aus
seiner Tugend wegwiinschte. Ihr war, ihm war, als wenn das
vorige Jahr sich wieder erhobe von seinem Totenkissen aus Freu-
denblumen, die es beiden ertreten hatte; sie waren recht traurig,
Klotilde war kaum ihrer Augen machtig und Viktor kaum seiner
Zunge - bis diesem endlich das MiBverstandnis einleuchtete. Er
sagte ihr daher leise und auf englisch: »hatte sein Vater ihm alle 30
seine Eroffnungen friiher gemacht, so hatt* er ihm mehr als einen
Kampf, mehr als eine triibe Stunde und zuerst die vorige Torheit
erspart.«
In der hohern Liebe ist der Zorn nur Trauer iiber den Gegen-
1 Denn erst als er von Kussewitz zuriickkam, erfuhr er auf der Insel von
seinem Vater die Verwandtschaft Klotildens.
34- HUNDPOSTTAG IO55
stand. Klotilde setzte gleichwohl die Sonnenfinsternis ihrer scho-
nen Mienen fort - aber es kam nicht von Fortdauer des vorigen
Seufzers, noch von dem gewohnlichen Unvermogen, eine aus-
gesohnte Seele sogleich in ein ziirnendes Gesicht zu ubertragen,
sondern die Unzufriedenheit mit ihrer eignen Voreiligkeit sah
allemal wie eine mit einer fremden aus. Daher stand sie auf, um
ihm ihren Arm und gleichsam das nahe liegende Herz wieder zu
geberi. Viktor erlaubte sich den Bruch des doppelstimmigen
Schweigens nicht. - Emanuel kam nach, und da sagte Klotilde be-
10 wegt, als wenn sie erst aufs vorige antwortete: »Ach ich bin mei-
nem Bruder nur zu sehr verwandt von der Seite meiner Fehler.« -
Meinte sie Flamins Eifersucht oder Argwohn oder wahrschein-
Hcher sein Temperament? - Viktor wandte sich zu ihr, um sie
gleichsam fur das um Verzeihung zu bitten, was sie gesagt - und
ihre Augen sagten: »o ich hatte dich nicht verkennen sollen« -
und seine sagten : »ich hatte dich, auch ungekannt, nie verleugnen
sol!en« - und ihre Herzen machten Frieden, und der Olzweig wand
zwischen den alten Blumen der Freude ihre Seelen aneinander.
Emanuel fuhrte sie, als ihr leitendes Gestirn, auf seine lieben
ao Berge, diese Frontlogen der Erde - nur von seinem Berg mit der
Trauerbirke wehrte er sie aus unbekannten Griinden freundlich
ab -; und sein leichtes Aufsteigen gab ihnen die Freude iiber die
Genesung seines Atems. Endlich kamen sie auf den Thron der
Gegend, auf den Berg, wo Viktor am Morgen nach der durch-
reisten Nacht iiber Maienthal geschauet hatte. O wie zog sich die
lebendige Ebene Gottes, der Vorgrund einer Sonne und eines
Edens, in so unbandigen, griinenden, atmenden, wehenden Mas-
sen dahin! Wie hing der Himmel voll Berge aus Duft, voll Eis-
felder aus Licht! Und sein sanfter Morgenwind schlich sich aus
30 dem mit Wolkenflor verhangnen Morgentor und spielte mit Him-
' mel und Erde, mit dem gelben Blumchen und mit der breiten
Wolke dariiber, mit der Augenwimper unter einer Trane und mit
durchwuhlten Kornfluren! - Wie wird das Auge so groB, wenn
gejagte Nachtstucke der Wolkenschatten den hellen Sonnenschein
der Erde durchschneiden, wie wird das Herz so groB, wenn der
Morgenwind die geflugelten Schatten bald iiber Berge schleudert,
IO56 HESPERUS
bald in Glanzteiche, bald in gebiickte Saaten! - Aber rund auf die
Walder hatten sich stille Eisberge aus Wolken gelagert. — Ach
dieses mit Tag und Nacht gefleckte Gefilde, dieser Wall aus Ne-
belgletschern stellte ja Viktors Herz in den alten Traum zuruck,
wo er Klotilde auf einem Eisberg mit ausgebreiteten Armen sah!
— Ach auf dieser iiber den sudlichen Berg reichenden Felsenspitze
konnte er die Insel der Vereinigung dunkel mit ihren Gipfeln und
mit ihrem weiBen Tempel liegen sehen, und das trinkende Herz
taumelte voll vom gemischten Trank aus Sehnsucht und Weh-
mut und Liebe. - 10
Dann sagt' er es ihr gern, daB er an jenem Morgen sie hier ge-
sehen habe, wo er dem Blinden das Blattchen an Emanuel ge-
geben, und daB er sich doch ihren Besuch versaget — gib ihm
nur, Klotilde, den groBen warmen Blick voll Dank fur sein Scho-
nen deines Bruders, fur sein edles Lieben und fur sein Ober-
schleiern dieses Liebens! Sie sah ihn an, und als ihr Auge warm
von einer Trane wurde, neigte sich der Himmel auf einem Son-
nenwolkchen zu ihnen nieder und beriihrte die verwandten Men-
schen mit heiBen herunterflatternden Tropfen. — O du gute Erde,
du gute Natur! Du sympathisierst ofter (und allemal) mit guten 20
Menschen als oft gute Menschen selber ! - Vor ihn trat der Traum,
wo Klotildens Tranen den FuBboden in ein hebendes Wolkchen
zerteilten ....
Aber der heranziehende Abend und die kleinen herunterrollen-
den zerrissenen Perlenschnure von Regentropfen riefen die scho-
nen Menschen in die Zimmer zuruck. Die Madchen, die mit dem
Blinden nicht einmal den Berg ganz erklettert hatten, kehrten
schon um und gingen voraus. Emanuel entfernte sich auf seinen
Trauerberg, um dort seine Blumen dem Regen aufzudecken. Als
unsere zwei Hebenden Menschen unten im rauchenden Tale an- 50
kamen: wie himmlisch wurde der Abend und die Erde! - Am
groBen Abendhimmel iiber ihnen bewegten sichTulpenbeete von
rotem Gewolke, zwischen denen blaue Streifen wie dunkle Bache
liefen. — Hinter ihnen standen unter der Sonne Berge wie Vesuve
in Flammen und die Waldung wie ein feuriger Busch, und das iiber
die Blumen laufende Steppenfeuer ergriffdie Wolkenschatten. -
34* HUNDPOSTTAG IO57
Und alle Lerchen hingen mit ihren Ripienstimmen der Natur nahe
am roten Deckenstiicke des Abends, und jeder tiefere Sonnen-
strahl hielt eine summende Wesenkette von Miicken. - Und in der
Schaferei am Berge liefen rufend hundert Mutter an hundert Kin-
der zusammen, und jedes Schaf eilte larmend an sein durstiges
niederkniendes Lamm. —
GroBer Abend! nur im Tal Tempe bliihest du noch und ver-
welkest nicht; aber in wenig Minuten, Leser, brechen erst alle
seine Bluten prachtig auf ! -
10 Klotilde und Viktor gingen enger und warmer aneinander-
gedriickt unter dem schmalen Sonnenschirm, der beide gegen den
fliichtigen Regen einbauete. Und mit Herzen, die immer starker
schlugen und statt des Blutes gleichsam andachtige Freuden-Tra-
nen umtrieben, erreichten sie den Park; die warmen Tone der
Nachtigall zogen ihnen daraus entgegen; die abgewehten Tone
des musikalischen Gefolges, womit der Englander jetzt uber die
Berge ging, flossen ihnen wie Blumendiifte nach. — Aber siehe,
als die Erde noch die Vergoldung im Feuer der Sonne trug, als
noch der Abendspringbrunnen wie eine Fackel oben brannte, als
20 in einem groBen Eichenbaum des Gartens, in welchem bunte
Glaskugeln statt der Friichte eingeimpfet waren, zwanzig rote
Sonnen aus den Blattern funkelten - da floB eine erwarmte Wolke
auseinander und tropfte ganz in das Abendfeuer und auf die glim-
mende Wassersaule ....
Die den Baumen naheren Nonnen flogen unter das Laub; aber
Klotilde, die den langsamen Gang schoner und tugendhafter fiir
eine weibliche Seele fand, ging ohne Eil der nachbarlichen »Abend-
laube« zu, die uber den Garten erhoben, ihr dichtes Blatterwerk
nirgends auftut als vor der untergehenden Sonne. - Nein, es war
30 ein Engel, es war Klotildens Schwester, Giulia, die auf der zarten
Wolke ruhte und durch sie ihre Freudentranen fallen lieB, um
ihre Freundin, deren Arm in des Geliebten seinem wie in einem
Verbande lag, in die glimmende Laube zu drangen, wo zwei selige
Herzen am seligsten werden sollten. Klotilde verweilte noch unter
dem Perlen- und Goldsand-Regen und glich den stillen Tauben
um sie her, die auf alien Dachern ihre reinen Flugel wie bunte
IO58 HESPERUS
Regenschirme auseinanderschlugen und dem Bade unterhielten -
und vor dem Eintritte zog Viktor sie zuriick, der wonnebeklom-
men sagte: »Du Allgutiger!« und auf Emanuels Laube hinblickte,
auf welcher die Paradieses-Pforte, aus musivischen Steinen auf-
gefiihrt, der Regenbogen, sich anfing und sich durch den Himmel
hiniiberwolbte iiber die Abendlaube und mit dem himmlischen
Zauberkreis die drei liebenden Seelen einfaBte.
Und als sie in die dunkle Laube traten, die nur eine kleine OrT-
nung gegen die durch den Regen hereinbrennende Sonne hatte :
lag vor der Offnung das Abendgefilde mit den wankenden Feuer- 10
saulen, zwischen denen der goldne FluB der zerschmolzenen
Sonne schlug, und mit den Auen, die bis an die Blumen in einem
Meer von Lichtkiigelchen standen. — Und herabgefallene Regen-
bogen lagen mit ihren Triimmern auf den Bliitenbaumen. - Und
kleine Liiftchen wehten das Lauffeuer in den Wiesenblumen an
und warfen Funken aus den Bliiten. - Und das Menschenherz
wurde von den Wonnestromen fortgezogen und schwamm bren-
nend in seinen eignen Tranen. —
Wie eine Verklarte schauete Klotilde in die Sonne, und ihr An-
gesicht wurde erhaben zugleich von der Sonne und von ihrer 20
Seele. Und ihr Freund storte die schone Seele nicht; aber er nahm
das weiBe Tuch aus ihrer Hand und trocknete die aus der Laube
tropfenden Farbenkorner, mit Blumenstaub umzogen, sanft hin-
weg, und sie gab ihm freiwillig ihre Hand. Als sie ihre Augen voll
Tranen auf ihn wandte: lieB er die Tranen stehen; aber sie nahm
sie selber hinweg und schauete ihn mit einer Liebe an, iiber welche
bald die alten zogen, und sagte mit einem Lacheln, das selig
weiterfloB: »Mein ganzes Herz ist unaussprechlich geruhrt; ver-
geben Sie ihm, teuerster Freund, heute alles, worin es bisher dem
Hirigen nicht ahnlich war !« . . . 30
- Siehe da wurde die warme Wolke in den Garten gleichsam
wie ein ganzer ParadiesesfluB niedergeschiittet, und auf den Stro-
men flossen spielende Engel herab .... und als die Wonne nicht
mehr weinen und die Liebe nicht mehr stammeln konnte, und
als die Vogel jauchzeten und die Nachtigall durch den Regen
schmetterte, und als der Himmel freudig-weinend mit Wolken-
34* HUNDPOSTTAG IO59
armen an die Erde fiel : ja, dann zitterten zwei begeisterte Seelen
zusammen und ruheten ohne Atem aneinander mit den zuckenden
Lippen und Wange an Wange gepresset im gluhenden zitternden
Schauer - dann quollen endlich, wie Lebensblut aus dem ge-
schwollnen Herzen, groBe Wonnetranen aus den liebenden Augen
in die geliebten iiber. - Das Herz maB die Ewigkeit seines Him-
mels mit groBen wonne-schweren Schlagen - die ganze Sichtbar-
keit, die Sonne selber war dahingesunken, und nur zwei Seelen
schlugen aneinander einsam in der ausgeleerten dammernden Un-
10 ermeBlichkeit, geblendet vom Tranenschimmer und vom Son-
nenglanz, iibertaubt vom Himmelbrausen und vom Echo der
Philomele und erhalten von Gott im Ersterben aus Wonne.
Klotilde bog sich ab, um die Augen abzutrocknen; und ihr
stummer Liebling sank um und kniete vor ihr und driickte sein
Angesicht auf ihre Hand und stammelte: »0 du Herz aus meinem
Herzen, o du ewig, ewig Geliebte - ach konnt' ich fur dich bluten,
fur dich untergehen -« Plotzlich stand er, wie von einer unermeB-
Hchen Begeisterung gehoben, auf und sagte Ieiser, sie anschauend :
»KIotilde! dich, Gott und die Tugend lieb* ich ewig.«
ao Sie driickte seine Hand und sagte leise: »0 wie konnten die
Menschen und das Schicksal ein solches Herz verwunden? Aber
meines, Viktor,« (sagte sie noch Ieiser) »wird ihm nie mehr unrecht
tun.« — Sie traten aus der Laube - der Himmel hatte sich wie ihr
Herz erschopft in Freudentranen und war bloB heiter - die Sonne
war zugleich mit der groBen Minute untergegangen. Viktor ging
langsanty als wenn er vor einem weiten Elysium vorbeiginge, das
empfangne Eden auf seinem Herzen tragend, heim in Dahores
stille Wohnung. Dahore sank, sitzend eingeschlummert, sanft
hiniiber und heriiber, und Viktor, ob er gleich gern sein Herz an
30 einer zweiten ahnlichen Brust auspochen lassen wollte, versagte
sich es doch - und lehnte sich langsam an den wankenden Lehrer.
Er hielt recht Iange das schlummernde Haupt an seiner brausen-
den Brust. Sein Freudengewitter kiihlte sich ab zum heitern Him-
mel, und die erquickten Freudenblumen schlossen die Duft-
Kelche der Erinnerung auf. Dahore schlug die Arme um seinen
Liebling, und dann erst wurde er wach: denn es hatte ihm ge-
IO<5o HESPERUS
traumt, er umarme ihn, und als er aufwachte, war er froh, da8 es
lhm nicht bloB getraumt hatte.
Genug! - Und ihr, ihr Menschen, die ich Hebe, ruht aus an der
Erinnerung oder an der Hoffnung, wenn ihr wie ich diese kleinen
Blatter aus den Handen legt!
Dritter Pfingsttag
oder 35.hundposttag
oder Burgunder-Kapitel
Der Englander - Wiesenball - selige Nacht - die Bliitenhohle
Bei den Menschen wie bei den Geizigen schlagt es immer nur 10
Viertel zur frohen Stunde, aber gleich einer schlechten Uhr
schlagt es die Schaferstunde unserer Hoffnung nie aus. Aber in
Rucksicht der Pfingsttage ist das grundfalsch - sie sind prachtig,
und wie man sonst die AusgieBung des Heiligen Geistes in alten
/ Kirchen durch das Herunterwerfen der Blumen vorstellte: so bil-
den wir sie in Maienthal durch das Auswerfen figurlicher ab. Ich
habe daher gar eine Flasche Burgunder aufgesiegelt und neben
die Dintenflasche gestellt, um erstlich durch mein groBeres Feuer
in diesem Kapitel die Natur- und Kunstrichter auf meine Seite zu
bringen, die leichter den Stab uber Autoren als eine Lanze mit 20
Autoren brechen - und um zweitens iiberhaupt den Wein zu
trinken, welches schon an sich Endzwecks und Teleologie genug
ist. Ein wahres Schlaraffenland und Himmelreich hatten wir, wenn
auch der Leser bei solchen Kapiteln etwas Spirituoses zu sich
nahme. Betrinkt sich der Autor allein, so geht der halbe Eindruck
zum Henker; und es ist ein Ungluck, daB die Rezensenten nichts
zu leben und zu trinken haben; sie konnten sonst mir als einem
Stern zur Brechung durch ihren Dunstkreis dienen und mich hoher
und breiter zeigen, als ich stande.
Viktor war kaum ins nasse Gras des Morgens gelaufen, als er 30
den Englander mit dem Kopfe unter den GieBkannen des Wasser-
rades auf jagte. Er vergab diesem Kato dem Altern gern alle seine
Sonderbarkeiten und das Idiotikon seiner tollen Natur und seinen
35- HUNDPOSTTAG I06l
Kometen-Gang; denn er war in seinem achtzehnten Jahr selber
ein solcher Schwanzstern gewesen und sah diesen fiir eine auf sich
geschlagene Kometenmedaille an. Obgleich der Brite Sonderbar-
keit suchtei so wuBte Viktor aus eigner Erfahrung, da6 es nicht
aus Eitelkeit (man kann, wenn man will, aus alien Handlungen,
sogar aus den unschuldigsten, Eitelkeit ausziehen, wie aus alien
Korpern Luft) y sondern aus Laune geschah, fiir welche der GenuB
einer exzentrischen Rolle, man mag sie lesen oder splelen, ebenso
viele Reize hat wie fiir das Gefuhl der Freiheit und der innern Kraft.
10 Eitle erliegen dem Lacherlichen, dem der Sonderling trotzt; und
jene hassen, diese suchen ihre Ebenbilder. Das einzige, was Viktor
ihm veriibelte, war, daB er andern kleine Schonungen bloB darum
nicht erwies, well er auch keine begehrte; und eben dieser vom
Humor unzertrennliche Krieg mit alien kleinen Schwachen und
Erwartungen der Menschen hatte dem menschenliebenden Vik-
tor diese exzentrische Bahn verleidet. Das Ungliick macht daher
leichter Sonderlinge als das Gliick.
Ihm gab die Freude iiber die Schilderungen, die ihm Kato von
Flamins ahnlichen Himmelfahrten und Freudenfeuern machte,
io den Gedanken ein, seine Quaterne schoner Tage durch etwas
anders zu verdienen als durch seine vorigen triiben - namlich da-
durch, daB er auch fremde seinen ahnlich machte. Kurz er redete
es mit dem altern Kato ab - dems recht lieb war -, die Prager zu
etwas zu verwenden, namlich abends in der Kuhle damit den
maienthalischen Kindern einen Wiesen-Ball zu geben. Was hat-
ten beide dazu notig, als - was sie sogleich taten - in die Tasche
und in die Borse zu greifen und dem Nachtwachter loci mehr zu
geben, als das Heu seiner groBen Wiese zu Johannis wert sein
konnte, die heute zu einem Tanzsaal ausgemahet werden muBte?
to Der Mann gab sie ohnehin mit tausend Freuden her, weil sein
Sohn heute - Hochzeit hatte. Die zwanzig Maienbaume, die Kato
in den Saal pflanzen wollte, standen schon als Autochthonen ein-
verleibt darin. Und als sie noch bei den Eltern des saubern Dorfes
- sonst aber gleicht der arme Ackerbauer dem Schweine, das nach
Alian dessen Ackern erfand - die jungen Tanz-Halften mit der
grofiten Ernsthaftigkeit - denn Bauern und Damen finden sich
I06Z HESPERUS
nicht in Sonderbarkeiten - zusammengebettelt und gepresset hat-
ten ; so war alles richtig.
Das befreundete Trio fand am Mittagtische der Abtissin den
gestrigen Tag. Viktor war iiberall sogleich zu Hause, er blieb
nicht Gast, damit der andre nicht Wirt bliebe. Man findet sonst
Madchen selten so wieder, als man sie verlieB, so wie ihr Empfang
allemal warmer oder kalter ist als ihr Briefchen vorher; aber in
Klotildens zergehenden Ziigen kiindigte ein unendlicher Zauber
die Erinnerung von gestern an, wo sie aus zwei Griinden ihr Herz
alien seinen auf dem Altar der Natur und der Tugend geheiligten ic
Flammen uberlassen hatte. Erstlich war sie gestern warmer, weil
sie vorher kalter gewesen im kleinen Zank, den bloB ihr Gesicht
iiber die Kussewitzer Uhr-Sacjie gehabt; nichts macht die Liebe
suBer und zarter als ein kleines Keifen und Frieren vorher, so wie
die Weintrauben durch einen Frost vor der Lese diinnere Schalen
und bessern Most gewinnen. Zweitens betragen sich in einem
hohen Grade der Riihrung und Liebe die besten Madchen gerade
so wie die - guten.
Ich habe erst drei Kaffeetassen Burgunder zu mir genommen,
Weil ich zur Karnation und Rotelzeichnung des Nachmittags viel- 20
leicht nicht mehr brauche - aber o Himmel, die Nacht! - Meine
Schuld ists nicht, wenn es der Nachwelt nicht zu Ohren kommt,
daB die meisten nachmittags der Hitze wegen aus dem Garten
blieben. Aber sie sahen aus den Zimmern die Wiese, den Zimmer-
platz eines schonen Abends, wo die Kinder schon im voraus her-
umliefen, das Gras hinaustrugen und mit Hornisten auf Bier-
hebern das Trommetenfest eroffneten. Es wiirde zu geringfugig
sein, wenn ichs anmerken wollte, daB mehre Jungen durch ge-
schossene rote Kappen oder Kronen tot hingestreckt wurden, weil
sie Hasen vorstellten, der Mutzen-Schiitze Jager und die ubrigen 30
Windhunde; man kanns aber metaphorisch nehmen, und dann
wirds satirisch und erheblich genug.
Die Freude zarter Menschen ist verschamt, sie zeigen lieber ihre
Wunden als ihre Entziickungen, weil sie beide nicht zu verdienen
glauben, oder sie zeigen beide hinter dem Schleier einer Trane.
Viktor war so und sah in jeder Freude seufzend nach Wester^ ich
35» HUNDPOSTTAG IO63
weiB nicht, ob er an den Untergang der Sterne und der Menschen
dachte oder an die Schwarzen, deren Ketten bis in unsere Halb-
kugel heraufklirren, oder an nahere Wei Be, fur die man die zer-
sprengten wieder Iotet mit Blur Aber dieses Schauen nach
seiner Kiblah zwang ihn, seine Entziickung zu verdienen. Die gest-
rige und heutige war so groB, daB er geriihrt zum Genius der
Erde sagte: »So groB kann meine schwache Tugend nicht wer-
den.« - Es half ihm nichts, daB er sich selber vor seinem Gewissen
herauszustreichen suchte und diesem vorstellte, wie viel schone
to Minuten und frohe Pulsschlage er hier in diesem Seifersdorfer Tal
austeile an seine Freunde und an seine Freundin, die durch ihn
genese, und an die Kinder, die er jetzt schon springen sehe und
abends noch mehr - es fruchtete beim Gewissen etwas, aber doch
nicht genug, als er es fragte, ob er denn vor der Spharenmusik
dieser Tage die Ohren zuhalten sollte; ob er nicht seine Leiden-
schaften uberwunden habe und ob nicht der groBere Spielraum
und die groBere Tatigkeit eines Menschen bloB in der groBern
Zahl besiegter Leidenschaften bestehe, so daB also eine Hof-
dame, ja sogar ein Konig keinen kleinern Wirkkreis innenhabe
*o als der nutzlichste Burger; und ob nicht der Mensch wie sehr
kleine Kinder bloB in die Erdenschule gesendet worden, um
stille sein zu lernen - aber der eucharistische Religionkrieg des
alten und neuen Adams. horte bloB durch eine Entziickung auf,
namlich durch die EntschlieBung, sobald ihm sein Vater die
Hand- und Beinschellen des Hofes abnehme, mehr zu kurieren
als der Stadt- und Landphysikus und alles umsonst und meistens
beiArmen. —
Nur auf ein Wort, Leser! Tugend kann nicht der Gliickselig-
keit wiirdig machen, sondern nur wurdiger, weil schon das Dasein
so uns wie bei den nicht-moralischen Tieren ein Recht an Freude
gibt - weil Tugend und Freude inkommensurable Grofien sind
und man nicht weiB, wird ein seliges Jahrhundert durch ein tu-
gendhaftes Jahrzehend oder dieses durch jenes verdient - weil
die Jahre der Freude vor den Jahren der Tugend laufen, so daB
der Tugendhafte statt der Zukunft erst die Vergangenheit, statt
des Himmels erst die Erde zu verdienen hatte.
IO64 HESPERUS
Der Nachmittag lief wie eine lichte Quelle iiber bunte Kleinig-
keiten wie iiber Goldsand hinuber, iiber kleine Freuden und iiber
groBe HofFnungen, iiber zarte Aufmerksamkeiten und iiber den
Blumenstaub wohlwollender Feinheiten, der das beste Heftpulver
der Herzen ist. Viktor fiihlte, da6 eine Geliebte, die viel Verstand
hat, der Liebe einen eignen pikanten Geschmack mitteile; sie sel-
ber fiihlte, daB das llerz, das man mit weichen bekleideten Han-
den und nicht mit rohen Griffen abgepfluckt, sich besser erhalte,
so wie sich Borsdorfer Apfel langer halten, die man nur mit Hand-
schuhen abgenommen. Obgleich nach meinen Tabellen die Liebe *
gerade am Tage nach dem ersten Kusse am hochsten, namlich auf
112 Fahrenheit oder io° de Tlsle steht: so war doch mit Viktors
Liebe zugleich seine Ehrfurcht gestiegen - o die Liebe erhebt, wor-
in die Gunstbezeugungen nicht kiihner, sondern bidder machen ! -
Unser Freund fiihlte, wie glucklich in der Freude das Arisich-
halten mache, und wie sehr der schaumende Freuden-Pokal durch
einige Messerspitzen hineingeworfnes Temperierpulver sich auf-
helle und veredle. Nach einem Nachmittag, wo die ganzen Stunden
reizend waren, ohne daB man einzelne aufierordentliche Minuten
hatte herausheben konnen - wie die Fasanenfedern nicht einzeln, *
sondern in ganzen Biischen glanzen — , nach diesem Nachmittag
zog alles in den Garten, aber Emanuel zuerst. Der Indier vertrug
wie Grasmiicken keine Zimmer und schwieg darin oder las nur,
und zwar bloB — was mich nicht wundert - die Trauerspiele
Shakespeares....
Unter dem groBen Abendhimmel, den keine Wolke ein-
schrankte, taten sich die Seelen wie Nachtviolen auf. Emanuel war
der Cicerone und Galerieinspektor dieses malerischen Gartens. Er
fiihrte seinen Freund und die andern zu seinem kleinen Blumen-
gartchen, das am hochsten im Park lag. Der Park lief namlich den 31
Berghinab mit/wn/gleichsam aus diesem schubladenweise heraus-
gezognen Absatzen und Stockwerken. Diese fiinf Ebenen, diese
eingehauenen griinenden Stufen, hielten ebensoviel verschiedene
Gartep, Baum- und Staudengarten etc., empor - daher wurde
durch jeden neuen Standpunkt, wie durch einen Umwandel-
Spiegel, aus dem alten Garten ein neuer zusammengeruckt. Den
35' HUNDPOSTTAG IO65
abschiissigen Park faBten auf beiden Seiten zwei Schlangengange
hoher, wankender,brennender Blumen wie zwei hinunterwehende
Treppengelander ein, und hinter jeder Blumen-Schlangenlinie
ringelte sich oben vom Berge silbernes Geader mit hellem, diin-
nen, auf- und niederspringenden Gewasser herab 1 , das in der
Abendsonne eine in aufrechten Windungen daliegende Gold-
schlange oder Ichor-Schlagader wurde. Auf der obersten letzten
Terrasse standen einander die Abend- und die Morgenlaube als die
Pole des Gartens gegenuber, und der Abendspringbrunnen glimmte
to tiber jener und der Morgenspringbrunnen iiber dieser empor, und
beide sahen zu einander wie Mond und Sonne heriiber.
Und gerade an dem Abendbrunnen hatte Emanuel seinen Zwi-
schengarten. Denn er liebte als Indier physische Blumen wie poe-
tische, und ihm war im Dezember ein Blumenbuch eine gewiegte
Blumenau, und ein Nelkenblatterkatalog war fur ihn die Hulse
und Chrysalide des Sommers. Er fuhrte seine Geliebten auf der
blumigen Region des Berges durch die unschuldigen Blumen
hindurch, die wie gute Madchen weder Sonne noch Erdreich
zum eignen Leben dem fremden nehmen - vor der Goldquaste
10 der Tulpe vorbei - vor den Miniaturfarben des VergiBmein-
nicht - vor den bun ten Glocken, die auch wie die lauten in den
GieBlochern der Erde gegossen werden - vor den Ohrrosen
des Augusts, namlich den Rosen - vor dem Kato, der nicht
der lustige Englander, sondern eine ungeflammte Aurikel ist,
die bei Herrn Klefeker in Hamburg zu haben - vor der ge-
liebten Agathe, die an die andere in St. Liine erinnerte und die
eine schone Schlusselblume ist....
Endlich kamen sie an die Abendlaube und an Emanuel s Blu-
men, namlich an schneeweiBe Hyazinthen, in deren Verschattung
jo der durchstrahlte Abendspringbrunnen eine bleiche Rote tuschte.
O wie schon, wie schon wehte da die Warme der Abendsonne
heriiber und die Kiahle des Abendwindes ! - Aber warum sinket,
1 Man hielt den in Bogen auf- und niedergehenden Silberfaden fur eine
herunterrieselnde Quelle; aber die Bogen mehrer schief-springender Spring-
brunnen waren in solche Entfernungen gestellt, daB der eine den andern fort-
setzte.
1066 HESPERUS
Klotilde, dein Auge und dein Haupt hier so traurig gegen die
Blumen zu? Ists, weil die Wassersaule erlischt, weil die Sonne
untergeht? - Nein, sondern weil die weiBen Hyazinthen in der
Blumistenspracheyifc/Kz heiBen - o weil der Gottesacker heriiber-
sieht, dessen hohe wankende Grasblumen mit ihren Wurzeln iiber
zwei geliebten Augen stehen, iiber den Augen der blassen Hya-
zinthe Giulia, die das heutige Fest nicht erlebt. -- Aber Klotilde
verbarg sich, um nichts zu storen.
Das ausfunkelnde Gold der Wassersaule und die zuriickschla-
gende Abendlohe an alien Fenstern zogen die Augen zur Sonne, 10
die unter ihre Buhne sank. - Aber ein rollendes Feuerrad des Alle-
gro, womit die Harmonisten auf der Wiese die weichende Sonne
begleiteten, nahm die Augen zu den Ohren herab, und unten auf
der eingehiillten Wiese stieg ein neues Theater der Freude mit
neuen Schauspielern empor .... Zwei Rosen waren in den Himmel
gepflanzt, die rote, die Sonne, die iiber der zweiten Halbkugel
ihre Bliiten auftat, und die weiBe, der Mond, der in unsere nieder-
hing; aber Sonnengold und Lunasilber und Abendschlacken wur-
den noch von einem rauchenden Zauberdufte eingesogen, und
man konnte noch nicht die Schatten vom silbernen Grunde des 20
Mondlichts absondern, und niederflatternde Bliiten wurden noch
mit Nachtschmetterlingen vermengt.
Die Gliicklichen gingen durch die Kastanienallee hinab zu den
jungern Gliicklichen, zu den Kindern, die, kiihner durch die
Gegenwart ihrer Mutter, zwanzig Freiheitbaume in verander-
lichen Gruppen umzingelten und umkreiseten und nur auf tiefere
Schatten warteten, um schneller zu tanzen. Der Englander wurde
von Klotilde wie ein Freund ihrer zwei Freunde empfangen. Das
Brautpaar, dem die Wiese als Erbschaft gehorte, hatte die eigne
Musik gegen diese vertauscht, und das Bundfest desselben riickte 50
in seiner Feier unserem Helden den heitern Tag naher, wo er, er
auch seine Klotilde Braut nennen durfte; aber er hatte nicht den
Mut, sein errotendes Gesicht gegen diese zu wenden, weil er
dachte, sie denke dasselbe und sei auch rot. Nur ein Liebender
kann mit der Begeisterung eines Brautpaars sympathisieren ; und
nie stiegen schonere Wiinsche fur eines auf als fur dieses in zwei
35- HUNDPOSTTAG I067
Seelen voll Liebe. Eine vierjahrige Schwester der Braut driickte
sich an Klotilden an - jene war die kleine Luna dieser Venus bei
ihren Spaziergangen - und diese entlud gern ihre Liebe in die
kleine Hand, die der ihrigen den Vorzug vor einem Mittanzer
lieB.
Der Mond gab jetzo durch den Widerschein der Sonne, womit
er dieses Kinderparadies versilberte, der Freude hellere Farben,
und unter dem vertieften Schatten der Maienbaume wuchs der
kindliche Mut. Alles war begluckt - alles fesselnlos - alles fried-
10 lich - kein giftiges Auge warf Blitze - keine einzige Harte storte
das metrische Leben - in melodischer Fortschreitung klangen die
Minuten im Silbertone voriiber und verfingen und hielten sich in
dem ausschlagenden Rosendickicht der Abendrote auf. - Der
laue flatternde Ather des Friihlings sog an den Bluten sich voll
Dufte und trug sie wie Honig in die Brust des Menschen. - Und
als die Pulse voller schlugen, spielten stumme kiihlende Blitze um
die Nebel des Horizonts, und der Mond zog Lebenluft 1 aus den
Blattern, um auf ihr den abgezognen Geist ihrer Kelche gesunder
zuzufuhren.
20 Viktor und der Englander und Emanuel und Klotilde nebst
einigen von ihren Freundinnen standen unten wie gebende Gotter
der Freude neben den Kindern und wurden durch den GenuB der
fremden Labung trunken. Unser Freund hatte eine zu heilige
Liebe, um sie (zumal so vielen Fremden und dem Englander) zu
zeigen, und legte dem unbandigen tanzenden Herzen Ziigel an. In
der edeln Liebe ist das Opfer - und ware sie es selber - so an-
genehm wie der GenuB; aber noch leichter wird es neben einem
Emanuel, der - das ist das schimmernde Ordenkreuz der hohern
Menschen - gerade in der Freude seine Augen zu dem hohern
30 Leben auf hebt und zur Wahrheit. Diesesmal verdoppelte noch da-
zu das Gefuhl seiner steigenden Gesundheit sein Schmachten
nach dem geweissagten Verscheiden. Sein verherrlichtes An-
gesicht, seine uberirdischen Wiinsche und sein stilles Ergeben
waren gleichsam der zweite hohere Mondenschein, der in den
dunklern fiel; und er storte das wachsende Elysium gar nicht, da
1 Im Mondschein sondern die Pflanzen Feuer- oder Lebenluft ab.
1068 HESPERUS
er z.B. sagte: »Der Sterbliche halt sich hier fur ewig, weil das
Menschen geschlecht ewig ist ; aber der fortgestoBene Tropfe wird
mit dem unversiegenden Strome verwechselt; und keimten nicht
immer neue Menschen nach, so wiirde jeder die Fliichtigkeit sei-
ner Lebenterzie tiefer emprlnden« - oder da er sagte: »Wenn der
Mensch nicht unsterblich wird, so wird es auch kein hoheres
Wesen j und die Schlusse sind dieselben ; dann brennte der s tehende
Gott aus dem kampfenden und erloschenden Sein einsam heraus,
gleich der Sonne, die, wenn es keinen Erdendunstkreis gabe, aus
einem schwarzen Himmel lodern und die gewolbte Nacht durch- 10
schneiden, aber nicht erhellen wiirde« - oder da er sagte: »Der
Gang des Menschengeschlechts zur heiligen Stadt Gottes gleicht
dem Gange einiger Pilgrime, die nach Jerusalem wallfahrten
und allemal nach drei Schritten vorwarts wieder einen ruckwarts
tun.« — Oder endlich da er auf seines Viktors Bemerkung, daB
die Besserung nur die grobe'n Fehler, nicht die feinen Gewissen-
bisse aufhebe, und daB ein Heiliger so viel Klagen von seinem
Gewissen erhalte als der Schlimme, da er darauf sagte : »Unsere
Entfernung von der Tugend findet man, wie die von der Sonne,
durch genauere Berechnungen bloB grofier; aber die Sonne flieBet 20
doch, aller veranderlichen Rechnungen ungeachtet, immer mit
derselben Warme in unser Angesicht.« -
Plotzlich lief der Englander zu den Spielern und foderte - um
die Sprunge und Laufer seiner Ideen in Musik gesetzt zu sehen -
von ihnen das beste Adagio und eilte in das »Florgezett« oben hin-
auf, das der Lord Horion aus eisernen Bogen und einem dariiber
gespannten schwarzen Doppelfior erbauen IieB, um fur seine da-
mals erkrankenden Augen den Sonnenschein in Mondschein um-
zusetzen. Da jedes Herz bei der ersten Beriihrung vom Adagio
in selige Tranen zergehen muBte : so zerlegte die Wonne, die sich 30
zu verhiillen suchte, den ruhenden Kreis, und alle flossen ausein-
ander, um (jeder unter seiner eignen Oberlaubung) ungesehen zu
lacheln und ungehort zu seufzen - wie Kurgaste eines Gesund-
brunnen zerteilte, begegnete, entfernte man. sich in zufalligen
Richtungen.
Der schone Blinde ruhte oben nicht weit von der Nachtigall
35. HUNDPOSTTAG 1069
gleichsam an der Quelle der harmonischen Strome, und Klotilde
blickt* ihn trauernd an, sooft sie an ihm voriiberging, und dachte :
»Arme verschattete Seele, die Seufzer der Musik dehnen dein sehn-
siichtiges Herz aus, und du siehst nie, wen du liebst und wer dich
liebt.« - Emanuel ging einsam den langen Weg zu seinem Berge
mit der Trauerbirke hinauf und zuriick. - Viktor irrte den ganzen
Garten hindurch: er kam vor verhiillten Obelisken, Saulen und
Wurfeln voruber, die den Platz steinerner Faunen besser besetz-
ten; - er trat in die dunkle, nur von der Abendrote schattierte
10 Abendlaube, wo er gestern zu glucklich war fur einen Sterblichen
und zu weich fur einen Unsterblichen; - er drangte sich durch
einen Ring von Buschen, aus denen ein strahlendes Springwasser
vorragte, und schloB geblendet die Augen zu, als er darin in
kunstlich belaubten Pfeilerspiegeln einen mit Mondsilber gesat-
tigten Wasserbogen in zuruckweichenden Erbleichungen millio-
nenmal aufgewolbt und aus weiBen Regenbogen in Mondsicheln
und endlich in Schatten zuruckgefuhrt erblickte. —
O wie oft hart* er nicht in seinen Kindertraumen, in seinen
Landschaftgemalden, die er sich von den Tagen des Paradieses
20 entwarf, diese Nacht gesehen und kaum gewiinscht, weil er sie auf
der rauhenErde nie zu erleben hoffte; und jetzo stand diese Eden-
Nacht mit alien um sie hangenden Bliiten und Sternen ausge-
schaffen vor ihm! - Und wer von uns hat nicht in irgendeiner
zauberisch beleuchteten Stelle seiner Phantasie und seiner HofF-
nung ein ebenso groBes Nachtstiick einer kiinftigen Lenznacht
aufgestellt, wo er wie in dieser mit alien Freunden auf einmal (nicht
immer allein) glucklich ist - wo wie in dieser die Nacht nur als
ein Schleier durchsichtig iiber den Tag geworfen ist - wo der
rote Giirtel, den die Sonne beim Einsteigen ins Meer abgelegt,
30 bis an den Morgen auf dem Rand der Erde schimmernd liegen
bleibt - wo die langen Seelentone der Nachtigall laut durch das
auseinanderrinnende Adagio ziehen und sich aus dem Echo er-
heben - wo wir lauter befreundeten Seelen begegnen und sie
trunken anblicken und durch das Lacheln fragen : o du bist doch
auch so glucklich wie ich? und wo das fremde Lacheln es bejahet-
eine Nacht, o Gott, wo du unser Herz vol! und doch ruhig ge-
1070 HESPERUS
macht, wo wir weder iweifeln noch oilmen noch furchten, wo alle
deine Kinder an deiner Brust in deinen Armen ruhen und die
Hande ihrer Geschwister halten und nur mit halb geschlossenen
Augen schlurnmern, um sich anzulacheln? - - Ach da der Seufzer,
womit ich dieses schreibe und ihr es leset, uns daran erinnert, wie
selten solche Fruhlingnachte auf unsere Erde fallen: so verubelt
es mir nicht, daB ich das schwelgerische Gemalde dieser Nacht
nur langsam vollfuhre, damit ich einmal in meinen alten Tagen
mich an der gemalten Stunde der jetzigen Begeisterung erquicke
und etwan sagen konne: ach du wuBtest es damals wohl, daB du 10
niemals eine solche Nacht erleben wurdest, darum warst du so
weitlauftig. Und was anders als versteinerte Bliiten eines Klima,
das auf dieser Erde nicht ist, graben wir aus unserer Phantasie aus,
so wie man in unserm Norden versteinerte Palmbaume aus der
Erde holt
Viktor ging zum stillen Julius an der Nachtigallenhecke und legte
ihm Nachtviolen in die Hand und kiiBte ihn auf das verhangne
Auge, das nicht sehen, aber doch weinen konnte vor Freude -
und die benachbarte Nachtigall hielt nicht innen unter dem KuB.
Er kam den Garten hinauf, als Emanuel herunterkam; neben dem ao
Morgenspringbrunnen sahen sie einander an, und Emanuels An-
gesicht leuchtete im Widerschein der Wellen, als wenn er vor dem
Engel des Todes stande und zerfldsse, um zu sterben, und er sagte :
»Der Unendlkhe driickt uns heute an sich - warum kann ich nicht
weinen, da ich so gliicklich bin?« - Und als sie wieder auseinander
waren, riefer seinen Viktor zuriick und sagte : »Schau, wie bliihend-
rot der Abend gegen Morgen zieht wie ein Sterbender, als wenn
ihn die Tone fortriickten - schau, die Sterne hangea wie Bliiten
aus der Ewigkeit in unsere Erde herein - schau die groBe Tiefe -
wie viel Friihlinge griinen heute auf so viel tausend darin ziehen- 50
den Erden.<< -
Die Madchen hatten sich nach kurzen Gangen bald auf die
Grasbanke der Terrassen paarweise oder in der Zahl der Grazien
niedergesetzt. Klotilde, die allein gewandelt war, tat es endlich auch
und setzte sich zu einer einsamen Freundin auf der vierten Ter-
rasse, neben den bunten Sonnen-Regenbogen aus Blumen, hinter
35* HUNDPOSTTAG IO7I
welchem derMond-Regenbogen aus Wasser blinkte. Diese Freun-
din rief den kommenden Viktor zum Schiedrichter eines tugend-
haften Zwistes herbei : »Wir haben gestritten,« sagte die Freundin,
»was siiBer fur gute Menschen sei, wenn sie vergeben, oder wenn
ihnen vergeben wird. Ich behaupte durchaus, vergeben ist siiBer.«
- »Und mir kommt es vor,« (sagte Klotilde mit einer geruhrten
Stimme, die alle liebreiche Gedanken ihres schonenden Herzens,
alle ihre dankenden Erinnerungen an ihre letzte Entzweiung mit
Viktor und an sein schones Vergeben entdeckte) »es sei schoner,
10 Vergebung zu erhalten, weil die Liebe gegen die verzeihende
Seele du xh die eigne Demut reiner und durch die fremde Gute
grofler wird.« Etwas Lieblicheres wurde wohl unserm Viktor nie
gesagt. Seine Running und sein Dank machten ihm das Ent-
scheiden schwer; aber Klotilde half seinen Traumen durch die
Wendung ein oder ab : »Ich habe meine gute Charlotte schon an
vorgestern erinnert, aber sie bleibt dabei.« Sie meinte den Beicht-
und Abendmahltag, wo die schonen Herzen alle von einander
Vergebung baten und bekamen. Viktor antwortete endlich zu-
gleich wahr und beziehend und fein: »Sie setzen beide, glaub' ich,
20 unmogliche Falle: kein Mensch hat ganz unrecht und keiner ganz
recht; und wer vergibt, dem wird zugleich vergeben, und umge-
. kehrt - so teilen zwei Menschen, die sich versohnen, immer die
Freude der Verzeihung und die Freude der reinern und grqftern
Liebe miteinander.« -
Viktor gingj um eine Riihrung zu verbergen, durch die er eine
fremde zu sehr erhohte^ Aber auf seinen nahen und fernen Wegen
zwischen Tonen und Bliiten hielten in ihm Gefuhle an, die seine
Liebe verdoppelten und verherrlichten : er fiihlte, daB der stdrkste
Ausdruck der Liebe nicht so fest und innig in die Seele greife als
30 der feinste. Allein als er vor der Sonnenuhr voruberging, die mit
einem MaBstabe aus Schatten uns andern Schatten ihre en gen
gliicklichen Inseln zuzahlte, und als ihm der Mond auf der Waage
mit seiner innenstehenden Schattenzunge die letzten Miriuten die-
ser frohen Stunde vorwog, weil er nach Mitternacht hin zeigte,
gleichsam als wenn er schriebe: es ist sogleich voriiber: so trat
der Englander allein langsam und niederblickend aus dem Flor-
1072 HESPERUS
gewebe und ging unter die Tone, um sie wegzufuhren mit dem
ganzen Himmel um sie- Viktor, der im stillen Meer der tiefsten
Freude nicht mehr nach Gegenden steuerte, sondern zufneden
darauf taumelte und ruhte und in der Zukunft nichts begehrte als
die Gegenwart, wandelte jetzo nur auf den langen Terrassen hin
und her, anstatt den Garten auf- und abzusteigen - er stand ge-
rade auf der obersten, auf der Blurnenterrasse, an dem Morgen-
springbrunnen, und sah den dammernden Weg hinuber zum
blinkenden Abendbrunnen, und der Schnee des Mondes lag tiefer
und weiBer gefallen die gluckselige Ebene hinab, und dieses 10
bliihende Zuckerfeld kam seinem traumenden Herzen wie
eine in diese Erde hineinreichende Landspitze der Insel der
Seligen vor, und er sah ja lauter selige Menschen auf diesem
Zaubergefilde gehen, ruhen, tanzen, hier einsam, dort in Paaren,
dort in Gruppen, und unschuldige Menschen, stille Kinder,
sanfte tugendhafte Madchen, und er schauete zum gestirnten
Himmel auf, und sein Auge voll Tranen sagte zum Allgiitigen :
o gib auch meinem guten Vater und meinem guten Flamin eine
solche Nacht — als er plotzlich die Tone wie abgewehet ver-
nahm und den Briten mit den Kindern ziehen sah, und das 20
Schwanenlied eines Maestoso wurde vorausgetragen vor der
entfliehenden Jugend ....
Viktor ging oben mit den wegschwimmenden Tonen, und die
Sterne schienen mitzuschwimmen und die Gegend mitzugehen —
auf einmal stockt er am Ende der Blurnenterrasse vor den Eben-
bildern Giulias,den weifien Hyazinthen, vor der Freundin Giulias,
vor - Klotilde.... Augenblick! der nur in der Ewigkeit wieder-
holt wird, schimmere nicht zu stark, damit ich es ertragen kann,
bewege mein Herz nicht zu sehr, damit es dich beschreiben kann!
— Ach beweg' es nur wie die zwei Herzen, denen du erschienst; 3 o
du begegnest uns alien nicht mehr.... Und Klotilde und Viktor
standen unschuldig vor Gott, und Gott sagte : weint und liebt wie
in der zweiten Welt bei mir! - Und sie schaueten sich spraehlos
an in der Verklarung der Nacht, in der Verklarung der Liebe, in
der Verklarung der Running, und Wonnezahren deckten die
Augen zu und hinter den erleuchteten Tranen stiegen um sie ver-
35- HUNDPOSTTAG IO73
klarte Welten aus der dunkeln Erde auf und der Abendspring-
brunnen legte sich glimmend wie eine MilchstraGe uber sie her-
iiber und der Sternenhimmel schlug funkelnd uber sie zusammen
und das entweichende Vertonen spiilte die aufgehobnen See-
len vom Erdenufer los — Siehe ! da trieb ein kieines Wehen die
entfliegenden Laute heiBer und naher an ihr Herz, und sie nahmen
ihre Tranen von den Augen; und als sie umherschaueten in der
Gegenwart: so bewegte das melodische Wehen alle Bluten im
Garten, und die groBe Nacht, die mit Riesengliedern im Mond-
o schein auf der Erde schlief, regte vor Wonne ihre Kranze aus ab-
geschatteten Gipfeln und die zwei Menschen lachelten zitternd
zugleich und schlugen miteinander die Augen nieder und hoben
sie miteinander auf und wuBtens nicht. Und Viktor konnte end-
Hch sagen: »0 ! moge das edelste Herz, das ich kenne, so unaus-
sprechlich selig sein wie ich und noch seliger! So viel hab' ich
nicht verdient.« - Und Koltilde sagte in einem sanften Tone: »Ich
bin den ganzen Abend meistens allein geblieben, bloB um vor
Freude zu weinen, aber er ist zu schon fur mich und die Zukunft.«
... Die umkehrenden Gespielinnen kamen den Garten herauf,
o und beide muBten auseinander scheiden; und als Viktor noch mit
erstickten Lauten sagte: »Ruhe wohl, du edle Seele — solche
Freudentranen miissen immer in deinen Augen stehen, solches
melodische Getone miisse immer um deine Tage rinnen - Ruhe
wohl, du himmlische Seele«; und als ein Blick voll neuer Liebe und
ein Auge voll neuer Tranen ihm dankte; und als er sich tief, tief
biickte vor der Heiligen, Stillen, Bescheidnen und aus Ehrfurcht
nicht einmal ihre Hand kuBte : so umarmte in der Unsichtbarkeit
ihr Genius seinen Genius vor Entziicken, daB ihre zwei Kinder
so gliicklich waren und so tugendhaft. —
° O wie wohl tat jetzt seiner uberschiitteten Seele sein geliebter
Dahore, dem er unter den lauten Kastanien nachkam, und an
den er mit alien seinen Tranen der Wonne, mit alien seinen
Liebkosungen des trunknen Herzens fallen durfte: »Mein
Emanuel, ruhe sanft! Ich bleibe heute Nacht unter diesem
guten warmen Himmei um uns her.« — »BIeibe nur, Guter,«
(sagte Emanuel) »eine solche Nacht zieht durch keinen Friihling
1074 HESPERUS
mehr — Horst du,« (fuhr er fort, als die in die UnermeBlich-
keit entriickten Tone gleichsam wie Abendsterne des unterge-
gangnen Glanzes, wie Herbststimmen des wegziehenden Sommer-
gesangs in die sehnsiichtige Seele hineinriefen) »horst du das
schdne Vertonen? Siehe, ebenso tone am Iangsten Tage meine
Seele aus, ebenso liege dein Herz an meinem, und so sage wie
heute : ruhe wohl I« . . .
Dem letzten Geliebten entsunken, schwankte Viktor im ge-
mischten Zwielicht der wehmiitigen Begeisterung zuriick durch
die vom Mondlicht durchbrochne, gleichsam von Strahlen trop- i
fende Allee, um in der Bliitenhohle, wo er zuerst Klotilde hier
gefunden, das traumende Haupt an ein Kopfkissen von Bltitenkel-
chen anzulehnen . . . Und als er langsam und allein und mit elysi-
schen Erinnerungen und Hoffnungen durch den in die Allee
gewachsenen Laubengang zwischen den einwiegenden Bachen
hinwankte: so schwammen noch niedrige Wogen des weggetrag-
nen Getones in die Phantasie mehr als in die Ohren, und nur die
Nachtigall regierte laut uber die beseelte Nacht. Da sank unnenn-
bar begliickt und wonneschwer der letzte Mensch dieser Nacht
von den funf Stufen seines himmlischen Bettes durch die Zweig- *
Vergitterung in das dunkle Bliiten-Dickicht hinein. — Betauete
Sprossen fielen kiihlend an seine entziindete Stirne, er legte die
zwei Arme ausges-reckt auf zwei Armlehnen von Zwergbaumen
und schloB entziickt die heiBen Augenlider zu, und das Forttonen
der Nachtigall und der fiinf Quellen um ihn wehten ihn einige
Strecken weit in den dammernden Wahnsinn des Traumes hin-
iiber - aber die in Freuden-Jubel hinausschreieride Nachtigall
schlug durch seinen Traum, und als er die Augen, in halbe Traume
verschlagen, auftat, schoB der Blitz des Mondes durch das weiBe
Gestrauch dennoch, von den vorigen Szenen befriedigt, 3
lachelte er nur halb auBer sich und uberhullte das Auge wieder
und HeB sich ganz in den harmonischen Schlummer hinunter...
nur einige gebrochne Laute sang er noch in sich . . . nur einigemal
regte er noch die Iiegenden Arme zu Umfassungen . . . und nur im
Ersterben des Schlummers und der Wonne stammelte er einmal
noch dunkel : Geliebte ! . . .
36. HUNDPOSTTAG IO75
Und so schon, grofier Allgiitiger, laB uns andere Menschen in
der letzten Nacht entschlafen wie Viktor in dieser, und laB es auch
unser letztes Wort sein: Geliebte! -
VlERTER UND LETZTER PfINGSTTAG
(36. Hundposttag)
Hyazinthe - die Stimme vom Vater Emanuels - Brief vom Engel - Fldte
auf dem Grab - zweite Nachtigall - Abschied - Geistererscheinung
Eben ist der Anhang zum vierten Freudentage eingelaufen. -
Ich komme nach dem Seufzer, womit man gewohnlich am Tage
10 nach den Festtagen sagt, daB man sie begrabe, wieder vor das
bliihende Bette meines Freundes und offne den griinenden Vor-
hang; gegen neun Uhr erst zog ihn eine nah an seinen Handen
schlagende Grasmiicke miihsam aus einem tiefen Traummeer.
Aber die Schattenfiguren, die der Hohlspiegel des Traums in der
Luft aufgerichtet hatte, waren alle vergessen; nur die Tranen, die
sie ihm ausgepresset, standen noch in seinen Augen, und er ent-
sann sich nicht mehr, warum er sie vergossen hatte. Es war heme
Quatember, der wie andere Wetter- und Mondveranderungen
unser Traum-Echo lauter und vielsilbiger macht. - In einer son-
20 derbaren Erweichung schlug er die Augen auf vor der weiBen
Dammerung des Apfelbluten-Oberhangs, vor dem Wirrwarr des
griinen Gespinstes - seine Hand jagte die Grasmiicke durch das
Gebusch - es war schwxil urn diesen Schatten, die Baumgipfel
waren stumm und alle Blumen gerade - Bienen bogen sich von
Sandkornchen herab in die Quellen um ihn und schlurften Was-
ser - von den Weiden tropften weiBe Flocken, und alle Riech-
flaschchen der Bliiten und die RauchgefaBe der Blumen iiber-
gossen seine Schlafstatte mit einem sxiBen schwiilen Dunst...
Er fiihrt seine rechte Hand ans nasse Auge und erblickt darin
50 mit Erstaunen eine weifie Hyazinthe, die ihm jemand heute muBte
hineingelegt haben... Er verfiel auf Klotilde; und sie wars auch
gewesen. Vor einer halben Stunde trat sie an dieses Blumen-Bette
- lieB sogleich das Gestrauch leise wieder zusammenschlagen -
IO76 HESPERUS
zog es aber doch wieder auseinander, weil sie die Tranen des ver-
gessenen Traums iiber das Angesicht des gliihenden Schlafers
rinnen sah - ihre ganze Seele wurde nun ein weicher segnender
Blick der Liebe, und sie konnte sich nicht enthalten, das Denkmal
ihres Morgenbesuchs, die Blume, in die Hand zu legen - und eilte
dann leise in ihr Zimmer zurtick.
Er trat eilig in den leuchtenden Tag, um die Geberin einzu-
holen, deren Morgengabe er leider aus Besorgnis der Zerstorung
so wenig wie sie ans Herz anpressen durfte. O wie tat es ihm wehe,
als er im Freien vor dem herrnhutischen Gottesacker der heim- ■,
gegangnen Himmelnacht, vor dem ruhenden Garten, stand und
als er auf die kahlen ausgemahten eingetretenen Tanztennen und
auf die verstummte Nachtigallenstaude blickte und auf die Berge,
woran die Kinder weideten, vom gestrigen Schmucke entkleidetl
Da erschien der vergessene Traum wieder und sagte : weine noch
einmal, denn das Rosenfest deines Lebens beschlie Bet sich heute,
und der letzte von den vier Fliissen des Paradieses trocknet in
wenig Stunden ganzlich aus ! - »0 ihr schonen Tage,« sagte Vik-
tor, »ihr verdient es, daB ich euch verlasse mit einer Erweichung
ohne MaB und mit Tranen ohne Zahl!« - Er floh aus dem zu har- ;
ten Taglicht in die Zelle aus Flor, damit sie den hellen Vorgrund
des Tages zu einem dammernden Hintergrund ummalte, mit dem
gestrigen Mondschein iiberdeckt; und unter diesem Leichen-
schleier der erblichenen Nacht setzte er sich vor, dem verarmenden
Herzen heute seine letzte Freude ganz im ObermaB zu gonnen,
namlich sein Sehnen. Er trat aus dem Flor, aber der nacht-
Hche Mondschein wich nicht von der Flur; er schaute auf in den
blauen Himmel, der uns mit einer langen Flamme betastet, aber
die verhullten Sterne der Winternacht schickten herausquellende
kleine Strahlen an die verdunkelte Seele; er sagte sich zwar: »Der >
Eisberg, auf dem bisher meine Vernunft halbe Bergpredigten ab-
gelegt, ist unter der Freudenglut zu einem Maulwurfhiigel ein-
gelaufen«, aber er setzte hinzu: »Heute frag* ich nach nichts.«
Er kam zu Emanuel mit nassen Augen. Dieser sagte ihm, daB
sich das erste Glied der gestrigen Blumenkette, namlich der Brite
mit seinen Leuten, schon in der Nacht abgeloset habe. Aber je
36. HUNDPOSTTAG IO77
langer er Emanuel ansah und an morgen dachte - denn morgen
lehnt auch er vor tags die Gartentiire dieses Paradieses leise hinter
sich zu, und heute nachmittags nimmt er von der Abtissin und
abends von der Geliebten Abschied, um diese nicht im Ablesen
der bekannten Engels-Epistel zu hemmen -, desto druckender
waren seine Augen gespannt, und er ging lieber mit einem sich
selber vollblutenden Herzen hinaus ins Freie und fiihrte den
Blinden mit, der nichts erriet, nichts erblickte und vor dem man
ohnehin wie vor einem Kinde gern sein Innerstes entkleidete.
io Aber diesesmal war Julius in derselben Erweichung, weil er
den ganzen Morgen den Engel in seiner dammernden Seele spie-
len und fliegen sehen. Die Sehnsucht nach dem Engel brutete sein
ruhendes Herz zum Pochen an, und er sagte mit einem ungewohn-
lichen Schmerz : »Wenn ich nur sehen konnte, nur etwas, nur mei-
nen Vater oder dich!« Die uberstaubten Erinnerungen an seine
Kindheit wurden aufgeschiittelt; und aus dieser in Wolken ste-
henden Zeit trat besonders ein Tag heraus vor ihn, morgenhell,
blau und voll Gesang, und trug drei Gestalten auf seinem Nebel-
boden, Julius' eigne und die der zwei Kinder, von denen er sich
20 vor ihrer Einschiffung nach Deutschland geschieden hatte - es
entflossen ihm Tropfen, ohne daB er es merkte, da er gerade die-
sem Viktor, der das Folgende getan hatte, das Kussen und Um-
hangen und Nachrufen des einen Kindes make, das ihn am mei-
sten liebte und immer trug. »Und ich denke,« fuhr er fort, »jeder,
den ich gern hore, habe das Gesicht dieses guten Kindes und auch
du. Oft wenn ich einsam diese Gestalt in meinem Dunkeln an-
schaue und warme Tropfen auf den Lippen spiire und in eine
schmachtende schlummernde Wonne falle: mein' ich, es quelle
Blut aus meinen Lippen, und mein Herz siedet - aber mein Vater
30 sagt, wenn dann meine Augen plotzlich aufgetan wurden und ich
sahe meinen Engel an oder das gute Kind oder einen schonen
Menschen, dann wiirde ich sterben miissen vor Liebe.« »0
Julius, Julius,« (rief sein Viktor) »wie edel ist dein Herz! Das gute
Kind, das du so liebst, wird bald mein Vater an dich legen, es wird
:h so kussen, so lieben, so drucken wie ich jetzt.« -
Er fiihrte ihn zum Essen zuriick; er selber aber blieb bis nach-
I078 HESPERUS
mittags unter dem Himmel, und sein Herz legte stille Trauer an
unter Baumen voll Bienen, neben Gestrauchen voll atzenden Vo-
geln, auf alien bisherigen Spaziergangen und Sonnenwegen dieses
sterbenden Festes - und es standen alle Kinderstunden aus dem
Wintersclilafe des Gedachtnisses auf und beriihrten sein Herz, aber
es zerfioB. - O wenn uns weit entlegne Minuten mit ihrem Glok-
kenspiel antonen, so fallen groBe Tropfen aus der weichen Seele,
wie das nahere Heriiberklingen ferner Glocken Regen bedeutet. .
Ich verdenke dir nichts, Viktor - du bist doch nur weich, aber nicht
weichlick — so gut dir dein Biograph deine Erweichung nachzu- 10
schreiben und dein Leser sie nachzufuhlen vermag, ohne die festen
Muskeln des Herzens abzuspannen, ebensogut vermagst du es
auch, und nur ein Mann, der bittere Tranen erpressen kann, wird
siiBe verhohnen und keine selber vergieBen.
Endlich ging Viktor zur letzten Freude, in den Garten des En-
des, um mit sanften Tranen in der Abtei von alien Freundinnen
abzuscheiden. Ein sonderbarer Vorfall verschob es ein wenig;
denn indem er von Emanuel wegging, stieB ihm Julius auf, der
aus dem Garten kam und ihm sagte : »wenn er zu Emanuel wolle,
er sei im Garten.« - Sie erhoben einen freundschaftlichen Streit, 20
weil jeder ihn gerade jetzo gesprochen haben wollte. Viktor ging
mit ihm zu Emanuel zuriick, und hier erzahlte Julius seinem Leh-
rer jedes Wort des vorgeblichen Gartengesprachs mit ihm: »z.B.
liber Viktor, iiber Klotilde, iiber seinen heutigen Abschied, iiber
die bisherigen frohen Tage.«
Wahrend der Erzahlung wurde Emanuels Angesicht glanzend,
als wenn Mondschimmer davon niederflosse - und anstatt dem
geliebten Kinde die Unmoglichkeit seiner Erscheinung im Garten
vorzustellen, raumte er ihm die Erscheinung ein und sagte ent-
ziickt : »Ich werde sterben! - Es war mein abgeschiedener Vater - ?c
seine Stimme klingt wie meine - er verhieB mir in seinem Ster-
ben, aus der zweiten Welt in diese zu kommen, eh' ich von hin-
nen ginge. - Ach ihr Geliebten driiben iiber den Grabern, ihr
denkt also noch an mich - o! du guter Vater, dringe jetzt mit dei-
nem todlichen Glanze vor mich heran und lose mich an deinem
Munde auf !« -
$6. HUNDPOSTTAG IO79
Er wurde noch mehr darin befestigt, weil Julius dazu erzahlte,
die Gestalt habe sich von ihm den Brief des Engels reichen lassen,
ihn aber nach einem kleinen Lispeln wieder zuriickgegeben. Das
Siegel war unbeschadigt. Emanuels freudiger Enthusiasmus iiber
diese Telegraphen des Todes setzte unzufriedene Schliisse aus sei-
ner bisherigen Gesundheit voraus. Viktor lehnte sich nie gegen
die erhabnen Irrtiimer seines Lehrers auf; so stellte er z. B. nie-
mals die Grunde, die er hatte und die ich im nachsten Schalttage
anzeigen will, dem unschuldigen Wahn entgegen: »aus dem
10 Traume und aus der Unabhangigkeit des Ich vom Korper konne
man auf die kunftige nach dem Tode schlieBen - im Traume
staube sich der innere Demant ab und sauge Licht aus einer scho-
nern Sonne ein.« - Viktor erschrak dariiber, aber aus andern
Griinden: Julius nahm beide an den Ort der Unterredung mit,
der in der verfinsterten Allee neben der Blutenhohle war. Nie-
mand war da, nichts erschien, Blatter lispelten, aber keine Geister,
es war der Ort der Seligkeit, aber der irdischen. -
Viktor ging in den andern, in die Abtei. Klotilde war nicht
droben, sondern im verschlungnen Labyrinth des Parks, wahr-
10 scheinlich um dem Inhaber vom Engels-Briefe, Julius, die Ge-
legenheit des Vorlesens zu erleichtern. Er nahm, als die Sonne
gerade den Fensterscheiben gegeniiber brannte, von der guten
Abtissin mit jener feinen geriihrten Hoflichkeit Abschied, auf die
sich in ihrem Stande der hochste Enthusiasmus einschrankt. Die
feine Abtissin sagte ihm: »der Besuch sei so kurz, daB er unver-
zeihlich ware, wenn nicht Viktor es dadurch gutmachte, daB er
ihren zweiten Friihling-Gast (Klotilden) uberredete, den ihrigen
zu verlangern; denn auch diese verlasse sie bald.« - Er schied mit
einer geriihrten Achtung von ihr: denn sein weiches Herz wuBte
30 ebensogut hinter der Spitzenmaske der Feinheit und Welt als hin-
ter der Leder-Kruste der Roheit das fremde weiche auszufiihlen.
Als er freilich in den Garten eilte: stiegen die Tranen seines
Herzens hoher und warmer - und ihm war, als miiBte er den im
Angesichte der Sonne aufgehenden Mond umschlieBen, da er
dachte: »Ach wenn deine bleiche Flocke heute lichter droben
hangt, wenn du allein niederschauest, bin ich geschieden von mei-
1080 HESPERUS
ner Schaferwelt oder scheide noch.<< - Und unten ruhte neben der
Nachtigallenhecke sein Julius, der helle Tranenstrome vergoB -
denn dieser ganze Abend wimmelt von immer groBern Meer-
wundern des Zufalls - er eilt zu ihm herab, der Brief des soge-
nannten Engels ist geoffnet in seiner Hand, Viktor sagt leise:
. »Julius, warum weinest du so?« - »0 Gott,« sagte dieser gebro-
chen, »fuhre mich unter eine Laube!« - Er leitete ihn zur uber-
fiorten. Julius sagte darin: »Recht, hier brennt die Sonne nicht!«
und schlug den rechten Arm um Viktor und gab ihm den Brief
und legte den Arm herum bis an sein Herz und sagte: »Du guter «
Mensch! sage mir, wenn die Sonne nieder ist, und lies mir noch
einmal den Brief des Engels vor!«
Viktor ring an; »Klotilde!« - »An wen ist er?« sagt' er. - »An
mich!« (sagte Julius) »und Klotilde hat mir ihn schon vorgelesen;
aber ich konnte sie wegen ihrem Weinen nicht verstehen, und ich
war auch zu betrubt. - Ich werde vor Kummer sterben, du gute
Giulia, warum hast du mir es nicht vor deinem Tode gesagt? -
Die Tote hat ihn geschrieben, lies nur!« - Er las:
»Klotilde!
Ich hiille meine errotenden Wangen in den Leichenschleier. Mein ao
Geheimnis ruht in meinem Herzen verborgen und wird mit ihm
unter den Leichenstein gelegt. Aber nach einem Jahre wird es aus
dem zerfallenen Herzen dringen - o dann bleib' es ewig in deinem,
Klotilde! - und ewig in deinem, Julius! - Julius, war nicht oft
eine schweigende Gestalt um dich, die sichdeinen Engel nannte?
Legte sie nicht einmal, als die Totenglocke ein bluhendes Mad-
chen einlautete, eine weiBe Hyazinthe in deine Hand und sagte:
>Engel pflucken solche weifie Blumem? Nahm nicht einmal eine
stumme Gestalt deine Hand und trocknete sich damit ihre Tranen
ab und konnt' es nicht sagen, warum sie weine? Sagte nicht ein- 30
mal eine leise Stimme : >Lebe wohl, ich werde dir nicht mehr er-
scheinen, ich gehe in den Himmel zuruck<? Diese Gestalt war ich,
o Julius; denn ich habe dich geliebt und bis in den Tod. Siehe!
hier steh' ich am Ufer der zweiten Welt, aber ich schaue nicht hin-
$6, HUNDPOSTTAG IO81
iiber in ihre unendlichen Gefilde, sondern ich kehre mein Ange-
sicht noch sinkend nach dir zuriick, nach dir, und mein Auge
bricht an deinem Bilde. - Jetzo nab' ich dir alles gesagt. - Nun
komm, stillender Tod, driicke langsam die weiBe Hyazinthe nie-
der und teile bald das Herz auseinander, damit Julius darin die
verschlossene Liebe sehe. - Ach wirst denn du eine Tote in deine
Seele nehmen? Wirst du weinen, wenn du dieses Iesen horest?
Ach wenn mein zugedeckter, eingesunkner Staub dich nicht mehr
beruhren kann, wird mein entfernter Geist von deinem geliebt
10 werden? — Aber ich beschwore dich, o UnvergeBHcher, geh an
dem Tage, wo dir dieses Tranenblatt vorgelesen wird, da gehe,
wenn die Sonne untergeht, hinauf zu meinem Grabe und bringe
dem bleichen Angesicht darunter, das der alte Huge! schon ent-
zweidriickt, und dem zerronnenen Herzen, das fiir nichts mehr
schlagen kann, da bringe der Armen, die dich so sehr geliebt und
die deinetwegen sich unter die Erde gehiillet, dein Totenopfer -
bring ihr auf deiner Flote die Tone meines geliebten Liedes: >Das
Grab ist tief und stille.< - Sing es leise nach, Klotilde, und besuch
mich auch. - Ach arme Giulia, richte deine Seele auf und erliege
20 jetzt nicht, da du deinen Julius dir an deinem Grabe denkest! -
Wenn du da das Totenopfer bringst, so wird zwar mein Geist
schon hoher stehen; ich werde ein Jahr jenseits der Erde gelebet
haben, ich werde die Erde schon vergessen haben - aber doch,
aber o Gott, wenn du die Tone iiber meinem Grabe ins Elysium
dringen lie Best, dann wiird' ich niedersinken und heiBe Tranen
vergieBen und die Arme ausbreiten und rufen: ja! hier in der
Ewigkeit lieb* ich ihn noch - es geh' ihm woKl auf der Erde, sein
weiches Herz ruhe weich und lange auf dem Leben drunten. -
Nein, nicht lange! Komm herauf, Sterblicher, zu den Unsterb-
30 lichen, damit dein Auge genese und die Freundin erblicke, die fur
dich gestorben ist!
Giulia.«
»Ich will gehen,« - sagte Julius stockend, aber mit Zuckungen
im Gesicht - »wenn auch die Sonne nicht hinab ist: mein Vater
soil mich bis zum Untergange trosten, damit mein Herz nicht so
1082 HESPERUS
heftig an die Brust anschlagt, wenn ich am Grabe stehe und das
Totenopfer bringe.« LaB mich nichts sagen, Leser, von der
Beklemmung, womit ich weitergehe — noch von dieser zu weichen
Giulia, die wie eine Morgensonnenuhr vor dem Mittage im Schat-
ten und Kuhlen war, die wie eine Taube die Fliigel dem Regen
und Weinen auseinanderfaltete - noch von ihren Seelen-Schwe-
stern, die im zweiten Lebens-Jahrzehend das Gerippe des Todes
ganz mit Blumen iiberhangen, daB sie seine Glieder nicht sehen
konnen, und die ihren weiBen Arm bloB auf einen Myrtenzweig
der Liebe stutzen wie auf einen AderlaBstock und ruhig dem Ver- 10
bluten seiner zerschnittenen Adern zuschauen ! -
Ich hatte nicht einmal dieses gesagt, wenn nicht Viktor es ge-
dacht hatte, dessen Herz ein unendlicher Gram und eine unend-
liche Liebe todlich auseinanderzogen ; denn ach wie weit war nicht
seine unersetzliche Klotilde schon auf dem Wege, ihrer-Freundin
nachzukommen und das ungeliebte Herz in der Erde zu verber-
gen, wie man im Froste Nelken niederlegt!
Die Sonne stieg defer - der Mond stieg hoher - Viktor sah
Klotilden wie eine Heilige, wie einen atherisch verkorperten Engel
in einer gegen Abend gedffneten Nische ruhen-das kleine, gestern 2 o
genannte Madchen spielte auf ihrem SchoB mit einer neuen Puppe
- ihm war, als sen* er sie gen Himmel schweben - und als sie ihre
groBen Augenlider aus den Tranen fur die geschiedne Freundin,
deren Geheimnis sie langst erraten und verborgen hatte, gegen
den aufhob, der sie heute durch seinen Abschied vermehrte; und
als sie auch sein Angeskht in Riihrung zerschmolzen sah : so er-
druckten die gleichen Trauergedanken in beiden sogar die ersten
Laute des Empfangs, und beide wandten ihr Gesicht ab, weil sie
iiber die Trennung weinten. »Haben Sie« (sagte Klotilde,
wenigstens mit einer gefaBten Stimme) »eben mit Julius gespro- 3 o
chen?« - Viktor antwortete nicht, aber seine Augen sagten Ja,
indem sie bloB heftiger stromten und sie unverwandt anschaueten.
Sie sehlug sie tief nieder, mit einem kleinen Erroten fur Giulia. Das
kleine* Kind hielt die iiber die grofien Tropfen heruberfallenden
Augenlider fur schlafrig und zog der Puppe das schmale, mit Heu
gepolsterte Kopfkissen weg, breitete es Klotilden hin und sagte
36. HUNDPOSTTAG IO83
unschuldig: »Da leg dich drauf und schlaf ein!<( Es schauerte ihren
Freund, da sie antwortete: »Heute nicht, Liebe, auf Kissen mit
Heu schlafen nur die Toten.« Es schauerte ihn, da er auf ihrem
bewegten Herzen eine schneeweiBe Federnelke, in deren Mitte
ein grofier dunkelroter Punkt wie ein blutiger Tropfen ist, erzit-
tern sah. Die furchterliche Nelke schien ihm die Lilie zu sein, die
der Aberglaube sonst im Chorstuhle des Priesters antraf, dessen
Sterben prophezeiet werden sollte.
Sie heftete schmerzlich ihren Blick auf die tiefe Sonne und den
10 Gottesacker, hinter dem diese in den Maitagen wie ein Mensch
unterging. »Verlassen Sie diese Aussicht, Teuerste,« (sagt* er, wie-
wohl ohne HofFnung des Gehorsams) - »eine zarte Hiille wird von
einer zarten Seele am leichtesten zerstort. - Ihre Tranen tun Ihnen
zu wehe.« Aber sie erwiderte: »Schon lange nicht mehr — nur in
friihern Jahren brannten mir davon die Augenhohlen, und der
Kopf wurde betaubt.« - Plotzlich als der Gedanke an die bewolkte
Perspektive ihrer verweinten Tage ihm das Herz aus dem Busen
wand, erstarb das Sonnenlicht auf ihren Wangen - Tranenstrome
brachen gewaltsam aus ihren Augen - er wandte sich um - drtiben
ao auf dem Gottesacker sank der Verhullte auf dem Hugel der Ver-
hullten nieder - die Sonne war schon unter die Erde, aber die
Flote hatte noch keine Stimme, der Schmerz hatte nur Seufzer
und keine Tone. ... Endlich richtete der schone BHnde sich unter
zuckenden Schmerzen empor zum Totenopfer, und die Floten-
klagen stiegen von dem festen Grabe auf in das Abendrot - drei
Herzen zergingen wie die Tone, wie das vierte eingesunkne. Aber
Klotilde riB sich gewaltsam aus dem stummen Jammer auf und
sang zu dem Totenopfer leise das himmlische Lied, um das
die Verstorbne sie gebeten hatte und das ich mit unaussprechlicher
jo Running gebe:
Das Grab ist tief und stille
Und schauderhaft sein Rand ;
Es deckt mit schwarzer Hiille
Ein unbekanntes Land.
Das Lied der Nachtigallen
Tont nicht in seinen SchoB;
1084 HESPERUS
Der Freundschaft Rosen fallen
Nur auf des Hugels Moos.
VerlaBne Braute ringen
Umsonst die Hande wund;
Der Waisen Klagen dringen
Nicht in der Tiefe Grund.
Dock sonst an keinem Orte
Wohnt die ersehnte Ruh*;
Nur durch die dunkle Pforte
Geht man der Heimat zu. 10
O Salts/ in diesem Dock sind alle unsere verwehten Seufzer,
alle unsere vertrockneten Tranen und heben das steigende Herz
aus seinen Wurzeln und Adern, und es will sterben!
Die Stimme der edeln Sanger in unterlag der Wehmut, aber sie
sang doch die letzte der Strophen dieses Spharen-Liedes, obwohl
leiser in der schmerzhaften Oberwaltigung:
Das arme Herz, hienieden
Von manchem Sturm bewegt,
Erlangt den wahren Frieden
Nur, wo es nicht mehr schlagt. «
Ihre Stimme brach, wie ein Auge bricht oder ein Herz .... Ihr
Freund hiillte sein Haupt in die Blatter der Laube - das ganze
Erdenleben zog wie eine Klage voriiber. - Klotildens schwere
Vergangenheit, Klotildens diistere Zukunft riackten zusammen
vor seinem Auge und warfen im Dunkeln den Leichenschleier
tiber diesen Engel und zogen sie verhiillet in das Grab zur Schwe-
ster.... Er hatte sogar den Abschied vergessen . . . er hatte nicht
den Mut, die groBe Szene um sich anzuschauen und die Gebeugte
neben sich ....
Er horte die Kleine gehen und sagen : »Ich hole dir ein groBeres 30
Kissen unter den Kopf.«
Klotilde stand auf und faBte seine Hand - er kehrte sich wieder
um in die Erde - und sie schauete ihn an mit einem verweinten,
aber zartlichen Auge, dessen Tropfen zu rein waren fur diese
36. HUNDPOSTTAG IO85
schmutzige Welt; aber in diesem groBen Auge stand etwas
gleichsam wie die furchterliche Frage: »Lieben wir uns nicht ver-
geblich fur diese Welt?« - Und ihr schlagendes Herz erschiitterte
die blutige Nelke. — Der Mond und der Abendstern glimmten
einsam wie eine Vergangenheit im Himmel. — Julius ruhte stumm
und niedergedruckt mit umschlieBenden Armen auf dem einge-
sunknen Hiigel, der auf den Staub seines zersplkterten Paradieses
gewalzet war. -
Die Tone der Nachtigall schlugen jetzo gleich hohen Wellen
o an die Nacht - da ermannte er sich, um ihr Lebewohl zu sagen ....
Leser! erhebe deinen Geist zii keiner Entziickung, denn sie
wird bald in einem Krampf erstarren - aber ich erhebe meine
Seele dazu, weil sogar das tddliche Niederstiirzen an der Pforte
des Paradieses schon ist unter dem Weggehen daraus !
Dem ersten Rufe der vertrauten Nachtigall antwortete plotz-
Hch noch hoher eine neue hergeflatterte, von dicken Bliiten ge-
dampfte Nachtigall, die immer unter dem Singen flog und jetzt
aus der Bliitenhohle ihr melodisches Schmachten ziehen IieB. Die
beiden Menschen, die das Scheiden verschoben und fiirchteten,
so irrten betaubt der gehenden Nachtigall nach und waren auf dem
Wege zur seligen Bliitenhohle; sie wuBten nicht, daB sie allein
waren; denn in ihrem Herzen war Gott; vor ihrem Auge schim-
merte die ganze zweite Welt voll auferstandner Seelen. Endlich
erholte sich Klotilde, kehrte um vor der Nachtigall und gab das
traurige Zeichen der Trennung. - Viktor stand am Ufer seiner
bisherigen gluckseligen Insel - alles, alles war nun voruber - er
blieb stehen, nahm ihre zwei Hande, konnte sie noch nicht an-
schauen vor Schmerz, bog sich mit Tranen nieder, richtete sich
auf, als er leise reden konnte: »Lebe wohl - mehr kann mein
.0 schweres Herz nicht - recht wohl lebe, viel besser als ich - weine
nicht so oft wie sonst, damit du mich nicht etwan verlassen muBt.
- Denn ich ginge dann auch.« - Lauter und feierlicher fuhr er
fort: »Denn wir konnen nicht mehr geschieden werden - hier
unter der Ewigkeit reich' ich dir mein Herz - und wenn es dich
vergisset: so zerquetsch' es ein Schmerz, der uber die zwei Wei-
ten reicht«. . . (Leiser und zardicher) »Weine morgen nicht, Engel
I086 HESPERUS
- und die Vorsehung gebe dir Ruhe.« - Wie ein Verklarter an
eine Verklarte neigte er sich zuriickgezogen an ihren heiligen
Mund und nahm in einem leisen andachtigen Kusse, in dem die
schwebenden Seelen nur von feme mit aufgeschlagnen Flugeln
zitternd einander entgegenwehen, mit leiser Beruhrung von den
zerflossenen weichenden Lippen die Versieglung ihrer reinen
Liebe, die Wiederholung seines bisherigen Edens und ihr Herz
und sein Alles
- Aber hier wende die sanftere Seele, die die Donnerschlage
des Schicksals zu sehr erschiittern, ihr Auge von dem gelben i<
groBen Blitze weg, der plotzlich durch das stille Eden fahrt! -
»Schurke!« - schrie der heraussturzende Flamin mit spriihenden
Blicken, mit schneeweifien Wangen, mit wie Mahnen herunter-
hangenden Locken, mit zwei Taschenpistolen in den Handen -
»Da nimm, nimm, Blut will ich« und stieB ihm das Mordgewehr
entgegen — Viktor drangte Klotilden weg und sagte : »Unschul-
dige! vermehre deine Schmerzen nkbt!« - Flamin rief in neuer
Entflammung: »BIut! - Treuloser, nimm, schieBk Matthieu fiel
ihm in den rechten Arm, aber der linke drang bebend dem Viktor
das GeschoB auf. - Viktor riB es zu sich, weil die Miindung um .
Klotilden herumwankte. - »Du bist ja mein Bruder«, rief die Ge-
marterte, bloB durch Todesangst vom Tode der Ohnmacht weg-
gequalt. - Flamin warf mit beiden Armen alles von sich und sagte
graBlich-leise langgedehnt in wiitender Erschopfung: »Blut! -
Tod !« - Klotilde sank um - Viktor blickte auf sie und sprach
gegen ihn: »Feuer' nur, hier ist mein Leben!« - Flamin schrie
laut: »Du zuerst!« - Viktor schoB, hob den Arm weit empor, um
in die Luft zu schieBen, und der zersplitterte Gipfel wurde von
seiner Kugel heruntergesturzt. - Klotilde wachte auf - Emanuel
flog her - warf sich an seines Schulers Herz - seiner seit Jahren ,
zum ersten Male von Leidenschaft auseinandergerissenen Brust
quoll das sieche Blut aus - Flamin schleuderte stolz seine Pistole
weg und sagte zu Matthieu: »Komm! es ist der Mtihe nicht wert«
und ging mit ihm davon.
36. HUNDPOSTTAG 1087
Als Klotilde Emanuels Blut auf ihres Geliebten Kleidern sah,
hielt sie ihn fiir getroffen und legte ihr Tuch auf das Blut und
sagte : »Ach das haben Sie nicht um mich verdient.« - Emanuel
atmete wieder durch sein Blut hindurch, niemand konnte weiter
sprechen, niemand iiberlegen, jeder fiirchtete sich, zu trosten, die
todlich zermalmten Herzen schieden mit verbissenem Weh aus-
einander; bio 6 Viktor, den das graBliche Wort »Schurke« bei
jeder Erinnerung wie ein Dolch durchstieB, sagte noch zur
Schwester: »Ich lieb' ihn nicht mehr, aber er ist unglucklicher
o als wir, ach er hat alles verloren und nichts behalten als einen
TeufeU
Namlich Matthieu. Dieser hatte heute die Stimme Emanuels,
die mit Julius gesprochen und die Dahore fiir des Vaters seine
gehalten, und nachher die Stimme der Nachtigall, der Viktor
nachgegangen, nachgemacht, um den Regierungrat durch seine
eigne Ohren und Augen von Viktors Liebe gegen Klotilden zu
uberfiihren.
Viktor fuhrte den schwachen Lehrer in die indische Hikte. Er
fuhlte jetzo nach so vielen auf losenden Tagen seine Nerven durch
o dieses Ungewitter gekiihlt und gestahlt; der Seclenschmerz und
die Aufopferung hatten sein Blut, wie engere versperrende Wege
die Strome, schneller und heftiger gemacht, und die Liebe zu Klo-
tilden war mannlicher und kiihner durch den Gedanken geworden,
da8 er sie nun ganz verdiene. Nichts gibts auBer GroBmut und
Sanftmut Schoneres als das Biindnis derselben.
Emanuel war nichts weiter als matt und setzte sich, da der
Abend schwiil auf alien briitete, mit Viktor auf die Grasbank sei-
nes Hauses, um mit der zuckenden Brust aufrecht zu bleiben, und
eine sanfte Freude glanzte in seinen Mienen iiber jeden gefallnen
10 Bluttropfen, weil jeder ein rotes Siegel auf seine Hoffnung zu
sterben war. Aber als Viktor das mude Haupt des guten Mannes
an seinen Busen nahm und ihn darauf entschlummern lieB : so
wurde ihm im stillen Abend wieder weh, und sein Herz schmerzte
ihn erst. Er dachte sich es einsam, wie sich driiben heiBe Schwerter
durch die schuldlose blutende Seele zischend ziehen wiirden — er
fuhlte, wie nun das zweisilbige, zweischneidige Zornwort Flamins
1088 HESPERUS
durch das ganze Band ihrer Freundschaft geschnitten - er stellte
sich das neben ihm bliihende Theater der schonen Tage verodet
vor und das Voruberwehen der Freuden, die uns nur wie Schmet-
terlinge in weiten Kreisen umspielen, indes der Nervenwurm des
Grams sich tief in unsere Nerven einbeiBet. Endlich lehnt' er sich
weinend an den schlummernden Vater und driickte ihn leise und
sagte: »Ach ohne Freundschaft und Liebe konnt' ich die Erde
nicht ertragen.« - Und endlich wurde auch seine zersetzte und
versiegte Seele vom schweren Korper in den dicken Schlaf ge-
driickt und hinabgezogen. i
Leser! der letzte Augenblick in Maienthal ist der groBte - erhebe
deine Seele durch Schauder und steige auf Graber wie auf hohe
Gebirge, um hinuberzusehen in die andere Welt!
Um Mitternacht, wo die Phantasie die verhullten Toten aus
den Sargen zieht und sie aufgerichtet in die Nacht um sich stellt
und aus der zweiten Welt unbekannte Gestalten zu uns verschlagt
— so wie unkenntliche Leichname aus Amerika an die Kiisten der
alten Welt antrieben und ihr die neue verkundigten -, in der
Geisterstunde schlug Viktor die Augen auf, aber unaussprechlich
heiter. Ein vergessener Traum hatte die heutige Vergangenheit 2
mit allem ihrem Getose und Gewolke weit hinabgesenkt; - der
lichte Mond stand oben in der blauen Verfinsterung wie die sil-
berne Spalte und quellenhelle Miindung, aus der der Lichtstrom
der andern Welt in unsere bricht und in atherischem Dufte nieder-
sinkt. - »Wie ist alles so still und so licht!« sagte Viktor. »Ist diese
dammernde Gegend nicht aus meinem Traume iibrig geblieben,
ist das nicht die magische Vorstadt der tiberirdischen Stadt Got-
tes?« - Eine voriibereilende Stimme sagte: »Tod! ich bin schon
begraben.«
Emanuel offnete dariiber die Augen, warf sie durch das Laub- 3
werk in den iiber das Dorfchen erhohten Kirchhof und sagte mit
einer Zuckung seines ganzen Wesens : »Horion, wach auf, Giulia
hat die Ewigkeit veriassen und steht auf ihrem Grabe.« - Viktor
blickte fieberhaft hinauf; und in einem schneidenden Eisschauer
wurden alle warmen Gedanken und Nerven des Lebens hart und
36. HUNDPOSTTAG 1089
starr, da er oben am Grabe eine weiBe verschleierte Gestalt ruhen
sah. Emanuel riB sich und seinen Schuler auf und sagte: »Wir
wollen hinauf auf das Theater der Geister: vielleicht ergreift die
Tote meine Seele und nimmt sie mit.«... Furchterlich schwiegen
die Gegenden um ihren Weg... die Menschen fahren aus dem
FuBboden wie stumme Knechte, wie Maschinen zur Bedienung,
und fallen wieder hinunter, wenn sie abgeleeret sind.... Das
Menschengeschlecht zieht wie ein fliegender Sommer durch den
Sonnenschein, und das betauete Gewebe hangt sich flatternd an
10 zwei Welten an, und in der Nacht vergehts — So dachten beide
Menschen auf der Wallfahrt zur Toten, sie wunderten sich uber
ihre eigne schwere Verkorperung und iiber das Gerausch ihrer
Tritte. - Emanuel knupfte seinen Blick auf die verschleierte Ge-
stalt, die jetzt niederkniete ; er dachte, sie hore seine Gedanken und
fliege zu seinem Herzen durch das Mondlicht heriiber ....
Die Brust der zwei Menschen hob sich gleichsam unter zwei
Leichensteinen auf und nieder, da sie die ubergrasten langen Stu-
fen zum Kirchhof aufstiegen und das schwere Tor, das mit ver-
witterten, weggewaschenen Auferstandenen angemalet war, be-
20 ruhrten und aufdrehten. Das warme Erdenblut friert ein und das
weiche Gehirn gerinnt zu einem einzigen Schreckenbilde, wenn
von der Ewigkeit und von der Pforte der Geisterwelt die groBe
Wolke wegriickt; Emanuel rief auf der Biihne der Toten wie auBer
sich: »Schauderhafter Geist, ich bin ein Geist wie du, du stehst
auch unter Gott, willst du mich toten : so tote mich durch keinen
Schauer, durch keine zermalmende Gestalt, sondern lachle wie
die Menschen und drehe still mein Herz ab.« - Da stand die ver-
hiillte Gestalt auf und kam - Emanuel griff wild nach seinem
Freund, hiillte sich in das Angesicht desselben und sagte ange-
30 druckt: »An dir sterb* ich, an deinem warmen Herzen - o lebe
glucklich, wenn du nicht mit mir erkaltest, ach! ziehe mit!«...
»Ach, Klotilde!« - sagte Viktor; denn sie war die Gestalt. Sie
war stumm wie das Geisterreich, denn die besuchte Tote um-
klammerte noch ihr Herz; aber sie war groB wie ein Geist daraus:
denn der atherische Lichtnebel des Mondes, der Stand auf Toten,
der Blick in die Ewigkeit, die hohe Nacht und die Trauer erhoben
IO9O HESPERUS
ihre Seek, und man vergaB fast, daB sie weinte. - Emanuel hielt
seine Fliigel noch" ausgebreitet iiber die Szene und schauete er-
haben iiber die Graber : »Wie alles hier schlaft und ruht auf dem
groBen griinen Totenbette! Ich mochte darauf erliegen - Sprach
jetzo nichts? - Die Gedanken der Menschen sind Worte der Gei-
ster. - Wir sind schleichende Nachtvogel im dammernden Dunst-
kreis, wir sind stumme Nachtwandler, die in diese Hohlen fallen,
wenn sie erwachen — Ihr Toten! verstaubet nicht so stumm, ihr
Geister, die ihr aus euren begrabnen Herzen zieht, flattert nicht
so durchsichtig um uns ! — O der Mensch ware auf der Erde eitel 1 °
und Asche und Spielwerk und Dunst, wenn er nicht fiihlte, daB
ers ware — o Gott, dieses Gef iihl ist unsere Unsterblichkeit !« —
Klotilde, um ihn von dieser verheerenden Begeisterung herab-
zuziehen, nahm ihn bei der Hand und sagte: »Leben Sie wohl,
Verehrungswiirdiger, ich nehme heute noch Abschied, weil ich
morgen aus Maienthal gehe - leben Sie gliicklich - gliicklich, bis
wir uns wiedersehen; mein Herz vergisset Ihre GroBe nie, aber
ich sehe Sie bald wieder.«... Ihre Wehmut iiber den Gedanken
an sein geweissagtes Sterben, ihre Furcht eines ewigen Abschieds
erdriickten die andern Worte, denn sie wollte mehr sagen und 20
warmer danken. Emanuel sagte: »Wir sehen uns nicht wieder,
Klotilde; denn ich sterb' in vier Wochen.« - »0 Gott! nein!<t
sagte Klotilde nut dem innigsten heifiesten Tone. - »Mein guter
Emanuel,* sagte Viktor, »quale diese Gequalte nicht. - Fasse dich,
Gemarterte! unser Freund bleibt gewiB bei uns.«- Hier hob Ema-
nuel sein Auge in den Himmel und sagte mit einem Blick, in dem
eine Welt war: »Ewiger! konntest du mich bisher so getauscht
haben? - Nein, nein, am l^ngsten Tage ziehen mich deine Sterne
auf, und deine Erde kuhlt mein Herz. - Und dich, du gute Klo-
tilde, du Seele vom Himmel, dich sen' ich also heute gewiB, bei 3°
Gott! zum letztenmal mit deinen schonen Wangen und in deiner
Erdengestalt - ich segne dich und sage dir Lebewohl, aber schwer
und triibe, weil ich noch so viele Tage leben soil ohne dich. Ziehe
sanft umweht durchs Leben, halte dein Herz hoch iiber den bun-
ten Dunst der Erde und iiber ihre Wetterwolken - du horst mich
ja nicht, du bitter-weinendes Angesicht, Gott gieBe Trost in deine
36. HUNDPOSTTAG IO9I
Seele, scheide froher! - Dein Freund ist bei mir, wann ich von
hinnen gehe.« - Hier faBte Viktor die Hande derwankenden ver-
weinten Gestalt, die sich vergeblich die Tranen abstreifte, um den
Lehrer noch einmal zu sehen und in die Seele zu driicken; und als
Viktor ohne Besinnung rief: »Giulia! Selige! mildere das Weh
deiner Freundin in dieser Stunde, halte dieses brechende Herz«,
so sagte Emanuel, unbeschreiblich zartlich beide anblickend : »Ich
segne euch ein wie ein Vater, heiliges Seelen-Paar! Nie verlasset,
nie vergesset einander! - O ihr seligen Geister hier uber dem
10 glimmenden Moder der zerstxickten Sarge, gebet diesen zwei
Herzen Frieden und Gluck, und wenn ich einmal gestorben bin,
will ich um eure Seelen schweben und sie beruhigen. Und du,
Ewiger unter deinen Sternen, mache diese zwei Menschen so
gliicklich wie mich - o nimm ihnen nichts, nichts auf der Erde als
das Leben. - Gute Nacht, Klotilde!«
- Die Pfingsttage sind voriiber! -
Und dir, gutes Schicksal, dank* ich, daB du mir die Gesundheit
zur Freude gereicht, ein solches fluchtiges goldnes Zeitalter abzu-
schatten, da mein schwaches, so ungleich schlagendes Herz nicht
20 verdient, solche Entziickungen nachzumalen. - Und dir, mein
lieber Leser, moge das Pfingstfest irgendeinen Brandsonntag oder
eine Marterwoche deines Lebens versiiBet haben! -
Ende des dritten Heftleins
VlERTES HEFTLEIN
VlERTE VORREDE
oder abgedrungene Antikritik gegen eine oder die andere Rezension, die mir
etwan nicht ge fallen sollte
Gute Romanenschreiber erschafFen aus Dinten- und Drucker-
schwarze einen neuen entsetzlichen Tyrannen, geben ihm ent-
weder in Italien oder im Orient einen Thron — und danh treten sie
(ungleich den Kindern, die vor der Gestalt entlaufen, die sie ge-
zeichnet haben) beherzt vor den gemalten gekronten Wiiterich
und sagen ihm die herrlichsten, aber die kiihnsten Wahrheiten in
io das Angesicht, die den freien Mann verraten, und die wohl kein
gebiickter Dikasteriant vor seinem Regenten wiederholt. Solche
Waghalse erinnern mich so oft an zwei Abcschutzen, als ich bei
einem Tore im HabergaBchen in Hof vorbeigehe, auf dem ein ge-
malter Lowe sich und seine Mahne aufbaumt und den Schwanz
und die Zunge ringelt und hebt. Denn einer der gedachten Abc-
schiitzen sagte unter meinem Voriiberlaufen zum andern : »H6r,
ich fass* ihn doch am Schwanz an, ich furchte mich gar nicht.«
Aber der andere Schiitz, der yiel dreister dachte, bestieg kalt einen
Eckstein und sagte : »Ich erst, Herr, ich fahr' ihm gleich so in den
20 Rachen!« -
Es ist dieselbe Kuhnheit, womit oft ein Autor auf dem Papier,
auBer dem gedachten grausamen Konig der Tiere, auch das kri-
tische Katiengeschlecht angreift - das Linne zur koniglichen Linie
der Lowen zahlt -, indem er Richterstiihle so kalt und kuhn, als
warens gemalte Thronen, erschiittert und so im Allgemeinen
Journale durch seine Vorreden schilt und fallt. Das kann ein
Schriftsteller von Kraft. Ich meines Orts bin hierin vielleicht so ver-
messen wie einer und male mir ausdrucklich folgende Rezensen-
ten-Katze hin, um frei und ungebunden mit ihr anzubinden und
5° an ihr zu zeigen, was Mut tut.
Erstlich mufi der Rezensent, der mir vorwerfen wird, ich ware
zwei ganze Schalttage schuldig - den nach dem 40sten und den
IO96 HESPERUS
nach dem 44sten Hundposttag -, diese zweite Ausgabe gar nicht
angesehen haben; die beiden Vorreden, womit ich sie bereichert
habe, die erste und diese, gelten bei alien Verstandigen fur wahre
Schalttage.
Zweitens halt mein Rezensent sich (kiinftig) iiber meine Scho-
rmng meiner Manier auf. Er hore aber jetzt den Philosophen (nam-
lich mich) ; Manier ist an und fur sich weiter nichts als folgendes:
das asthetische Ideal und Intregal wird, wie jedes, nur von einer
unendlichen Kraft erreicht, wir aber mit unserer endlichen kom-
men ihm unaufhorlich ndker> nicht einmal nah; Manier ist also, 10
wie es der Philosoph nimmt, ein endlicher Spiegel der Unendlich-
keit, oder der Ausdruck des Verhaltnisses, in welchem jede Tem-
peratur und Saitenzahi irgendeiner gegebenen Aolsharfe mit der
Partitur der unendlichen Spharenmusik steht, der sie nachzu-
klingen hat. Jedes Gewebe menschlicher Krafte gibt nur eine Ma-
nier, und hohere Geister wurden in Homer und Goethe wenig-
stens die menschliche finden; ja die hohere Engel-Hierarchie fande
die niedere manieriert, der Seraph den Engel der Gemeine. Daich
aber nicht einmal ein gewohnlicher Engel bin - geschweige ein
Seraph -: so wiirde ein anderer Rezensent als der, der mich be- 20
urteilen wird, sogleich von vorne vorausgesetzt haben, daB ich
eine Manier haben wiirde. - Und diese hah* ich offenbar. - Aber
noch mehr: da der Grad und das Verhdltnis unserer Krafte sich
von Jahr zu Jahr verwandelt - und mithin auch die Frucht und
der Ertrag derselben, die Manier-: so wirft leider gewohnlich die
Manier des funfzigsten Jahrs sich zum Korrektor der Manier des
fiinfundzwanzigsten auf; oder vielmehr, es geht eine heterogene
Einkindschaft von Kindern zweier Ehen vor, bei welcher beide
verlieren. Ein solches Simultan-Hysteronproteron ist noch arger,
als wenn man die griechischen Statuen aus dem einen Winkel- 30
mannschen Kunstzeitalter nach den Statuen aus einem andern
behacken und zuschleifen wollte. GieBe lieber ein reines fliissiges
Werk in deine jetzige Form, und treibe nicht erst das gegossene
erhartete darein! - Gesetzt auch, ich wiirde kiinftig kliiger und
anders, niemals wiird' ich den Greis auf den JiingHng pfropfen.
Der Mensch halt sich im Konzertsaal des Universums, wenn
VIERTE VORREDE IO97
nicht fur den Solospieler, doch fiir ein Instrument darin - anstatt
fur einen einzigen Ton -, wie denn der Fiirst sich fiir ein Obe-
rons- oder doch Parforcehorn ansieht - der Poet fur ein Haber-
rohr - der Autor fiir ein Setzinstrument 1 - der Papst fiir das Orgel-
werk - die Schone fiir Bestelmeiers Handstahlharmonika oder fiir
eine Wachtelpfeife - mein Rezensent fiir eine Stimmpfeife - und
ich mich selber fiir Malzels groBes Panharmonikon. Aber wir alle
sind nur Tone, wie in Potemkins Orchester jede der 60 metallenen
Floten nur einen Ton angab. Daher bin ich iiber jede Individuali-
10 tat, iiber jede Manier als iiber einen neuen Halbton in der Kirchen-
musik der Wesen froh.
Drittens weiB ich nichts, woraus ich meines kiinftigen Rezen-
senten Verlegenheit um siindige Materie zum Tadeln besser sehen
kann, als dieses, daB er sich an solche jammerliche Kleinigkeiten
halt - in Zukunft -, wie folgende augenscheinlich sind, daB ich
z. B. diese Vorrede beigefugt, daB ich das Werklein in vier Hefte
auseinandergebunden und durch dieses vierte Heft einem friihern
Besitzer und Biicherwurm den Bogenwurm' der alten Ausgabe
ganz unbrauchbar gemacht. Aus dergleichen Proben und Sprii-
20 chen, womit mir ein solcher spartischer Ephorus Emerepes die
vierte und hochste Saite nehmen will, die ich auf meiner Geige
voll steigender Quinten aufziehe, mache sich der geneigte Leser
einen BegrifT, wie es mit dem Ganzen der Rezension aussehen
mag. Ich schame mich fortzufahren.
Viertens find' ich iiberall, wenn ein Autor sich in der Vorrede
mit einem leichten Tadel, den er doch selber kaum glaubt, belegt,
daB alsdann die Kritiker diesen Tadel sogleich akzepderen und
verdoppeln, wie die Romer einen Selberfnorder, dem die Tat ver-
ungluckte, nachher ordentlich hinrichteten. Schlagt der gewitzigte
30 Autor die Sache in ein anderes Fach und belegt sich vornen mit
einigem Lob - und nicht mit scheinbarem -: so wird dieses gar
nicht akzeptiert, geschweige verdoppelt. Da mag der Teufel Vor-
redner sein! -
1 So heifiet ein Klavier, das alles aufnotiert, was es vortont.
* So heiOet der unten auf jedem Bogen abgekiirzt wiederkommende Titel
des Buchs.
IO98 HESPERUS
Inzwischen scheint er auch nur Rezensent zu sein und weniger
ein schlauer als ein grober Gast. Viele und wirklich auffallende
Unhof Iichkeiten vergeb' ich aber meinem kiinftigen Rezensenten
gern, indes ich einem gallischen oder britischen nichts verziehe,
weil er weiB, wie man mit Leuten umgeht. - Ich spiele ihm selber
in der Antikritik nicht sonderlich hof Iich mit und ziehe nicht, wie
der Landmann vor hohern Blitzen, die Miitze vor seinen ab. Die
Richter sagen nach der Spezial-Rezension ohnehin zum Inkul-
paten Du. Ein gelinder (kritischer) Winter ist ungesund fur den,
den er betrifft. Obrigens lauer* ich bloB darauf, daB ich bertihmt 10
werde und Lorbeerblatter aufhabe : dann werd' ich so gut wie andre
Zeitgenossen, die jetzt Lorbeerbaume aufgesetzt, nicht leiden, daB
man mich tadelt; und wenige werden sichs unterfangen, so wie
auch auf Gemalde, die mit Lorbeerol bestrichen worden, keine
Fliegen fallen.
Fiinftens und letztens. Es ist bekannt, daB die verstorbene
Schriftstellerin Ehrmann den Advokaten Ehrmann, als er eines
lhrer Werke in der StraBburger Zeitung mit vielen Beifall aufge-
nommen undangezeigt, der Rezension wegen geheiratet hat. Will
es der Redakteur eines Journals heimlich so karten, daB eine Mit- 20
arbeiterin desselben meine zweite Auflage des Hesperus (oder
Venussterns) mit dem Beifalle aufnimmt und bekannt macht, den
die erste ihrer Reize wegen allgemein erhalt; und will er mir nur
einen Wink uber das Geschlecht meines Rezensenten zuspielen -
wobei aber darauf gesehen werden muB, daB die kritische Person
sich noch im besten bliihenden Alter eines Rezensenten iiberhaupt
befinde, worin man das Feuer des Abend- oder Venussternes noch
leicht empfinden und mitteilen und gunstig rezensieren kann,
um so mehr, da schon in der Physik nur grimes Holz ein Leiter
der elektrischen Flamme ist, diirres aber ein Nichtleiter — , will der 50
Redakteur alles dieses besorgen und abtun : so macht sich der Ver-
fasser dieser Antikritik mit seiner Namenunterschrift anheischig,
der Mitarbeiterin sogleich nach Empfang der Rezension aufzu-
warten und solche mit den gewohnlichen Zeremonien zu heiraten.
Hof im Voigtland, den 8.Jun. 1797.
Jean Paul Fr. Richter.
Neunter Schalttag
Viktors Aufsatz tiber das Verhaltnis des Ich zu den Organen
Viktor war ebensosehr dem ausschlieBenden Geschmack in der
Philosophic als in der Dichtkunst feind. In alien Systemen - sel-
ber der Ketzer des Epiphanius und Walchs - driickt sich die Ge-
stalt der Wahrheit, wie im Tierreich die menschliche, wiewohl in
immer kiihnern Zugen ab. Kein Mensch kann eigentlichen Unsinn
glauben, obwohl ihn sagen. Sonderbar ists, daB gerade die konse-
quenten Systeme, ohne das Atomen-Klinamen des Gefuhls, am
10 weitesten auseinanderlaufen. Die Systeme werfen, wie die Leiden-
schaften, nur im Fokalabstande den hellsten Lichtpunkt auf den
Gegenstand; — wie jammerlich lauft z.B. die groBe Theorie von
der Selberbeherrschung aus dem Christentum in den Stoiiismus -
dann in den Mystiiismus - dann in den Monachismus uber, und
der Strom sickert endlich ausgedehnt im Fohismus ein, wie der
Rhein im Sand ! - Die kantische Theorie hat mit alien folgerechten
Systemen diese Versandung, und mit den unkonsequenten jenes
Gefuhls-KHnamen 1 gemein, das die vertrocknenden Arme wieder
zu einer labenden Quelle zusammenfuhrt. Die zwei Hande der
20 reinen Vernunft, die einander in der Antinomie zerkratzten und
schlugen, legt die praktische friedlich zusammen und driickt sie
gefaltet ans Herz und sagt: hier ist ein Gott, ein Ich und eine Un-
sterblichkeit! —
Viktor befruchtete seine Seele vorher durch die groBe Natur
oder durch Dichter, und dann erst erwartete er das Aufgehen
eines Systems. Er fand (nicht erfand) die Wahrheit durch Auf-
flug, Umherschauen und Oberschauen, nicht durch Eindringen,
mikroskopisches Besichtigen und syllogistisches Herumkriechen
von einer Silbe des Buchs der Natur zur andern, wodurch man
30 1 Das Orientieren durch die praktische Vernunft.
\war dessert Worter, aber nicht den Sinn derselben bekommu Jenes
Kriechen und Betasten gehort, sagt' er, nicht zum Finden, sondern
zum Prilfen und Bestatigen der Wahrheit; wozu er sich allezeit
von Bayle Schulstunden geben HeB : denn niemand lehrt die Wahr-
heit weniger finden und besser priifen als Scharfsinn oder Bayle,
der ihr Miinzwardein, aber nicht ihr Bergmann ist.
Der Aufsatz
Schrieb' ich ihn in Gottingen: so konnt' ich ihn in Paragraphen
und grundlicher machen, weil mich die Flachsenfinger nicht stor-
ten. Indessen muB er doch hier geschrieben werden, damit ich an 10
mir selber einen Schirmherrn und Anwalt gegen die Hof junker
habe, die meinen Geist in meinen Korper verwandeln wollen.
Das Gehirn und die Nerven sind der wahre Leib unsers Ich;
die iibrige Einfassung ist nur der Leib jenes Leibes, die nahrende
und schirmende Borke jenes zarten Marks. - Und da alle Ver-
anderungen der Welt uns nur als Veranderungen jenes Markes
erscheinen : so ist die Mark- und Bleikugel mit ihren Streifen die
eigentliche Weltkugel der Seele. Der umgekehrte Nervenbaum
entsprieBet aus dem geschwollnen Fotus-Gehirn wie aus einem
Kerne, dem es auch ahnlich sieht, und steigt mit Sinnen-Asten als 20
Ruckenmarkstamm empor bis zum zergliederten Gipfel des
Pferdeschweifs. Dieses markige Gewachs ist auf den Adernbaum
wie eine zehrende parasitische Pflanze geimpft. Und wie jeder Zweig
ein kleinerer Baum ist, so sind - denn das alles ist nicht Ahnlich-
keit des Witzes, sondern der Natur- die Nervenknoten vierte Ge-
hirnkammern im kleinen. Die Nerven-^rt^n blattern sich aus-
gebildet auf der Netzhaut, auf der Schneiderischen Haut, in der
Geschmackknospe etc. zu Bluten auf. Daher wird z. B. nicht mit
dem Fortsatze des Sehnervens gesehen, sondern mit seiner zarten
Staubfaden-Zerfaserung; denn die groBe wankende Gemalde- 30
galerie auf der Netzhaut kann unmoglich durch eine Bewegung
des Nervengeists (oder was man nehmen will - denn auf Bewe-
NEUNTER SCHALTTAG 1 10 1
gung lauft es doch hinaus) sich zuriickschieben ins Gehirn, wobei
noch dazu die zwei Galerien der zwei Augen durch die zwei Zin-
ken des Sehenervens durchriicken und in dessen Stiel zu einem
Gemalde zusammenfallen miiBten.
Folglich muB das Bild im Auge, Ohre etc., wenn es zu etwas
dienen soil, vorn an der Spitze des Nervens empfunden werden -
mit einem Wort, es ist noch narrischer, die Seele in den Zwinger
der vierten Gehirnkammer, d.h. in einen Porus dieses Knollen-
gewachses zu sperren, als es ware, wenn einer, der, wie ich, ein
10 beseelendes Ich in die Blume setzt, dasselbe ins Erdstockwerk des
dumpfen Kerns heftete. Lieber wollt* ich die Seele doch in das
feinste HoniggefaB der Sinnen, in die Augen, verlegen als ins un-
empfindlichere Gehirn, wenn ich nicht iiberhaupt glaubte, daB
sie wie eine Hamadryade jedes Nervenastchen dieser Tierpflanze
bewohne und warme und rege. Der unterbundene oder durch-
schnittene Nerve bringt zwar keine Empfindung mehr zu, aber
nicht wegen unterbrochenem Zusammenhang mit der Seele und
ihrer Wohn-Gehirnkammer, sondern weil ihm der nahrende
Lebensgeist abgeschnitten ist; denn die Nerven brauchen wie alle
20 feinere Organisationen so sehr for tdauernden Kost-ZuguB, daB der
stockende Herz- und Arterienschlag in einer Minute alle ihre
Krafte aufhebt.
Ich gehe weiter und sage - um zwei Irrtumern zu wider-
sprechen - vorher heraus: die Organe empfinden nicht, sondern
werden empfunden; zweitens die Organe sind nicht die Bedingung
alle Empfindung iiberhaupt, sondern nur einer gewissen.
Das letzte zuerst: da das Organ (d.h. seine Veranderung), das
so gut ein Korper ist als irgendein grober Gegenstand, dessen
seine jenes an die Seele legt, dennoch von dem geistigen Wesen
30 unmittelbar und ohne ein ^weites Organ empfunden wird : so
miissen alle korperliche Wesen dem geistigen so gut Empfin-
dungen geben als die Nerven, und eine unverkorperte Seele ist
nur darum nicht moglich, weil sie im Falle des abgeloseten Kor-
pers alsdann das ganze materielle Universum als einen plumpern
truge.
Meine erste Behauptung war : man sollte nicht sagen empfin-
II02 HESPERUS
dende Organisation, sondern empfundene. Die Nerven empfinden
nicht den Gegenstand, sondern verandern nur den Ort, wo ef
empfunden wird, und ihre Veranderungen und die des Gehirns
sind nur Gegenstande des Empfindens, nicht Werh[euge desselben
oder gar es selber. Aber warum? -
Ich habe mehr als ein Darum. Ein Korper ist nurderBewegung
fahig, ob sie gleich freilich nur der Schein der gedachten Zusam-
mensetzung und das Resultat der in einfache Teile verhullten
Krafte ist. Die Saite, die Luft, die Gehorknochelchen, die Gehor-
nerven erzittern ; aber die Erzitterung der letzten erklaret so wenig io
das Empfinden eines Tons, als das Erzittern der Saite es konnte,
wenn die Seele an diese gekettet ware. So ist trotz aller Bilder
im Auge und Gehirn das Ersehen derselben doch noch ungetan
und unerklart; oder ist wohl darum, weil die Sinne Spiegel vo\\
Bilder sind, etwan das geistige Auge entbehrlich oder ersetzt? Und
setzt die Veranderung des Nervens nicht eine zweite in einemzwei-
ten Wesen voraus, wenn sie soil bemerkt werden? Oder stellet
sich in diesem Wesen wieder eine Bewegung die Bewegung vor?
Dieses bringt mich aufs Gehirn. Dieser groBte und grobste
Nerve - der Resonanzboden aller andern - halt der Seele die 20
Schattenrisse derer Bilder vor, die von den andern zugefuhrt
wurden. Im ganzen, glaub' ich, dient das Gehirn mehr den
Muskelnerven, den Glieder-Ziigeln, die da in der Hand der Seele
zusammenlaufen, und mehr alien iiberhaupt als nahrende Wurzel;
aber weniger dient es als ReiBzeug der malenden Seele. Da unsere
meisten Vorstellungen auf grundierende Gesichtbilder aufgetra-
gen sind : so denken wir wahrscheinlich mehr mit dem Sehnerven
als mit dem Gehirn. Warum bemerkte Bonnet, daB tiefes Denken
die Augen und scharfes Sehen das Gehirn ermiide? Warum stump-
fen gewisse Ausschweifungen zugleich das Gedachtnis und die 3 o
Augen ab? Die auBerhalb des Auges gaukelnden Fieberbilder der
Kranken und der lebhaften Menschen wie Kardan, der im Dunkeln
sah, was er feurig dachte, erklaren sich aus meiner Vermutung.
Ober das Gehirn hat man zwei Irrtumer; aber der Himmel be-
wahre meine Freunde nur vor dem einen. Denn vor dem andern
kann sie Reimarus bewahren, der recht erwiesen hat, daB das Ge-
NEUNTER SCHALTTAG I IO3
hirn keine Aolsharfe mit zitternden Fibern, noch eine dunkle
Kammer mit geschobnen Bildern ist, noch eine Spielwelle mit
Stiften fur jede Idee, die der Geist umdrehr, urn an sich seine
Ideen ab- und vorzuorgeln. 1st nun nicht einmal die vorherbe-
stimmte Harmonte des Gehirns und des Geistes oder das Akkom-
pagnement beider begreif Iich : so ist die Identitat derselben gar un*
moglich; und eben vor diesem Irrtum hat eben der oben gedachte
Himmel meine Freunde zu bewahren. Der Materialist muB erst-
lich alles das aufstellen, was Reimarus umgestoBen hat; er muB
10 im Gehirnbrei die Millionen Bilderkabinetter von 70 Jahren ver-
steinern und doch wdeder wie Eidophysika beweglich machen und
die gemischten Karten-Bilder an jede Terzie austeilen; er muB
darauf sehen, daB diese beseelten tanzenden Bilder in Reih und
GHed gezwungen werden. Und dann geht doch seine Not erst
recht an ; denn nun muB er - wenn wir ihm auch zugeben, daB die
Bilder sich selber sehen, die Gedanken sich selber denken, daB
jede Vorstellung alle andere und sogar das Ich, wie eine Monade
das All, dunkel nachspiegle, und daB sonach jede Idee eine ganze
Seek sei - nun muB er (sagen wir) erst einen Generalissimus her-
20 schaffen, der dieses unermeBliche fluchtige Ideenheer komman-
diere und stelle, einen Setzer, der das Ideen-Buch nach einem
unbekannten Manuskripte setze und, wenn Traume, Fieber, Lei-
denschaften alle Schriftkasten ineinandergeschuttet haben, alle
Buchstaben wieder alphabetisch lege. Diese regelnde Einheit und
Kraft - ohne welche die Symmetrie des Mikrokosmus so wenig wie
desMakrokosmuS) dervorgestellten Welt so wenig wie der wirklichen
zu erklaren steht - nennen wir eben einen Geist. Freilich ist durch
diese unbekannte Kraft weder die Entstehung noch die Folge der
Ideen vermittelt und erklart; aber bei der bekannten der Materie,
30 bei der Bewegkraft> ists nicht bloB unbegreif lich, sondern gar un-
moglich; und Leibniz kann leichter die Bewegung aus dunkeln
Vorstellungen erklaren, als der Materialist Vorstellungen aus Be-
wegungen. Don ist die Bewegung nur Schein und existiert nur im
zweiten betrachtenden Wesen, aber hier ware die Vorstellung
Schein und existierte im zweiten - vorstellenden Wesen.
Ich habe oft mit Weltleuten, die gut beobachten und elend
II04 HESPERUS
schlieBen, mich gezankt, weil sie bei der kleinsten Abhangigkeit
der Seek vom Korper — z. B. im Alter, Trunke etc. - die eine zum
bloBen Repetierwerk des andern machten; ja ich habe sogar ge-
sagt, kein Tanzmeister sei so dumm, daB er so schlosse: »Weil
ich in bleiernen Schuhen plump, in holzernen flinker und in seid-
nen am bestetv tanze: so seh' ich wohlj daB die Schuhe mich mit
besondern Springfedern aufschnellen; und da ich kaum mit bleier-
nen Schuhen aufkann, so bracht* ichs barfuB nicht zu einem ein-
zigen Pas.« Die Seele ist der Tanzmeister, der Korper der Schuh.
Wir fassen keine Einwirkung weder von Korpern auf Korper 10
noch von Monaden auf Monaden; mithin eine von Organen auf
das Ich noch minder. Dieses wissen wir, daB die Kohasion und
Gutergemeinschaft zwischen Leib und Seele immer einerlei oder
hochstens in den Zeiten groBer ist, wo sie andere kleiner vermu-
ten; denn der groBte Tiefsinn, die heiligsten Empfindungen, der
hochste Aufschwung der Phantasie bediirfen gerade das wach-
serne Flugwerk des Korpers am meisten, wie auch seine darauf
kommende Ermattung es verburgt; je unkorperlicher der Gegen-
stand der Ideen ist, desto mehr korperliche Hand- und Spann-
dienste sind zu dessen Festhaltung vonnoten, und hochstens in 20
die Zeiten der dummen Sinnlichkeit, der geistigen Abspannung,
des dunkeln Blodsinns miiBte man die Zeiten der Loskettung vom
Korper fallen lassen. Sogar die moralische Kraft, womit wir auf-
schieBende tippige Triebe des Leibes niedertreten, arbeitet mit
korper lichem Brech- und Handwerkzeug; und die Seele bietet
hier bloB das Gehirn gegen den Magen auf. - Dazu kommt, daB
die Grenzen und die Hindernisse einer solchen Losfesselung und
Ankettung ebensowenig anzugeben waren als die Ursachen der-
selben. Noch weniger konnen, wie einige meinen, im Traume die
Bande der Seele schlafTer und langer werden. Der Schlaf ist die 30
Ruhe der Nerven, nicht des ganzen Korpers. Die unwillkurlichen
Muskeln, der Magen, das Herz arbeiten darin fort, nicht viel we-
niger als im wachenden Liegen. Nur die Nerven und das Gehirn,
d.h. das Denken und Empfinden stocken. Daher erquickt der
Schlummer reitende und fahrende Menschen, die also mit nichts
als den Nerven ruhen. Daher werden Nervenschwache, die jede
37- HUNDPOSTTAG IIO5
Ruhe abmattet, vom traumlosen Schlaf erfrischt. Beilaufig:
ohne die Theorie der Desorganisation, die negative und positive
Nerven-Elektrizitat annimmt, sind die Meteore des Schlafes un-
erklarlich -z.B. unerklarlich ist dann, warum gerade Opium,
Wein, Manipulieren, Tierheit, Kindheit, Plethora, nahrhafte Kost,
Geriiche auf der einen Seite Schlaf befordern; uhd doch Tortur,
Ermattung, Alter, MaBigkeit, Gehirndruck, Winter, Blutverlust,
Furcht, Gram, Phlegma, Fett, geistige Abspannung ihn auf der
andern auch erregen. Hochstens im tiefen Schlafe, wo der
10 Nervenkorper ruht, konnte man die Seele vom Irdischen los-
gekettet denken; im Traum hingegen eher enger angeschlossen,
weil der Traum so gut wie das tiefe Denken, das wie er die fiinf
Sinnenpforten abschlieBt, ja kein Schlafen ist. Daher zehren
Traume die Nerven aus, zu deren innern Oberspannungen jene
noch auBere Eindriicke gesellen. Daher verleiht der Morgen dem
Gehirn und dem Traum gleiche Belebung. Daher geht dem schla-
fende Tiere - ausgenommen dem weichlichen zahmen Hund -
das.ungesunde Traumen ab. Daher gibt schon Aristoteles unge-
wohnliche Traume fur Vorlaufer des Krankenwarters aus. Daher
20 hab* ich jetzt getraumt genug und der Leser geschlafen genug. -
37. HUNDPOSTTAG
Der Amoroso am Hofe - Praliminarrezesse der Hochzeit - Rettung des
hoflichen Kriimmens
Am Morgen nach jener groBen Nacht nahm Viktor von dieser
geweihten Graberde seiner schonsten Tage mit unverhullten Tra-
nen Abschied. Er sah sich oft um nach diesen Ruinen seines Pal-
myra, bis nichts davon ubrig stand als der Bergriicken als Brand-
mauer. »Wenn du nach vier Wochen wieder hieher gehest,« dachte
er, »so ists nur, um dem Todesengel zuzusehen, wie er deinen
30 Emanuel auf den Altar und unter das Opfermesser legt.« Er sagte
sichs, wie teuer er dieses Laubhiittenfest durch den Tod eines
Freundes bezahle; und wie dieser ohne einen solchen Ersatz einen
IIp6 HESPERUS
ebenso groBen Verlust erleide. Denn er fuhlte, daB das furchter-
liche Wort »Schurke« als eine ewige Felsenwand zwischen ihre
auseinandergeteilten Seelen nun getreten sei. - Er stellte sichzwar
vor und recht gern, was den vergangnen Fjreund lossprach, be-
sonders die Verhetzung durch Matthieu und Flamins Zuhorchen,
als er Klotilden ewige Liebe zuschwor; ja er verfiel sogar darauf,
daB der Evangelist den armen Flamin vielleicht besondere (die
vom Apotheker vorgeschlagnen) Beweggriinde einer Liebe, durch
deren Gegenstand die Gunst des Fursten festzumachen war, weit
im Hintergrunde sehen lassen - aber sein Gefiiht sagte ihm unauf- 10
horlich: »Er hjitte doch nicht glauben sollenl - Ach hattest du
mich doch« (sagte er geruhrt bei der Erblickung der Stadt) »mit
Kugeln oder mit andern Schmahungen durchbohrt, damit ich dir
hatte leicht vergeben konnen! - Aber^gerade mit diesem fort-
fressenden Giftlautek - Er hat recht; die Beleidigung der Ehre
wird darum nicht kleiner, weil sie der andere aus voller Oberzeu-
gung des Rechts begeht. Denn die Uberzeugung ist eben die Be-
leidigung; und die Ehre eines Freundes ist etwas so GroBes, daB
die Zweifel an ihr fast nur durch eigenes Gestandnis entstehen
diirfen. Aber so werden aus kleinen Verhehlungen leicht Tren- 20
nungen, wie aus Nebeln im Marz Gewitter im Julius. Nur eine
vollendete edle Seele vermag es, den gepruften Freund nicht mehr
zu prufen - zu glauben, wenn die Feinde des Freundes leugnen —
zu err6ten wie uber einen unreinen Gedanken, wenn ein stummer
verfliegender Argwohn das holde Bild beschmutzt - und wenn
endlich die Zweifel nicht mehr zu bezwingen sind, diese noch
lange aus den Handlungen fortzuweisen, um lieber in eine kame-
ralistische Unvorsichtigkeit zu fallen als in die schwere Siinde
gegen den heiligen Geist im Menschen. Dieses feste Vertrauen ist
Ieichter zu verdienen als zu haben. 5 o
Im larmenden Hammer- und Miihlenwerk der Stadt war ihm
wie in einer oden Waldung. An zarte Seelen verwohnt, kamen
ihm die stadtischen alle so stachlicht und ungeschliffen vor; denn
die Liebe hatte wie die Tragodie seine Leidenschaften gereinigt,
indem sie solche erregte. Alles hing so verfallen, so verraset zum
Einbrechen heriiber, indes die reinen Spiegelwande in Maienthal
37* HUNDPOSTTAG "07
fest und glanzend aufstiegen. Denn die Liebe ist das einzige, was
das Herz des Menschen bis an den Rand vollgieBet, wiewohl mit
einem bald einsinkenden Nektar-Schaume; sie allein fasset ein
Gedicht von etlichen tausend Minuten ab ohne den klirrenden
R-Buchstaben, wie der Dominikaner Cardone iiber sie ein eben-
so groBes Gedicht unter dem Namen: L'R sbandita ohne ein ein-
ziges R verfertigte - daher ist sie wie die Krebse in den Monaten
ohne R am schonsten.
Das erste, was er in Flachsenfingen zu machen hatte, war ein
10 Brief an Klotilde. Denn da nun der Evangelist Matthieu aller
Wahrscheinlichkeit nach in alle Welt ausgehen und das Evange-
lium vom SchuB-Zweikampf der beiden Freunde alien Volkern*
predigen wird : so war nichts anders fur den heiligen Ruf seiner
Geliebten zu tun, als sie in eine Braut zu verwandeln durch eine
offentlich erklarte Verlobung. Flamins neues Ereifern konnte
gegen Klotildens Rechtfertigung in keine Betrachtung kommen.
Der Ausruf »Du bist mein Bruder«, den die Konvulsionen der
Angst Klotilden entrissen hatten, war natiirlich fiir Flamin unbe-
greiflich und ohne Wirkung geblieben; fiir den lauernden Matz
20 aber war er ein herrlicher Kernspruch und ein dictum probans
seines Lehrgebaudes von ihrer Verschwisterung geworden. - Im
Briefe also ging Viktor seine Freundin urn die stumme Erlaubnis
zu seinem Werben an; er iiberlieB es ihr schweigend, die uneigen-
nutzigsten Beweggriinde seiner Bitte zu erraten. -
Er erschien jetzt auf dem Kriegschauplatz der Seelen, von dem
man selten eine genaue Karte erwischt, am Hofe: - seinem mit
Paradiesen angefiillten Herzen kamen sogar die Zimmer Vor wie
Glaskasten einer ausgebalgten Voliere, die man mit Streuglanz,
Konchylien und Blumen iibersaet, und die lebendigen Stiicke der
30 Zimmer wie getrocknetes, mit Arsenik oder Holz ausgestopftes
Gevogel; durch die Schlangen war Draht gefiihrt, wie durch die
Schwanze der groBen Tiere, und die Baumlaufer am Thron stan-
den auf Draht. — So sehr wurde er bloB durch das Pfingstfest
der GegenfuBler von uns, die wir bei kalterm Blute das Erhabene
und Edle eines Hofs leicht bemerken. - Das Neueste, was er da
horte, war, daB der Fiirst in Gesellschaft der Fiirstin zum Ge-
IIO& HESPERUS
sundbrunnen in St. Lune abreise, urn die gichtbriichigen Fiifie,
wie jene die Augen, heil zu baden. Viktor war wirklich nicht ganz
tolerant, da er bei sich dachte: »Wenn ihrs nicht besser haben
wollt, so gent meinetwegen zum T-A Das Paulinum war fur ihn
ein Schlachthaus und jedes Vorzimmer eine Marterkammer; der
Fiirst behandelte ihn nicht hofisch-hof lich, sondern kalt, welches
ihm desto weher tat, da es bewies, er habe ihn geliebt - die Fur-
stin stolzer - bio 8 Matthieu, der mit Leuten am liebsten sprach,
die ihn todlich hafiten, hatte ein Gesicht voll Sonnenschein. Von
diesem und von seiner Schwester und einigen Ungenannten hatt* 10
er leichtes Schlangengift der Persiflage uber seinen Zweikampf
einzunehmen und zu verwinden, das wohl der Magen wie anderes
Schlangengift verdaut, das aber, in Wunden gespriitzt, das Le-
bensblut auf loset. Gerat denn nicht sogar mein Korrespon-
dent in Eifer und schickt mir seinen Eifer durch meinen capsarius 1 ,
den Spitzhund, zu und sagt: »Es bleibe doch einer einmal kalt, der
warm ist, namlich verliebt, und den noch nicht der Tod kalt ge-
macht, er verbleib* es, sag* ich, vor dem stechenden Lacheln einer
Hof-Schwesterschaft uber seine empfindsame Liebe, zumal vor
solchen hohern Damen, die Gottheiten sind, auf deren cyprischem 20
Altar allemal (wie bei den Sky then) der Fremde geopfert wird,
und denen (wie die Gallier von ihren Gottern glaubten) t)bel-
tater, Roues, Orleans die Hebsten Opfer sind! - Oder er hore
sich, wenn er auch das hinnimmt, gelassen von einem Evange-
listen iiber seine Liebe persiflieren, der darin folgende Grundsatze
erfindet und einkleidet: >La d^cence ajoute aux plaisirs de l'ind£-
cence: la vertu est le sel de Tamour; mais n'en prenez pas trop. -
J'aime dans les femmes les acces de col ere, de douleur, de joie, de
peur: il y a toujours dans leur sang bouillant quelque chose qui est
favorable aux hommes. - C'est la ou la finesse demeure courte, 30
qu'il faut de Tenthousiasme. - Les femmes s'etonnent rarement
d'etre crues faibles; c'est du contraire qu'elles s'etonnent un peu.
- L'amour pardonne toujours a Tamour, rarement a la raison.< -
Gliicklich sind« (seufzet Knef) »Widersacher, die einander prii-
geln durfen.«
1 So hieC der romische Sklave, der den Kindern die Schulbiicher nachtrug.
37- HUNDPOSTTAG IIO9
Der Evangelist warf einen beizenden Tropfen auf Viktors Herz-
nerven, da er, trotz seiner Wissenschaft um Flamins adelige Ab-
stammung, ihn damit aufzog, »daB er wie ein neufranzosischer
Aquilibrist der Freiheit sich mit Biirgerlichen - zwar nicht ver-
mahle, aber doch - schieBe«. Und es ging ihm durch die Seele,
seinen ausgestohlnen Freund so sehr an Freunden verarmt zu
sehen, daB dieser Matthieu der letzte und der Stammhalter war, der
sich nicht einmal vor Viktor die Muhe gab, in den hohern Zirkeln
die Rolleeines Freundes von Flamin zu nehmen und fortzuspielen.
I0 Einem guten Menschen wird das weiche Herz gleichsam in eine
Quetschform eingeschraubt, wenn er vor Leuten stehen muB (wie
hier Viktor vor so vielen), die ihn hassen und beleidigen - an-
fangs ist er heiter und kalt und freuet sich, daB er sich nichts darum
schiert - aber er riistet sich unwissend mit immer mehr Verach-
tung, um der Beleidigung etwas entgegenzustellen - endlich meldet
sich der Anwachs der Verachtung durch das unbehagliche Gefuhl
der entfliehenden Liebe und des eindringenden Hasses an, und
das bittere Scheidewasser ergreift und zerfriBt sein eignes GefaB,
das Herz. - Dann werden die Schmerzen so groB, daB er die alte
20 Menschenliebe, die das warme Element seiner Seele war, wieder
in Stromen in den Busen rinnen laBt. Bei Viktor kam noch etwas
zur Erbitterung — seine Erweichung; man ist nie kalter als nach
groBer Warme, so wie Wasser nach dem Kochen eine groBere
Kalre annimmt, als es vorher hatte. Liebe, Rausch und zuweilen
die aus dem Anblick der Natur getrunkne Begeisterung machen
uns gegen unsere Lieblinge zu gut, und gegen unsere GegenfiiB-
ler zu hart. Als nun Viktor in dieser bittern Laune neben einem
Spieltisch zusah und iiber die ganze Assemblee sich innerliche
Vorlesungen hielt, lectures upon heads 1 , wo er sich statt der Kopfe
30 aus Pappendeckel bloB mit dickern behalf: so fiel durch die Er-
innerung an die stille Menschenbildung, womit Klotilde sich in
eben diese Menschen ihren Eltern zu Liebe bequemet hatte, der
ganze Eispanzer, der sich um sein Herz wie um eine Blume gelegt
hatte, zerflossen herab, und sein erwarmtes Herz sagte mit der
1 So nannte Steevens sein satirisches Kollegienlesen iiber Kopfeaus Pap-
pendeckel, dem halb London zulief.
I IIO HESPERUS
ersten heurigen Freude: »Warum hass' ich denn diese ebenso ge-
qualten als qualenden Gestalten so hart? Sind sie nur meinetwegen?
Haben sie nicht auch ihr Ich? Mussen sie sich mit diesem mangel-
haften, gepeinigten Selbst nicht durch die ganze Ewigkeit schlep-
pen? Wird nicht jeder von irgendeiner fremden Seele noch ge-
Iiebt? Warum willst denn du nur Stoff zum Abscheu an ihnen
sehen und aus jeder Miene, aus jedem Laute Saure ziehen? - Nein,
ich will die Menschen hlofi lieben, weil sie Menschen sindA — Jawohl 1
die Freundschaft kann Vorzuge begehren, aber die Menschen-
liebe bloB Menschengestalt. Daher haben wir eben alle eine so 10
kalte, eine so wechselnde Menschenliebe, weil wir den Wert der
Menschen mit ihrem Recht vermengen und nichts an ihnen Heben
wollen als Tugenden.
Unserm Viktor wurde so leicht wie nach einem Gewitter; das
Bitterste, womit uns Beleidigungen angreifen, ist, daB sie uns zu
hassen notigen. Auf der andern Seite fuhlte er jetzo, wie unrein
unser fur Tugend ausgegebener Widerstand gegen Schlimme sei,
und wie sauer es selber einer edeln Seele werde, Feinde zu be-
kampfen, ohne sie anzufeinden; denn dieses ist noch schwerer, als
sie zu begliicken und zu beschiitzen, ohne sie zu lieben. 20
So strichen einige Wochen unter seinen erzwungnen Landun-
gen am feindlichen Hofe voruber - denn die Bitte seines Vaters be-
herrschte sein Herz - und unter vergeblichen Hoffnungen auf
Klotildens Entscheidung und unter tranendem Zuriicksehnen in
die innehaltenden Tage der Liebe und in die verheerten Tage der
Freundschaft. Klotildens Schweigen willigte aber eben in seine
<Ankunft ein; doch meldete er ihr durch einen zweiten Brief noch
zum OberfluB den Tag derselben. Obrigens wurde ihm - so an
den Thron wie an eine Saule zum GeiBeln gebunden, so aus alien
Gegenstanden seiner Liebe herausgeschleudert, so auf nichts ge- 30
heftet als auf eine von weitem donnernde Zukunft, in der sein
Emanuel nach vierzehn Tagen unter die Erde einsihkt und seine
Klotilde in tausend Schmerzen - die Gegenwart schwiil und eng.
Um ihn ging ein unreifes Gewitter herum, und wie an den Tag-
und Nachtgleichen ruhten die Wolken unbeweglich wie ein gro-
Ber Nebel iiber ihm, und das verborgne Arbeiten im hohen Ge-
37« HUNDPOSTTAG 1 1 1 1
wolke des Schicksals hatte noch nicht das ZusammenflieBen in
Tranen entschieden oder das Zerteilen in Blau.
Endlich ging er nach St. Liine... Wahrlich nur wehmiitig-
begliickt! OI konnt' er auf den Luner FuBsteig blicken oder auf
das Pfarrhaus, das die Buhnen der begrabnen Freundschaft be-
deckte, ohne das Auge iiberflieBend abzuwenden, ohne daran zu
denken, wie viel eitler das Lieben als das Leben der Menschen sei,
wie das Schicksal gerade die warmsten Herzen zur Zerstorung der
besten anwende (so wie man nur Brennspiegel zum Einaschern der
ro Edelsteine gebraucht), und wie manche stille Brust nichts ist als
der gesunkne Sarg eines erblaBten geliebten Bildes? - Es ist ein
namenloses Geftihl, einen Freund lieben zu wollen aus Erinne-
rung und ihn fliehen zu miissen aus Ehre: Viktor wunschte, er
diirfte seinem betorten Liebling vergeben; aber vergeblkh: das
arsenikalische Wort, das mich in seinem Namen schmerzt, blieb
trotz aller, aller versiiBenden Safte, mit denen ers einwickelte,
doch unaufgeloset und fressend und todlich in seiner Seele liegen.
Guter Flamin! ein Fremder konnte dich lieben, ich z.B., aber
dein Jugendfreund nicht mehr!
20 Viktor schritt zogernd vor dem Bilder- und Musiksaal seiner
nachgespielten und nachgetonten Kindheit vorbei, vor dem Pfarr-
haus, desgleichen vor der scheuernden Apollonia, die er gern de-
fer griiBte, als sein Stand zulieB, und vor dem alten Mops, der
sich in keinen Familienzwist einmengte, sondern ihn freimiitig
mit dem Schwanz invitierte. - Nicht sein Stolz hielt ihn ab, die
(vorgeblichen) Eltern seines Widersachers zu besuchen, sondern
die Angstlichkeit tats, die ihn besorgen HeB, die guten Menschen
wiirden sich vielleicht vor ihm im verlegenen Kampfe zwischen
Hof lichkeit, zwischen alter Liebe und neuem Groll abqualen. Aber
30 er beschloB, durch einen Brief an die edelmutige Pfarrfrau seine
Liebe zu befriedigen und ihre Empfindlichkeit.
Dann trat er vor seine Geliebte I - Ich nab* es vor-vorgestern
unter dem Lesen der deutsch-franzosischen Geschichte, wo be-
kanntlich auch der gekronte Name Klotilde regiert, an den ver-
doppelten Schlagen meines Herzens gemerkt, wie mir erst sein
wiirde, wenn ich diese Klotilde, die ich seit drei Vierteljahren ge-
lobt habe, vollends gar sahe ; denn daB Knef so wie der Hund keine
Spitz buben sind, und daB die ganze Historie nicht bloB vor-
gefallen ist, sondern auch noch vorfallt, erseh' ich aus hundert
Zugen, die wohl keine Phantasie erfinden kann. Wiirde der Bio-
graph der Heldin ansichtig: dann entstande nichts als ein neues
Heft und ein neuer - Held, welcher ich ware —
Sie war krank; jener Abend war wie ein StoBvogel auf ihr Herz
gefahren und hatte die blutigen Krallen noch nicht herausgezogen.
Ihre Seele schien nur der Engel zu sein, der die entseelte Hiille
eines Frommen hutet. Der Kammerherr begegnete dem Hof- 10
medikus, als ob er von keinem Duellieren wisse. Was sonst Mut-
ter tun, tat der Vater; er vergab jedem, der von Stande war und
der die Tochter wollte. Der Antrag, den ihm Viktor endlich
machte, frappierte ihn nur, weil er bisher gedacht hatte, dieser
verschieb' ihn bloB wegen der UngewiBheit iiber Klotildens Erb-
schaft und Verwandtschaft. Seine Antwort bestand in unend-
Hchem Vergniigen, in unendlicher Ehre etc. und andern Unend-
lichkeiten; denn bei ihm war alles eine; daher auch Platner mit
Recht behauptet, der Mensch konne im Grunde bloB das End-
liche nicht denken. Le Baut hatte die Tochter hergegeben, wenn 2t >
er auch nicht gewollt hatte; er konnte ins Gesicht nichts abschla-
gen, nicht einmal eine Tochter. Auch konnte keiner kommen und
um Klotilden ansuchen, der nicht in irgendeines seiner Projekte
(seine vier Gehirnkammern lagen bis an die Decke davon voll)
hineingepasset hatte. Naturlicherweise war ihm also ein Schwie-
gersohn jetzt am meisten erwiinscht, da ihm etwan die Tochter
gar mit Tod abgehen konnte, ohne daB er sie noch zu einem
Springstab und Hebebaum seines Leibes gebraucht hatte - und
da ihm zweitens das Duell-Gerede das Herz anfraB; nicht als ob
er nicht durch gesunde wurmformige Bewegungen die hartesten 30
Dinge verdauet hatte, sondern weil er, wie gebildete Menschen
ohne Ehre, bei kleinen Beleidigungen gern mit Larmkanonen und
Feuertrommeln erschien, um sich das Recht zu erschleichen, bei
vollstandigen, aber ergiebigen und mit Silberadern durchzognen
Entehrungen mausestill dazuliegen. Das einzige, was der Kam-
merherr nicht gern sah, was er aber sogleich dadurch hob, daB er
37- HUNDPOSTTAG IT IJ
dem Hofmedikus das Wort (uber die Tochter) gab, das war, daB
er vorher das namliche Wort (ingeheim) unserem Matz gegeben
hatte. Da ihm der bald wiederkommende Lord mehr schaden und
helfen konnte als der Minister: so brach er gern das alte Wort,
urn das neueste zu hajten; denn nicht bloB den letiten Willen,
sondern audi /Wen kann der Mensch andern, wie er will, und
wenn er ein Mann von Wort ist, so wird er gern ganz entgegen-
gesetzte Versprechungen tun, um sich zum Halten zu notigen.
Wenn das lugende Betragen des Kammerherrn nach solchen Ent-
io schuldigungen noch eine braucht: so hat er die fur sich, daB er
gewiB hoffte, Klotilde werde, wenn er sein Ja gegeben, Nein ant-
worten und statt seiner wagen und - biiflen. Wenigstens schtitzte
er diese Hoffnung bei seiner zornigen Gemahlin vor und verwies
sie auf Klotildens ehemaliges Nein, das unserem Viktor so
schwere Stunden aufgelegt, und auf ihre Unveranderlichkeit. Ich
wiinschte, man hatte nachher sein Gesicht in der Verfassung ver-
steinern oder in Gips abgieBen konnen, in die es durch die Nach-
richt von Klotildens Ja geriet. Was konnte die Schwiegermutter,
die Kammerherrin, die immer die Waffentragerin und Liguistin
20 des Evangelisten war, weiter dabei machen als ein freundliches
Gesicht und die Bemerkung: niemand ist schwerer zu regieren
als ein Ehemann, den jeder regiert.
Die Formalien der Verlobung selber warteten auf die Zurtick-
kehr des Lords und auf andere Verhaltnisse. - Lasset mich nichts
sagen von der durch so viele Leiden veredelten Liebe dieses Paars.
Wenn mit der Liebe sich gar die Menschenliebe noch vermahlt
(welches mancher gar nicht verstehen wird); - wenn im Atem der
Liebe alle andere Reize des Herzens schoner werden, alle feine
Gefuhle noch feiner, jede Flamme fur das Erhabne noch hoher,
3 o wie in der Feuer- und Lebenluft jeder Funke ein Blitz und jedes
Johanniswurmchen eine Flamme wird; - wenn beide Menschen
einander selten mit den Augen, und oft mit den Gedanken begeg-
nen; - wenn Viktor ein Herz fast zu behalten scheuet, dem er so-
viel kostet, soviel dunkle Tage, soviel Sorgen Und fast einen
Bruder; - und wenn Klotilde eben dieses zarte Scheuen errat und
ikn fiir ihre Leiden belohnt: dann ists unmoglich, vielen Menschen
1 1 14 HESPERUS
den UmriB einer solchen Atherflamme, geschweige die Farben
derselben zu geben; fur wertige ists unnotig.
Gegen eine geliebte Person fangt in jedem neuen Verhaltnis,
worein sie kommt, die Liebe wieder von vornen und mit neuen
Flammen an, z. B. wenn wir sie in einem andern Hause - oder
unter neuen Personen finden - oder als Reisende - oder als
Hauswirtin — oder als Blumengartnerin - oder als Tanzerin -
oder (das wirkt am meisten) als Verlobte. Das war Viktors Fall;
denn von der Stunde an, wo der Wunsch der Neigung sich zu
einem Gebot der Pflicht erhebt, und wo die teuere Seele sich und 10
alle ihre Hoffnungen und den Ziigel ihrer ganzen Zukunft in die
geliebten Hande liefert, muB es in jedem guten Mannerherzen
rufen : »Nun hat sie niemand auf der Erde mehr als dich - nun sei
sie dir heilig, o ! nun schone und bewahre und belohne die liebe
Seele, die an dich glaubt!« - Viktor wurde von diesem Verhaltnis
noch durch den Nebenumstand unaussprechlich geruhrt, daB eben
diese Klotilde, diese feste stolze Ball- und Himmelkonigin, die mit
so vielen Kraften und so unabhangig uber die mannlichen Schlin-
gen und unter den mannlichen Lorbeerkranzen wegging, nun
durch die Verlobung ihre Independenzakte mit sanftem Lacheln 20
in Viktors Hande gibt und jetzo nichts mehr wunscht, als zu lie-
ben und geliebt zu werden; fiir dieses holde Beugen einer so gro-
Ben Gestalt wuBte Viktor kein Opfer, keine Wunde, keine Gabe,
die ihm groB genug geschienen hatte, es zu bezahlen. — So muB
man lieben; und jedes neue Recht und Opfer, das den gemeinen
Menschen erkaltet, macht den guten warmer und zarter.
Obgleich Viktor durch die Rechte seiner neuen Verwandt-
schaft ein mehr einheimisches und bequemes Leben unter seinen
Schwiegereltern fand: so tat es ihm doch wehe, daB er taglich die
un verge Blichen Pfarrleute in ihrem Garten sehen mufite, und 3 o
doch durch das eiserne Stabgelander des vorigen Duells und der
jetzigen Verlobung von ihren Herzen abgeloset blieb. Daher
muBt' er auch die Briten und ihren fortwahrenden Klub entbeh-
ren. Le Baut fand es aber vorsichtig : »denn man wisse von sicherer
Hand, es seien Jakobiner und verkappte Franzosen.<( —
Aber Klotildens Seele konnte den erratenen tiefen Schmerz
37* HUNDPOSTTAG II 1 5
ihrer Freundin, der Pfarrerin, nicht langer tragen; sie bestellte sie
durch ein Blattchen zu einem Spaziergange. An der Warte trafen
sich beide; und Viktor sah mit innerster Riihrung, wie Klotilde
sogleich die Hand seiner altesten Freundin nahm und sie auf dem
ganzen Weg nicht mehr aus ihrer gab.
Klotilde kam wieder mit einem froh erhelleten Angesicht und
mit Augen, die sehr geweinet hatten, und mit himmlischen Ziigen,
in denen eine unnennbare, nicht sowohl heiBere als weichere Liebe
glanzte. Erst spat war sie ihrer Riihrungen machtig genug, urn
10 Viktor etwas von der Unterredung mitzuteilen; denn ich glaube
zu erraten, daB es nicht alles war. Die Pfarrerin - erzahlte Klotilde
- empfing sie mit einer Miene voll driickender Schmerzen, aber
weder mit Kalte noch Verdacht. Beide konnten anfangs gar nichts
als weinen und sprachen nicht; Klotilde war noch mehr erweicht,
und ihre Tranen flossen noch fort, als sie anting, ihre Verlobung
zu erzahlen. Sie legte die Hand ihrer Freundin auf ihr Herz und
sagte: »Jetzo wird unsere Freundschaft hart gepruft. Ich glaube
an die Ihrige fort - glauben Sie an meine. - O bleibe, teure Freun-
din, nur diesesmal fest! Schwere Geheimnisse, iiber die ich kein
10 Recht und wenig AufschluB habe, bringen uns alle diesen grau-
samen MiBverstandnissen so nahe. Nur diesesmal vertrauen Sie
fest, daB ich und Sie so wenig wiser Verhdltnis gegeneinander
andern wie unsern Charakter.« - Hier sah die Pfarrerin sie mit
einem groBen Blicke, in dem noch die alte Liebe fur Viktor nach-
glimmte, an und umarmte sie denn auf einmal mit trocknen
Augen und mit diesen Worten: »Ja, ich vertraue auf Sie, tun Sie,
was Sie wolien, und blieb* ich zuletzt die einzige Seele.« - Der
letzte Zusatz hatte zu einer andern Zeit Klotilden beleidigt; ach
jetzt konnt'ers nicht; o sie war froh, daB sie etwas zu verzeihen
30 hatte.
Nach der Erzahlung sagte sie ihrem Freunde, sie unternehme
vielleicht, falls die Unsichtbarkeit und das Schweigen des Lords
noch langer dauere, lieber die muhsame Reise zu ihrer und Fla-
mins Mutter nach London^, um diese als die Auf losung aller dieser
gefahrlichen Ratsel nach Deutschland zu bereden. - Ach konnte
Viktors aufopferndes Herz eine Einwendung gegen fremde Auf-
IIl6 HESPERUS
opferungen machen? - Nein! sein Kummer wurde verdoppelt,
aber auch seine Achtung und Liebe.
In dieser Lage kam an Klotilde ein kleiner Brief von Emanuel:
»Gestern abends kam mein Julius mit einem Korb voll Garten-
erde zu mir und bat mich um Blumentopfe und um Hyazinthen,
weil er fur beide die Erde bringe. Er hatte den Boden fur seine
Blumen von dem Hiigel deiner Giulia geholt. Ich nahm sein
weiB- und rotbliihendes Angesicht, das der Federnelke mit dem
roten Punkte gleicht, an meine Brust und sagte : >Ach, wer wartet
die Blumen des Menschen, wenn er voriiber ist?< Und ich meinte 10
auch ihn mit seiner zarten Bliite, in welche der Schmerz nie seinen
schweren Regen werfe! - O Viktor und Klotilde, wenn mich die
Lilien der Erde betauben und in den letzten Schlummer legen,
so nehmet meinen blinden Julius auf, und diese Seele voll Liebe
werde durch liebende Seelen behutet!
Klotilde! ich bitte oder wunsche jetzo von dir etwas, was du
mir wohl schwerlich geben kannst. Ach komme am tangsten Tage
nach Maienthal, du schone Seele! Kann es dein Herz nicht ertra-
gen? Hast du nicht deine Giulia bis an das blinde Tor des Grabes
begleitet und da ihre Seele auffliegen sehen und ihren Korper *o
niederfallen ! O wenn du und dein Freund in der letzten Stunde,
wo das Leben seine schillernden Pfauenspiegel zusammenfaltet
und sie farbenlos und schwer in das Grab einsenkt, bei mir blieben
als die zwei ersten Engelder kunftigen Welt! - Denn in der Mi-
nute, wo die ganze Erde wie eine Rinde vom Herzen abbricht,
hangt das nackte Herz fester an Herzen und will sich erw3rmen
gegen den Tod, und wenn alle Bande der Erde abreiBen, so blu-
hen die Blumenketten der Liebe fort. O Klotilde ! wie himmlisch
schlosse sich vor deiner elysischen Gestalt mein Leben ! Ich wiirde
schon entfesselt auf den Flligeln der Ewigkeit um dich schweben, 3 o
um dich anzublicken, und ich wiirde, wenn ich mit der atherischen
Hand nicht deine Tranen nehmen konnte, dein schweres Herz
mit einer fremden Entziickung trosten! Ja, und wenn der Mensch
im Vorhof der zweiten Welt erblindete, so wiirde deine Gestalt
wie ein nachleuchtendes Sonnenbild vor meinen geschlossenen
37- HUNDPOSTTAG H 17
Augen bleiben! - O Klotilde, wenn du kamest! Ach, du kommst
wohl nicht; und nur der Ewige, der die Stunden des zweiten Le-
bens zahlet, weifi, wenn ich dich wiedersehe auf der zweiten Erde
und wie groB auf ihr die Schmerzen der Sehnsucht sind. Und so
lebe denn wohl und ziehe, hohe Seele, deine Bahn unter den Wol-
ken hindurch - wenn ich deinen Freund erblicke, wirst du ruh-
rend vor mir stehen - und wenn ich an seinem Herzen sterbe,
werd* ich fur dich beten und zu Gott sagen : gib mir sie wieder,
wenn auf ihrem Haupte der Blumenkranz der Erde groB genug
IO ist - oder die Dornenkrone zu groB ! - Klotilde, andre dich nie,
und dann frag' ich das Verhangnis nicht: wie lange wird sie drun-
ten lacheln, wie lange wird sie drunten weinen? Andre dich nie!
* Emanuel.«
Sie fielen beide einander sanft ans Herz und schwiegen iiber ihre
Gedanken; Emanuels Liebe verherrlichte die ihrige, und Viktor
achtete seinen Freund und seine Freundin zu groB, um diese zu
trosten. Er fragte sie gar nicht, wie sie Emanuels Bitten beant-
worte; er wuBte, daB sie es versagen rmisse, weil sonst ihr Herz
neben dem geliebten brache.
zo Da er endlich von ihr und St. Liine schied, und da sie daran
denken muBte, daB er in wenigen Tagen nach Maienthal gehe -
und da in ihren und seinen Augen Tranen standen, die mehr als
einen Schmerz bezeichneten, und die nicht der Mensch abtrocknet,
sondern der Tod oder Gott: - so schauete Viktor sie unter dem
Abschiede mit der stummen Frage an: »Sag* ich unserem Gelieb-
ten nichts?« - Klotildens Seele blieb unter Lasten am meisten auf-
recht, und sie erschien nie groBer als hinter Tranen, wie die Sterne
am Himmel voll Regen lichter und groBer herankommen; sie sah
gen Himmel, gleichsam fragend: »Konntest du, Allgiitiger, uns so
30 tief zerschlagen?« - dann wog sie gepresset den schweren Schmerz
- dann fand sie ihn zu groB fur die Sprache - und zu groB fiir ihre
Kraft - und sie glaubt* ihn nicht mehr und sagte doppelsinnig mit
nassen Augen und mit doppelsinnigem Lacheln: »Nein, Viktor,
wir sehen uns ja alle einmal wieder !«
Viktor ging nicht lange vorher fort, eh* die zwei gekronten
IIl8 HESPERUS
Badgaste mit einigem Gefolge ankamen. - Ich bemerk* es mit
ebenso wenigem Groll, als Viktor dabei empfand, daB Agathe,
ungeachtet des mutterlichen Beispiels, ganz, erstlich von Viktor,
d.h. vom Antipoden und Antichrist ihres geliebten Bruders, ab-
fiel; zweitens von Klotilden noch mehr.
- Es kann kund werden, daB ich den vorigen Brief Emanuels
bloB darum in der ersten Auf lage unterdrtickte - denn in meinen
Handen hatt* ich ihn friihe genug, so gut wie viele andere Doku-
mente dieser Historie, die gleichwohl (aus Griinden) niemals pu-
blizieret werden — , weil ich besorgte, er riihre; eine weiche Seele 10
findet ohnehin zu viele Schmerzen in diesem Band ! - Allein eben
darum wollen wir nichts aus der ersten Ausgabe weggeben, was
scherzt, und ich fahre demnach fort:
Wir Leser wollen wie Viktor uns vom Kammerherrn beurlau-
ben, der mit seinen halbaufrechten Augenbraunen - bei der Nasen-
wurzel neigen sie einander sich in Gestalt des mathematischen
Wurzelzeichens zu — mit wahrer verbindlicher Hoflichkeit sich
von uns trennt. Ich weiB, wenn wir fort sind, laBt er uns Ge-
rechtigkeit widerfahren und macht zuviel aus uns; denn er
verleumdet nie, weder aus Bosheit noch Leichtsinn, und wen er *o
verleumdet, den hat er die ernsthafte Absicht zu sturzen, weil er
lieber unglucklich als schwarz macht. -Als ich ihn sich so bucken
sah gegen uns: verfertigte ich in Gedanken eine halbe Satire auf
ihn, wovon das Wahre und Ernsthafte das sein mag: daB die
Menschen wirklich dazu erschaffen sind , sich so krumm zu machen,
wie der spiritus asper ist. Ich baue eben nicht darauf viel, daB
Geometer geschrieben haben, wenn die Gotter eine Gestalt an-
nahmen, so mufit* es die vollkommenste, die eines Zirkels sein;
ich konnte zwar daraus folgern, ein krummer Riicken sei wenig-
stens eine Annaherung zur Gottergestalt, weils ein Bogen aus 3°
einem Zirkel sei - aber ich mag nicht; denn das Physische ist Kin-
derei dabei und nur insofern von Belang, als es das innere Kriim-
men und Kriechen der Seele teils anzeigt, teils (z. B. durch Ver-
engerung der Brust) befordert. Sogar am Hofe wxirde man das
auBere Krummen erlassen, wenn man gewiB wissen konnte, daB
das edlere, innere der Denkart da ware, ohne das Zeichen; denn
37- HUNDPOSTTAG III9
da nach Kant Unterwiirfigkeit und Niederschlagung unsers Eigen-
diinkels die Foderung der reinern und der christlichen Moral ist:
so mu6 einer, der gar keine moralischen Vorziige hat, mit dem
SelberbewuBtsein davon noch defer nieder als zur Demut, die
schon der Tugendhafte hat, er muB zu dem sinken, was ich ein
edles Kriechen nenne. Ich gestehe, ich verachte die Obung nicht,
die darin die kleinen Regeln der Lebensart gewahren, die ja ohne-
hin nichts sein soil als die Tugend in Kleinigkeiten, die Regeln
namlich, daB man sich biickt, wenn man widerspricht — wenn
10 man lobt - wenn man eine Beleidigung erfahrt - wenn man eine
antut - wenn man den andern biickt - wenn man gerade eben des
Teufels werden mochte. Aber gut ists, daB eine solche Tugend
der Kriimmung ihre eigenen Exerzierplatze hat und nicht vom
Zufall abhangt. Am Hofe wiirde ein Mensch mit geradem Leibe
und Geiste als hofisch-tot ausgeschossen werden, wie ein Krebs
mit einem geraden Schwanze, den nur ein krepierter fuhret. Wenn
sonst die Einsiedler niedrige Zellen erwahlten, um nicht aufrecht
zu stehen : so braucht der Weltmann dies nicht; ihn driicken die
hohen Speisesale, die Lusttempel, die Tanzsale desto tiefer nieder,
20 je hoher sie sind. - Es ware schlimm, wenn diese so wichtige
Tugend der Niederbuckung erst eine besondere geistige oder
korperliche Starke, die sich ja niemand geben kann, voraussetzte;
aber gerade umgekehrt will sie nur Schwache haben, welches bei
Pferden nicht so ist, die den Schwanz nicht mehr niederbringen,
wenn dessen Sehnen abgeschnitten sind. Wenn die Pharisaer Blei
in den Mutzen fiihrten, um sich das Bucken zu erleichtern 1 : so tut
das Blei, das man auf die Welt bringt und das im Kopfe liegt,
vielleicht noch groBere Dienste. Daher ists eine schone Einrich-
tung, daB aus groBen Seelen, denen wie langen Staturen das
50 Bucken sauer fallt, zum Gluck (aber zu ihrer Strafe) nichts wird,
anstatt daB mittelmaBige, die sich nichts daraus machen, gedeihen
und eine schone Krone treiben; so sah ich oft beim Brotbacken,
daB jeder maBige Laib im Backofen sich schon erhob und wolbte,
1 Die Pharisaer taten es - wie gewisse Juden, die auch immer gekriimmt
einherzogen und darum Kriimmlinge hiefien — , um Gott, der die ganze Erde
ausfullt, ein wenig Platz zu machen. Altes und neues Juden turn. 2. B. S . 47.
der grofle aber blieb platt und miserabel sitzen. - Wir waren aber
bedauernswiirdig, wenn eine Tugend, die den Wert des burger-
lichen Menschen ausmacht, die Tugend, nicht bloB wie Kinder
zu werden, sondern wie Fotus, die sich im Mutterleibe zusammen-
stiilpen, wenn diese nur an dem hochsten Orte gediehe, wie man
fast denken sollte, da der Hofmann nack dem Falle auf seinem
Landgute schon wieder aufrecht geht - anstatt daB die Schlange
vor dem Falle und unter dem Verfuhren nicht kroch. - Allein in
alien biirgerlichen Verhaltnissen sind Erziehanstalten zu Kriimm-
tingen vorhanden; iiberall streckt sich in der Luft bald ein geist- 10
licher, bald ein weltlicher Arm mit Handen aus, die uns ordentlich
einkrempen, und noch hoher sind die allerlangsten angebracht,
die iiber ganze Volker reichen. Der Gelehrte selber biickt sich am
Schreibepult unter der Geburt der Zueignungen und Hofschriften
und Urtel. Durch das bloBe graue Alter reift sowohl der Korper
zum verknocherten Biicklinge als die Seele. Und die niedrige
Geistlichkeit arbeitet sich, weil sie immer niederwarts ins Grab
sieht, in die gekrummte Stellung hinein. - Ich schlieBe mit dem
Troste, daB Bucken Aufgeblasenheit nicht ausschliefte, sondern
ein; da eben der Zirkel, dessen Ausschnitt man wird, unzahlig um zo
die geschwollne Kugelflache lauft
Ich wiirde wahrhaftig dieses Extrablatt eines iiberschrieben
haben - so daB es also der Leser hatte iiberspringen konnen -,
wenn ich nicht gewollt hatte, daB ers lase, um sich zu zerstreueri
und die triiben Stunden meines Viktors leichter mit ihm auszu-
dauern. Denn jeder Glockenschlag ist der aus einer Totenglocke
gehende Totenmarsch seiner schonern gescheiterten Stunden.
Noch am Abend, da er in Flachsenfingen eintrat, kamen ihm
ebenso fatale als wahrscheinliche Geschichten zu Ohren: Matz
hatte dem Apotheker viel erzahlt; aber dasmal pflicht' ich seinen 30
Sagen bei.
Der Pfarrer hatte sich namlich, sobald er die Verlobung ver-
nommen, auf den Weg in die Stadt gemacht, um Mordtaten und
Duelle seines Sohnes zu hintertreiben. Da unter dem Ankleiden
nicht augenblicklich seine ganze Reiseuniform um ihn lag, so
warf er seiner Familie leichte Rotelzeichnungen von den blutigen
37- HUNDPOSTTAG 1 1 2 1
Auftritten und Blutgerusten hin, auf die er sich, sagt' er, Rech-
nung mache, da er wahrscheinlich wegen des Anziehens zu spat
ankomme. Der eingeschrumpfte Stiefel, den Appel am Feuer ein
wenig abgetrocknet hatte, war nicht an das Bein zu bringen -
Eymann keuchte - zerrete - »es ist moglich,« sagt' er, »daB sie
jetzt schon einander zu Leibe gehen«; endlich lieB er die Arme
kraftlos zuriickfallen und setzte sich ruhig und aufrecht fest und
wartete schweigend auf Anfeuern und Anfragen. Da nichts kam,
sagt' er ergrimmt: »Welcher Satan nun in meinem Hause mir den
10 Stiefel so hat einlaufen lassen (in einen ledernen Zopf, durch ein
Nadelohr wollt' ich den FuB treiben, aber darein nicht), der hat
den Mord meines Kindes auf seiner Seele. - Ist denn kein Un-
gluckkind da, das mir nur die Ferse mit ein wenig Schmierseife
poIiert?« - Unter dem Einfahren sah er Appeln noch eifrig an sei-
nem Halbhemd platten: »Genug, Appel, recht gut!« - sagt' er -
»ich knopfe mich wahrlich nicht auf.« - Sie glitt auf der Platte, dem
Schrittschuh ihrer Hand, leicht dahin. »Tochter, das Hemd!
wiinscht dein Vater. Das Leben deines eignen Bruders wird von
dir hasardiert - es ist so viel, als gibst du ihm noch einen Gnaden-
20 stoB.« Sie fuhr auf ihrem Handschlitten nur noch einmal behend
iiber das Ganze und reichte ihms dann gern.
Unterweges entwarf sich der Kaplan einen haltbaren Geschaft-
gang bei der Sache. Er wollt* ihm erstlich nichts von der Ver-
lobung eroffnen - dann wollt 1 er ihm nur den BuBtext iiber den
Maienthaler Zweikampf lesen - dann ihm die Urfehde oder den
Eid, zu ruhen, abgewinnen - und erst zuletzt mit dem Bericht
hervorbrechen. Unter dem Oberdenken des Geschaftganges und
der Gefahr liefer sich in eine immer heiBere Angst hinein. So wie
er sich und einen Patienten, der ein leichtes Ohrenbrausen hatte,
30 einmal durch langes Folgern so weit hinauftrieb, daB sie beide in
der nifchsten Minute auf SchlagfluB und halbseitige Lahmung
aufsahen : so benahm er sich durch eine malerische Behandlung
der einzelnen Umstande eines gedenklicken Zweikampfs zuletzt so
sehr alle Zweifel iiber einen schon vorgegangnen, daB er mit der
festen Meinung unter dem Stadttor ankam, der Regierrat liege
entweder in Ketten oder auf der Bahre. »Gott sei Dank, daB ich
dich ohne Wunden sehe und ohne Ketten!« entfuhr ihm beim
Eintritte* und er hatte beinahe seinen ganzen Geschaftgang ver-
dorben, oder doch umgekehrt. Flamin bezog es auf das erste
Duell; Eymann konnte desto leichter der ProzeBordnung und
AderlaBtafel seiner MaBregeln nachkommen und sich sozusagen
mit dem Duelle duellieren. Der schweigende Sohn setzt* ihm
nichts entgegen als -r- WeiBbier. Unter der Anschaffung hatte der
Pfarrer an alien Stocken den Knopf gezogen, um zu sehen, ob es
keine Stockdegen waren. Ein Pistolenfeuerzeug blieb ihm von
weitem verdachtig. Eine nahe Doppelflinte an der Wand entzog 10
ihm mit dem auf ihn gerichteten - Schafte viel von seinem Mut.
Flamin entschuldigte seine Sprachlosigkeit mit der juristischen
Oberfullung und Oberfracht seines Kopfs und zeigte auf den StoB
Kriminalakten vor ihm. Als er ihm einen Erzahlauszug daraus
geben muBte und als natiirlich die Schlachtworter Kerker, Blut-
schuld, Richtschwert wie ein zischender Kugelregen um Eymanns
Ohren schweiften: so streckte sich die Angst, die er durch die
schnellere Dusche des WeiBbiers reizte, so gewaltig in ihm aus,
daB die Doppelflinte in die Kammer gehangen werden muBte:
»Ich habe«, sagt' er, »nichts davon, wenn sie losbrennt und zer- ™
springt und mir das FlintenschloB ins Gesicht sprengt, oder wenn
der Schaft mich gar umbringt!« Jetzt fing er geruhrt und trunken
zugleich zu weinen und zu ermahnen an : daB ein Mensch an die
fiinfte Bitte im Vaterunser denken miisse - daB ein Landgeistlicher
mit schlechtem Erfolge seinem geistlichen Schafstall Versohnung
predige, wenn er seinen Sohn in der Stadt habe, der unter der
Predigt sich schieBet - und daB Flamin nie sagen solle, er sei sein
Sohn gewesen, wenn er in einem Duelle entweder umkomme oder
umbringe. - Bei nichts fuhr in Flamin der Sturmwind seines Zorns
so leicht aus der Hohle als bei einer klaglichen Stimme und bei 5°
langen Religionedikten : »Um Gottes willen,« schrie Flamin,
»lassen Sie es nun genug sein - Gott soil mich strafen, in alle
Ewigkeit will ich verloren sein, ich schwor's Ihnen, riihr' ich ihn
nur noch an.« Dieser entfahrne Eid war herrlicher Lederzucker
und weiches Gefrornes fur den heiBen Hofkaplan, der aus Ver-
gessen seines Geschaftganges jetzo in der Meinung stand, die Ver-
37* HUNDPOSTTAG 1 1 23
lobung sei dem Regierrate schon ganz gut bekannt: »Meinst du
nicht, Sohn,« (sagt* er froh) »daB ein solcher Schwur einen besorg-
ten Vater wie Spatregen erfrischt und letzt, zumal da ich mich
seit ihrer Verlobung mit ihm gar nichts Bessers zu versehen hatte ,
als Mord und Totschlag? Hab* ich recht oder nicht?« - Flamin
hob durch eine einzige Frage die Decke von diesem morderischen
gewafFneten Gespenste seines Herzens ab - und nun horte er sei-
nen Vater nicht mehr; bleich, voll Krampfe saB er still da - die
Lehne des Stuhls knarrte unter seinem Druck - die Uhrkette
10 wickelte und schniirte er um seine Finger und rifi sie ab und
klemmte das Trumm wieder um den wunden Finger und zer-
- brockelte es - in seinen glasernen Augen standen zwei dicke feste
kalte Tropfen - sein Herz kroch leer und entkraftet vor einer
nahen graBlichen Todeskalte zusammen, die allemal, wenn eine
Freundschaft in unserer Brust gemordet wird, dem brennenden
Grimme daruber vorausgeht. - Ach welchen von uns dauert die
ungluckliche verlassene Seele nicht? - Eymann schied getauscht
und hielt diese Ruhe fur bio Be Ruhe und die erstickte gebrochne
Stimme fur Ruhrung.
20 Und in dieser blutigen Lage fand ihn Matthieu, der eben ge-
kommen war, um dem Regierrate (aus einem Handbriefchen der
Kammerherrin) Viktors Sieg iiber sie alle, gleichsam mit 24 bla-
senden Postilions, zu melden. Dieser setzte nun erst den Eisberg
in einen Vulkan um und machte, dafl Flamin in eingesperrtem
Grimm gern einen Weltteil an dem andern zersplittert hatte.
Viktor horte jetzt einige Tage nichts. Flamin sperrte sich ein.
Matthieu besuchte ihn oft, aber nicht des Apothekers Haus. Das
gekronte Paar reisete endlich ins St. Liiner Bad.
So blieb alles bis an den Morgen, wo Viktor vom Apotheker
50 Abschied nahm, um nach Maienthal vor den Vorhahg einer schwe-
ren Szene zu gehen. Hier konnte sich der Apotheker das Vergnii-
gen nicht versagen, dem Hofmedikus seines zu nehmen, indem er
die (wahrscheinlich falsche) Botschaft brachte, der Hof junker habe
den Kammerherrh gefordert wegen des iiber Klotilden gebroch-
nen Versprechens. Wenig oder nichts ist an der Botschaft schon
darum, weil der Apotheker nur sein Eigenlob loshusten und in
1 1 24 HESPERUS
das Lob Viktors verkleiden wollte, daB dieser mit so unendlicher
Feinheit seine neulichen Winke, den Evangelisten zu untergraben,
zu vollfuhren gewuBt. Die Winke waren, wie man sich erinnert,
die zwei Vorsehlage, der Liebhaber der Fiirstin und der Ehemann
Klotildens zu werden, um den Fiirsten zu gewinnen und, wie ein
Schwein die Klapperschlange, so Matzen ohne Schaden zu ver-
schlucken. Man muB der von einem Wurmstock von Schmerzen
angenagten Seele Viktors vergeben, daB er aufbrauste und mit
einem Auge voll tiefster Verachtung Zeuseln anfuhr: »Ich weiB
nicht, wer verdiente, solche Vorsehlage anzuhoren - wenns nicht 10
einer ist, der sie machen kann.«
Der Korrespondent hort traurig und kurz mit den Worten auf : '
»Abends kam Viktor spat und mit geschwollnen Augen in Maien-
thal an, um zu sehen, ob am andern Tage der schonste Lehrer und
der groBte Freund verwelke.« — Wir konnen uns alle denken, wie
die Umarmung eines Geliebten wenige Schritte von seinem Grabe
sein muBte. Der Freund, der uns sein Sterben drohet, greift
gchmerzhaft unsere Seele an, auch wenn wir es bezweifeln. Wir
konnen uns alle das nasse Auge denken, das Viktor iiber die noch
bluhende Statte seines verwelkten Rosenfests geworfen. - Was 20
ihn trostet, ist die Unwahrscheinlichkeit des prophezeiten Ster-
bens, da Emanuel sich wie sonst beiindet, und da der Selbermord
noch unmoglicher bei diesem frommen Geiste ist, der den Selber-
morder schon langst mit dem Hummer verglich, der die eine
Schere, die er selber mit der andern aus Stumpfsinn zerknirscht
und kneipt, nicht herauszieht, sondern absprengt. - Moge mir der
Leser zur Beschreibung des langsten Tages 1 , die ich einsam unter
der erhebenden Stille der Nacht machen werde, ein Herz wie des
Indiers mitbringen, das gleich alten Tempeln stumm und dunkel,
aber weit und voll heiliger Bilder ist! 30
* So nennte Emanuel immer den Johannistag, obwohl nicht ganz astrono-
misch-richtig.
38. HUNDPOSTTAG 112$
38. HUNDPOSTTAG
Die erhabene Vormitternacht - die selige Nachmitternacht - der sanfte Abend
Heute ubergeb* ich Emanuels langsten Tag, der nun erloschen
und abgekiihlt unter den Tagen der Ewigkeit liegt, mit bleichen
Abrissen den Phantasien der Menschen. Meine Hand zittert und
mein Auge brennt vor den Szenen, die in Leichenschleiern um
mich treten und so nahe an mir die Schleier aufheben. Ich
schlieBe mich diese Nacht ein - ich hore nichts als meine Gedan-
ken - ich sehe nichts als die Nachtsonnen, die iiber den Himmel
10 ziehen - ich vergesse die Schwachen und die Flecken meines
Herzens, damit ich den Mut erhalte, mich zu erheben, als war* ich
gut, als wohnt* ich auf der Hohe, wo um den groBen Menschen
wie Sternbilder nichts als Gott, Ewigkeit und Tugend liegen.
Aber ich sage zu denen, die besser sind - zum stillen groBen Her-
zen, das seine Pflichten vermehrt, indem es sie erfutlt, und das sich
beim Wachstum seines Gewissens taglich bloB mit groBern Ver-
diensten befriedigt - zu den hohen Menschen, welche die Hand
des Todes warm gedriickt haben, die ihn, wenn er auf Morgen-
auen herumgeht, friedlich fragen konnen : »Suchest du mich heute?«
20 — zur lechzenden Seele, die sich unter dem Zypressenbaum ktihlet
— zu den Menschen mit Tranen, mit Traumen, mit Fliigeln, zu
alien diesen sag* ich: »Verwandte meines Emanuels, euer Bruder
streckt nach euch seine Hand durch die kiirzeste Nacht aus, er-
greifet sie, er will von euch Abschied nehmen !«
Die erhabene Vormitternacht
Viktor stand aus seinen Traumen, in denen er nichts als Graber
und Trauergeriiste fur seinen Freund gesehen hatte, wehmutig
auf; aber er faBte beim MorgengruB geheime Hoffnungen, da er
ihn ohne Fieber, ohne Beklemmungen, ohne Anderungen in sei-
jo nen angeblichen Todesmorgen treten sah. Ihm war bloB vor dem
Eindruck bange, den die getauschte Hoffnung des Scheidens auf
das schon halb aus dem irdischen Boden gerissene und von Erde
XI 26 HESPERUS
entblofite Herz des Geliebten machen wtirde. Dieser hingegen
hielt noch seine Traume fest, denen sogar seine nachtlichen Nah-
rung gaben; und er sah sehnend in das ungestirnte Blau und be-
rechnete den langen Weg bis zur zwolften Nachtstunde, wo aus
dem Himmel die Sterne und der Tod mit seinem dunkeln uner-
meBlichen Mantel, in dem er uns durch sein kaltes Reich tragt,
vordringen wiirden. Sein Herz lag in einer suDen Mittagruhe, die
zum Teil vom korperlichen Ermatten und vom schonen Tag her-
kam. Eine innere Windstille, die nirgends so groB und so magisch
ist als in Seelen, an denen Wiibelorkane hin und her gerissen haben, i o
iiberdeckte sein ganzes Wesen mit einer sehnsuchtigen Wonne,
die in andern Augen als seinen in Tranentropfen zerflossen ware.
O Ruhe, du sanftes Wort! - Herbstflor aus Eden ! Mondschein
des Geistes! Ruhe der Seele, wann haltst du unser Haupt, daB es
still liege, und unser Herz, dafi es nicht klopfe? Ach eh' jenes bleich
und dieses starr ist, so kommst du oft und gehst du oft, und nur
unten bei dem Schlafe und bei dem Tode bleibest du, indes oben
die Sturme die Menschen mit den grofiten Flugeln gleich Paradies-
vogeln am meisten umherwerfen!
Emanuels Ruhe, womit er die Gastrolle des Lebens bis aufs *>
letzte Merkwort ausspielte, womit er alles einpackte - zurecht-
stellte — anbefahl — verabschiedete, trieb im gequalten Freunde
Tranen und Sturme zusammen. Sein Herz war zwar vom Schick-
sal iiber einem steinichten Weg wund geschleift, aber die Entziin-
dungen desselben kiihlte jetzt der Gedanke des Todes sanft ab;
doch konnt* er es - beim groBten Unglauben an Emanuels Tod -
nicht aushalten, es zu horen, wie ihm Emanuel den blinden Julius,
dem man diesen Tod verbarg, von weitem mit den leisen Worten
iibergab : »Hab' ihn lieb wie ich, versorge, beschirme den Armen,
bis du ihn dem Lord Horion ubergeben kannst.<( Seine bebenden 30
Hande konnten kaum ein Paket an diesen Lord annehmen, das ihm
der Freund mit zartlichen Augen und mit den Worten reichte:
)>Wenn diese Siegel geoffnet werden, so haben meine Eide auf-
gehort, und du erfahrst alles.« Denn sein zartes Gewissen ver-
stattete ihm nur den Inkalt, nicht das Dasein von Geheimnissen
zu verbergen. - Es wird uns nicht wundern, da Viktors Adern
38. HUNDPOSTTAG I I 2Tf
eine Wunde urn die andere empfingen, daB er, um nicht durch
Wallungen ihr Bluten zu vermehren, den Flotenspieler bat, heute
nicht zu spielen; Musik hatte an diesem Tag uber sein zerflossenes
Herz zu viele Gewalt gehabt.
Den Morgen verbrachten sie in Abschiedbesuchen bei alten
Steigen, Lauben und Anhohen; aber Emanuel machte hier nicht
die grelle, tobende Gewaltrolle des funften Akts; er schlug auf
einer Erde, wo der Tod graset, keinen unphilosophischen Larmen
daruber auf, daB er die Blumen und die Saaten nicht mahen und
10 das griine Obst nicht gelben werde sehen; sondern mit einem
hohern Entzticken, das sich jenseits des Erden-Lenzes noch scho-
nere versprach, machte er sich von jeder Blume los, ging er durch
jedes Laub-Gewinde und Schatten-Nachtstuck hindurch, zog er
seine gleichsam in der Erde liegende verklarte Gestalt aus jedem
Spiegelteiche, und eine liebevollere Aufmerksamkeit auf die Natur
zeigte an, daB er heute nachts dem naher zu kommen hofTte, der
sie geschaffen. Er versuchte und Viktor vermied von allem diesen
zu reden. »Nur nicht zum letzten Male!« sagte dieser. »Nicht?«
(sagte Emanuel) - »Geschieht nicht alles nur einmal und zum
20 letzten Male? - Scheidet uns nicht der Herbst und die Zeit so gut
wie der Tod von allem? - Trennt sich nicht alles von uns, wenn
wir uns auch nicht von ihm trennen? - Die Zeit ist nichts als ein
Tod mit sanftern dunnern Sicheln; jede Minute ist der Herbst der
vergangenen, und die jweite Welt wird der Friihling einer dritten
sein. - - Ach wenn ich einmal wieder aus der Blumenflache einer
zweiten weiche, und wenn ich am himmlischen Sterbetag das
Zwielicht von der Erinnerung zweier Leben sehe — o in der Zu-
kunft ruht eine Anlage zur unendlichen Wonne so gut wie zur
Qual; warum schauert der Mensch nur vor dieser?« - Viktor be-
30 stritt die kiinftige Erinnerung. »Ohne Erinnerung« (sagte Emanuel)
»gibts kein Leben, nur Dasein, keine Jahre, nur Terzien - kein
Ich, nur Vorstellungen desselben - Ein Wesen zerfahrt in so viel
Millionen Wesen, als es Gedanken hat - Erinnerung ist bloB Be-
wuBtsein der gegenwartigen Existenz.« - Auch der Dichter philo-
sophies, wenigstens fur Dichtung und gegen Philosophic - Vik-
tor dachte : »Du Guter ! mir, nicht dir macht' ich diese Einwurfe.«
1 128 HESPERUS
Es war gegen Mittag: der Himmel war rein, aber schwiil; die
Blumen meldeten das Zusammenziehen der Blitze durch ihr Ver-
schlieBen an;alle Auen waren Rauchaltare, und Diifte gingen als
Propheten der Gewitterwolken voraus. Mit der physischen Ge-
wittermaterie haufte sich in Viktor die morallsche an - er dachte
daran, daB oft ein heiBer Tag den Schwindsiichtigen das Leben
nehme; - er verwechselte zuweilen die Bitterkeit des Abschieds
mit der Wahrscheinlichkeit desselben; denn der von der Luftper-
spektive der Furcht betrogne Mensch flndet ein Schreckenbild
desto nether, je grofier es ist; — er weinte, wenn er bloB daran 10
dachte, daB er weinen konnte; aber gleichwohl wiirde die Ver-
nunft die Oberhand uber die Gefiihle behalten haben, hatte nicht
beide folgender Zufall betaubt.
In Maienthal wohnte ein Wahnsinniger, den man bloB das tolle
Totengebein hieB. Aus drei Griinden wurd' er so genannt: erst-
lich weil er ein Knochenpraparat von Magerheit war; zweitens
weil er die fixe Idee herumtrug, der Tod setze ihm nach und woll'
ihn an der linken Hand, die er deswegen verdeckte, ergreifen und
wegziehen; drittens weil er vorgab, er sen' es denen, die bald
sterben wurden, am Gesichte an, iiber welches sich alsdann schon 20
dieEinschnitte und Abszesse der Verwesungausbreiteten. In Mo-
ritz* Erfahrungseelenkunde 1 ist ein ahnlicher Mensch beschrieben,
der auch imstande sein soil, die Vorposten des Todes und seine
zerreibende Hand auf Gesichtern vorauszusehen, die andern glatt
und rot vorkommen, indes er sie mit dem Hollenstein der Ver-
wesung ausgestrichen erblicket. - Dieses Totengebein wars, das
in der Nacht des vierten Pfingsttages, als Klotilde auf dem Kirch-
hof war, ausrief : »Tod ! ich bin schon begraben.« - Viktor und
Emanuel gingen unter dem Gelaute der zwolften Stunde nach
Hause und vor einem Hiigel voruber, woran das Totengebein be- 30
klemmt saB; es bohrte sich die linke Hand, wornach der Tod
griff, tief unter die Achsel: »Brrr!« (sagt* es schuttelnd zu Ema-
nuel) »Er hat dich, aber nicht mich! Lauter Moder hangt an dir
'runter! Die Augen sind weg! Brr!«
Die Worte der Wahnsinnigen sind dem Menschen, der an der
1 Im zweiten Stuck des 2ten Bandes.
38. HUNDPOSTTAG II29
Pforte der unsichtbaren Welt horcht, merkwiirdiger als die des
Weisen, so wie er aufmerksamer den Schlafenden als den Wachen-
den, den Kranken als den Gesunden zuhort. Viktors Blut erstarrte
unter dem eiskalten Griffin sein warmes Leben. Das tolle Gebein
rannte fort, die linke Hand mit der rechten verbauend. Viktor
nahm seines Freundes linke^ blickte zur war men Sonne auf und
suchte sich zu verbergen und zu erwSrmen und konnte nichts
sagen. Unten am tiefblauen Himmel rauchten kleine Nebel auf,
die Keime eines Abendgewitters; und in der schwiilen Luft flog
io nichts als Gewiirm.
Emanuel war stiller und fast angstlich, aber es war nicht die
Bangigkeit der Furcht, sondern jene Bangigkeit der Erwartung,
mit der wir allemal auf die Fatten und Bewegungen des Vorhangs
groBer Szenen blicken. Die stechende Sonne erhielt das Paar zu
Hause. Dem vom schwiilen Dunstkreis gedriickten Emanuel
wurde fast der letzte Nachmktag zu lange. Aber sein Freund sah in
diesem Dunstgewolbe immer ein moderndes Angesicht hangen,
das sich in das geliebte frische einzuarbeiten schien, und immer
hort* er das tolle Totengebein in seine Ohren sagen : »Seine Augen
20 sind , raus!«
In der schwiilen Stille, wo die Sonne die Miniergange des Don-
ners grub und lud, und wo die zwei Freunde vor den Ohren des
blinden Julius nur mit Blicken von der heutigen Zukunft reden
durften, stand gegen 4 Uhr ein fachelnder Abendwind auf, der
alle hangende Flugel und Haupter erfrischte. Emanuel lieB diese
kiihlen Wogen herein, die einwiegend und beruhigend iiber die
gebiickten Blumen am Fenster liefen und an den schwankenden
Falten der Vorhange mederflossen und verirrt durch das duftende
Laubwerk des Zimmers platscherten. Da kam eine unendliche
30 Stille, eine auflosende Wonne, ein unaussprechliches Sehnen in
Emanuels Herz. Seine Kindheitfreuden - die Ziige seiner Mutter
- die Bilder indischer Gefilde - alle geliebte verstaubte Gestalten
- der ganze gleitende Widerschein des Jugendmorgens floB vor
ihm glimmend voriiber - eine wehmiitige Sehnsucht nach seinem
Vaterland, nach seinen gestorbnen Menschen dehnte seinen Busen
mit suBen Beklemmungen aus. Dieses immergriine Palmenlaub
1 130 HESPERUS
der Jugenderinnerung legte er als kuhlendes Kraut um seine und
Horions Stirne, und den ganzen ersten Kreis seines Daseins trug
er aus dem indischen Eden in dieses enge Gehause vor seine zwei
letzten Geliebten heruber. Aber da er so die Asche der Freuden-
Phonixe auf dem Altar der Abendsonne aufhaufte - da er so am
Ausgange tiber alle hintereinander liegende elysische Felder seines
Lebens hintibersah - da vor ihm die ganze Erde und das Leben,
mit Morgentau und Morgenrot iiberzogen, sich in den dammern-
den Spielplatz des Menschen verwandelten: so war er seiner Riih-
rung und seines zerschmolznen Herzens nicht mehr machtig, son- 10
dern im seligen Zittern, im bebenden Dank gegen den Ewigen
bat er den Blinden, die Flote zu nehmen und ihm das Lied der
Ent^iickung^ das er sich allemal am Morgen des neuen Jahrs und
seines Geburttages spielen X\e&^ als Echo des austonenden Lebens
nachzusenden.
Julius nahm die Flote. Horion ging hinaus unter einen laut
rauschenden Baum und sah in die tiefere Abendsonne. Ema-
nuel stellte sich am wehenden Fenster dem Purpurstrom des
Abendlichtes entgegen, und das Lied der Entzuckung fing an
und floB in Stromen in sein Herz und um die eingesunkne 20
Sonne.
Und da die Spharen-Laute von der Sonne auszuwallen schie-
nen, die in der Abendrote wie ein Schwan, in Melodien aufgeloset,
in Goldrauch und in Freudentau vor Gott aus Entziicken starb —
und da vor Emanuel alle Blumen, womit die ewige Giite unser
Herz bedeckt, und alle Wonnegefilde, durch die ihre sanfte Hand
den ungewissen Menschen fuhrt, wie Engel voruberfiogen - und
da er die kiinftigen Himmel naherrucken sah, in die der Weg des
Lebens geht - und da er sah diese unendlichen Arme alle wunde
Herzen decken, uber alle Jahrtausende reichen, alle Welten tra- 30
gen und ihn, ihn kleinen Erdensohn doch auch: o da konnte er
unmoglich das voile Herz mehr halten, es brach ihm vor Dank,
und aus seinen Augen fielen wieder die ersten - Tranen nach lan-
gen langen Jahren. Diese heilige Tropfen verwischte er nicht; in
ihnen zerlief die Abendrote in ein loderndes Meer; die Flote ver-
hallete; Viktor fand die schimmernden Augen noch; Emanuel
38. HUNDPOSTTAG 1 1 _*} I
sagte: »0 sieh, ich weine vor Freude iiber meinen Schopfer.« —
Dann gab es unter den erhobnen Menschen, an dieser heiligen
Statte keine Worte mehr - der Tod hatte seine Gestalt verloren -
eine erhabne Trauer betaubte die Schmerzen der Trennung - die
Sonne, mit Erde bedeckt, beruhrte mit ihren aufgerichteten Strah-
len den Himmel und die Nacht und den Boden der Wolken - die
Erde schimmerte magisch wie eine Traum-Landschaft, und doch
war es leicht, aus ihr zu weichen, denn den Himmel bedeckten die
andern Traum-Landschaften.
io Die Erden der Nacht (die Planeten) traten schon auf, die Son-
nen der Nacht (die Fixsterne) gingen schon nach ihnen hervor,
der Mond hatte schon das sudostliche Gewitter um sich gehullt:
als Emanuel sah, da8 es Zeit sei, die Szenen des Tals zu endigen
und auf sein Tabor zu gehen, um dem Tod das Fliigelkleid seiner
Seele zu geben. Stockend bat er seinen Viktor, ein wenig voraus-
zugehen, damit er nicht das Trennen vom Blinden sahe und sich
etwan durch eine Teilnahme verriete ; denn bei dem Blinden hatte
Viktor die Reise in die andre Welt nur fur eine auf dieser ausge-
geben. Er stellte sich unglucklich hinaus vor die verstummten
20 schwulen Gefilde, in denen einmal die Paradieses-Strdme seiner
Liebe gegangen waren, auf denen er einmal an Klotildens Seite
schonere Abende geseheri hatte; auf der Erde war Totenstille wie
in einer Kirche nachts, bloB den Himmel umbrausete ein auf die
Erde gekrummtes Bleigewolk, und der Tod schien von Wolke zu
Wolke zu gehen und sie zur Schlacht zu ordnen.
Endlich hdrt' er Julius* Weinen. Emanuel floh heraus, aber in
seinen Augen hingen schwerere Tropfen, als seine vorigen waren.
Und da der verlassene Blmde sein dunkles Haupt unter der Haus-
tiir von seinen Freunden wegdrehte, entweder weil er ihren Weg
30 nicht wuBte oder weil er horchen wolke, welchen sie nahmen, so
konnte Viktor dem Gebeugten, der in einer doppelten Nacht
wohnte, kaum vor inniger Wehmut zuriickrufen : er komme nach
zwolf Uhr wieder.
In dem kahlen AbendgruB: »Gute Nacht, schlaft wohl«, den
Emanuel gab und bekam, war mehr Tranenstoff als in ganzen
Elegien und Abschiedreden: so sehr sind die Worte nur die In-
1 132 HESPERUS
schriften auf unsern Stunden und die Ripienstimmen und die Be-
zifferung unserer Grundnoten.
Sobald Emanuel vor den Nachthimmel, vor den daran ange-
ketteten Orkan und vor seinen Totenberg trat: so hoben Engel
seine erweichte Seele wieder - er sah den Tod vom Himmel stei-
gen und auf seinem Grabe den Freiheitbaum aufrichten - er sah
die freundlichen Sterne naherkommen, und es waren die himm-
lischen Augen seiner Freunde und aller seligen Wesen. Viktor
durfte seine dichterischen HofFnungen durch keine Griinde sto-
ren; vielmehr wurd* er selber von Stunde zu Stunde defer in den :o
Glauben an seinen Tod hineingezogen ; wenigstens fiirchtete er,
daB der heutige Entzuckung-Srurm die miirbe Wohnung dieses
schonen Herzens und seiner Seufzer zertrennen und dafi der Tod
so lange um die edle Seele schleichen wiirde, bis er sie an ihren
Fliigtln, wenn sie in Wonne sie aufrichtete, vom Leben pflucken
konnte, wie Kinder den Schmetterling so lang umgehen, bis er
auf seiner Blume die Schwingen aneinandergefaltet in die raube-
rischen Finger erhebt.
Emanuel verschob durch Umwege das Ersteigen des Berges,
um seinen gebrochnen Freund, dessen Augen nicht mehr trocken 2 o
wurden, von einer Sonne in die andre zu heben, damit er in dieser
hohen Stellung aus Lichtern herunterblickte auf diese Schatten-
erde und darauf den befreundeten Leichnam vor Kleinheit kaum
bemerkte. »Darum« (sagt* er) »wird ja diese Erde alle Tage ver-
finstert, wie Kafige der Vogel, damit wir im Dunkeln leichter die
hoheren Melodien fassen. - Gedanken, die der Tag zu einem dun-
keln Rauch und Nebel macht, stehen in der Nacht als Flammen
und Lichter um uns, wie die Saule, die iaber dem Vesuv schwebt,
am Tage eine Wolkensaule scheint und in der Nacht eine Feuer-
saule ist.« Viktor merkte die Absicht zu trosten und wurde desto jo
untrostlicher und schwieg immer.
Sie gingen nicht an der Seite des Berges zur Trauerbirke hinauf,
sondern an seinem langsam aufsteigenden Rucken. Sie ubersahen
das Theater der Nacht, uber welches der Mond und das Gewitter
verhullet heraufruckten. Emanuel stand still und sagte: »0 blick
hinauf und sieh die ewig funkelnden Morgenauen, die um den
38. HUNDPOSTTAG 1 133
Thron des Ewigen liegen! - Hatte aus dem Himmel nie ein Stern
geschienen, nur dann wiirde sich der Mensch angstlich in den letz-
ten Schlaf auf einer wie ein Leichengewolbe Uberbauten dunkeln
Erde ohne Offnung legen.« Vor den Augen, die sich an Sonnen
hefteten, schweiften blinkende Johanniswurmchen, und eine Fle-
dermaus zischte nach einem grauen Nachtschmetterling - drei
Johannisfeuer, vom Aberglauben angeschiirt, zogen drei feme
Hugel aus der Nacht - alles Leben schlief unter seinem Blatt, unter
seinem Zweig, naher an seiner Mutter, und in den herumgestreue-
io ten Traumen waren Gewitter - Fische taumelten wie Leichen auf
der Wasserflache als Vorboten des Donners.
Plotzlich fing Emanuel mit einer unpassenden, nicht genug be-
zwungnen Stimme an : »Wahrlich wir wurden gefaBter neben dem
Genius stehen, der die letzten Schlummerkorner auf die Augen
unsrer Lieben fallen laBt, wenn sie nachher nicbt in Kirchenge-
wolben, in Kirchhofen, sondern auf Auen ausschliefen, unter dem
Himmel, oder als Mumien in Zimmern .... Jetzt, mein Geliebter,«
(sie horten schon das Wehen der Trauerbirke) »herrsche also iiber
deine Phantasie; du wirst neben der Birke meine Ruhehohle ofFen
20 sehen - ich habe sie seit vier Wochen mit Blumen ausgesaet und
iiberkleidet, die jetzt meistens bliihen - du legst mich morgen
ohne alles andre so in meinem Schlaf kleide unter die Blumen - und
deck es morgen zu - gib aber nicht, du Guter, meinem kleinen
Blumenstiick solche harte Namen wie andre Menschen - morgen,
sag' ich; heute geh sogleich heim zu deinem Julius, wenn ich....«
(gestorben bin, wollt' er sagen, konnt' aber die weiche Umschrei-
bung vor Ruhrung nicht finden.) -
Ach das gebrochne Auge riB Horion mit einem Seufzer heraus
aus der kalten ofFnen Grotte seines Geliebten, und er konnte nicht
jo hinabsehn zu dem Blumenflor darin. Er schluchzete laut und sah
aus Tranen zergangen in Emanuels Angesicht, um zu sehen, ob er
lebeodersterbe. Zwei Johanniswurmchen durchkreuzteneinander
in glimmendem Bogen iiber dem Grabe, sie senkten sich daneben
hin und loschten aus, denn ihr Licht vergeht mit ihrer Bewegung.
In Viktors Wunden griff jetzt der Donner mit seinem ersten
Schlag - den ostlichen Horizont deckte ein zerflieBender Blitz,
1 1 34 HESPERUS
und die Flamme lief iiber die Alpengebirge - die Gewitterstange
auf dem Pulverturm schimmerte, seine Gewitterstiirmer erklan-
gen, die Irrwische spielten urn den Turm, und mitten in der Luft
riickte ein schwebender Lichtpunkt furchterlich auf ihn zu.
In Maienthal wurde elf Uhr ausgerufen - um zwolf Uhr glaubte
Emanuel dahin zu sein. - Endlich fiel Emanuel, selber vom frem-
den Kummer iibermannt, an seinen Freund und sagte: »Was hast
du mir noch zu sagen, mein Geliebter, mein unaussprechlich teu-
rer Freund? - Meine Stunden sind dahin - unser Lebewohl kommt
- sage deines und store dann mein Sterben nicht. - Sei still, wenn 10
der Tod den Berg heraufsteigt, und jammere nicht nach, wenn er
mich erhebt. - Was hast du mir noch zu sagen, mein ewig Gelieb-
ter?« - »Nichts mehr, du Engel des Himmels! ich kann auch nicht«,
sagte der verblutete Mensch und legte das gedriickte Haupt mit
Tranenstromen auf Emanuels Schulter.
»Nun so brich dein Herz von meinem ab und lebe wohl - sei
gliicklich, sei gut, sei groB - ich habe dich sehr geliebt, ich werde
dich noch einmal lieben und dann unendlich - Guter! Treuer!
Sterblicher wie ich! Unsterblicher wie ich!«
Die Gewitterstiirmer lauteten heftiger - der schwebende Licht- *o
punkt trat an den Pulverturm - alle eingehiillten Wolken-Vul-
kane tobten nebeneinander und warfen ihre Flammen zusammen,
und die Donner gingen wie Sturmglocken zwischen ihnen - die
beiden Menschen lagen aneinander dicht, stumm, keuchend, drtik-
kend, zitternd vor dem Ietzten Wort.
»0 sprich noch einmal, mein Horion, und nimm Abschied von
deinem Freund - sage nur zu mir: Ruhe wohl! und lasse den
Sterbenden.«
Horion sagte : »Ruhe wohl !« und liefi ihn. Seine Tranen horten
auf, und seine Seufzer verstummten. Der Donner schwieg fiirch- 3°
terlich. Die Natur ordnete stumm ihr Chaos im Gewitter. Kein
Blitz schimmerte durch das Trauergeruste am Himmel. BloB das
Totengelaute der Gewittersturmer sprach noch fort, und der
Lichtpunkt riickte noch fort.
Unter der weiten Stille lag der Schlaf, die Traume und eines
Freundes trostloses Herz.
38. HUNDPOSTTAG 1135
In dieser Ewigkeit-Stille trat Emanuel ohne eine fremde Hand
an die hohe P forte, die schwarz hinaufsteigt iiber die Zeit.
Die Stille ist die Sprache der Geisterwelt, der Sternenhimmel
ihr Sprachgitter - aber hinter dem Sternengitter erschien jetzt
kein Geist, und Gott nicht.
Es kam die Minute, wo der Mensch seinen Korper ansieht und
dann sein Ich und dann schaudert. - Das Ich steht allein neben
seinem Schatten - ein Schaumglobus von Wesen zittert, knistert
und wird niedriger, und man hort die Blaschen verschwinden und
10 ist eines.
Emanuel schaute hinein in die Ewigkeit, sie sah wie eine lange
Nacht aus.
Er sah urn sich, ob er keinen Schatten werfe - ein Schatten
wirft keinen Schatten.
Ach ein Stummer legt den Menschen in die Wiege, ein Stum-
mer driickt ihn ins Grab. - Wenn er eine Freude hat, sieht es aus,
als lachte ein Schlafender — wenn er jammert und weint, sieht es
wie das Weinen im Schlafe. - Wir blicken alle zum Himmel auf
und bitten um Trost; aber droben im unendlichen Blau ist keine
so Stimme fur unser Herz - nichts erscheint, nichts trostet uns, nichts
antwortet uns. -
Und so sterben wir ....
- O Allgiitiger! wir sterben froher; allein der arme Emanuel
kampfte in der stillen Finsternis mit grimmigen Gedanken, die er
so lange nicht gesehen hatte und die nach seinem erbleichenden
Angesicht krallten. Aber diese Larven rennen davon, wenn ein
freundliches Bruderangesicht vor dich tritt und dich umarmt. -
Horion richtete sich auf und erwarmte den Gebeugten durch
einen stummen Abschied wieder. Ein Sturmwind stiirzte sich aus
50 dem klaren Westen in die stumme arbeitende Holle und jagte alle
Blitze und alle Donner heraus. Siehe da flog aus dem zuriickge-
wehten Gewolke der lichte Mond wie ein Engel des Friedens in
das unbesudelte Blaue heraus - da untersckied sich im Lichte Ema-
nuel von seinem Schatten - da beschien der Mond einen Regenbo-
gen aus blassen Farbenkornern, der in Sildosten (der Pforte nach
Ostindien) durch die dunklen Flutsaulen drang und sich iiber die
1 136 HESPERUS
Alpen bog - da sah Emanuel die vorige Himmelleiter wieder iiber
die Erdennacht gelehnt - da kam die Entziickung ohne MaB,
und er rief mit ausgebreiteten Armen: »Ach dort in Morgen, in
Morgen, iiber die StraBe nach dem Valerianic da schimmert der
Triumphbogen, da offnet sich die Ehrenpforte, da ziehen die
Sterbenden hindurch« . . .
Und da es jetzt zwolf Uhr schlug: so breitete er seine Hande
verziickt gegen den Himmel, der blau war iiber dem Berge, und
gegen den Mond, der heiter neben dem Gewitter ruhte, und rief
brechend mit seligen Tranen: »Habe Dank, Ewiger, fur mein 10
erstes Leben, fur alle meine Freuden, fiir diese schone Erde.« -
Um Maienthal zogen Julius' Flotentone, und er sah auf die Erde
nieder.
»Und bleibe du gesegnet, du gute Erde, du gutes Mutterland,
bliihet, ihr Gefilde Hindostans, lebe wohl, du schimmerndes
Maienthal mit deinen Blumen und mit deinen Menschen — und ihr
Briider alle, kommt mir nach einem Iangen Lacheln selig nach.
Jetzt, o Ewiger, nimm mich hinauf und troste die %wei Bleiben-
den.<(
Die Todesengel standen auf alien Wolken und zogen ihre blit- 20
zenden Schwerter aus den Nachten - ein Donner schlug hinter
dem andern, wie wenn aufgeworfen wiirde eine Gefangnistiir des
Erdenlebens nach der andern.
Der schreckliche Lichtpunkt hatte sich verkrochen aus der Mitte
der Luft in den Pulverturm.
Die Todesstunde war schon voriiber und doch das Leben noch
nicht.
Emanuel zitterte sehnend und bange, weil er noch kein Sterben
fiihlte - bewegte die Hande, als wenn er sie jemand geben wollte
- starrte in die BHtze, als wenn er sie auf sich ziehen wollte.... 30
»Tod ! fasse mich,« rief er auBer sich - »ihr gestorbnen Freunde!
o Vater ! o Mutter! brecht ab mein Herz, nehmet mich - ich kann,
ich kann nicht mehr leben.« —
Da fuhr ins Gewitter eine lodernde rasselnde Weltkugel hin-
auf, und der Pulverturm zerschoB wie eine auseinandergesprengte
Holle. -
38. HUNDPOSTTAG H}7
Der Knall warf den flammenden Emanuel erblafit in sein Blu-
mengrab; der ganze donnernde Osten zitterte; der Mond und der
Regenbogen wurden zugehullt ....
Die selige Nachrnitternacht
Viktor regte, sinnlos darniedergeworfen, endlich den Arm und
tastete damit an das kalte Angesicht, aus dem heute das tolle To-
tengebein diese Nacht gelesen hatte und das aus dem Grabe ragte,
gen Himmel gekehrt. Er warf sich daruber und druckte seins an
das bleiche. Eh' noch seine Tranen durch den harten Schmerz sich
10 durchgerissen hatten: trugen die Wolken ihre Sturmfasser und
ihre Leichenfackeln zuriick, und durchsichtige Schaumflocken
iiberflossen weichend den Mond und senkten sich endlich uber
das ganze Tal und liber das stille Paar in tausend warmen Tropfen
nieder, die den Menschen so leicht an seine erinnern. Der von
einem der drei Englander aufgesprengte Pulverturm hatte das
Seetreffen der brennenden Wolken zertrennt.
Das zerstiickte Gewitter hatte sich in kleinen Wolken herum-
gezogen und stand uber der Mitternachtrote in Nordosten, als die
kalte Betaubung die beiden Menschen noch zusammenheftete;
20 endlich kam von oben herab eine heiBe Hand zwischen ihre An-
gesichter, und eine furchtsame Stimme fragte: »Schlafet ihr?«
»0 Julius,« (sagte Horion) »komm ins Grab, dein Emanuel ist
gestorben«....
Ich mag die grausamen Minuten nicht zahlen, die zwei Un-
gliickliche Hegen lie Ben mit dem Stachelgiirtel des Jammers an
einen ErblaBten gebunden. Abef schonere kamen, die vorher je-
des Wolkchen aus dem Himmel druckten und den angelaufnen
Mond abwischten und dann die heiBen Augen orTneten vor der
gereinigten abgekuhlten Silbernacht.
30 »Ach er ist wohl nur ohnmachtig?« sagte Viktor sehr spat. Sie
richteten sich seufzend auf. Sie zogen miide den Geliebten aus dem
Grabe. Sie wollten ihn in seine Wohnung hinuntertragen, um da
die Sormenwende dieser schonen Seele wie der Johannissonne wie-
der zu erzwingen. Mit den dunnen Kraften, die ihnen der Gram
1 138 HESPERUS
noch iibrig gelassen, und mit dem wenigen Licht, das noch in
zwei nasse Augen kam, ran gen sie sich mit dem zerknickten Engel,
indes zwei arbeitende Schatten neben ihnen fiirchterlich einen
dritten im Schimmer trugen, vom Berge in die Wiesen herunter.
Hier ging Viktor allein ins Dorf, um vielleicht einen trostlichern
als einen Leichenwagen zu besorgen. Der Blinde hielt sich an
einen Birkenbaiim, Emanuel schlief wie die andern B lumen, und
auf ihnen, vor dem Monde . . . Aber Julius horte plotzlich den
Toten reden und ihn durch das Gras streifen; und er rannte, von
Entsetzen verfolget, davon .... 10
- Genius der Traumel der du durch den neblichten Schlaf der
Sterblichen trittst und vor der einsamen, in einen Leichnam ge-
sperrten Seele die gliicklichen Inseln der Kindheit heraufziehest,
o der du darin unsern verwesten Freunden wieder Wangenbliite
gibst und unserm armen wahnsinnigen Herzen vergangne Himmel
zeigst und Eden-Widerschein und rinnende Auen auf Wolken! -
Magischer Genius! tritt in diese heilige Nacht vor einen Men-
schen, der nicht schlaft, und wende deinen iiberflorten Spiegel auf
mein offnes Auge, damit ich darin die elysische Lichtwelt, die mit
unserm Erdschatten kampfet, in der doppelten Verfinsterung als 20
eine blasse Luna sehe 1 und male! — •
Die entziickte Stimme des Toten rief : »Sei gegriiBet, du stilles
Elysium! o du schimmerndes Land der Ruhe! nimm den neuen
Schatten auf- ach wie glimmst du sanft - wie wehest du sanft -
wie ruhest du sanft«
Emanuels Augen waren aufgegangen ; aber in seinem Gehirn
brannte der elysische Wahnsinn, er sei gestorben und erwache in
der zweiten Welt. O du tJberseliger! dich umfing ja auch ein blin-
kendes Eden - ach dieses Schimmern, dieses Wehen, dieses Duf-
ten, dieses Ruhen war zu schon fur eine Erde. Der Mond iiber- 30
webte mit Silberfaden wie mit fliegendem Sommergespinste das
Nacht-Grun - von Blatt zu Blatt, von Baumen zu Baumen reichte
die Funkendecke des iiberstrahlten Regens - iiber alien Wassern
wankten flimmernde Nebelbanke - ein leises Wehen warf trop-
1 Die Sonne wird in ihrer Verfinsterung durch den Mond von uns im be-
fiorten Spiegel angeschaut.
38. HUNDPOSTTAG II39
fende Edelsteine von den Zweigen in die Silberflusse - die Baume
und die Berge stiegen wie Riesen in die Nacht- der ewige Himmel
stand iiber den fallenden Funken, iiber den eilenden Diiften, iiber
den spielenden Blattern, er allein unveranderlich, mit festen Son-
nen, mit dem ewigen Welten-Bogen, groB, kiihl, licht und blau. -
So glimmte, so duftete, so lispelte, so zauberte niemals ein Tal ....
Emanuel umarmte den funkelnden Boden und rief aus der bren-
nenden, der Wonne erliegenden, stockenden Brust: »Ach ist es
denn wahr? halt* ich dich wirklich, mein Vaterland? - Ja, in sol-
10 chen Gefilden der Ruhe werden die Wunden geheilt, die Tranen
gestillt, keine Seufzer gefodert, keine Siinden begangen, da zer-
fliefiet ja das kleine Menschenherz vor zu voller Wonne und er-
schafft sich wieder, um wieder zu zerflieBen So nab* ich dich
langst gedacht, seliges, magisches, blendendes Land, das an meine
Erde grenzt... O! liebe Erde, wo bist du wohI?«
Er hob das trunkne Auge in den mit Sternen betaueten Himmel
und sah den erniedrigten Mond gelb und matt in Suden hangen;
diesen hielt er fur die Erde, aus der ihn der Tod in dieses Elysium
getragen habe. Hier zerging seine Stimme in Running iiber den
20 geliebten ersten Garten seines Lebens, und er redete die oben iiber
die Sterne fliehende Erde an :
»Kugel der Tranen ! Wohnung der Traume ! Land voll Schatten
und Flecken! - Ach auf deinen breiten Schattenflecken 1 werden
jetzt die guten Menschen beben und untersinken ! i . . Ein Ring aus
Nebeln 8 umkreiset dich, und sie sehen das Elysium nicht Ach
wie still tragst du durch den seligen stillen Himmel dein Schlacht-
geschrei - deine Stiirme - deine Graber; deine Dunstkugel schlie-
Bet wie ein Sarg alle Klagstimmen um dich ein, und du rinnest mit
iiberdeckten Gebeugten bloB als eine blasse stille Kugel iiber das
30 Elysium hiniiber ! . . .
- Ach ihr Teuern, mein Horion! mein Julius! ihr seid noch
droben im Gewitter, ihr deckt meinen Leichnam zu, ihr blickt
weinend gen Himmel und konnt das Elysium nicht sehen . . . O !
daB ihr durch das nasse Gewolk des Lebens schon durch waret -
1 Unsere Erdmeere sehen in der Feme wie die Flecken des Mondes aus.
2 Der Mondhof.
I 140 HESPERUS
aber vielleicht nab' ich schon lange geschlafen und gewacht, viel-
leicht geht die Zeit auf der Erde anders als in der Ewigkeit - Ach
daB ihr hernieder kamet in die stillen Gefilde!« Er sah im magi-
schen vergroBernden Schimmer zwei Gestalten gehen. »0 wer
ists?« rief er, entgegenfliegend. »0 Vater! o Mutter! seid ihr
hier?« - Aber da er naher kam: sank er in vier andre Arme und
stammelte: »Selig, selig sind wir jetzt, meinHorion! mein Ju-
lius !« — Endlich sagt' er: »Wo sind meine Eltern und meine
Briider und Klotilde und die drei Brahminen? Wissen sie nicht,
daB ihr Dahore in Elysium ist?« 10
Viktor sah trostlos dem wahnsinnigen Entzucken seines Ge-
liebten zu und sagte weder Ja noch Nein. Dieser schauete himm-
Iisch-lachelnd und liebe-stromend in Julius' Angesicht und sagte:
»Blick mich an, du hast mich auf der Erde nicht gesehen.« — »Du
weiBt ja, daB ich blind bin, mein Emanuel !« sagte der Blinde. Hier
floh der Wahnsinnige mit wegzuckenden Augen und mit einem
Seufzer gegen den Mond von den Freunden hinweg und sagte
leise zu sich : »Die zwei Gestalten sind nur Schattentraume aus der
Erde - ich will sie nicht ansehen, damit sie zerflieBen. - So reichet
also der Schatten- und der Traumkummer der Erde bis ins Eden 20
heriiber. Ich bin wohl noch im Totentraum, denn die Gegend hier
sieht wie die Gegenden in meinen Lebenstraumen aus - oder ist
dieses nur der Vorhof des Himmels, weil ich meine Eltern nicht
rlnde« . . . . Er sah gegen die hohen Sterne : »Wo steh' ich jetzt unter
euch? Neue Himmel liegen an neuen Himmeln. — Ach sehnet
man sich hier denn auch?«
Er seufzete, und wunderte sich, daB er seufzete. Er lehnte sich
an den perlenden Blumenhugel, gekehrt mit dem Rucken gegen
die geliebten Schatten, und mit den Augen gegen das anglimmende
Morgenrot, -und suchte und traumte - aber endlich deckte die 30
Morgenkiihle die suchenden, geblendeten, brennenden Augen, die
heute bald auf Schreckgestalten, bald in Wonnemeere gefallen
waren, mit leisem Schlummer und mit ahnlichen Traumen zu
»Ruke sanfi, du rmider Mensch!« sagte sein Freund; aber der
Schlafer ergluhte mit dem Horizont, und der alte Wahnsinn
spielte in ihm weiter —
38. HUNDPOSTTAG 1 141
Em Traum und der Morgen legten fiir ihn ein noch hoheres
Elysium an.
Ihm traumte, Gott werde von seinem Sonnenthrone steigen
und in Gestalt eines unsichtbaren unendlichen Zephyr- Wehens
uber das Elysium gehen.
Der erste Morgen des Sommers haufte um ihn den Braut-
schmuck der Erde - er durchzog die Gefilde mit Perlenbanken
von Tau und warf uber die wuhlenden Bache das Zitter- und
Glanzgold des herabgeschwommenen Morgenrots und legte den
10 Biischen das Armgeschmeide von brennenden Tropfen an. -
Aber erst als er alle Blumen auseinandergespalten - alle freudig-
zitternde Vogel in den Glanzhimmel gestreuet - in alle Gipfel
Singstimmen gehiillt - als er den verwelkten Mond unter die Erde
versenkt und die Sonne wie einen Gotterthron uber aufgebluhte
Wolkenkranze aufgerichtet und uber alle Garten und um alle
Walder ineinandergewundne Regenbogen von Tau gehangen
hatte - und als der Selige traumend stammelte : »Allgutiger, All-
gutiger, erscheine im Elysium !« - da weckte ihn der langsam
fliefiende Morgenwind und fuhrte ihn in die tausendstimmigen
20 Jubelchore der Schopfung hinein und lieB ihn erblindend ins
brausende flammende Elysium taumeln.
O siehe! jetzo iiberfloB ein unermeBliches Atmen kiihlend,
regend, lispelnd das ganze entbrannte Paradies und die kleinen
Blumen bogen sich schweigend nieder und die grunen Ahren wal-
leten sauselnd zusammen und die erhabnen Baume zitterten und
brausten - aber nur die groBe Brust des Menschen trank den un-
endlichen Atem in Stromen ein, und Emanuels Herz zerfloB, eh'
es sagen konnte : »Das bist du, Alliebender !«
- Du, der du mich hier liesest, leugne Gott nicht, wenn du in
30 den Morgen trittst oder unter den Sternenhimmel, oder wenn du
gut oder wenn du gliicklich bist! -
- Aber, ungliicklicher Emanuel !
Du sahest funf spielenden Trauermanteln zu und hieltest die
schonen Schmetterlinge fiir selige Psychen. - Du hortest hinter
deinem Hugel in die Erde hauen, als mache man ein Grab. - Du
sahest deinen guten Blinden an und sagtest doch: »Schatten!
1 142 HESPERUS
weiche Fiirchte dich vor Gott, der voruberging, und ver-
schwinde!« - Aber du sagtest vorher noch etwas, was ich heute
nicht enthiille -
- Mein Herz zittert vor der kiinftigen Zeile! -
Heulend vor Schmerz, grinsend vor freudiger Wut, sprang das
tolle Totengebein in die selige Ebene hinter dem Hiigel hervor
und trug in seiner Rechten eine abgehauene blutige Hand und
schuttelte aus dem linken Stumpfe, dem sein Wahnsinn sie abge-
hacket hatte, rieselnde Blutbogen und druckte mit dem rechten
Arme ein Grabscheit an sich, um die Hand zu begraben, und 10
schrie jubelnd und greinend : »Der Tod erschnappte mich daran,
ich nab' sie aber abgezwickt - und wenn er das Grab der Faust
sieht, ist er so dumm und denkt, ich lieg' drin. . . Ach! du da! Leg
dich doch in den Sarg zu Bett; er hat dir die Augen ausgebohrt
und das Maul mit Moder beklebt.* Brr!«
»0 Allgutiger, du hast mich verdammt!« stammelte Emanuel;
aus seiner zermalmten Lunge riB sich das gejagte Blut, und der
Trostlose schwankte sterbend auf die vollgebluteten Blumen sei-
nes verlornen Himmels nieder ....
So nimmt ein Tag dem andern den Himmel, und eh' der be- 20
raubte Mensch dort in das letzte Paradies eintritt, hat er hier zu
viele verloren! - Ach eine von Wunden geoffnete Brust tragen
wir in jede Fruhlingluft dieses Lebens und in den Ather des zwei-
ten; und sie muB erst zugeschlossen werden, eh' sie sich fullen
kann ! . . .
Der sanfte Abend
Gegen Mittag macht* er die muden Augen auf, aber bloB um sie
ins Grab fallen zu lassen, das der Tod neben ihm unter seinem
Schlafe aufgeschlossen hatte. Jedoch der eine Wahnsinnige war
der Arzneigott des andern gewesen; sein Traum vom Elysium 30
war ausgetraumt, kurz vorher ■, eh' er erfiillet zu werden schien,
und er war wieder verniinftig. Viktor sah aus alien Zeichen, daB
wenigstens gegen Sonnenuntergang der Tod mit seinem Obst-
pfiucker diese weiBe Frucht von ihrem Gipfel brechen werde;
aber er sah es ruhiger als gestern. Da er schon die Proberolle der
38. HUNDPOSTTAG 1 143
Trostlosigkeit gemacht hatte, so sagten die Werkzeuge des Grams
keinen neuen RiB ins Herz, sondern gingen nur im alten blutig
hin und her. Wer einen im Sarg Erwachten nach Jahren zum zwei-
tenmal hineintragt, trauert schwerlich so heftig wie das erstemal.
Mit welchen veranderten Augen erwachte Emanuel in der
Abendstube, wo er gestern die ersten Tranen vor Freude vergos-
sen hatte ! Seine Seele hatte, wie der traurige Baum von Goa, am
Tage das nachtliche Gedrange von Bliiten fallen lassen; seinem
erkalteten Haupte kehrte die Erde nicht mehr die Auen-Seite der
10 Dichtkunst zu, sondern die lichte der kalten Vernunft. Er gestand
jetzt, daB er die edlern Teile seines innern Menschen auf Kosten
der niedern vollblutig gemacht - daB seine Todes-HofTnung zu
groB gewesen, wie seine dichterischen Fliagelfedern - daB er die
Erde nicht aus der Erde, sondern zu sehr aus dem Jupiter be-
trachtet, auf dessen Sternwarte sie zu einem Feuerfunken ein-
kriechen muBte, und daB er also die Erde verloren, ohne doch den
Jupiter dafiir zu bekommen. Vergeblich widersprach ihm Viktor
mit dem wahren Satze, daB der hohere Mensch, gleich den Malern
mit Wasserfarben, allezeit sein Lebensstuck mit dem Hintergrunde
20 und mit dem Himmel anfange, welchen Olmaler und niedere
Menschen zuletzt machen; seine Antwort war die Klage, daB er
leider nicht fortgemalet bis zum Vorgrunde. Endlich warf er sich
auch vor, daB er zu viele Umstande bei einer so kleinen Trennung
gemacht, als der Tod wenigstens fur den, der gehe, sei, da die
andern Trennungen auf der Erde doch langer, kerber und doppel-
seitig waren.
Sie kamen dadurch auf die Erkennungen jenseits dieses Theaters.
Viktor sagte, er konne Verm utun gen iiber die Erde hinaus nicht
so verschreien wie mancher Weise; denn wir muBten doch iiber
jo die Erde hinaus vermuten und denken, wir mochten bejahen oder
verneinen.»Ohne die Fortdauer der Erinnerung« (sagte er) »ist mir
die Fortdauer meines Ich so viel wie die eines fremden, d. h. keine;
sobald ich mein jetziges Ich vergesse, so konnte ja jedes fremde
statt meiner unsterblich sein . Auch folgt der Untergang meiner Er-
innerung nicht aus der irdischen Abhangigkeit von meinem Kor-
per; denn diese Abhangigkeit haben alle geistige Krafte mit ihr
1144 HESPERUS
gemein, und es miiBte dann aus dieser Abhangigkeit auch der
Untergang der andern folgen; und was bliebe denn noch zur Un-
sterblichkeit ubrig?« - Emanuel sagte: der Gedanke der Wieder-
erkennung, so viel er auch Sinnli.ches voraussetze, sei so suB und
hinreiBend, daB, wenn sich die Menschen gewifi davon machen
konnten, keiner eine Stunde hier wiirde zogern wollen, besonders
wenn man den Himmels-Gedanken ausmalte, alle groBe und edle
Menschen auf einmal zu finden. »Ich habe mir oft« (sagt* er) »die
kiinftige Erinnerung nach Ahnlichkeit der jetzigen ausgebildet
und muBte immer vor Entzuckung auf horen, wenn ich mir dachte, 10
wie in jener Erinnerung die Erde zu einer dunkeln Morgen-Aue
und unser Leben zu einem weit entriickten, mit Mondschein er-
hellten Tag eingehen werde. - O wenn wir schon vor dem Bilde
einiger Kinderjahre zerrlieBen, wie sanft wird uns einmal das Bild
alter Kinderjahre anblicken.« -Viktor wehrte diese todlichen Ent-
ziickungen ab, und nachdem er zum Ubergange gesagt: »Eine
Verbindung muB in jedem Fall diese Erde mit der zweiten haben«,
kam er auf etwas anders, das ihm in dieser Nacht so aufgefallen
war
20
Ich verhiiir es heute noch, was Viktor fragte und was Emanuel
entdeckte; die neue Perspektive wiirde unser Auge zu lange vom
groBen Kranken abziehen.
Der Blinde hielt angstlich die heiBe Hand desselben in einem
fort, um den geliebten Vater nicht zu verlieren; und wenn ihm
Emanuel lange sanften Trost iiber seinen Tod, gleichsam kuhle
Blatter um die entziindeten Schlafe herumgelegt hatte: so sagte
er nichts als innigst flehend; »Ach Vater, wenn ich dich nur ge-
sehen hatte, nur einmalh —
Emanuel schien gefaBt zu sein; aber er tauschte sich; seine jet- $0
zige Gleichgultigkeit gegen die Erde war im Grunde schneiden-
der als die nachtliche, die bloB ein anderer, mit den Zaubertranken
der Phantasie vermischter GenuB des Lebens war. In seine Reue
iiber seinen dichterischen Selbermord schien sich fast Freude iiber
die Folgen zu mengen. Daher sagte er mit einem riihrend-gewis-
sen Blicke: »heute gegen Abend werd' er gewiB gehen und seine
38. HUNDPOSTTAG 1 145
zwei letzten unci besten Freunde nicht mehr mit diesen Verzoge-
rungen des Abschiedes qualen. - Der Genius der Welten werde
ihm seine letzten Fehler vergeben und auf die kiesige Entfernung
von ihm, die ihm zu lange wurde, dort keine zweite folgen lassen.«
Je langer er sprach, desto mehr rtickte das alte Bluten-Eden
wieder in seine matte Seele ein. - Jetzt tat er eine sonderbare herz-
zerschneidende Bitte an seine Freunde. Da bekanntlich das Gehor
den Sterbenden am langsten bleibt, indes schon alle andere Sinnen
sich gegen die Erde zugeschlossen haben: so sagte Emanuel zu
10 Viktor: »Sobald du siehest, daB es sich mit mir andern will, so gib
deinem Julius die Flote, und du! spiele mir dann das alte Lied
der Entiuckung, damit ich an den Tonen sterbe, wie ich schon oft
wtinschte, und spiele es auch noch einige Minuten nach dem Ende
fort.«
Er dachte nun dariiber nach, wie schon um seine letzten Ge-
danken Tone ziehen wiirden, wie Vogelgesang um die unter-
gehende Sonne; und in seinem erloschenen Geiste flogen wieder
die alten Funken auf: »Ach ich werde selig von hinnen ziehen. -
O meine Seele konnte in dieser Nacht schon diesem Erdboden
20 einen iiberirdischen Schmuck anlegcn und ihn fur Eden halten:
ach erst wenn der Boden schoner und die Seele groBer ist — «
Er wurde wieder ohnmachtig, aber der Puis schlug noch leise*
- Und hier in diesem Hinbriiten war es, wo er von der Erde als
letzte Gabe den schauderhaft-siiBen Traum empfing, in welchen
der Korper die Gefuhle seiner Kranklichkeit mischte und den er
nach seiner Wiederbelebung mit einem neuen Nachtraumen er-
zahlte. Es ist der letzte sanfte Dreiklang unsers Korpers mit unse-
rer weichenden Seele, daB er ihr noch in seiner Auf losung (wie
wir von Ohnmachtigen, von Scheintoten unter dem Wasser etc.
30 wissen) siiBe Spiele und Traume zufiihrt. -
Traum Emanuels, daB alle Seelen eine Wonne vernichte
Er ruhte verklart in einem durchsichtigen farbicht-dunkeln Tul-
penkelch, der ihn hin- und herwiegte, weil ein sanftes Erdbeben
die Tulpenlaube auf der gebognen Stiitze zu taumeln zwang. Die
1 146 HESPERUS
Blume stand in einem magnetischen Meer, das den Seligen immer
starker zog; endlich driickte er, hinausgesogen, sie nieder und
sank als eine Tauperle aus dem umgebognen Kelche heraus . . .
Welch eine Farben-Welt! Ein Flockengewimmel von Ather-
gestalten wie seine stand schwebend iiber einer* weiten Insel, urn
welche ein rundes Gelander von groBen Blumen aufgeblattert
spielte - mitten iiber den Himmel der Insel flogen Abendsonnen
hinter Abendsonnen - tiefer neben ihnen liefen weiBe Monde -
nahe am Horizont kreiseten Sterne - und sooft eine Sonne oder
ein Mond hinunterflog, schaueten sie himmlisch wie Engelaugen 10
durch die groBen Blumen am Ufer hindurch. Die Sonnen wurden
von den Monden durch Regenbogen geschieden, und alle Sterne
liefen zwischen zwei Regenbogen und stickten silbern die bunte
Ringkugel des Himmels. Obereinartder stiegen hinauf bunte Wol-
ken, in denen ein Kern von Gold, von Silber, von Edelsteinen
brannte - von Schmetterlingflugeln waren Staubwolken abge-
streift, die wie fliegende Farben den Boden iiberhiillten, und aus
aem Gewolke blitzten reiBende Lichtfliisse, die sich alle inein-
ander verschlangen ...
Und in diesem Farben-Getiimmel ging eine siiBe Stimme umher 20
und sagte uberall : Vergehet siifier am Lichte.
Aber die Seelen erblindeten nur und vergingen noch nicht.
Da iiberfielen Abendwinde und Morgenwinde und Mittag-
winde miteinander die Aue und wehten die hell-blauen und gold-
griinen Wolken nieder, die aus Blumenduft entstanden waren,
und falteten den Blumenring am Horizonte auf und trieben den
siiBen Rauch an die Herzen der Seligen. Der Bliitennebel schlang
sie in sich ein, das Herz wurde in die dunkeln Diifte wie in ein Ge-
fiihl aus der tiefsten Kindheit eingetaucht und wollte, Yom heiBen
Blumendunste iiberfiossen, darin auseinandertropfen. - Jetzo kam 30
die unbekannte Stimme naher und \\$$z\x.Qsar\hi 'Vergehet siifier
am Duft.
Aber die Seelen taumelten nur und vergingen noch nicht.
Tief in der Ewigkeit aus der Mitternacht bog sich auf und nie-
der ein einziger Ton - ein zweiter stand in Morgen auf- ein drit-
ter in Abend - endlich tonte aus der Feme der ganze Himmel, und
38. HUNDPOSTTAG II47
die Tone uberstrdmten die Insel und ergriffen die erweichten
Seelen . . . Als die Tone auf der Insel waren, weinten alle Men-
schen vor Wonne und Sehnsucht... Dann liefen plotzlich die
Sonnen noch schneller, dann stiegen die Tone noch hoher und
verloren sich wirbelnd in eine schneidende, unendliche Hohe -
ach dann gingen alle Wunden der Menschen wieder auf und warm-
ten sanft mit dem rinnenden Blute jede Brust, die in ihrer Weh-
mut erstarb - ach dann kam ja alles fliehend vor uns, was wir hier
geliebet haben, alles, was wir hier verloren haben, jede teure
10 Stunde, jedes beweinte Gefild*, jeder geliebte Mensch, jede Trane
und jeder Wunsch. — Und als die hochsten Tone verstummten
und wieder einschnitten und langer verstummten und defer ein-
schnitten: so zitterten Harmonikaglocken unter den Menschen,
die auf ihnen standen, damit das einschneidende Schwirren jeden
Bebenden zerlegte. - Und eine hohe Gestalt, um die ein dunkles
Wolkchen zog, trat auf in einem weiBen Schleier und sagte me-
lodisch: Vergeket sufier an Tonen.
Ach! sie waren vergangen und gern vergangen an der Wehmut
der Melodie, wenn jedes Herz das Herz, nach dem es schmachtete,
20 an seiner Brust gehalten hatte; aber jeder weinte noch einsam ohne
seinen Geliebten fort.
Endlich schlug die Gestalt den weiBen Schleier auf, und der
Engeldes EnJes stand vor den Menschen. Das Wolkchen, das um
ihn ging, war die Zelt - sobald er das Wolkchen ergriffe, so wiirde
ers zerdriicken, und die Zeit und die Menschen waren vernichtet.
Als der Engel des Endes sich entschleiert hatte: Iachelte er die
Menschen unbeschreiblich lieblich an, um ihr Herz durch Wonne
und durch das Lacheln zu zertreiben. Und ein sanftes Licht fiel
aus seinen Augen auf alle Gestalten, und jeder sah die Seele vor
30 sich stehen, die er am meisten Iiebte - und als sie einander vor
Liebe sterbend anschaueten und aufgeloset dem Engel nachlachel-
ten : griff er nach dem nahen Wolkchen - aber er erreichte es
nicht.
Plotzlich sah jeder neben sich noch einmal Sich - das zweite
Ich zitterte durchsichtig neben dem ersten, und beide Iachelten
sich zerstorend an und wurden miteinander hoher - das Herz, das
I I 48 HESPERUS
im Menschen beble, hing noch einmal bebend im zweiten Ich und
sah sich darin sterben. —
O da muBte jeder von seinem Ich zu seinem Geliebten weg-
fliehen und, ergriffen von Schauder und Liebe, die Arme um
fremde teure Menschen winden. - Und der Engel des Endes off-
nete die Arme weit und driickte das ganze Menschengeschlecht
in eine Umarmung zusammen. - Da glimmt, duftet, tont die ganze
Au - da stocken die Sonnen, aber die Insel wirbelt sich selber um
die Sonnen - die zwei gespaltnen Ich rinnen ineinander ein - die
liebenden Seelen fallen aneinander wie Schneeflocken — die
Flocken.werden zur Wolke - die Wolke schmilzt zur dunkeln
Trane. -
Die groBe Wonnetrane, aus uns alien gemacht, schwimmt
durchsichtiger und durchsichtiger in der Ewigkeit. -
Endlich sagte leise der Engel des Endes : Sip sind am siifiesten
vergangen an ihren Geliebten. —
Und er zerdriickte weinend das Wolkchen der Zeit. -
In Emanuels Augen glanzten die Fieberbilder des Todes, mit
denen sich jeder Schlaf, sogar der letzte, anfangt. Sein Geisr hing
wiegend in seinen schlaffen Nerven,von sanften Liiften angeweht; ;
denn er war schon in jener zersetzenden Nerven-Entziickung der
Ohnmachtigen, der Gebarenden, der Verbluteten, der Sterben-
den. Aber seine ausgeleerte Brust stieg leichter auf, sein ziehender
Geist dehnte den Lebensfaden dunner aus.
Viktor wiirde den Trost der dumpfen Betaubung genossen
haben, womit iibereinander gehaufte Schmerzen uns zusammen-
drucken, wenn er nicht dem armen Blinden jede Minute diese
Schmerzen, d.h. alle Zuriistungen des Todes, hatte sagen miissen.
Ach der Blinde besorgte vielleicht, seinem Lehrer zu spat mit dem
Liede der Entziickung nachzurufen.
Es kam der Abend. Emanuel wurde stiller und sein Auge star-
rer, und es schien die Phantasien seines arbeitenden Gehirns in
der Stube zu sehen, bis der Goldstreif der vorgesunknen Abend-
sonne, den ein Spiegel auf ihn richrete, gleichsam wie ein Blitz
38. HUNDPOSTTAG 1149
durch seine Traumwelt fuhr. Leise, aber mit anderer Stimme sagte
er : >>//i die Sonneh- Sie verstanden ihn und riickten sein Bette und
sein Haupt dem schonen Abendregen der Abendsonne, dem er
sonst so oft sein weiches Herz aufgeschlossen hatte, entgegen.
Viktor erschrak, als er sah, daB seine Augen der Sonne ungeblen-
det und unbeweglich offenstanden.
Es war erhaben-still um drei zerriittete Menschen; bio 6 ein
Abendluftchen flatterte in den Lindenblattern des Zimmers, und
eine Biene zog um die Lindenbluten; aber drauBen auBerhalb
10 dem Theater der Beangstigung ruhete ein seliger Abend auf den
rot iibersonnten Fluren unter freudigen, flatternden, singenden,
trunknen Wesen.
Emanuel schauete still in die Sonne, die defer in die Erde drang;
er krallte nicht am Deckbette wie andre, sondern hob seine Arme
empor wie zu einem Fluge oder zu einer Umarmung. Viktor nahm
seine geliebten Hande, aber sie hingen ohne Druck in seine nieder.
Und als die Sonne wie eine lodernde Welt am Gerichtstage unter-
sank in einer aufschieBenden letzten Lohe: so blieb der Stille mit
kalten Augen an der leeren Stelle der Sonne und merkte den
zo Untergang nicht; und Viktor sah plotzlich wechselnde Blitze der
Todessense gelb uber das unverruckte AntHtz gehen. - Da gab er
zerruttet dem Julius die Flote und sagte gebrochen : »Spiele das
Lied der Entziickung, jetzt stirbt er.« -
Und Julius preBte mit stromenden verfinsterten Augen den
schluchzenden Atem in die Flote und erhob seine Seufzer zu
himmlischen Tonen, um die entrinnende Seele unter ihrer Aus-
wurzelung mit dem Nachklange der ersten Welt, mit dem Vor-
klange der zweiten Welt zu verhullen und zu betauben. -
Und als unter dem Liede ein seliges Lacheln liber einen unbe-
30 kannten Traum das erkaltende Gesicht verklarte - und als bloB
eine Zuckung der Hand die Hand des trostlosen Freundes driickte,
und bloB die Zuckung mit dem Augenlid winkte und weiter hin-
ab die blassen Lippen offnete und verging - und als die Abend-
rote die bleiche Gestalt bedeckte siehe da trat der Tod, kalt
gegen die Erde und unsern Jammer, eisern, aufgerichtet und
stumm, durch den schonen Abend unter die Lindenbliite hin zur
I I 50 HESPERUS
iiberdeckten Seele im beruhigten Leichnam und reichte die ver-
hiillte Seele mit unermefillchem Arm von der Erde durch unbe-
kannte Welten bindurch in deine ewige warme vaterliche Hand,
die tins geschaffen hat - in das Elysium, fur das du uns gebildet
hast - unter die Verwandten unsers Herzens - in das Land der
Ruhe, der Tugend und des Lichts ....
Julius stockte aus Schmerz, und Viktor sagte : »Spiele das Lied
der Entziickung fort, er ist erst gestorben.« - Unter den Tonen
driickte Viktor dem Geliebten die Augen zu und sagte mit einem
Herzen iiber der Erde : »Nun schlieBet euch zu - der Geist ist iiber 10
der Erde, dem ihr das Licht gegeben - du blasse geheiligte Ge-
stak, du geheiligtes Herz, der Engel in dir ist ausgezogen, und du
fallst in die Erde zuriick.« - Und hier umschlang er noch einmal
die leere kalte Hiille und driickte das Herz, das ja nicht mehr
schlug, ihn nicht mehr kannte, an sein heifies an; denn die Floten-
tone rissen seine bleichen Wunden zu weit auseinander. - O es
ist gut, daB bei dem Menschen, wenn er im grimmigen Weh zu
festem Eis erstarrt, keine Tone sind: die weichen Tone leckten
aus der durchbohrten Brust alles traurige Blut, und der Mensch
wiirde an seinen Qualen sterben, weil er vermochte,, seine Qualen *o
auszudriicken —
— Hier falle mein Vorhang vor alle diese Szenen des Todes, vor
Emanuels Grab und vor Horions Schmerz! - Ich und du, mein
Leser, wollen nun aus dem fremden Sterbezimmer gehen, um in
nahere zu schauen, wo wir selber erliegen, oder wo unsere Teuer-
sten erlagen. Wir wollen in jenen Zimmern unser Totenbette er-
blicken, aber unser Auge falle nicht nieder; - die Flamme der
Liebe und der Tugend lodert aufwarts iiber die Verwesungen —
wir sehen um das Totenbette eine Bahre als Ruhebank, auf die
alle Lasten abgelegt sind und das auseinandergedruckte Herz 30
auch - wir sehen um das Totenbette eine groBe unbekannte Ge-
stalt, die vom Ebenbilde Gottes den Erden-Rahmen bricht. - Aber
wenn das Herz groB wird neben unserem Ruheort, so wird es
weich neben dem fremden. - Wenn du, mein Leser, und wenn
ich jetzt mit dieser bewegten Seele in die Zimmer blicken, wo wir
die ewigen Wunden der Erde empfingen, so werden uns die bias-
39- HUNDPOSTTAG II51
sen Gestalten, die darin ihre Totenaugen noch einmal gegen uns
aufheben, zu sehr erschiittern und verwunden. - Ach, das durft
ihr auch, ihr geliebten Stummen - was haben wir euch denn noch
zu geben als eine Trane, die uns schmerzet, als einen Seufzer, der
uns beklemmt? Ach wenn der Trauerflor auf unserm Angesicht
so bald zerreiBet wie der Leichenschleier auf eurem - wenn der
Grabmarmor mit eurem Namen sich auf eurer Leiche umkehren
muB, um eine neue mit ihrem neuen Namen zu bedecken - o!
wenn wir alle die ewige Liebe, das ewige Erinnern so leicht ver-
10 gessen, das wir euch in eurer letzten Stunde versprochen haben :
- ach so ist ja in diesen brausenden Tagen des Lebens eine stille
Stunde wie diese heilig und schon, wo wir uns gleichsam an die
eingefallnen Graber mit den Ohren niederlegen und tief aus der
Erde, obwohl jeden Tag dunkler, die Stimmen, die wir kennen,
rufen horen: »Vergesset uns nicht - vergiB mich nicht, mein Sohn
- mein Freund - meine Geliebte, vergifi mich nicht !«
Nein, wir wollen euch auch nicht vergessen. Und wenn es uns
immerhin zu wehe tut: so rufe doch jeder von uns in dieser Mi-
nute die teuersten Gestalten aus ihren Ruhestatten vor sich und
20 schaue die verwesten Ztige, die wieder geofFneten Augen voll
Liebe, die so lange geschlossen waren, und das teure aufgedeckte
Angesicht recht lange an, bis ihm die alten Erinnerungen an die
schonen Tage ihrer Liebe das Herz zerbrechen, und er nicht mehr
weinen kann.
39. HUNDPOSTTAG
Grofie Entdeckung - neue Trennungen
Ich will jetzt enthullen, was ich im vorigen Kapitel verbarg. -
Da Emanuel an jenem elysischen Morgen des Wahnsinns zu Ju-
lius gesagt hatte: »Schatten! weiche!« so fuhr er fort: »Gaukle den
30 blinden Sohn meines Horions (des Lords) nicht nach, der mich
noch fur seinen Vater halt - furchte dich vor Gott, der voruber-
ging, und verschwinde !« - Und zu Viktor wandte er sich : »Schat-
ten ! wenn du nicht weiBt, wer du bist, und deinen Vater Eymann
1 152 HESPERUS
nicht kennst: so falle wieder auf die Erde hinab und in den Schat-
ten hinein, den dort mein Viktor wirft.« Und da Viktor am
andern Tag den Sterbenden auf diese Worte ftihrte : so fragte er
beklommen : »Ach nab* ichs denn nicht im Wahnsinn gesagt, als
ich wahnte, im Lande jenseits der Erden-Eide zu sein?« und er
kehrte stumm das erschrockene Angesicht gegen die Wand —
Er hat es also im Wahnsinn des Todes herausgesagt, daB Ju-
lius der Sohn des Lords und Viktor der Sohn des Pfarrers Ey-
mann ist . . . . Aber welche helle weite Beleuchtung gibt nicht die-
ser Vollmond unserer ganzen Geschichte, auf die bisher nur eine 10
Mondsichel schien ! -
Ich gesteh* es, schon beim ersten Kapitel fiel es mir auf, daB
Viktor ein Arzt war : jetzt ists erklart ; denn der medizinische Dok-
torhut war die beste Montgolfiere und das Wunschhutlein fur
einen biirgerlichen Legaten des Lords, um damit leichter um den
Thron zu schweben und auf den murben Jenner einzuwirken;
auch konnte Viktor nach seiner kunftigen Devalvation und nach
dem Verlust des Federhuts am besten in den medizinischen sein
tagliches biirgerliches Brot einsammeln - sah der Lord. Das war
ein Grund, warum dieser jenen fiir seinen Sohn ausgab. Ein an- 20
derer ist: Viktor war der Rolle beim Fursten durch seine Laune,
Gewandtheit, Gefalligkeit u.s.w. am meisten gewachsen, wozu
noch die empfehlende Ahnlichkeit trat, die er mit dem funften,
bis jetzt noch verlornen Sohne, den Jenner so liebte, in allem, das
Alter ausgenommen, besaB. Da nur ein Leibarzt der Giinstling
sein sollte : so konnte der Lord keinen von den fiirstlichen Sohnen
dazu nehmen, weil diese Juristen werden muBten, um in die kiinf-
tigen Amter einzupassen. - Seinen eignen Sohn Julius konnt* er
nicht brauchen, weil er blind war - beilaufig! der Lord war auch
einmal blind und vermehret also die Beispiele der von Vater auf 30
Sohn forterbenden Blindheit durch seines -; aber auch ohne die
Blindheit konnt' er wegen seiner uneigennutzigen Delikatesse un-
moglich seinen Sohn die Vorteile der fiirstlichen Gunst erbeuten
lassen, indes er die eignen Sohne Jenners von ihnen entfernte. -
Du guterMann ohne Hoffnung! wenn ich jetzt deine dichte-
rische Erziehung des Blinden mit deinen kalten Grundsatzen ver-
39- HUNDPOSTTAG 1 1 53
gleiche, wenn ich berechne, wie du - abgestorben den lyrischen
Freuden - verhartet fur die Tranen des Enthusiasmus - gleich-
wohl die mit Augenlidern verhangne dunkle Seele deines Julius
von seinem Lehrer fiillen lassest mit dkhterischen Blumenstucken
- mit Tauwolken der Running - und mit dem Nebelstern des
zweiten Lebens: so vermehret es ebensosehr meine Schmerzen als
meine Hochachtung, daB du nichts auf der Erde findest, was du
an dein ausgehungertes Herz driicken kannst, und daB du dein
auf leeren Tranendrusen verwelktes Auge kalt aufhebst gegen
io den Himmel und auch da nichts siehest als ein wiistes odes Blau!-
Diese schmerzliche Betrachtung machte Viktor noch friiher als
ich. - Aber zur Geschichte! Die vergangne zog tausend Stacheln
durch sein Herz. Wir kennen jetzt unsern sonst frohen Sebastian
nicht mehr - er hat vier Menschen verloren, gleichsam um die
vier Pfingsttage damit abzuzahlen: Emanuel ist verschwunden,
Flamin ist ein Feind geworden, der Lord ein Fremder und Klo-
tilde - eine Fremde. Denn er sagte zu sich: »Jetzt, da sie so weit
iiber mich geruckt ist, will ich der Leidenden, der ich schon so
viel genommen, nicht gar alles kosten, nicht gar die Liebe ihres
20 Vaters und ihren Stand - ich will nicht auf ihre in der Unwissen-
heit meiner Verhaltnisse geschenkte Liebe dringen. -Nein, ich will
gern meine Seele von der teuersten ablosen unter tausend Wun-
den meiner Brust und mich dann einsam hinlegen und zu Tod
bluten.« - Jetit wurd' ihm dieser Vorsatz leicht; denn nach dem
Tode eines Freundes nehmen wir ein neues schweres Ungluck
gern auf unsere Brust, es soil sie eindrucken, denn wir wollen
sterben.
Doch hatte das Schicksal in seinen zwei Armen noch zwei Ge-
liebte gelassen : seinen Julius und seine Mutter. In jenem Hebt' er
3° so viele schone Beziehungen ; sogar das war eine, die es macht, daB
man allzeit den liebt, mit dem man verwechselt wurde; und er
wollte Vaterstelle bei jenem vertreten wie der Lord bei ihm, um
diesem edlen Manne nicht sowohl zu danken als nachzueifern.
Und noch heiBer umfing er mit seiner Seele die vortrerTliche
Pfarrerin, der schon bisher sein Herz in der sanften Warme eines
Sohnes entgegengeschlagen hatte. Ach wie wohl hatte es der kind-
1 1 54 HESPERUS
lichen Brust, von welcher der bisherige Vater weggesto'Ben war,
in ihrem Sehnen getan, ans miitterliche Herz gedriickt zu werden
und von der Mutter die Worte zu horen: »Guter Sohn, warum
kommst du so ungliicklich und so spat zu mir?« Aber er durfte
nicht, weil er sonst den Schwur, die Abkunft Flamins unter der
Decke des Geheimnisses zu lassen, gebrochen hatte.
Er sperrte sich vier Tage mit dem Blinden ins Sterbhaus ein -
er sah niemand — besuchte das trauernde Kloster nicht, wo aus
alien schonen Augen ahnliche Tranen flossen - tat Verzicht auf
den duftenden Park und auf den blauen Himmel - und lieB den 10
Blumenflor dem Verstorbenen nachwelken. — Er trostete den ver-
lassenen Blinden, und den ganzen Tag ruhten sie aneinander ge-
schlungen und malten sich weinend ihren Lehrer und seine Leh-
ren und die lichten Stunden ihrer Kindheit vor. Endlich am
vierten Tage fiihrte er den Blinden auf immer aus dem schonen
Maienthal - die Abendglocke sandte ihnen weit das Totenge-
laute eines ganzen eingesargten Lebens nach - Julius weinte laut
- aber Viktor hatte nur ein feuchtes Auge und trostete nicht sich,
sondern den Blinden; denn seine Seele war jetzo anders, als man
erraten wird: seine Seele war erhoht iiber dieses Abend-Leben, 20
sein Verstorbner hielt sie wie ein Genius hoch empor iiber die
Wolken und iiber die Spiele einer kleinen Zeit. Viktor stand auf
dem hohen Gebirg, wo man am Bcgrabnis-Tage eines Freundes
steht, unten am Gebirge ging das Totenmeer des Abgrunds weit
hin 1 und sog an einem ausgedehnten zitternden Nebel, der sich
auf dem Meere aufrichtete - und auf dem Nebel waren bunte
Stadte gefarbt, und schwankende Landschaften hingen in ihm,
und die kleinen Volker mit roten Wangen liefen auf den Land-
schaften aus Duft - und alles, Volker und Stadte, tropften wie
Tranen hinab ins saugende Meer — bloB am Horizont war unten jo
im diistern Nebel ein angeglommener Saum wie Morgenglut:
denn eine Sonne steigt hinter der Dammerung auf, und dann ist
der Nebel vergangen, und eine neue griine feste Welt liegt in die
UnermeBHchkeit hinein. —
1 Anspielungen auf den mit abgebildeten Landern und Inseln erfullten
Nebel, den man am Morgen vom Atna herunter sieht.
39- HUNDPOSTTAG H 5 5
Er wollte die ganze Nacht gehen, aber er wurde durch etwas
Fiirchterliches im nachsten Dorfe, das Obermaienthal heiBet, an-
gehalten. Eir erkannte in der Wagenremise des Gasthofs den Wa-
gen des Kammerherrn am Wappen. Er lieB den Blinden auf einer
steinernen Bank an der Tiire nieder, wo dieser dem Gerausche
des Heu-Abladens zuhorchte. Viktor bekam im Hause auf seine
Frage die Nachricht: »es waren zwei Damen droben, die eine
kenne man nicht« (er entdeckte aber im ersten AbriB ihres Anzugs
sogleich die Pfarrerin) - »die andere sei oft hier durchpassiert, es
io sei die Tochter des Obrist-Kammerherrn und habe Ganz-Trauer
an, weil ihr Vater vor einigen Tagen totgeschossen worden im
Duell mit dem Regierrat Flamin, und beide reiseten, wie ihre
Leuten sagten, nach England.«
Er schrie vergeblich, halb in Blut und Qual erstickend : »Es ist
unmoglich, mit dem Hof junker von Schleunes meint ihr.« Aber
es war doch so - Flamin war im Gefangnis — Matthieu auBer Lan-
des - Le Baut schon unter der Erde .... Fodert aber die Geschichte
dieses Mordes jetzo nicht! - Viktor zog langsam die Uhr des
glucklichen Zeidlers heraus und sah starr den Zeiger froher Stun-
20 den an, der schon einige Tage unaufgezogen stockte; in ihm riet
etwas der wilden Verzweif lung an, er sollte sie gegen den steiner-
nen Boden schleudern und schmettern. Aber drei Lauten-Hauche
der Flote, mit der der Blinde eine schonere warmere Vergangen-
heit vor die erstarrte Seele zog, loseten sein gerinnendes Herz in
ein nasses Auge auf, und er hob es uberflieBend empor und sagte
bloB : »Vergib mirs, Allgutiger - ach ich will gern nur weinen !« -
Wenn die Schmerzen in uns zu reiBend werden : so knirscht et-
was in uns gegen das Schicksal, und das Herz ballet sich gleich-
sam zur Wehre ergrimmt zusammen - aber diese Starke ist Laste-
3° rung. O! es ist schoner gegen dich, Allgutiger, mit dem entzwei-
gepreBten Herzen hinzurinnen und zur Trane zu werden und so
lange zu Heben und zu schweigen, bis man stirbt!
Die bekannten Flotentonen drangen in Klotildens dicke Regen-
wolke des Grams - sie zitterte ans Fenster - sie sah den Blinden
- aber sie ging schnell zuriick und hiillte ihr Herz tiefer in die
kalte Wolke - denn jetzo wuBte sie alles: der Blinde war der
I I 56 HESPERUS
Todesbote, daB ihr groBer Freund die Erde und die Trostlosen
verlassen habe. »Mein Lehrer ist auch tot«, sagte sie zur Begleite-
rin; und als Viktor um eine Unterredung bitten lieB: konnte sie
nur sprachlos mit dem Kopfe nicken. - Dann bat sie die Pfarrerin,
in ein anderes Zimmer zu treten, weil ihr der Anblick Viktors aus
vielen Grunden driickend sein muBte. Viktor stieg die Treppe
gleichsam zu einem Blutgerust hinauf, auf dem ihm das Schicksal
sein Herz herausnehmen werde, namlich die gute Klotilde, von
der er heute sowohl durch ihre Reise als durch seinen Vorsatz, sie
zu entbehren, abgeschieden wurde. Als er aufmachte und die Be- 10
kiimmerte erblickte, bleich und miide an die Wand gelehnt; und
als beide einander mit niedergesunknen Handen in die rotge-
weinten Augen sahen und bebten in dem diistern Zwischenraum
zwischen dem Anblick und dem ersten Wort wie in der schreck-
lichen Zeit zwischen dem Feuer eines grofien Geschosses und
zwischen der Ankunft der Kugel, und da endlich Klotilde leise
fragte: »Es ist alles wahr?« und er sagte: »Alles!« - so legte sie ihr
schones Haupt langsam um gegen die Wand und wiederholte in
einem fort, aber leise-klagend, mit den sanften gedampften Trauer-
tonen des ermudeten Jammers die Worte: »Achl mein guter Leh- 20
rer, mein unvergeBlicher Freund! - Ach du groBer Geist! du
schone Himmelseele, warum zogest du so bald meiner Giulia
nach! O, teuerster Freund, zurnen Sie nicht, ich wiinschte
jetzo bloB zu sein, wo mein Vater ist, im stillen Grabe.« — Vik-
tor flng bebend die Frage an : »Hat ihn Flamin — «- aber er konnte
nicht dazusetzen: »umgebracht«: denn sie riehtete das Haupt em-
por und blickte ihn an mit einem schwellenden, mit einem arbei-
tenden unsaglichen Schmerz, und dieser Schmerz war ihr Ja. —
Sie wollte, von der Tranenverblutung erschlafft und zuckend
unter den Erinnerungen, die wie Gehirnbohrer die Seele betaste- 30
ten, endlich an der Wand zusammensinken; aber Viktor faBte sie
mit unaussprechlichem Mitleid auf und erhielt sie aufgerichtet an
seiner Brust und sagte: »Komm, unschuldiger Engel, komm an
mein Herz und weine dich aus daran - wir sind ungliicklich, aber
unschuldig — o ruhe aus, du gequaltes Haupt, ruhe sanft unter
meinen Tranen.« Aber im hochsten Weh ring allezeit eine
39- HUNDPOSTTAG 1 1 57
Bergluft um ihn zu flattern an, ihm war, als richtete ein Hebeisen
die eingebrochne Hirnschale auf, als zoge Lebenluft durch die
angebohrte, innen modernde Brust hinein; es war ihm darum so,
weil ihm das Leben der Menschen klein wurde, der Tod grofi und
die Erde zu Staub. »Sclilafe, Gequalte« - sagt' er zu Klotilde, die
welkend an ihm lehnte — »verschlafe das Weh — das Leben ist ein
Schlaf, ein gedriickter heifier Schlaf, Vampyren sitzen auf ihm,
Regen und Winde fallen auf uns Schlafende, und wir greifen ver-
geblich aus zum Erwachen — o das Leben ist ein langer, langer
io Seufzer vor dem Ausgehen des Atems. - O daB aber die elende
Lufterscheinung gerade diese gute Seele, gerade dich, dich so
qualen darf !« - »Ach,« sagte Klotilde, »wenn doch die zu traurige
Flote aufhorte! Mein Herz zerspringt vor Qual«; aber ihr Freund
riB grausam alle Quellen ihrer Tranen weiter auf und goB seine
in die ihrigen und make ihr die Vergangenheit ab: »Vor vier
Wochen war es anders, da gingen die Flotentone iiber ein scho-
neres Land durch die gliicklichen Klagen der Nachtigall hindurch
in unsere Herzen, die damals so froh waren - am ersten Pfingst-
tage fand ich dich, als die Nachtigall schlug - am zweiten sank ich
io vor Wonne und Hochachtung vor dir nieder, als der Regen um
uns glanzte - am dritten ging oben an der Abendfontane ein
weiter Himmel auf, und ich sah einen einzigen Engel glanzend
und lacheind darin stehen. — Unsere drei Tage waren Traume
von schonen Blumen, denn Traume von Blumen bedeuten Jam-
mer.« - Er hatte bisher seine weiche Seele gegen dieses grausame
Gemalde verhartet ; aber als er gar mit gepreBter Stimme dazuge-
fiigt hatte: »Damals lebte unser Emanuel noch und besuchte
abends sein offnes Grab «: so muBte sein Herz zerreiBen, und
alle Tranen quollen iiber das tief hineingedriickte Schwert wie
30 blutige Tropfen heraus, und er sagte, sie heftiger an sich fassend:
»0 komm, wir wollen weinen ohne MaB: wir wollen uns nicht
trosten. Wir sind nicht lange mehr beisammen : o ich mochte mich
jetzt zerriatten durch Kummer. - Erhabner Dahore! schau diese
Sterbende an und ihre Tranen um dich und vergilt ihre Trauer
und gib der muden Seele einmal Ruhe und deinen Frieden und
alles, was den Menscheafehlt!«
1 1 58 HESPERUS
Die zwei Seelen sanken verschlungen hin in eine einzige Trane,
und die Stille der Trauer heiligte den Augenblick - und>mehr
lasset mich mit dem beklommenen Atem nicht davon sagen.
- Wie erwachend zog sie ihr Haupt von seinem Herzen und
nahm mit einem entjurafteten Lacheln seine Hand - denn sie liebte
ihn aller Ungluck-Zufalle ungeachtet unaussprechlich und war
eben auf dem Wege nach Maienthal, um ihn noch einmal zu er-
blicken - und sagte: »Ich gehe nach England zu meiner Mutter,
um den Lord auszufinden und zu erbitten, daB er fruher komme
und sich ins Mittel schlage und fremde Schmerzen und meine 10
endige.« - Ihr Stocken, das ihr Blick ausfiillte, entdeckte ihm so-
viel, als es der ungliicklichen Pfarrfrau verschwieg, die im Neben-
zimmer vieles horen konnte - was sie verdeckte, war, daB sie bei
dem Lord die Beschleunigung der Entdeckung, daB Flamin der
Sohn des Fiirsten sei, betreiben wollte. AuBerdem riickte dieser
Weg ihre Augen von so vielen Bildern des Grames, so wie ihre
Ohren von so manchem MiBgeton des Gespottes hinweg. Freilich
war die Absicht, auf dem Kutschkissen und auf dem Schiffe die
Bewegung wie eine Eisentinktur einzunehmen, nur ihr Vorwand
bei Hofe gewesen, wo man ehrerbietige Unwahrheiten nicht 20
bloB vergibt, sondern auch verlangt.
Viktor verhieB ihr, in dunkler Ahnung seiner Kraft und Un-
eigennutzigkeit — denn der Ungluckliche opfert freigebiger und
leichter als der Gluckliche auf-: »er wolle wie eine Schwester fur
ihn sorgen.<t - Ihre Augen trugen einander ihre Geheimnisse und
eben darum ihre Liebe vor, und Klotilde floB von weinender Liebe
tiber, erstlich der Reise wegen (weil fiir ihr Geschlecht eine Reise
der Seltenheit wegen etwas Wichtiges ist), zweitens des Kummers
wegen, da die Liebe ein weibliches Herz in ganzer Trauer warmer
macht als eins in halber, wie Brennspiegel schwarz gefarbte Dinge 30
starker erhitzen als weiBe.
Gerade heute, wo sie ihm mit so viel erneuter Liebe in die Au-
gen blickte, sollt' er von ihr abgerissen werden. Er verschonte sie
zwar mit der Entdeckung seiner Geburt und seiner ewigen Tren-
nung, um an ihr zerrissenes Herz nicht neue ziehende Qualen zu
hangen; aber er wollte diese letzte Minute seiner schonen Liebe,
39* HUNDPOSTTAG IIf9
diese Nachlese und diesen Nachfior seines Lebens ganz abernten.
Ach er wollte sie anschauen wie nie - er wollte ihr die Hand druk-
ken hefdg wie nie - er wollte ihr ein Lebewohl sagen wie ein
Sterbender — Denn es ist alles, rief unauf horlich sein Innerstes,
zum letzten, letzten Male! - Nur ktissen wollt* er sie nicht: eine
scheue Ehrfurcht, der Gedanke an die ausgespielte Liebhaber-
rolle verbot es ihm,von ihrer Unwissenheit einen eigennutzigen
Gebrauch zu machen. Aber als er den letzten Blick der Liebe auf
sie richten wollte: so schlug das Schicksal alle die geschliffnen
10 Waflfen, die bisher in seine Nerven gedrungen waren, noch einmal
in die blutenden Offnungen, wie man in die Wunden der Ermor-
deten die alten Instrumente wieder halt, urn zu sehen, obs die-
selben sind ach es waren dieselben - das Zimmer benebelte
gleichsam ein Lichterdampf- die Flotentone erstickten im innern
Brausen - er muBte sie ansehen und konnte doch nicht vor Wasser
- er muBte sie lange, fassend ansehen, weil er ihr schones Ange-
sicht als ein Schattenbild des Schatten-Edens auf ewig niederlegen
wollte in seine Seele — Endlich konnt* ers, mit tausend Schmer-
zen blickte er ihr betrantes Angesicht, durch das die Tugend wie ein
20 Herz schlug, ergreifend an und schattete es ab in seiner oden Seele
bis auf jede Linie, bis auf jeden Tropfen - So viel nahm er mit von
ihr, mehr nicht; ihr HeB er alles, sein Herz und seine Freude - Ach
weiche Klotilde 1 wenn du es erraten hattest ! - Das Schluchzen seiner
Mutter riB ihn ans Nebenzimmer, er stieB dieTiirauf, rief zertriim-
mert der weggekehrten Mutter zu : »Teuerste ! Beim Allmachtigen,
Ihr Sohn ist kein Morder und kein Verlorner« - und druckte die
ihm hinter dem Riicken gegebne Hand sinnlos zusammen.
Seht dem diistern Augenblicke, meine Freunde, jetzo nicht zu,
wo er zum letzten Male Klotildens Hand nimmt und sein Herz von
? o ihrem spaltet und doch nur sagt: »Reise glucklich, Klotilde, lebe
ruhig, Klotilde, werde froh, Klotilde !«
- Und weit vom Dorfe fiel er neben dem Blinden auf die Knie
mit einem stummen Gebet fur das trauernde Herz, das er nun zum
leztenmal verloren hatte. -
Erst morgens um 4 Uhr kam er ohne Mudigkeit und ohne Tra-
nen und ohne Gedanken in Flachsenfingen mit dem Blinden an.
Il6o HESPERUS
40. HUNDPOSTTAG
Das morderische Duell - Rettung der Duelle - Gefangnisse als Tempel
betrachtet - Hiobsklagen des Pfarrers - Sagen meiner biographischen Vor-
zeit, Kartoffelnstecken
Indem ich in den 40sten Tag mit der Anmerkung einschreiten
will : »Die Historie des Duells ist noch voll Banal-Chiffern und
ein wahrer unbezifferter GeneralbaB«- langt ein Stuck vom 43sten
an und bezifFert den BaB oder punktiert die hebraischen Konso-
nanten. Diesem jungen Vorlauf aus dem 43sten Kapitel hat man
es zu danken, daB ich die SchuB-Historie mit froherem Mut er- 10
zahlen kann.
Man wird es nicht erraten, wer iiber Klotildens Verlobung am
meisten aufkochte — der Evangelist namlich. Ihn verdroB die
kiihne Treulosigkeit des Kammerherrn, iiber dessen Hoflichkeit
er bisher durch Grobheit regiert hatte, darum so sehr, weil eine
menschliche Mixtur von Kraftlosigkeit und Schmeichelei, wie Le
Baut, uns unsaglich erbittert, wenn sie von Schmeicheleien zu Be-
leidigungen iibergeht. Noch mehr hetzte ihn, der Flamin auf hetzte,
die Witwe des Kammerherrn auf und schiirte in sein Elemen-
tarfeuer sanftes Ol und emige Zundruten nach; sie haBte Klotil- ao
den, weil diese geliebt wurde, und unsern Helden, weil er nicht,
wie der Evangelist, die Stiefmutter iiber die Stieftochter erhob.
Eine Frau, die fur einen Mann in den Tod gegangen ist, d. h. in
einen kurzen Schlaf (welches der Tod fur Fromme ist), namlich
in eine Ohnmacht - wie eben die Frau Witwe im 8ten Posttage -,
darf schon diesen Mann hassen, wenn er sich nicht Heben lasset.
Der Evangelist, der bisher Klotildens und Viktors Liebe nur fiir
die zufallige Galanterie einer Minute gehalten und der die fluchr
tige Verbindung mit seiner Schwester Joachime auch fiir keine
langere angesehen hatte, war teufelstoll iiber den FehlschuB im 50
ersten Falle und iiber denKonigschuB im zweiten; und er be-
schloB, sich und seine Schwester, die er mehr als seinen Vater
liebte, an jedem zu rachen.
Joachime war noch dazu bitter gegen Viktor erzurnt, da sie
40. HUNDPOSTTAG H 6 1
sich und ihre Liebe zum bio Ben Deckmantel der seinigen gegen
Klotilden bisher gemifibraucht glaubte. Ich habe oben berichtet,
daB Matthieu nach dem Besuche Eymanns den seinen bei Flamin
machte. Als ihm der Rat die Unterredung mit dem Pfarrer und
seinen Haupteid eroffnet hatte: faBte sich Matz und walzete viel
auf den Kammerherrn : »dieser sei ein kleiner Filou und ein groBer
Hofmann - er habe vielleicht mehr als der Liebhaber Klotildens
Badreise nach Maienthal vermittelt - er, und nicht so sehr Viktor,
suche aus der Tochter ein Nachtgarn des furstlichen Herzens und
io einen gradus ad Parnassum des Hofes zu machen.« Flamin war
ordentlich froh, daB seine Rachbegierde noch einen andern Ge-
genstand bekam als den, dessen Fehde er seinem Vater abge-
schworen hatte. Indessen verbarg er dem Rate (um unparteiisch
zu sein) doch nicht, daB der Apotheker uberall aus Erbitterung
gegen Sebastian aussagte, dieser habe den Plan dieser Heirat als
eines Erhoh-Mittels bloB von ihm, von Zeuseln. Flamin griff bei
solchen Knochen-Zersplitterungen der Brust nur zur Stahlkur
des Degens, zum Bleiwasser der Kugeln und zum Brenneisen des
Sabels; und da ihn das Duell mit dem adeligen Viktor verwohnt
20 hatte, woIlt' ers in der ersten Hitze dem Dreiknopfler Le Baut
auch vorschlagen, afe Matz den turnierunfahigen Roturier aus-
lachte. Flamin vermaledeite in vergeblichem Grimm seinen Ah-
nen-Defekt, der ihn hinderte, sich erschieBen zu lassen von einem
Ahnen-Begiiterten; ja er ware - da er schnell angliihte und doch
langsam erkaltete - fahig gewesen, bloB eines adeligen Schimpf-
wortes wegen (wie schon einmal einer tat) Soldat zu werden, dann
Offizier und Edelmann, bloB um nachher den stift- und schuB-
fahigen Injurianten vor seine Pistolenmiindung zu laden.
Aber der treue Matthieu - dessen fleckige Seele sich vor jedem
3 o anders drehte, der Sonne gleich, die nach Ferguson sich ihrer
Flecken wegen um sich wendet, um alien Planeten gleiches Licht
zu schenken - wuBte zu raten; er sagte, er wolle in seinem eignen
Namen den Kammerherrn fodern, und zwar auf ein vermummtes
Duell, und dann konne in der Verkappung Flamin seine Rolle
nehmen, indes er selber unter dem Namen des dritten Englanders
dabei ware und die zwei andern als Sekundanten.
Il6z HESPERUS
Flamin wurde durch Schnelligkeit iibermannt; aber nun fehlte
es wieder an etwas, das noch weniger als der Adel zu einem Fech-
terspiel zu entraten ist — an einer guten ordentlichen Beleidigung.
Matthieu war zwar mit Vergnugen bereit, dem Manne eine anzu-
tun, die zu einem Duelle hinlanglich befugte; aber der Mann mit
dem kammerherrlichen Dietrich lieB befahren, er werde sie ver-
geben — und niemand kame zum SchuB. - Recht glucklicherweise
entsann sich der Evangelist, daB er ja selber schon eine von ihm
erhalten habe, die er nur niitzlich und redlich zu verwenden
brauche: »Le Baut hab' ihm ja vor drei Jahren die Tochter so gut 10
wie versprbchen; und so gleichgultig dieser Meineid an sich sei,
so behalt' er doch als Vorwand zur Zuchtigung fur einen groBern
Fehler seinen guten Wert.«... So nimmt auf einer schmutzigen
Zunge die Wahrheit die Gestalt der Liige an, sobald sich die Luge
nicht in die der Wahrheit kleiden kann. Und Flamin ahnete nicht,
daB sein angeblicher Brautfuhrer nichts sei als sein wahrer sabi-
nischer Rauber derselben.
Ich bin in Angst, man denke, daB Matthieu einem Kammer-
herrn, zumal einem, bei dem Versprechen und Halten die weit-
lauftigsten Vettern waren, die Machtvollkoramenheit zu liigen J0
mehr abspreche als einem Hof junker, und daB er vergesse, wie
man iiberhaupt uber den Strom des Hofs und Lebens wie iiber
jeden physischen nie gerade hinubergelange, sondern die Quere
und schief. Aber der Schlimme verachtet den Schlimmen noch
mehr, als er den Guten hasset. Noch dazu handelte er so nicht
bloB aus Leidenschaftj sondern auch aus Vernunft : wurde Flamin
totgemacht, so muBte er von Agnola, die jetzt immer mehr die
Fiirstin des Fursten wurde, und fur die natiirlicherweise ein Nach-
flor von Jenners und des Lords vorigen Samereien ein Distel-
Gehege war, das SchieBgeld und MeBgeschenk empfangen und 30
eine hohere Stelle auf der Meritentafel des Hofs; - ferner konnte
dann der Lord nicht mehr zum Tor hereinrollen und hinterbrin-
gen: »Ew. Durchlaucht Sohn ist zu haben und am Leben.« -
Wurde der Kammerherr erlegt, so wars auch nicht zu verachten;
dieser vorige Kostganger und Prezist der furstHchen Krone war
doch zum Teufel, und der Lord muBte sich wenigstens schamen,
40. HUNDPOSTTAG 1 1 63
durch sein Schweigen den Regierrat in das morderische Verhalt-
nis mit einem Manne verflochten zu haben, dem er in jedem Falle
ofFentlich die Verehrungeines Sohnes abzutragen hatte. Matthieu
konnte nicht verlieren - noch dazu konnte er seine Wissenschaft
um Flarains Abkunft verstecken oder aufdecken, wie es etwa not
tat.
Da gar die Englander die Sekundanten sein konnten: so sagte
Flamin Ja; aber Le Baut sagte Nein, als er das Manifest und Krieg-
instrument von Matzen erhielt; des Todes war er fast schon xiber
10 ein Todes-Rezept ohne das Ingredienz der Kugel. Ich werde
einen Hofmann nie so verkleinern, daB ich vorgebe, er lehne
einen solchen Kartoffelnkrieg aus Tugend ab oder aus Feigherzig-
keit- solche Menschen zittern gewiB nicht vor dem Tode, sondern
bloB vor einer Ungnade -; aber eben die letzte, die Le Baut vom
Minister und Fiirsten besorgte, schreckte ihn ab. Er hielt daher
auf feinem Papier und mit feinen Wendungen, die den Streusand
uberschimmerten, Matzen die vorige Freundschaft vor und ver-
bindliche Abmahnungen von diesem auffallenden »GozsurtheI«
und erklarte sich iiberhaupt bereitwillig, gern alles zu leisten, was
20 seine Ehre - beleidigte, falls er hur nicht durch das LusttrefFen
gegen das Duellmandat verstoBen miiBte. Aber er muBte - Mat-
thieu schrieb zuriick, er verburge sich fiir das Geheimnis so wie
fur das Schweigen der Sekundanten, und er schlage ihm zum
OberfluB vor, sich einander in der Nacht und in Masken die
Drachen-Pechkugeln zu insinuieren; »ubrigens bleib* er auch in
Zukunft sein Freund und besuch* ihn, denn nur die Ehre fodere
ihm diesen Schritt ab.«... Und dem Kammerherrn auch; - denn
diese Leute verschlucken wohl grofie, aber nicht kleine Beleidi-
gungen, so wie die von tollen Hunden Gebissenen zwar feste
30 Sachen, aber keine flussigen hinunterbringen - und damit ist in
meinen Augen ein Hofmann wie Le Baut genugsam entschuldigt,
wenn er sich stellt, als war' er ein redlicher Mann oder als ginge
er von denen sehr ab, die das ganze Jahr ihre Ehre zum Pfand ein-
setzen und das Pfand - wie Reichspfandschaften oder wie leben-
dige Pfander der Liebe - nie einlosen.
Auf den Abend, wo Viktor in Maienthal trauernd eintraf, war
1 1 64 HESPERUS
alles festgesetzt — das Knegstheater war zwischen St. Liine und
der Stadt.
Extrablatt zur Rettung der Duelle
Ich glaube, der Staat begunstigt die Duelle, um der Vermehrung
des Adels Grenzen zu stecken, wie eben darum Titus die Juden
einander fodern lieB. Da in Kanzleien immerfort Edelleute ge-
macht werden, aber keine Biirgerliche — da noch dazu allemal ein
Biirgerlicher darangewendet und eingerissen werden muB, eh* die
Reichskanzlei einenEdelmann auf seiner Baustatte auffuhren kann
- da die stehenden Armeen und die Kronungen zugleich zuneh- jo
men und folglich die Bauten Adeliger mit: so wurde der Staat
sicher eher zu viel als zu wenig Edelleute (wie doch nicht ist) be-
sitzen, ware ihnen nicht gegenseitiges ErschieBen oder Erstechen
verstattet. In Rucksicht der kleinen Fursten, die in der Kanzlei-
Backerei gemacht werden, ware weiter nichts zu wiinschen, als
daB zugleich auch Untertanen - ein oder ein paar Rudel mit
jedem Fursten - mit abfielen von der Drehscheibe; so wie ich
iiberhaupt auch nicht weiB, warum die Reichskanzlei nur Poeten
machen will, da sie doch ebensogut Geschichtschreiber, Publi-
zisten, Biographen, Rezensenten von ihrer Salpeterwand abkrat- 20
zen konnte. — Man wende mir nicht ein, am Hofe schieBe man
sich selten; hier hat die Natur selber auf eine andere Art wohl-
tatige Grenzen der Hofleute gesteckt, etwan so wie bei den Ham-
stern, bei denen Bechstein die weise Absicht ihrer Entvolkerung
darin findet, daB sie, so boshaft bissig sie auch sonst das Ihrige
verfechten, gleichwohl ihre Brut nicht zum Ihrigen rechnen, son-
dern sie gern fahren lassen. Auch durfte Doktor Fenk mehr Recht
haben, der ihre Partei nimmt und sagt, er gebe zu, sie niitzten
nichts den wichtigern Gliedern des Staats, dem Lehr-, dem Bauern-
stande etc., aber doch viel den kleinern unniitzen Gliedern, den 3°
MeBhelfern des Magens und des Luxus, den Matressen, der La-
kaienschaft etc., und ein Unparteiischer musse sie mit den Brenn-
nesseln vergleichen, auf denen sich, da sie fiir Menschen und grofie
Tiere wenig Nutzen haben, die meisten Insekten bekostigen.
Ende dieses rettenden Extrablattes
40. HUNDPOSTTAG 1 165
Flamins Seele arbeitete sich den ganzen Tag in Bildern der Rache
ab. In einem solchen Sieden des Bluts wurden ihm moralische
Leberflecken zu Beinschwarz, die Druckfehkr des Staats kamen
ihm wie Donatschnitzer vor, die peccata splendida des Regier-
kollegiums wie schwarze Laster. Heme sah er noch dazu den
Fursten immer vor Augen, den er in den Klubs der Drillinge und
noch mehr in Hinsicht auf Klotilden todlich haBte. Er verschmahte
das belastete Leben, und in dieser Hitze, worin alle Materien sei-
nes Innern in einem einzigen FIuB zerlassen waren, suchte die
10 innere Lava einen Ausbruch in irgendeinem Wagstuck. Seine
heutige Ergrimmung war am Ende eine Tochter der Tugend,
aber die Tochter wuchs der Mutter uber den Kopf. Die Drillinge,
die, obwohl nicht mit der Zunge, doch mit dem Kopfe so wild
waren wie er, zundeten gar den ganzen Schwaden seiner vollen
Seele an.
Endlich ritten nachts die zwei Sekundanten und Flamin und
der in den dritten Englander verlarvte Matthieu auf den SchieB-
platz hinaus. Flamin kampfte entflammt mit seinem aufsteigenden
dampfenden Hengst. Spater trug in Kurbetten ein Schimmel den
20 Kammerherrn daher. Stumm misset man die Mord- und SchuB-
weite und tauschet das GeschoB. Flamin als Beleidigter brlcht zu~
erst wie ein Sturm gegen den andern los; und auf dem schnauben-
den Pferde und im Zittern des Grimms schieBet er seine Kugel
uber das fremde — Leben hinaus. Der Kammerherr feuerte ab-
sichtlich und offenbar weit vor dem Gegner vorbei, weil die Nie-
derlage des (vermeintlichen) Matthieu sein ganzes Hofgliick mit
niedergeschlagen hatte. Matthieu, bei aller Schlauheit zu jahzornig
und zu kraftvoll, schon unter den Zuriistungen des Gefechtes
schaumend und noch mehr ergrimmt uber das Verfehlen seines
30 Wechsel-Ziels und zu stolz, urn sich vor den Englandern mit dem
Geschenk seines Lebens unter einem fremden Namen und von
einem so verachtlichen Widerpart beschamen zu lassen , stieB seine
eigene Maske herab und Flamins seine dazu und ritt kalt auf den
Kammerherrn zu und sagte, um ihn durch die Entdeckung seines
ahnenlosen Gegners zu demutigen: »Sie haben sich im Stande
geirrt — aber jetzt schieBen wir uns.«. . . Le Baut stotterte verwirrt
1 1 66 HESPERUS
und beleidigt - aber Matthieu drangte sein Pferd zuriick- stand -
schrie - schoB mit versteinertem Arme und traf und zerstorte tod-
lich das kahle Leben des armen Le Baut... Blitzschnell sagte er
alien: »Zum Grafen 0!« und trabte - mit dem BewuBtsein der
friihen, leichten Vergebung von seiten des Furstenpaars und der
Witwe — uber die Grenze hiniiber nach Kussewitz.
Flamin wurde ein Eisberg - dann ein Vulkan — dann eine wilde
Flamme — dann ergriffer die Hande der Briten und sagte: »Ick y
bloB ich habe den hier getotet. Mein Freund hatte nichts mit ihm
gehabt. Aber da er fur mich gesiindigt hat: so ists Pflicht, daB ich 10
fiir ihn biiBe. - Ich will sterben; ich gebe mich bei den Richtern
fur den Morder aus, damit ich hingerichtet werde - und ihr miis-
set wie ich aussagen.« - Aber er entdeckte ihnen jetzt einen viel
hohern Antrieb zu seiner kuhnen Luge : »Wenn ich sterbe,« sagt*
er immer gliihender, »so mtissen sie mich auf dem Richtplatz
sagen lassen, was ich will. Da will ich Flammen unter das Volk
werfen, die den Thron einaschern sollen. Ich will sagen: seht,
hier neben dem Richtschwert bin ich so fest und froh wie ihr, und
ich habe doch nur einen Nichtswiirdigen aus der Welt geworfen.
Ihr konntet Blutigel, Wolfe und Schlangen und einen Lammer- *°
geier zugleich fangen und einsperren - ihr konntet ein Leben voll
Freiheit erbeuten, oder einen Tod voll Ruhm. Sind denn die tau-
send aufgerissenen Augen um mich alle starblind, die Arme alle
gelahmt, daB keiner den langen Blutigel sehen und wegschleu-
dern will, der uber euch alle hinkriecht und dem der Schwanz ab-
geschnitten ist, damit wieder der Hofstaat und die Kollegien hin-
ten daran saugen? Seht, ich war sonst mit dabei und sah, wie man
euch schindet — und die Herren vom Hofe haben eure Haute an.
Seht einmal in die Stadt : gehoren die Palaste euch, oder die Hunds-
hiitten? Die langen Garten, in denen sie zur Lust herumgehen, 30
oder die steinigen Acker, in denen ihr euch totbiicken musset? Ihr
arbeitet wohl, aber ihr habt nichts, ihr seid nichts, ihr werdet
nichts - hingegen der faulenzende tote Kammerherr da neben
mir«. . . Niemand lachelte; aber er kam zu sich. Die Drillinge, fiir
die der Korper und die Zeit und der Thron eine Brandmauer oder
ein Ofenschirm ihrer in sich selber zunickbrennenden Freiheit-
40. HUNDPOSTTAG 1 1 67
lohe war, gelobten ihm gebundene Zungen, feste Herzen und
tatige Hande; doch waren sie schweigend entschlossen, ihn nach
der spriihenden Rede mit ihrem Blute zu retten und seine Un-
schuld zu enthullen. Eine Folge dieses Freiheit-Dithyrambus
war, daB Kato der Altere den Tag darauf den Pulverturm bei
Maienthal, der das einzige Pulvermagazin im Lande war (Korn-
magazine hatte man nicht so viele), ins Gewitter aufsprengte, als
er nach Kussewitz zu Matthieu ritt. -
Nun trugen sie die Luge ins Dorf, Flamin habe die Verkappung
io Matthieus benutzt und ineiner ahnlichen dem Kammerherrn, den
er wegen Mangel an Ahnen nicht erschieBen konnte, mit der Pistole
das Lebenslicht ausgeputzt. Der Regierrat wurde auf einer kleinen
scheinbaren Flucht inhaftiert und als eine gottliche Statue allein
in jenen Tempel gesetzt, der, wie die alten Tempel, ohne Fenster
und Geratschaft war, und den die darin seBhaften Gotter, wie
Diogenes sein FaB, mit Inschriften versehen, und den der ge-
meine Mann bloB ein Gefangnis nennt. Ich will aber vor
alien Dingen diese und die folgenden Worte ein
Extrablatt
zo benennen. Die Kapelle oder das Filial eines solchen Tempels
heiBet man ferner ein Hundeloch. Die Priester und Sodalen dieser
Pagoden sind die Stockmeister und Stadtknechte. Oberhaupt sind
die Zeiten nicht mehr, wo die Groflen gleichgultig gegen Wahr-
heiten waren; jetzo suchen sie einen Mann, der wichrige gesagt
hat, vielmehr auf und setzen ihm nach und machen ihn (mit mehr
Recht als die Tyrier ihren Gott Herkules) in besagten Tempeln
mit Kettchen und eisernen postilions d'amour fest, damit er da
auf diesem Isolierschemel (Isolatorio) sein elektrisches Feuer und
Licht besser beisammen behalte und anhaufe. 1st einmal ein sol-
3 o cher Merkur so fixiert, und hat er mit den Fixsternen auBer dem
Lichte auch die Unbeweglichkeit lange genug gemein gehabt: so
kann man ihn, wenn mehr aus ihm geworden ist, endlich gar an
den DreifuB - so heiBt der Galgen - als ein hdngendes Siegel der
Wahrheit schaffen, wo er zur ordentlichen aufgetrockneten Natu-
1 1 68 HESPERUS
ralie ausdorrt, weil er sonst als kein taugliches Exemplar in das
Herbarium vivum des philosophischen Martyrologium geklebt
werden kann. Ein solches Hangen ist eine wiirdigere und niitz-
lichere Nachahmung der Kreuzigung Christi, als ich in so vielen
katholischen Kirchen an Karfreitagen sah, und im Grunde um
nichts schwacher als die, so Michelangelo nach der Sage veran-
staltete, der den Menschen, der ihm zum Gekreuzigten saB, oder
vielmehr hing, re vera kreuzigte. Daher sind in katholischen Lah-
dern neben den unblutigen MeBopfern mehre blutige\ denn ein
solcher Quasichristus, der nicht in den dritten Himmel, aber doch 10
in den Zitterhimmel 1 (coelum trepidationis) erhoht wird durch
ein wenig Hanf, soli - deswegen erlegt man ihn - seinen Lehren
durch seinen Tod die Dienste erweisen, die der hohere Kreuzes-
tod einmal erwies. Und wahrlich die Toten predigen fort — fur
die Wahrheit sterben 1st ein Tod nicht fur das Vaterland, sondern
fur die Welt - die Wahrheit wird wie die Mediceische Venus in
dreiBig Triimmern der Nach welt ubergeben, aber diese wird sie
iri eine Gottin zusammenfiigen - und dein Tempel, ewige Wahr-
heit, der jetzt halb unter der Erde steht, ausgehohlt von den Erd-
begrabnissen deiner Martyrer, wird sich endlich iiber die Erde 20
heben und eisern mit jedem Pfeiler in einem teuern Grabe stehen!
Ende!
Kato ritt dem nach Kussewitz gefluchteten Matthieu nach und
legte ihm mit franzosischer Beredsamkeit den Plan Flamins, zu
sterben, und ihren eignen, ihn zu retten, vor. Matz genehmigte
alles, aber er glaubte nichts; er blieb noch aufier Landes. Doch
erbat er sich, es ihm nicht ubelzunehmen, wenn er Flamins edle
Aufopferung mit etwas vergelte, was wider ihren Plan, aber iiber
ihre HofTnungen ware. Will er etwan dem Fiirsten es sagen, daB
sein Sohn in der Haft sitzt? - 3 o
In drei Minuten gehen die Leser und ich in die Apotheke zum
Helden, wenn nur vorher berichtet worden ist, daB, als der leere
1 Die alten Astronomen schalteten zwischen den Fixsternen und den Pla-
neten einen Zitterhimmel ein, um ihm die kleinen Anomalien der letzteren
schuld zu geben.
40. HUNDPOSTTAG 1 1 69
blutige Gaul des Kammerherrn und die Drillinge mit der liigen-
haften Hiobspost des Mordes ans Pfarrfenster kamen, der Hof-
kaplan eingeseift und halb rasiert war. Er muBte daher stillsitzen
und nur langsam unter dem Messer reden : »0 Jammer uber alien
Jammer - scher* Er doch fixer zu, mein Herr Feldscher - Frau,
heule fur mich.« - Er schwenkte in seiner verhaltenen Pein die
Hand schlotternd, um den Arm und das Kinn nicht zu erschiittern :
»Um Gottes willen, kann Er mich denn nicht hurtig schinden? -
Er hat einen armen Hiob unter dem Messer - es ist mein letzter
IO Bart - man wird mich und mein Haushalten gefanglich einziehen.
- Du Rabenkind, dein Vater kann deinetwegen dekolliert wer-
den, du Kain du!« Er lief an alle Fenster: »DaB Gott erbarm'! das
wird schon im ganzen Pfarrspiel ruchtbar. - Siehst du, Frau,
einen solchen Satanas haben wir miteinander erzogen und ge-
boren, du bist schuld. - Was lauscht Er denn da! Scher' Er sich
einmal fort zu Seinen Kunden, Herr Feldscher, und schwarz* Er
Seinen Seelenhirten nirgends an, und breit* Ers nicht aus!«
Jetzo kam die sanfte Kloti lde, meder gesenkt und mit dem Schnupf-
tuch in der Hand, weil sie erriet, was das Herz einer untrostlichen
20 Mutter bediirfe, namlich zwei liebende Arme als einen Verband
um die zerschmetterte Brust und tausend Balsamtropfen fremder
Tranen auf das unter den Splittern schwellende Herz. Sie ging
auf die Mutter mit offnen Armen zu und schloB sie darin sprach-
los weinend ein. Der narrische Pfarrer fiel ihr zu FuBen und
schrie:»Gnade! Gnade! wir samtlich wuBten um nichts. Ich nab'
den Totschlag erst unter dem Balbieren gehort. Ich bejammre nur
Dero hochseligen Herrn Vater und dessen Relikten. - Wer hatt'
es vor zehn Jahren sagen sollen, gnadiges Fraulein, daB ich eine
Ranke aufzoge, die meinen eignen Patronatsherrn niederschie Bt?
30 Ich bin ein geschlagner Mann und meine Frau dazu. Ich kann nun
aus Scham nicht mehr Senior Consistorii werden — ich darf keinen
Patenbrief an Se. Durchlaucht erlassen, gesetzt auch, meine Frau
kreisete auf dem Platze. - Und wenn sie meinen armen Sohn
kopfen, so werd' ich vor Jammer grau in die Grube fahren.« -
Als ihm Kloti lde, ohne zu lacheln, mit ihrem heiligen Worte zu-
sicherte, es gebe ein unfehlbares Mittel der Rettung - womit sie
II70 HESPERUS
Flamins furstHche Abkunft meinte -: so sah der Kaplan sie. mit
funkelnden Augen und verbliifften Mienen an und nannte sie
immer halblaut dazwischen: Himmelsengel! - Gottesengel! -
Erzengel! — Aber die zwei Freundinnen zogen sich begierig in ein
Kabinett zuriick; und hier goB Klotilde das erste Wundwasser
in die weit aufgerissene Seele der Mutter, indem sie ihr die
Dazwischenkunft eines rettenden Geheimnisses beteuerte und
verbiirgte und mit ihr deswegen die Reise nach London abredete. -
Diese Entfernung wurde ihr zum Teil noch durch ihr MiBverhalt-
nis mit der Kammerherrin abgedrungen, deren letzter Winden- 10
schmied samt alien Hebemaschinen ihres gesunknen Schicksals
nun mit ihrem Manne begraben worden, und welche, da sie
alle Schuld auf Klotildens Betragen schob, diesen trauernden Geist
durch ein absichtliches ObermaB eigner Trauer noch mehr zukran-
ken suchte. Da die Le Baut ubrigens nichts so lieb hatte-als Gebet-
biicher und Freigeister: so ersetzte sie jetzo sich diese durch jene.
Einige meiner Leser werden rmr schon vorgeflogen sein und in
den Erker Viktors hineingeschauet haben, um seinen von vier
Wanden versteckten Gram zu finden - furchterlich steht die Ein-
samkeit vor ihm und faltet ihm ein groBes schwarzes Gemalde 20
mit zwei fnschen Grabern auf; in einem groBen Grabe liegt die
verlorne Freundschaft, im andern die verlorne Hoffnung. Ach er
wunscht das dritte, worein auch er sich verlore. Er hatte die er-
habne Stimmung Hamlets. Der verhullte Julius kam ihm wie ein
zuckender Toter vor. Er mied ganz den Hof ; denn sein Selbgefuhl
war viel zu bescheiden und stolz, um mit dem gestohlnen Adel
und den erschlichenen Rechten eines Lords-Sohnes ein fluchtiges
Geprange zu treiben. Auch setzte sich an seinem Herzen eine
kleine Frostbeule durch den Gedanken an, daB der Lord, nach der
Unart aller Staatsleute und Staatsmaschinenmeister, die Menschen 30
zu handhaben nur wie Korper, nicht wie Geister, nur wie Karya-
tiden, nicht wie Mietleute des Staatsgebaudes, kurz bloB wie
Tanzerinnen von Golkonda 1 , die sich zum Lastvieh eines einzigen
1 Neun Tanzerinnen verstricken sich zu einem Elefanten fur den Konig,
eine macht den Russel, viere die Beine, viere den Rumpf. Historic aller Reisen.
10. Band.
40. hundPosttag i 171
Reiters mit ihren Gliedern zusammenschlingen und verschranken
- daB der Lord, sag' ich, diese sonst erhabene Seele, auch seinen
Viktor zu sehr zum Arbeitzeuge seiner Tugend verbrauchet hatte.
Aber er vergabs dem Mann, dem er doch nichts vorzuwerfen
hatte, als daB er nur die Giitigkeken eines Vaters gehabt, ohne
die Rechte desselben.
Da Viktor niemand den Hof mehr machte: so wollte natiirlich
der Apotheker ihm auch keinen mehr machen. Jener lachelte dazu
und dachte : »So sollte jeder gute Hofmann handeln und, wie ein
10 geschickter FahrmanninseinemBoote,alIemaldieSeiteverIassen,
die sinkt, und auf die andere'ubertreten.« Zeusel trat uber zum
begiinstigten Brunnendoktor Kuhlpepper, dessen Einsichten man
die Heilung Jenners zuschrieb, die vom Sommer herkam, und er
legte sich hin, um mit seiner kleinen Schlangenzunge die FuBe zu
lecken, in deren Ferse er vorher mit seinem GiftgebiB gestochen
hatte - aber Grobiane vergeben nie; Kuhlpepper verachtete den
»Neunundneunziger« und der Neunundneunziger wieder meinen
Hofmedikus, wiewohl er ihn aus Furcht - wie der Fiirst aus Ge-
machlichkeit - weder vor den Kopf noch aus dem Hause zu stoBen
20 wagte.
Armer Viktor! der Ungliickliche braucht Tatigkeit, wie der
Gliickliche Ruhe; und doch muBtest du gebunden in die Zukunft
wie in ein ausgedehntes herantreibendes Gewitter schauen. - Du
konntest sie weder verdrangen noch lenken noch beschleunigen
und hattest nicht einmal den Trost, dem Schmerze die WafFen zu
Schmieden und wie Simson den Krampf der Qual durch Er-
schiitterungen der Saulen auszulassen und - auszuloschen! - Er
konnte nicht einmal fiir den gefangenen L'iebling etwas tun, den
er in einen noch groBern Jammer getrieben; denn Flamins Leiden
30 fiihrten wieder die Freundschaft fiir ihn in seinen Busen ein, ob-
wohl verkappt in den Domino der Mcnschqnliebe. Er muBt' es
erwarten, aber er konnt' es nicht erraten, ob der Lord komme oder
lebe - welches beides durch dessen Schweigen und durch die
Unsichtbarkeit des funften Furstensohnes wenig fiir sich hatte. -
Zuletzt stand er in Furcht vor dem - Schlaf, zumal dem nach-
mittaglichen; denn der Schlummer legt zwar seine Sommernacht
1 172 HESPERUS
iiber unsere Gegenwart wie iiber eine Zukunft, er ziebt zwei
Augenlider wie den ersten Verband iiber die Wunden des Men-
schen und deckt mit einem kleinen Traume ein Schlachtfeld zu;
aber wenn er wieder weggeht mit seinem Mantel, so fallen die
hungrigen Schmerzen desto heiBer auf den nackten Menschen los,
unter Strichen fahrt er aus dem ruhigern Traume empor, und die
Vernunft muB die ausgesetzte Kur, den vergessenen Trost von
vorn anfangen. — Und doch - du gutes Schicksal! - zeigtest du
unserem Viktor noch einen abendrotlichen Streif an seinem wei-
ten Nachthimmel; es war die Hoffnung, von Klotilden, die sein 10
Herz nicht mehr die Seinige nenneh durfte, vielleicht einen Brief
aus London zu erhalten
Ich wollte dieses Kapitel erstlich mit der Nachricht schlieBen,
daB die Kapitel in immer weiterm Zeitraume und in kleinerem
Format einlaufen - welches das Ende der Historie bezeichnet — ,
und nachher mit der Bitte, es nicht ubelzunehmen, daB die Leute
darin immer romantischer spielen und spekulieren; das Ungliick
macht romantisch, nicht der Biograph.
Aber ich schlieBe gar nicht - eben der letztern Bitte wegen -,
sondern frische lieber im Kopf des Lesers das Bild des alten lusti- 20
gen Viktors ein wenig auf, den er sich kaum mehr wird denken
konnen. Es ist ein ungemein gliicklicher Zufall, daB mir der Hund
am dritten Hundposttage eines und das andere Faktum einge-
liefert, das ich damals gar ausgelassen habe. Deswegen kann ichs
jetzo unvermutet hinterbringen. Es muB ordentlich mir und dem
Leser das groBte Vergniigen machen, wenn mein Schilderei - sie
war damals schon ganz fertig - hier auf diesem Blatte aufgehan-
gen wird*
Der Hiatus des dritten Kapitels, worin ich Viktors Ankunft
aus Gottingen im Pfarrhaus male, lautet, vollgemacht, also: 50
Der Kaplan hatte ,das Eigne mancher Leute, daB er mitten im
Freuden- und Visiten-Chor an seine winzigsten Geschafte dachte,
z.E. am Hochzeittage an seine Maulwurffallen. Heute schnitt er in
der Gesindestube - wahrend der Lord dem Hofmedikus die ge-
heime Anleitung erteilte - die SaekartofFeln entzwei. Er konnte
den Schnitt dieser Fruchte wenigen anvertrauen, weil er wuBte,
40. HUNDPOSTTAG 1 173
wie selten ein Mensch Stereometrie des Auges genug besaB, urn
eine KartofFel in zwei gleiche Kegel- oder Kugelschnitte zu zer-
fallen. Er hatte lieber die Saezeit versessen, als einen Keimglobus
in ungleiche Sektores zerlegt, und sagte: »Nur Ordnung will ich
haben.« - Es kann meinen Helden verschatten, wenn es auskommt
- und durch den Druck muB es ja - und wenn es zumal Nurn-
berger Patriziern und Leuten in Amtern und reichsgerichtlichen
membris zu Ohren gelangt, daB Viktor nachmittags hinter dem
Kaplan und Appeln einen Ehrenzug auf den Krautacker hielt und
io daselbst das vollfuhrte, was man in einigen Provinzen Kartoffeln-
stecken nennt. Man liefi ihm das Lob, daB er in ebenso symme-
trischen Fernen wie der Kaplan die unterirdische Brotfrucht dem
Boden einverleibe; uberhaupt sannen beide der Kartoffelnallee
scharf nach, und ihre Augen waren die Linienteiler der Beete. Der
Kaplan hatte schon vorher dem Ackerpflug hinter einem Diopter-
lineal nachgesehen und nachgeholfen, damit das Feld, um welches
ich und die reichsgerichtlichen membra jetzo stehen, in gleiche
Prismata oder Beete ausgeschnitten wurde. Als beide abends nach
Hause kamen mit groBem Ernst und kleinen Wamsern : so hatt'
20 ihn das ganze Haus lieb zum Fressen; und die Pfarrerin fragte
ihn, was er in seinem Warns, wenn ihm die Kammerherrin begeg-
net ware, gemacht hatte, eine Verbeugung, eine Entschuldigung
oder nichts?
»0 du liebes Deutschland !« (rief er und schlug die Hande zu-
sammen) »soll sich denn das ganze Land keinen SpaB machen, als
den der Hof dekretiert?« (Viktor sah hier den alten tauben Kut-
scher Zeusel an; denn jede humoristische ErgieBung richtete er
ordentlicherweise an den, der sie am wenigsten verstand; ich wills
aber hier an die Patrizier und membra gerichtet wissen.) »Gibts
30 denn, mein lieber Mann, hierzulande nichts als Galgen und Zim-
merleute und Justizbeamten, ich meine so, daB also die ersten
keine Axt anriihren, wenn nicht die Ietzten damit den ersten Hieb
getan? Will Er denn alle Narrheiten wie die Moden von oben her-
ab bekommen, wie ein Wind allemal in den obern Luftgegenden
sauset, eh' er unten an unsere Fenster anpfeift? — Und wo ist denn
ein Reichsabschied oder ein Vikariatkonklusum, das einem
1 174 HESPERUS
Reichs-Deutschen verbote, narrisch zu sein? Ich hoffe, Zeusel, es
soil noch eine Zeit kommen, wo Er und ich und jeder so viel Ver-
stand hat, daB er seinen eigenen hat und seine eigene, aus seinem
Fleisch und Blut gezeugte Privat-Narrheit, als Autodidaktus in
jeder Toll- und Weisheit. - O ihr armen Menschen! fangt doch
nach den Flugel- und Schwanzfedern der Freude unter den Ge-
walt-Marschen euerer Tage! O ihr Armen! Will denn kein guter
Freund einen Imperialfolianten zusammenschmieren und euch
dartun, daB ihr wenig Zeit habt, gleich dem Teufel in der Apo-
kalypsis? Ach der GenuB verspricht so wenig - die Hoffnung 10
halt so wenig - der Sae- und Pflanztage der Freude stehen im
berlinischen Kalender so wenige - wenn ihr nun vollends so dumm
waret und ganze Stunden und Olympiaden voll Lust als Einge-
machtes wegsetztet und aufhobet im Keller, urn, der Henker weifi
wenn, dariiber zu geraten uber ganze eingepokelte marinierte
50, 60 Jahre — ich sage, wenn ihr nicht an jeder Stundentraube
die Minutenbeere auskeltertet wenigstens mit einigen Zitronen-
druckern was wiirde denn am Ende daraus werden? . . . weiter
nichts als die Moral zu meiner ersten und letzten Fabel, die ich
einmal vor einem Hannoveraner gemacht«... 20
Ich wollt', der Leser wollte sie; denn sie lautet so :
»Der dumme Hamster, heiBt der Titel. Diesen brachte einmal
der voile Kropf einerTaube,den er ausfraB,auf die Preisfrage, ob
es nicht besser ware, wenn er statt einzelner Kornchen lieber
Tauben mit ganzen Kornmagazinen am Halse eintriige. Er tats.
An einem langen Sommertag inhaftierte er einen halben Tauben-
flug mit gefullten Kropfen; aber er riB keinen Kropf entzwei, son-
dern sparte sich hungernd alles zusammen auf Abend und Mor-
gen, erstlich um recht viel Tauben einzufangen, zweitens um den
Korner-Knaul abends durchgeweicht zu schmausen. Er schlitzte 30
endlich abends seinen Zehend-Offizianten die Kropfe auf, sech-
sen, neunen, alien - kein Kornchen war mehr da, die Inhaftaten
hatten alles schon selber verdaut; und der Hamster war so dumm
gewesen wie ein - Geizhals.«
So weit der dritte und der vierzigste Hundposttag — Armer
Viktor!
41. HUNDPOSTTAG II75
Nachschrift. Die Geschichte halt jetzt im Monat August und
der Geschichtschreiber vorn am Oktober - bloB ein Monat liegt;
zwischen beiden.
41. HUNDPOSTTAG
Brief- zwei neue Einschnitte des Schicksals - des Lords Glaubensbekenntnis
Man schenke einem Menschen, der, gleich Pferden, in der Nahe
der Nacht und der Heimat starker lauft, den zehnten Schalttag;
am Ende eines Lebens und eines Buchs macht der Mensch wenig
Ausschweifungen.
10 Ich nab' es schon gesagt, daB nichts das Seelen- und Riicken-
mark mehr aus einem Menschen presset, als wenn ihm sein Un-
gltick kein Handeln vergonnt; das Schicksal hielt unsern Viktor
noch fest mit der einen Hand, um ihn wund zu schlagen mit der
andern, als in diesen Trauerwochen das Schopfrad der Zeit {wei
neue Tranenkruge im Herzen der Menschen einschopfteund in die
Ewigkeit hinausgoB. Erstlich kam die triibe Nachricht wie Trauer-
gelaute an Viktors Ohr, daB sein ehemaliger Jugendfreund Fla-
min einen Schritt, zu dem es ohne das Oberwerfen mit ihm nie
gekommen ware, wohl mit dem Tode biiBen werde. Einige Tage
20 nach den Kanikularferien - gerade als vor einem Jahre der arme
Gefangne sein neues Amt mit so vielen menschenfreundlichen
Hoffnungen angetreten hatte - zog jenes Gerucht wie eine Pest-
wolke aus den Sessionzimmern heraus. Viktor nuchtete eilig und
unglaubig und doch zkternd zum Apotheker, um ihm die Wider-
legung abzufragen. Dieser schlug vor ihm - eben weil er den Hof-
medikus verachtete und beschamen wollte - aufrichtig alle Hof-
Rapportzettel und Cercle- oder Kreis-Berichte auseinander und
las ihm daraus so viel vor: es sei nicht anders. Viktor horte, was
er schon voraussetzte, daB jetzt der Fiirst den Laufzaum oder das
30 StangengebiB seiner eignen Frau umhabe, und daB sie ihm durch
Klotildens Entfernung naherkomme und mit dem Ohr- und Ring-
finger den in den Nasenvmg eingefadelten Zugel bewege, als ware
sie in der Tat nichts Geringeres als seine - Matresse, welches ein
1 176 HESPERUS
neues trauriges Beispiel 1st, wie leicht in den jetzigen Zeiten eine
feine Ehefrau sich die Rechte einer Kebsfrau erschleiche. Zeusel
fand es natiirlich, »daB sie, als die Freundin des Ministers, der, so
wie sein Sohn Matthieu, der Freund des Kammerherrn gewesen,
den Tod des letztern an Flamin zu rachen suche, und daB der Mi-
nister, um seine Hand besser in die GrifFe der Parzenschere zu
bringen und dem Regierrat den Lebensfaden entzweizuschneiden,
selber die fortdauernde Entfernung seines Sohns verhange und
unterhalte, damit dieser nicht etwan den ungllicklichen Liebling
decke«. — Nicht ein wahres Wort war daran, das wuBte Viktor 10
besser; aber desto schlimmer; o verrat nicht alles, daB Matthieu
die Fiirstin durch Winke uber Flamins Geburt in sein treuloses
Interesse gezogen, um, wie Zauberer, in der Feme und durch
wenige Charaktere umzubringen? Wurd* ihn wohl bloB die
Furcht vor der Riige der Ausfoderung so lange auBer den Grenz-
steinen des Landes festhalten? - Noch dazu briitete die Fursten-
sonne den ministerialischen Krotenlaich immer lebendiger an. Es
ist wahr - und Viktor leugnete es nicht - man darf erwarten von
der Fiirstin, daB sie die Matthaus- oder Jakobsleiter, auf der sie
das fiirstliche Heri erstieg, da sie vorher nur an Jenners Hand 20
reichte, mit der Zeit umschnellen wird mit dem FuB, so wie der
Marder sich vom schlaftrunknen Adler in die Hohe reiBen laflt
und ihn erst droben so lange zerhackt, bis der Trager fallt und
stirbt; aber jetzt ist, glaub* ich, ihre fortdauernde Dankbarkeit
gegen Schleunes schon genugsam bei Rechtschaffenen dadurch
entschuldigt, daB noch mehr zu holen steht von der unvollende-
ten Gabe. Ein alter Gesetzmacher setzte auf jeden Undank Strafe;
ich glaube, man verfallt in den namlichen Fehler wie er, wenn man
jede Dankbarkeit tadelt und bestraft, da oft der Eigenniitzigste
am Hofe zu ihr seine guten Grunde haben kann. 30
Viktor ging trube in sein Zimmer und sah Flamins Bild an und
sagte : »0 ! das wolle der Himmel nicht, daB du Armer nicht mehr
zu retten warest.« Viktor konnte sich iiberhaupt drei Tage nach
einer Beleidigung nicht mehr rachen: »Ich vergebe jedem,« sagt'
er sonst, »nur Freunden und Madchen nicht, weil ich beide zu lieb
habe.« Aber welche Hand, welchen Zweig konnt' er dem sinken-
41 . HUNDPOSTTAG 1 177
den Flamin hinunterreichen ins Gefangnis? - Alles, was er ver-
mochte, war, zum Fiirsten zu gehen mit einer nackten Bitte um
dessen Begnadigung. Tausend Aufopferungen unterbleiben, weil
man nicht ganz gewiB ist, daB sie ihre rechten Friichte bringen.
Aber Viktor ging doch; er hatte sich die goldne Regel gemacht:
fur den andern auch dann %u handeln, wenn der Erfolg nicht gewifi
%u hoffen ist. Denn wollten wir erst diese GewiBheit abwarten: so
wiirden Aufopferungen ebenso selten als unverdienstlichwerden.
Er ging zum Fiirsten nach langer Zeit zum erstenmal - hatte
jo den Nachteil wider sich, eine lange Abwesenheit mit einer Bitte
zu endigen - sprach mit dem Feuer des Einsamen fur seinen Fla-
min - flehte den Fiirsten um den Aufschub des Schicksals des-
selben an, bis der Lord wiederkehrte - erhielt die Entscheidung :
»Ihr Herr Vater und ich miissen es bloB der Justiz iiberlassen« und
wurde kalt und stolz verabschiedet.
Jet2o, gerade am 5. September dieses Jahres, wo eine groBe
Sonnenfinsternis die Seele wie die Erde triibe und bange machte,
jetzo hatte das Wasserrad des Schicksals den ersten Tranenkrug
in seiner Brust gefullt - es walzte sich weiter, und der zweite floB
10 liber: Klotildens Brief kam den 22. September zu Herbstes-An-
fang an.
»Teurer Freund !
Ihr Herr Vater war in London noch zu Anfang des Februars und
hatte viel franiosischen Briefwechsel; dann ging er ab nach
Deutschland, und seitdem weiB meine Mutter nichts von ihm.
Das Schicksal wache iiber sein wichtiges Leben. An drei Eiden 1 ,
die seine Abwesenheit unaufloslich macht, hangen viele Tranen,
viele Herzen und, o Gott! ein Menschenleben. - Ich lege ein Blatt
von Ihrem Herrn Vater bei, das er bei meiner Mutter geschrieben
30 und worin eine Philosophic ist, die meinen Geist und meine Aus-
sichten immer triiber macht. Ach, ob Sie gleich einmal sagten:
weder jdie Furcht noch die HofFnungen des Menschen treffen ein,
1 Diese Eide der Verschwiegenheit hatte sich bekanntlich der Lord von
Viktor, von Klo tilde und von ihrer Mutter unter jenem tragischen Apparat,
der besonders in weibliche Herzen so stark eingreift, ablegen lassen.
1 178 HESPERUS
sondern immer etwas anders : so hab' ich doch das traurige Recht,
meiner Bangigkeit und alien Traumen der Angst zu glauben, da
ich mich bisher in nichts irrte als in der HofFhung. - Wie unge-
niigsam ist der Mensch! - Aber wenn auch alles eintrafe und ich
zu ungliicklich wiirde : so wiird' ich doch sagen : wie konnt' ich
jetzt zu ungliicklich sein, war* ich nicht einmal zu gliicklich ge-
wesen? —
Sie werden mir es gern vergeben, daB ich iiber London und
iiber den Eindruck schweige, den es auf ein so zerstreutes Herz wie
meines machen konnte. Das tatige Gewiihl der Freiheit und der 10
Schimmer des Luxus und des Handels beklemmen eine kumrher-
hafte Seele bloB und machen nicht froher, wenn man es nicht vor-
her ist. Sei gliicklich, geliebte Vaterstadt, sagte mein Herz, sei es
lange und sehr, wie ichs in dir gewesen bin in meiner Jugend! -
Aber dann eil* ich lieber mit meiner Mutter auf ihr Landhaus zu,
wo einmal drei gute Kinder 1 so frdhlich griinten, und da werd*
ich unaussprechlich erweicht, und dann bild* ich mir ein, ich sei
hier glucklicher als unter den Gliicklichen. Ich bilde. mir es wohl
nur ein ; denn wenn ich da das gesammelte Spielzeug dieser guten
Kinder, ihre Exerzitienbucher und ihre engen Kleider anschaue; 20
wenn ich mich unter drei aneinandergesaete Kirschbaume setze,
die sie scherzend in dem*zu engen Kindergarten eingelegt hatten;
und wenn ich dann denke, auf dieser Buhne zogen sie ihre Herzen
fur ein gliicklicheres Leben groB, als sie gewonnen, fur eine hohere
Tugend, als die Verhaltnisse zugelassen, und fur bessere Menschen,
als sie gefunden haben : dann werd' ich sehr betriibt, und dann ist
mir, als miiBt' ich weinen und diirft' ich sagen: auch ich bin in
England geboren und wurde in Maienthal von Emanuel erzogen.
Ach ich kann mein Herz nicht verbergen, wenn ich den Namen
dieser groBen Seele schreibe. - Er war hier oft auf einem Berge, 50
wo eine auseinandergefallene Kirche liegt, und wo er auf eine
noch nicht umgeworfene Saule stieg, um sein Auge zu den Sternen
zu erheben, iiber denen er nun wohnt. - Ich wollte Ihnen jetzo
das schreiben, was mir meine Mutter von seinem Abschied er-
zahlte : aber es tut mir zu wehe, und ich werd 1 es Ihnen miindlich
1 Viktor, Julius, Flamin.
41. HUNDPOSTTAG 1179
sagen. Ich besuche diesen Berg sehr oft, weil man die ganze Ebene
nach Osten hinuntersehen kann : hier hangt noch der alte Baum
mit seinen Wurzeln und Zweigen in den Steinbruch hinunter, der
voll zerstuckter Tempelsaulen liegt; Emanuel nahm oft abends
das Kind dahin, das er ^m meisten liebte 1 und das, wenn er auf der
Saule betete, mit dem einen Arm um den Baum geschlungen,
sehnsuchtig und singend uber die weite Gegend hinuberblickte
und sich hinauslehnte und, ohne es zu wissen, in suBer Beklom-
menheit uber die eignen Tone und die entlegnen Gefilde weinte
10 und uber das blasse Morgenrot, das von der Abendrote zuriick-
glimmte. Einmal, da der Lehrer das Kind fragte: >Warum bist du
so still und singest nicht mehr?< - gab es zur Antwort: >Ach, ich
sehne mich in die Morgenrote, ich mochte darin Hegen und da-
durch gehen und in die hellen Lander dahinter hineinschauen.< -
Ich setze mich oft unter jenen Baum und lehne den Kopf an ihn
und verfolge stumm die Entfernung bis an den Horizont, der vor
Deutschland steht, und niemand stort mein Weinen und mein
stilles Beten.
Ich war heute zum letzten Male dort, denn morgen gehen wir
20 mit meiner Mutter, ohne die mein verwaistes Herz nicht mehr
leben kann, nach Deutschland zuriick zum besten Freunde der
treuesten Freundin
Kl.«
*
du gute Seele! —
Hart klingt jetzt das sonderbare Blatt vom Lord, das kein Brief,
sondern eine kalte Schutzrede seines kiinftigen Betragens zu sein
scheint:
»Das Leben ist ein Ieeres kleines Spiel. Wenn mich meine vie-
len Jahre nicht wider leget haben : so ist eine Wider legung durch die
30 wenigen iibrigen weder notig noch moglich. Ein einziger Un-
glucklicher wiegt alle Trunkne auf. Fiir uns nichtige Dinge sind
nichtige Dinge gut genug; fiir Schlafer Traume. Darum gibt es
weder in noch auBer uns etwas Bewundernswertes. Die Sonne
ist in der Nahe ein Erdball, ein Erdball ist bloB die oftere Wie-
1 Sie weiC es wohl, daB es Viktor war.
Il8o HESPERUS
derholung der Erdscholle. - Was nicht an tind fur sich erhaben
ist, kanns durch die oftere Setzung so wenig werden als der Floh
durchs Mikroskop, hochstens kleiner. Warum soil das Gewitter
erhabner sein als ein elektrischer Versuch, ein Regenbogen groBer
als eine Seifenblaser* Los' ich eine groBe Schweizergegend in ihre
Bestandteile auf: so hab' ich Tannennadeln, Eiszapfen, Graser,
Tropfen und Gries. — Die Zeit zergeht in Augenblicke, die Vol-
ker in Einzelwesen, das Genie in Gedanken, die UnermeBlichkeit
in Punkte; es ist nichts groB. - Ein oft gedachter trigondmetri-
scher Satz wird zum identischen, ein oft gelesener Einfall schal, 10
eine alte Wahrheit gleichgiiltig. - Ich behaupte wieder: was
durch Stufen groB wird, bleibt klein. Wenn die Dichtkraft, die
entweder Bilder oder Leidenschaften malt, nicht in der Erfindung
des alltaglichsten Bildes schon zu bewundern ist, so ist sie es nir-
gends. In die Stelle eines andern kann sich jeder, wie der Dichter,
wenigstens in irgendeinem Grade setzen. - Die Begeisterung ist
mir verhaBt, weil sie ebensogut durch Likore als durch Phanta-
sien entsteht, und weil man in und nach ihr am meisten sich zur
Unduldung und zur Wollust neigt. - Die GroBe einer erhabnen
Tat besteht nicht in der Ausfuhrung, die auf korperlkhe Arm- *o
seligkeiten, auf Bewegen, Stehen, auslauft, nicht im einfachen
EntschluB, weil der entgegengesetzte,z.B. der,zumorden,eben-
soviel Kraft bedarf als der, zu sterben, nicht in der Seltenheit, weil
wir alle in uns dieselbe Tiichtigkeit dazu, nur aber nicht die Be-
weggrunde dazu empfinden, nicht in alien diesem, sondern in
unserer PrahlereL - Wir halten unsern allerletzten Irrtum fur
Wahrheit, und nur den vorletzten fur keine, unser Heute fur
fromm, und jeden kiinftigen Augenblick fur den Kranz und Him-
mel der vorigen. Im Alter hat der Geist nach so vielen Arbeiten,
nach so vielen Stillungen denselben Durst, dieselbe QuaL - Da 30
alles sich verkleinert in einem hohern Auge: so muBte ein Geist
oder eine Welt, um groB zu sein, es sogar dem sogenannten gott-
lichen Auge sein; aber dann mufit* er oder sie groBer sein als
Gott, weil man nie sein Ebenbild bewundert. - In meiner Jugend
gab ich in einem Trauerspiel dem Helden alle jene Grundsatze
und lieB inn kurz vorher, eh' er sich den Dolch ins Herz trieb,
41. HUNDPOSTTAG Il8l
noch sagen: >Aber vielleicht ist der Tod erhaben; denn ich fass*
ihn nicht. Und so will ich denn die Blutbogen, die aus dem Her-
zen aufspringen und so spielend das Menschenhaupt und Men-
schen-Ich in der Hohe erhalten, wie ein Springbrunnen die dar-
aufgelegte Hohlkugel schwebend tragt, diesen Springbrunnen
will ich mit dem Dolche ableiten^damit das Ich niederfalle.< - Ich
schauderte damals iiber diesen Charakter : aber ich dachte nachher
uber ihn nach, und es wurde mein eigner!« -
Furchterlicher Mensch! Dein Blut-Strahl und das Ich daruber
io ist vielleicht schon umgefallen, oder bricht bald darnieder. - Und
eben diese schwarzeWeissagung ist auch im Herzen Klotildens
und Viktors — O mochtest du, anderer gebiickter Mann, den ich
hier vor dem Publikum nicht nennen darf, es erraten, daB ich
dich meine, daB du ebenso wie der ungluckliche Lord dein eigenes
Ich abfrissest gleich blutsaugenden Leichen, und daB du in der
Sternennackt des Lebens noch einen eignen todlichen Nebel um
dich tragst! O der Anblick eines groBmiitigen Herzens, das sich
bloB durch Ideen hiilflos macht, und das unzuganglich und be-
taubt in seiner Laube aus philosophischen Giftbaumen liegt, farbt
20 oft Tage schwarz ! - Glaube nicht, daB der Lord irgendwo recht
habe ! Wie kann er etwas klein linden, ohn' es gegen etwas GroBes
zu halten? Ohne Achtung gab' es keine Verachtung, ohne das
Gefuhl der Uneigenniitzigkeit keine Bemerkung des Eigennutzes,
ohne GroBe keine Kleinheit. So wenig du aus dem Schwanken
der Saiten die Tranen des Adagio oder aus den Blutkiigelchen und
dreifachen Hauten eines schonen Gesichts deine Achtung fur das-
selbe erklarst: ebensowenig kannst du dein Entziicken fur das
Geistige in der Natur mit den korperlichen Fasern derselben recht-
fertigen wollen, die nkhts sind als die Fldten-Ansdt^e und Dis-
50 und Fisklappen der ungespielten Harmonie. Das Erhabne wohnt
nur in den Gedanken, es sei des Ewigen, der sie ausdriickt durch
Buchstaben aus Welten, oder des Menschen, der sie nachlieset! -
Ich verschiebe die Widerlegung des Lords auf ein anderes Buch,
obwohl dieses auch eine ist. -
Il82 HESPERUS
42. HUNDPOSTTAG
Aufopferung - Valetreden an die Erde - Memento-mori - Spaziergang -
Herz von Wachs
Es gibt einen Schmerz, der sich mit einem groBen Saugestachel
ans Herz legt und Tranen durstig zieht - das ganze Herz rinnt
und quillt und driickt zuckend die innersten Fasern zusammen, um
zu einem Tranenstrom zu werden, und fuhlt den Zug des Schmer-
zens nicht unter der todlich-suBenErgieCung... So todlich-suB
schmerzte unsern Viktor Klotildens Brief.
Aber todlich-bitter war der des Lords. »0 dieser miid-gequalte 10
Geist« - rief er aus - »sehnte sich ja schon auf der Insel der Ver-
einigung nach Toten-Ruhe — ach er ist gewiB schon aus der
schwiilen Erde geflohen, die ihm so klein und driickend vorkam.«
War das; so waren alle Schwiire, an deren Erlassung Flamins
Leben hing, ewig gemacht und dieser verloren. Wars nicht, so
war wenigstens keine Zuriickkehr zu hoffen, da Emanuels Tod
und Gestandnis, Flamins Gefangenschaft und alle bisherigen Zu-
falle, die der Lord alle erfahren konnte, seinen ganzen schon lini-
ierten Plan ausgestrichen hatte. Jetzo riefs laut in Viktors Seek:
»Rette den Binder deiner Geliebtenk — Ja, es war ein Mittel dazu 20
da; - aber der Meineid wars. Wenn er namlich den beging, daB er
dem Fiirsten entdeckte, wer Flamin sei: so war er erloset. Aber
sein Gewissen sagte : Nein ! - » Der Untergangeiner Tugend ist ein
groBeres t)bel als der Untergang eines Menschen - nur Sterben,
aber nicht Siindigen muB sein - soil es mich noch mehr kosten,
mein Wort zu brechen, als mich bisher kostete, es zu halten?«
Bekanntlich war am Tage der heurigen Tag- und Nachtgleiche,
wo er die zwei Londner Blatter empfangen hatte, ein kalter
schneidender regnender Sturm, aus dem nachher der Sommer
gleichsam zum zweitenmal aufbluhte. - Viktor griibelte weiter 50
nach. Er zog jenen groBen Tag auf der Insel der Vereinigung
noch einmal mit alien Minuten vor sich und fand, daB er dem
Lord durchaus geschworen hatte, immer zu schweigen, ausge-
nommen eine Stunde vor seinem eigenen Tode. Wir werden
42. HUNDPOSTTAG 1183
noch wissen, daB er sich diesen besondern Artikel damals ausbe-
dungen, weil er einmal Flamrn zugeschworen hatte, sich mit ihm
von der Warte zu eturzen, wenn sie sich feindlich trennen miiBten,
und weil er jetzt, da ihm Klotildens Verschwisterung berichtet
wurde, voraus befurchtete, es konne zU jenem Trennen und Stiir-
zen kommen. Dann wollte er sich wenigstens die Freiheitvorbe-
halten, nur eine Stunde vor dem Sterben seinem Freunde zu sa-
gen, daB er unschuldig und die Geliebte Flamins nur eine -
Schwester sei.
10 »Also eine Stunde vor meinem Tode darf ich alles offenbaren?
- O Gott! - Ja! - - Ja! - ich will sterben, damit ich reden kann!«
rief er entziindet, pochend, aufgeweht, tiber das Leben gehoben.
- Der Sturmwind schlug die GieBbache des Himmels und die
zerstaubten Eisfelder an die Fenster, und der Tag sank dunkel
unter in der zusammenschlagenden Flut »0!« (sagte unser
Freund) »wie sehn' ich mich aus diesem schwarzen Sturm des
Lebens hinaus ■- in den stillen lichten Ather - an die feste unbe-
wegliche Brust des Todes, die den Schlaf nicht stort «
Wenn er dem Fursten es entdeckte, daB Flamin sein eigner
20 Sohn sei: so war dieser errettet, und er brauchte nur eine Stunde
darauf sich - umzubringen.
Und das wollt* er gern ; denn was hatt' er auf der Erde noch als
- Erinnerungen? O der Erinnerungen zu viel, der Hoffnungen zu
wenigl - Wen kummert sein Fall? - die Geliebte, die ihn doch
entbehret, oder ihren Bruder, den er rettet und fliehet, oder seinen
guten Lord, der vielleicht schon im Erdball ruht, oder seinen
Emanuel, dessen Hebende Arme schon zerfallen? - »Ja bloB diesen
geht mein Sterben an,« (sagt* er:) »denn er wird sich sehnen nach
seinem treuen Schiiler, er wird in einer Sonne die Arme offnen
30 und auf den Weg zur Erde niederschauen, und ich werde herauf-
kommen mit einer groBen Wunde auf der Brust, und mein stro-
mendes Herz wird nackt auf der Wunde liegen - o Emanuel, ver-
schmah mich nicht, werd* ich schreien, ich war ja unglucklich,
seit du gestorben bist, nimm mich an und heile die Wunde !«
- »Siehst du meinen Vater?« sagte der blinde Julius, und sein
Angesicht nahte sich einer lachelnden Entzuckung. Viktor er-
I I 84 HESPERUS
schrak und sagte: »Ich rede mit ihm, aber ich sehe ihn nicht!« -
Aber dies hemmte sein Erheben. Er war bisher der Paraklet und
Krankenwarter des armen Blinden gewesen; er konnt' ihn nicht
ver4assen, er muBte den Retraiteschvfi des Lebens verschieben auf
Klotildens Ankunft, damit diese den Hiilflosen beschirme. Ach
der gute Nachtwandler und Nachtsitzer (im eigentlichen Sinn)
hatte anfangs jeden Tag seinen Viktor gebeten, ihm ins Auge zu
stechen und das Licht wiederzugeben, eh' sein teuerer Vater aus-
einandergefallen ware, damit er das schone, von Wurmern noch
nicht untergrabene Angesicht nur einmal sahe, nur noch einmal, 10
ja er wollte wenigstens die kalte Larve blind betasten - das hatt*
er anfangs gebeten; aber in wenig Wochen hatt* er seine Arme
unter dem Toten weggezogen und sie ganz (wie ein wahres Kind)
mit aller seiner liebkosenden Liebe um den immer bei ihm zu Hause
bleibenden Viktor geschlungen. Auch in der Nacht reichten sie
sich aus ihren zwei nahen Betten die warmen Hande zu und gin-
gen, so verkniipft, in die Abendlander der Traume hinein. Den
kindlichen Blinden hatte sogar das fortklingende Getose des
Stadtgetummels, das seinem Dorfe abgegangen war, getrostet
Viktor erwartete also vorher die Ankunft Klotildens - ach, er 20
hatt' es auch ohne den Blinden getan. - MuBt* er nicht seine gute
Mutter noch einmal sehen, seine unvergeBliche Geliebte noch
einmal horen? — Ich kann es iibrigens nicht verheimlichen, daB
ihm nicht bloB die Rettung Flamins, sonderneigentlicher Lebens-
ekel die Hand bei seinem Todesurteil fiihrten. Im Urteil des mor-
derischen Ekels standen als Entscheidgriinde der Sonnenunter-
gang Emanuels - Viktors gelaufige Nachtgedanken uber unser
Lukubrieren des Lebens — seine ganzliche Umstiirzung seiner biir-
gerlichen Verhaltnisse - das ahnliche vergangene oder kiinftige
Muster des Lords — sein Lechzen nach einer Tat voll Starke — und 30
am meisten die Todeskalte um seine nackt gelassene Brust, die
sonst von so vielen warmen Herzen zugedeckt wurde. Man kann
Liebe und Freundschaft nur so lange entbehren, als man sie noch
nicht genossen hat - aber sie verlieren und ohne HorTnung ver-
lieren, dies kann man nicht, ohne zu sterben. Seinem Gewissen
macht* er den optischen Betrug und Theaterstreich vor, daB er es
42. HUNDPOSTTAG II85
fragte, ob er nicht seinen Freund aus dem Wasser mit Gefahr des
Lebens holen, ob er nicht vom Brette, das nur einen triage, in die
Wellen sturzen diirfe, um den Tod zum Kaufschilling eines andern
Lebens zu machen. - Zwei sonderbare Vorstellungen versiiBeten
ihm seinen Todes-EntschluB am meisten.
Die erste war, daB er am Todestage (nach der Entdeckung beim
Fiirsten) hingehen konnte ins Gefangnis zu Flamin und seine
Hand anfassen und sagen diirfte: »Komm heraus - heute sterb*
ich fur dich, damit ich dir beweisen kann, daB Klotilde deine
10 Schwester war und ich dein Freund - ich losche das schwarze
Wort, das erst am Todestage vergeben werden kann, mit meinem
unschuldigen Blute aus, und der Tod driickt mich wieder in dei-
nen Arm. - O ich tu' es gem, damit ich dich nur noch einmal
recht lieben und zu dir sagen kann : mein guter, teuerer, unver-
geBHcher Jugendfreund !« - Dann wollt' er ihm mit tausend Tra-
nen um den Hals fallen und ihm alles vergeben : denn nehen dem
Tode und nach einer grqfien Tat kann und darf der Mensch dem
Menschen alles, alles verzeihen.
Die weichere Seele errat leicht die zweite VersiiBung seines
20 Todes. - Diese, daB er noch einmal zur Geliebten hingehen und
es vor ihr denken, obwohl nicht sagen konnte: ich falle fur dich.
Denn er fiihlte es jetzo doch, dafi die beschlossene Scheidung
durch das Leben zu schwer sei und nur eine durch Sterben leicht —
o recht leicht und suB, empfand er, ists, vor der Geliebten das
nasse Auge zu schlieBen, dann nichts mehr weiter anzusehen auf
der Erde, sondern mit den hohen Flammen des Herzens und mit
dem an die Brust gedruckten teuren Bilde, wie die eingesargte
Mutter mit dem toten Liebling, blind an den Rand dieser Welt zu
treten und sich hinabzustiirzen ins stille, tiefe, dunkle, kalte Toten-
30 meer... »Du bist«, sagt* er oft, »in mein Ich gemalt, und nichts
macht dein Bild von meinem Herzen los; beide mussen, wie in
Italien Mauer und Gemalde darauf, miteinander versetzet wer-
den.« - Und da er jetzo nichts mehr nach seinem Korper zu fragen
brauchte: so durft' er'die Tranen, die ihn zerriitteten, absichtlich
vorreizen - er wollte ordentlich etwas von seinem Leben Klotil-
den bringen - daher macht* er einige Tage hintereinander die
1 1 86 HESPERUS
Proberolle der blutigsten Abschiedszene bis zur Erschopfung und
zeichnete seinen Schmerz mit Dinte ab und sagte zu sich, wenn
ihn daruber Kopfschmerzen und Herzklopfen befielen: »So kann
ich doch etwas fur sie leiden, wenn sie es auch nicht weiB.« —
Hier ist ein solches Trauerblatt :
»0 du Engel! Tat' es dir nur nicht zu wehe, so ging' ich zu dir
und fullete vor deinen Augen mein Herz so lange mit Tranen an,
mit Bildern der schonern Zeit, mit den bittersten Schmerzen, bis
es zersprengt ware und sanke - oder ich erlegte mich in deiner
Gegenwart, ach es ware siiBj wenn ich mein Herz mit Blei zer- i
schlitzte, indem es an deinem Busen lehnte, und wenn ich mein
Blut und Leben an deiner Brust abrinnen lieBe. - Aber o Gott!
nein, nein! Sondern, Gute, lachelnd will ich zu dir gehen, wenn
du wiederkommst - lachelnd will ich vor dir weinen, als war' es
bloB vor Freude iiber deine Wiederkehr - nur die Federnelke mit
dem roten Tropfen werd* ich von dir bitten, damit mein ge-
schmucktes Herz unter der letzten Blume des Lebens verwese. -
Ich werde wohl so nah vor dir bluten, himmlische Morderin, wie
die Leiche vor der Morderin, aber doch nur innerlich, und jeder
Bluttropfe wird bloB von einem Gedanken auf den andern fallen. 20
- Dann endlich werd' ich lange verstummen und gehen und auf
immer und nur sagen und mehr nicht: >Denk' an mich, Geliebte,
aber sei gliicklicher als bisher.< — Wo werd' ich dann gehen nach
einer Stunde? Ich werde gehen auf dem oden stummen Wege zum
giftigen Buo-Upas-Baum 1 , zum einsam stehenden Tode, und dort
ganz allein sterben, ganz allein. — Die Toten sind Stumme, sie
haben Glocken, und ein Stummer wird im Blauen schweben und
die Totenglocke lauten... O Klotilde, Klotilde, dann ist unsere
Liebe auf der Erde voriiber!«
*
Kennst du, Leser, noch die Stimme, die in seinem Innern allzeit jo
unter dem Weinen der Musik im Tonfall der Verse erklang? Hier
klingt sie wieder. - Aber sein Orkan des Entschlusses machte bald
1 Dieser Giftbaum steht in einer kahlen Wuste, weil er alles um sich totet,
und der Missetater reiset einsam zu seinem Gift, aber kehret selten zuriick.
42. HUNDPOSTTAG 1 1 87
sanfteren Taten und Stunden Platz, so wie der Herbststurm der
Tag- und Nachtgleiche sich in stille Nachsommertage auflosete.
Der Gedanke : »In einigen Wochen fliichtest du unter die Erde«
machte ihn zum Freigebornen und zum Engel. Er verzieh jedem,
sogar dem Evangelisten. Er fullte seine kleine Sphare mit einem
Lebens-Nachflor von Tugenden; und widmete seine kurzen
Stunden nicht siiBen Phantasien, sondern durftigen Kranken. Er
untersagte sich jeden Aufwand, um seinem Julius das vaterliche
Vermogen ungeschmalert zu lassen. Er war weder eitel noch stolz.
10 Er sprach freimiitig tiber und gegen den Staat; - denn was 1st so
nahe neben dem Sturm- und Wetterdache des Sargdeckels wohl
zu furchten? - Aber eben weil er bloB die Liebe zum Guten und
keine Leidenschaften und keine Feigheit in seinem Innern spiirte :
so widerstand er sanft und rukig; denn sobald nur der Mensch fur
sich selber uberfiihrt ist, daB er Mut fiir den Notfall verwahre : so
sucht er nicht mehr ihn vor andern auszukramen. Der Gedanke
des Todes machte ihn sonst zu humoristischen Torheiten ge-
neigt; jetzo aber nur zu guten Handlungen. Ihm war so
wohl, ihm erschienen die Menschen und die Szenen um ihn
20 in dem milden stillenden Abendlichte, worin er beide allemal
in den Krankheiten seiner Kindheit erblickte. Es schien, als
wollt* er (und es gelang ihm) durch diese Frommigkeit sein
Gewissen zur leserlichen Unterschrift seines eigenhandigen
Todesurteils bestechen. Wie dem verewigten Emanuel kamen
ihm die Menschen wie Kinder vor, das Erdenlicht wie Abend-
licht, alles sanfter, alles ein wenig kleiner, er hatte keine Angst
und Gier; die Erde war sein Mond: jetzt erriet er erst die Seele
seines Dahore ....
- Und du, mein Leser, fiihlest du nicht, du wurdest dich so
30 nahe vor der Klosterpforte des Todes ebenso veredeln? Aber ich
und du stehen ja schon davor; ist unser Tod nicht so gewiB als
Viktors seiner, wiewohl in einem langern Zwischenraum? O wenn
jeder nur gewiB glaubte, nach 50 Jahren an einem bestimmten
Tage fiihrte ihn die Natur auf ihren Richtplatz: er war' anders;
aber wir alle werfen das Bild des Todes aus unserer Seele, wie die
Schlesier es am Latare-Sonntag aus den Stadten werfen. Der Ge-
1 1 88 HESPERUS
danke und die Erwartung des Todes bessern so sehr als die Ge-
wiBheit und Wahl desselben.
Jetzo zogen die schonen blauen Nachsommertage des heurigen
Oktobers auf zarten Phalanenfltigeln von Spinnengeweben iiber
den Himmel. Viktor sagte zu sich: »Schdner Erdenhimmel, ich
will noch einmal unter dir wandeln! Gutes Mutterland, ich will
dich noch einmal mit deinen Bergen und Waldern iiberschauen
und dein Bild in die unsterbliche Seele heften, eh' dein gelbes
Griin mein Herz uberwachset und darin einwurzelt - ich will dich
sehen,St. Liine meiner Kindheit, und meine schonen Pfingstwege 10
und dich, du seliges Maienthal, und dich, du guter alter Bienen-
vater 1 , und will dir deine Freudenstunden-Uhr zuruckgeben —
und dann werd* ich genug gelebt haben.«
Er fragte sich: »Bin ich denn reif fur die Obstkammer des
Kirchhofs? - Aber ist denn irgendein Mensch reif? 1st er nicht im
90sten Jahr noch unvollendet wie im 2osten?« - Jawohl! der Tod
nimmt Kinder ab und Feuerlander; der Mensch ist Sommerobst,
das der Himmel brechen muB, eh* es zeitigt. Die andere Welt ist
keine gleichgestellte Allee und Orangerie, sondern die Baum-
schule unserer hiesigen Samenschule. 20
Ehe Viktor mit Kiissen und Weinen vom Blinden ging: be-
schied er abends vorher die arme Marie ins Kabinett und empfahl
ihr (wie dem italienischen Bedienten) die Pflege des Blinden. Aber
seine Absicht war, der zerbrochenen kraftlosen Seele die HofF-
nung einiger 100 fl. - soviel durft' er schon als Erbschaft von sei-
nem bemittelten Vater Eymann begehren - vorauszugeben und
anzukundigen. Der Eigennutz dieser Erniedrigten, der andere kalt
gemacht hatte, riihrte gerade sein Innerstes; schon langst hatt* er
gesagt : »man sollte mit keinem Menschen Mitleid haben, der philo-
sophisch oder erhaben dachte, am wenigsten mit einem Gelehrten 30
- bei einem solchen gingen die Wespen-Stiche des Schicksals
kaum durch den Strumpf - hingegen mit der armen Pobelseele
leid' er und wein' er unendlich, die nichts GroBeres kenne als die
Giiter der Erde, und die, ohne Grundsatze, ohne Trost, bleich,
hulflos, zuckend und erstarret niederfalle vor den Ruinen ihrer
1 Zeidler Lind in Kussewitz.
42. HUNDPOSTTAG 1 1 89
Guter.« - Es verdoppelte daher bloB sein Mitleiden, da diese
Marie in sinnloser Dankbarkeit vor ihm mit abgerissenen Dank-
sagungen - Ausrufungen - Freudengussen - mit RockkuB, ein-
faltigem Lachen und Niederknien wechselte.
AIs er den andern Morgen ging - zuerst auf St. Liine - und
vor dem Marienkloster voriiberkam, wo einmal die angenom-
mene Tochter des Italieners Tostato einen sechsten Finger op-
fern wollte: so kam Marie aus einer Glieder-Bude 1 heraus und
hatte zwei wachserne Herzen erhandelt. Viktor brachte durch
10 langes und kunstliches Fragen aus ihr heraus: sie wolle das eine,
das ihres vorstelle, der heiligen Marie umhenken, weil ihres ihr
nicht mehr so wehe tue und nicht so eingepresset sei wie vorige
Woche. - Ober das zweite wollte sie lange nicht heraus; endlich
gestand sie: es sei Viktor seines, das sie der heiligen Mutter Got-
tes opfern wollte, weil sie dachte, es tu ihm auch recht weh*, da er
so bleich aussehe und so oft seufze. — »Gib mirs, Liebe,« (sagte
er zu tief bewegt) »ich will mein Her^ selber opfernA
»Ja,« wiederholt' er unter dem stillen Himmel drauBen, »das
Herz hinter der Brust will ich opfern - es ist auch von Wachs -
20 und der Mutter Erde will ichs geben, damit es heile - heile — «
Lasset ihn immer weinen, meine Freunde, jetzo da er lachelnd
die stille blasse Erde anblickt, hinauf bis zu ihren Bergen voll Duft.
- Denn Weichheit der Empfindung vertragt sich gern mit Ver-
steinerung und Passauer Kunst gegen das verletzende Geschick. -
Lasset ihn immer weinen, da er diese blumenlose, gleichsam in die
Seide des fliegenden Sommers sich einspinnende Erde ansieht und
ihm ist, als muss' er niederfallen und die kalte Aue wie eine Mutter
kiissen und sagen : bluhe friiher wieder auf als ich, du hast mir
Freuden und Blumen genug gegeben ! - Das stille Auseinander-
30 gehen der Natur, auf deren Leiche die vollbliihende Zeitlose
gleichsam wie ein Totenkranz stand, legte durch dieses auf losende
Reiben seine Krafte sanft auseinander - er war ermiidet und ge-
stillt - die Natur ruhte um ihn, er in ihr - die Erschopfung floB
1 Um mehre Kapellen (s. Schlotzers Briefwechsel T. III. Heft XVIII. 45)
stehen Warenlager von wachserne n Gliedern und Tieren, die man als Ohren-
und Armgehenke fur Heilige kauft, damit die Urbilder genesen.
1 19O HESPERUS
beinahe in eine siiBe kitzelnde Ohnmacht iiber - die Tranendriise
schwoll und driickte nicht mehr, eh' sie iibertrat, sondern ihr Was-
ser lief wie Tau aus Blumeh leicht und ohne Stocken nieder, wie
das Blut durch seine Brust.
Er sah jetzo St. Liine liegen, aber gleichsam entriickt von ihm,
in einem Mondschein. Er ging nicht hindurch, um nicht die
Wachsstatue zu erblicken, deren Leichenpredigt er gehalten und zu
der er auch ein Herz. aus Wachs besaB, sondern er ging auBen
herum: »Werde immer breiter und lauter, schoner Ort, nie um-
zingle dich ein Feindk Mehr sagt* er nicht. Denn als er vor dem 10
Kirchhof voriiberging, dacht' er: »Haben denn nicht diese auch
a lie von dem Orte Abschied genommen; und tu' ichs allein?« -
BloB der Zuriickblick nach dem Pfarr-Schieferdach entziindete
noch einen Blitz des Schmerzens durch den Gedanken an die
mutterlichen Tranen iiber seinen Tod ; aber er sagte sich bald den
Trost, daB das an Flamin gewohnte Mutterherz der Pfarrerin den
Kummer iiber das Opfer heilen werde durch die Freude iiber den
geretteten Liebling.
Er ging nun auf Maienthal zu und zog mit FleiB seine traumen-
den Gedanken von dessen erhabnen Stellen ab, um (abends bei 20
der Ankunft) desto mehr - Schmerz zu genieBen. Aber nun spann
sich sein Ich in ein neues Gedarikengewebe ein : er iiberdachte das
Vergniigen, ohne alle Krankennachte hell und gerade, nicht lie-
gend, sondern aufgerichtet wie der Riese Canaus 1 in die Erde ein-
zusinken - er fiihlte sich geschirmet gegen alle Unfalle des Lebens
und gereinigt von der stets in jedem Herzen fortnagenden Furcht
- alles dieses und die Freude an erfiillten Pflichten und an be-
zwungnen Trieben und die Lichter des blauen, gleichsam im Blu-
menstaube stehenden Tages klarten seinen umgeriittelten Lebens-
strom so auf, daB er zuletzt langer (wenns ihm nicht sein BeschluB 30
verbote) im heilen Strome hatte spielen wollen... So groB wird
durch die Verachtung des Todes die Schonheit des Lebens - so
gewiB ist jeder, der mit kaltem Blut sich das Leben abspricht, ver-
mogend, es zu ertragen - so wahr rat Rousseau, vor dem Tode
1 Die Zentauern konnten ihn nicht mit Baumen umschlagen, sondern
muBten ihn stehend in die Erde driicken. Orph. Argonaut. 168.
42. HUNDPOSTTAG 1*9 I
eine gute Tat zu unternehmen, weil man jenen dann entbehren
kann - Als Viktor so dachte: trat das Schkksal vor ihn und
fragte ihn ziirnend: »Willst du sterben?« - Er antwortete: »Ja l«
- da er vor Sonnenuntergang in Obermaienthal Klotildens Wagen,
den er da bei der Abreise gesehen, wieder erblickte. Jetzo fiel die
Todeswolke uber die Gegend nieder. Er eilte voriiber - am Fen-
ster sah er seine Mutter und die Lady, die Mutter Flamins — sein
Inneres brauste - seine Augen gliihten trocken - denn er wahlte
unter den Waffen des Todes. - Warum ging er so spat, im Dun-
10 kein, mit einem sturmenden Innern, das alle siiBen Traume ver-
finsterte, noch nach Maienthal? - Er wollte zu Emanuels Grabe :
nicht um da zu trauern, nicht um da zu traumen; sondern um sich
da eine Hohle zu suchen, namlich die letzte. Der reiCende Gram
hatte ein Gemalde seines Sterbens entworfen, und er hatte den
RiB gebilligt: er wollte namlich, sobald das Verhangnis die Not-
wendigkeit seines Todes durch das Verschwinden seines Vaters
und durch die Gefahr Flamins entschieden hatte, nebender Trauer-
birke sein Grab aushohlen, sich hineinlegen, sich darin toten und
sich dann von dem blinden Julius, der nichts wissen und sehen
20 kann, mit Erde uberschiitten lassen und so, verhullt, unbekannt,
namenlos aus dem Leben fliehen an die modernde Seite seines
Emanuels ....
Schwarze Leichenziige von Raben flogen langsam wie Gewolk
durch den sonnenlosen Himmel und senkten sich wie Gewolk in
die Walder nieder- der halbe Mond hing uber der Erde - ein klei-
ner fremder Schatten, so groB wie ein Herz, lief furchterlich
neben ihm, er sah auf, es war der Schatten eines langsam schwe-
benden Geiers. - Er riB sich durch Maienthal, er sah nicht den
entblatterten Garten und Dahores verschlossenes Haus, sondern
3 o lief durch die Kastanienallee der Trauerbirke entgegen. —
Aber unter den Kastanien am Orte, wo ihn Flamin toten
wollte, sah er Klotildens welke Federnelke mit dem blutigen
Kelch-Tropfen liegen . . . Und da noch eine Lerche, die letzte San-
gerin der Natur, uber dem Garten zitterte und alien Fruhlingen
des Lebens mit zu heiBSn Tonen nachrief und das Herz mit einem
unendlichen todlichen Sehnen durchschnitt : so weinte mein Viktor
1 192 HESPERUS
laut hinauf, und als er oben auf dem Grabe die groBen diistern
Tranen abgewischt hatte, stand - Klotilde vor ihm.
Er erzitterte einmal und verstummte .... Sie kannte kaum die
abgebleichte Gestalt und fragte zitternd: »Sie sinds? Sehen wir
uns wieder?« - Seine Seele war auseinandergetrieben, und er
sagte, aber in anderem Sinn : »Wir sehen uns wieder.« Sie bliihte,
durch die Reise genesen. Aber Blut war in ihrem Schnupftuch —
es war das Blut, das Emanuel unter dem Duell in der Allee aus
seinem Busen vergossen. Er starrte fragend das Blut an — sie wies
auf das Grab und verhullte ihr weinendes Auge. - Mit der Frage: 10
»Ist Ihr Herr Vater gekommen?« wollte die Gute sanft ablenken -
aber sie lenkte ihn an sein Grab - sein Auge suchte wild den
Raum zur letzten kuhlen Grotte des Lebens - sie hatte ihren sanf-
ten Geliebten niemals so gesehen und wollte seine Seele mildern
durch stilles Erinnern an Emanuel - sie fullte die leere Stelle ihres
Briefes aus und erzahlte, wie gefaBt und still der Tote aus Eng-
land gegangen und vorher beim Abschiede in eine auBerordent-
I!ch tiefe Hohle des verfallnen Tempels alle seine ostindischen
Blumen, drei Bilder, beschriebene Palmblatter und geliebte
Aschensammlungen hinabgesenkt habe — 20
Viktor war auBer sich — er stemmte seine Hand aufs taukalte
nasse gelbe Grab — er weinte in einem fort und konnte die Ge-
liebte nicht mehr sehen - er stiirzte an ihren bebehden Mund und
gab ihr den AbschiedkuB des Todes. Er durfte sie kussen, denn
Tote haben keinen Rang. Er fiihlte ihre stromenden Tranen, und
eine harte Sehnsucht ergriff ihn, diese Tranen hervorzureizen;
aber er konnte nur nicht reden. Er erstickte ihre Worte durch
Kiisse und seine durch Qual. Endlich konnte er sagen : »Lebe wohl !«
Sie wand sich erschrocken los und blickte ihn an mit groBern Tra-
nen und sagte: »Wie ist Ihnen? Sie brechen mir das Herz!« - Er 30
sagte: »Nur meines muB brechen !« und riB das Herz von Wachs
heraus und quetschte es auf dem Grabe auseinander und sagte :
»Ich opfre dir mein Herz, Emanuel, ich opfre dir mein Herz.« Und
als Klotilde furchtend entflohen war: konnt' er ihr nur mit er-
schopften Tonen noch riachrufen: »Lebe wohl, lebe wohl!«
43- HUNDPOSTTAG 1 1 93
43. HUNDPOSTTAG
Matthieus vier Pfingsttage und Jubilaum
Es ist ein Kunstgriff, daB ich wahre Spitzbuben-Szenen in den
hohern Standen vorher franzosisch niederschreibe und dann ver-
dolmetsche, wie Boileau seine welken Verse vorher in Prose auf-
setzte. - Da mir am 43sten Hundtage gelegen ist - weil der edle
Matz darin seinen Flam in sogar mit Aufopferung seiner Tugend
und des Lords zu retten sucht -: so gedenk' ich ihn aus dem Fran-
zosischen, worin ich ihn geschrieben, so getreu ins Deutsche zu
10 ubersetzen, daB mein franzosischer Autor selber mir seinen Bei-
fall schenken soli.
Kaum horte Matthieu, daB Klotildens und Flamins Mutter aus
London gekommen: so marschierte dieser Reineke aus seinem
Fuchsbau nach Flachsenfingen, weil er sich die Ehre, Flamin zu
erlosen, von niemand nehmen lassen wollte. Er griff, seines
Feuers ungeachtet, dem Zufall selten vor, sondern er paBte und
schob nur da oder dort nach: - wie in einem Roman, so hake In
sich im Leben tausend leise zusammengeruckte Geringfugigkei-
ten endlich fest ineinander, und ein guter Matz zwirnet aus zer-
20 tragenen Spinngeweben des Zufalls zuletzt einen ordentlichen -
Seidenstrick fur seinen Nebenmenschen. — Er lieB sich kiihn beim
Fiirsten eine geheime Audienz auswirken, »weil er lieber der
Strafe (wegen der Foderung zum Duell) entgegenkommen, als
uber einige wichtige Dinge langer schweigen wolle«. Wichtige
und gefahrliche waren langst bei Jenner verwandt, jetzt aber gar
identisch, weil ihn die Fiirstin an jedem Morgen mit einigen
Strophen aus dem BuB- und Eulenliede uber Aufruhr, Anker-
strome und Propagandisten ansang. Sie und Schleunes bliesen in
ein Horn, wenigstens aus ihm eine Melodie.
jo Matthieu trat ein und langte das groBe Wichtige hervor - die
kahle Bitte um Flamins Leben. Jenner sagte ein ebenso kahles
Nein; denn der Mensch ist ebenso unwillig auf den, der ihn in eine
ungegrundete Furcht, als auf den, der ihn in eine gegriindete jagt.
Matthieu wiederholte kalt sein Gesuch : »Ich bitte Ew. Durchlaucht
1 1 94 HESPERUS
bloB, nicht zu glauben, da3 ich jemals die bio Be Freundschaft fur
eine hinlangliche Entschuldigung einer salchen kiihnen Bitte hal-
ten wtirde - die Pflicht eines Untertanen ist meine Entschuldi-
gung.« - Jenner, den das unhofliche Zuruckziehen verdroB, brach
es ab : »Der Schuldige kann nicht fur den Schuldigen bitten .« -
»Gnadigster Herr,« - sagte der Evangelist, der ihn in Furcht und
Harnisch zugleich zu jagen suchte - »zu jeder andern Zeit als in
der unsrigen wiird' es ebenso straflich sein, gewisse Dinge zu er-
raten oder zu weissagen, als sie zu beschlieBen - aber in unserer
sind diese drei Dinge leichter. Auf den Tag, wo der Regierrat 10
sein Leben verlieren sollte, ist ein Plan berechnet, den einige zur
Erhaltung des seinigen auf Kosten des ihrigen gemacht haben.«-
Der Furst - entrustet iiber die Kiihnheit, die sonst nicht in der
Sckneelinie 1 der Hofe, sondern nur in der demokratischen Gleicher-
linie wohnt — sagte mit dem Todesurtel, das Matz langst in sein
Gesicht hineinhaben wollte : »Ich werde Ihnen morgen die Namen
der Elenden abfodern lassen, die ihr Leben preisgeben wollen, um
die Gerechtigkeit zu storen« Hier fiel dieser vor ihm nieder
und sagte schnell: »Mein Name ist der erste - jetzt ists meine
Pflicht, ungliicklich zu werden - mein Freund hat niemanden ge- 20
totet, sondern ich - er ist nicht der Sohn eines Priesters, sondern
der erstgeborne Sohn des getoteten Herrn Le Baut«...
Solan g' es noch Pfeilerspiegel gab, so sah nie ein so besturztes
auseinandergefahrnes Gesicht aus ihnen als heute. Jenner lieB ihn
abtreten, um sich wieder zusammenzulesen.
Wir wollen jetzo in dem Vorzimmer drei Worte iiber den Ab-
wesenden reden. Mir sagte einmal ein feiner Mann, er habe ein-
mal zu einem groBen Weltkenner gesagt: »der Fehler der GroBen
ware, sich selber nichts zuzutrauen, und daher wiirden sie von
jedem gelenkt«; und der Weltkenner habe geantwortet: er trefF 30
es. - Jenner war Matzen gram, und das bloB seines satirischen und
wolliistigen Gesichts wegen - aber nicht etwan seiner Laster
wegen. Ich setze voraus, der Leser wird doch Hofe genug ge-
sehen haben - auf dem Theater, wo die hoheren Stande ihre Be-
1 So heifiet die von Bouguer bestimmte Erhebung iiber das Meer, auf der
die Berge in alien Zonen beschneiet sind.
43- HUNDPOSTTAG 1195
griffe von Landleuten und wir unsere von ihnen abholen ^, urn
zu wissen, was man da hasset — keine Lasterhaften, nicht einmal
Tugendhafte, sondern beide liebt man wirklich (gerade wie dasige
Bratschisten, Handwerker, Wetzlarer Prokuratoren, Intendan-
ten), sobald man sie notig hat.
Der Junker kam wieder vor. Jenner hatte das suBe vaterliche
Wallen iiber die Neuigkeit, da er bisher alle seine Kinder verloren
gegeben, gestillt; aber er begehrte jetzt den Beweis, da8 Flamin
der (angebliche) Sohn des Kammerherrn sei. Urns Duell kiim-
10 merte er sich gar nicht. Der Beweis war der aufrichtigen Seele
leicht zu fuhren : die Seele berief sich geradezu auf die Mutter, die
eben gerade aus London eingetroffen, um den Sohn zu retten,
und auf die Schwester selber. — Die Seele hatte wieder den Vor-
dersatz, daB beide Kenntnis davon hatten, zu erweisen : - Matthieu
berief sich auf den Brief der Mutter, den er vor einigen Jahren
dem blinden Lord mit der angenommenen Stimme Klotildens
vorgelesen, und auf der Schwester Ausruf unter dem Duell im
Maienthaler Park: »Es ist mein Bruder« - und zuletzt fuhrt* er
noch einen Hauszeugen in der Sache auf, den Nachsommer, der
20 jetzt bald erscheinen und das Apfel-Muttermal, das Le Bauts Sohn
auf der Schulter trage, neu aufmalen werde.
Matthieu hatte zu viel Hochachtung gegen seinen Fiirsten und
Herrn, um den Herrn des Sohns den Vater des Sohns zu nennen.
Jetzt horte er damit auf: »er wisse nicht, aus welchen Griinden der
Lord Horion bisher Flamins Abkunft verborgen habe - welche
es aber auch seien, alle Entschuldigungen desselben waren auch
seine, warum er selber bisher geschwiegen - um so mehr, da ihm
der Beweis dieser Abstammung schwerer fallen mussen als dem
Lord. - Nur jetzt durch die Ankunft der Mutter sei die Leichtig-
30 keit des Beweises so groB wie die Notwendigkeit desselben. -
Alles, was er tun konnen als ein Hausfreund des Kammerherrn,
sei gewesen, Flamins Vertrauter zu werden, um sein Wachter zu
werden.«
Dadurch wurde notwendig der Fiirst auf die Materie des Duells
zuriickgefuhrt, die jener anfangs nach wenigen Winken fallen las-
sen. Es war sein Geschaftgang, von einer ihm wichtigen Ange-
I I96 HESPERUS
lcgenheit bald abzubrechen, iiber andere Dinge ebenso
lange zu sprechen, dann jene wieder vorzuholen und so das
Wichtige unter ebenso groBe Lagen von Unwichtigem zu ver-
packen, wie die Buchhandler konfiszierte Bticher bogenweise
unter weiBes oder anderes Papier verschlichteri. Auch war jetzt
Flamins Unschuld am Mord fur Jenner wichtiger; dieser fragte
also naturlicherweise, warum er seinen Freund dem Scheine des
Zweikampfes preisgegeben habe.
Matthieu sagte, es werde lange, und es sei kiihn, Se. Durch-
laucht um so viel Aufmerksamkeit zu flehen. Er hob an zu be-
richten, was - die Hundposttage bisher berichtet haben. Er log
wenig. Er hinterbrachte, er habe, um Flamins Liebe fiir seine un-
bekannte Schwester Klotilde zu brecken - wenigsten mehren wollt'
er sie — , ihn eifersuchtig machen wollen, aber er habe ihn mit nie-
mand entzweien konnen als mit dem Liebhaber; ja, es habe nicht
einmal etwas gefruchtet, daB et ihn selber den Ohrenzeugen der
sehr verzeihlichen Untreue Klotildens werden lassen, sondern
jener habe noch zuletzt iiber die Verlobung der Schwester eine
Wut geauBert, die er durch nichts als durch die Vorspiegelung
eines verkappten Duells mit dem Vater befriedigen konnen - ;
denh um einen zweiten Kampf zwischen Vater und Sohn, den das
Schweigen des Lords angezettelt, abzuwenden, nab* er ihn selber
unternommen, aber leider zu unglucklich.
So weit der Edle. Die uns bekannten wahren Einschiebsel unter-
schlag' ich. Jenner, der nun dem Evangelisten fiir die Wegnahme
einer Furcht gewogen wurde, in die er ihn selber gesetzt hatte,
tat die natiirliche Frage: »warum Flamin den Mord auf sich
nehme?« - Matthieu; »Ich fliichtete sogleich, und es stand nicht
bei mir, seine Unwahrheit, deren ich mich nicht versehen konnte,
zu verhiiten; aber es stand bei mir, sie zu widerlegen.« - Jenner: 3
»Fahren Sie in Ihrer Freimutigkeit fort, sie ist Ihre Schutzschrift,
weichen Sie nicht aus!« - Matthieu mit einer freiern Miene: »Was
ich zu sagen wuBte, hab' ich schon gesagt im Anfange, um ihn zu
retten; und jetzt ist er gerettet.« - Jenner sann zuriick, begriff
nichts und bat: »Noch deutlicher!« - Matthieu mit der absicht-
lichen Miene eines Menschen, der Versilberungen seines Vortrags
43* HUNDPOSTTAG 1 1 97
zurechtmacht: »aus GroBmut wiird* er fiir den gestorben sein (fur
Matzen), der fiir ihn gesiindigt hatte, wenn ihn nicht seine Freunde
retteten.« Jenner schiittelte unglaubig den Kopf. »Denn«, fuhr
jener fort, »da er seinen hohern Stand nicht kennt, so nahm er
einige franiosische Grundsatze leichter an, die ihm seinen Tod
ebensosehr erleichtert hatten, als einige Englander sie wiirden
beim Volke genutzt haben, um ihn zu verhiiten.« Zum Beweis
fiihrt' er den angeziindeten Pulverturm nebenher an.
Jenner sah staunend ein Licht in eine dunkle Hohle gleiten und
10 sah weit in die Hohle hinein.
Man tut dem vortrefflichen Evangelisten unrecht, wenn man
denkt, es tu* ihm genug, bloB seinen Freund gerettet zu haben;
sein gutes Herz war auch noch darauf aus, dem Lord eine Ehren-
saule zu setzen und ihn unter die Saule als Grundstein zu legen.
Er quartierte gern (wie in Hamlet) in dem Schauspiel wieder eines
ein und zog zwei Theatervorhange auf. Wir wollen uns in die
erste Loge setzen. Sein bisheriges Betragen gegen den Regierrat
zeigt genug, wie weit er wahre Freundschaft zu treiben fahig war,
ohne andere Freunde, z.B. die Fiirstin, vor den Kopf zu stoBen;
20 denn fiir die letzte war der Wiederfund des verlornen Sohns des
Fiirsten ohne sonderlichen Nachteil, da der Sohn als jakobinischer
Logenmeister und als Rebell gegen den Stief- und den Vater zu-
gleich prasentiert wurde, und da noch dazu der Lord so entsetz-
lich dabei verlor. Aber weil Matthieu sich nichts dabei vorzuwer-
fen hatte als sein ObermaB an Menschenliebe : so suchte er diesem
ObermaB durch ein entgegengesetztes in der Bosheit zu begeg-
nen, weil Bako schreibt: Obertreibungen werden am besten durch
entgegengesetzte kuriert. Nach seinen zu feungen BegrifFen von
der Freundschaft konnt' er auch kein echter Freund des Lords
30 sein, da man nach Montaigne nur einen echten, wie einen Lieb-
haber, haben kann, und der Lord schon einen dergleichen an Jen-
nern aufzeigte.
Man vergonne mir, mit drei Worten kurz zu sein und ange-
nehm: wenn die Araber 200 Namen fiir die Schlange haben, so
sollten sie gar den 20isten dazulegen, den eines Hoflings - ferner
erlaube man mir zu sagen, daB ein Mann von Ein flu B und Ton
durch sogenannte Blutschuld ebensogut bliihe als ein gahzer
Staat durch elendere metallische. -
Jenner war jetzo vorbereitet, alles zu glauben, was die vorigen
sonderbaren Dinge erklarte. Eine Luge, die einen Knoten loset,
ist uns glaublicher als eine, die einen knupft. Matthieu fuhr fort:
»er habe alien republikanischen concerts spirituels beigewohnt,
um MaBregeln gegen Flamins Ansteckung zu nehmen; und er
iibertreibe die Freundschaft gegen die drei Englander und den
Lords-Sohn (Viktor) nicht, wenn er jene und diesen mehr fur
Arbeitzeug irgendeiner andern verborgnen Hand ansehe als fiir 10
Arbeiter an einem Plane selber. - Das bestatige der bisher vom
unschuldigen Flamin gemachte MiBbrauch.«— Um Viktor zu ent-
schuldigen, sagt' er - wobei er ihn immer den Hofmedikus be-
namsete, so daB Jenner in dieser Verfassung an einen HofVergifter
eher dachte als an etwas anderes - um also ein vorteilhaftes Licht
auf diesen zu werfen, sagt' er, selbiger liebe bloB das Vergnugen
und fuhre nur gehorsam das aus, was sein Vater entworfen - Vik-
tor habe sich in einen Italiener verkleidet, um die Prinzessin zu
beobachten, und um es nachher dem Lord, auf dessen Befehl ers
vermutlich getan, in einer geheimen Zusammenkunft auf einer 20
Insel zu berichten. - Als Italiener nab 1 er der Fiirstin eine Uhr
iiberreicht, in die er ein Blattchen versteckt, worin er den hohern
Rang vergessen, um dem seinigen zu schmeicheln.
Der Fiirst, der seine Gemahlin mit groBerer Eifersucht Iiebte
als seine Braut, fegte mit dem schlagenden Puterhahns-Flugel den
Boden und machte den Nasen-Zapfen lang und fragte stolz: wie
er das wisse? - Matthieu versetzte ruhig: »von Viktor selber -
denn die Fiirstin wiss* es selber nicht «....
Mir verdankt es der Leser, daB er tausend Dinge besser weiB -
Agnola wuBte den Inhalt der Uhr gewiB recht gut; ja ich stelle 30
mir sogar vor, sie habe, da ihr die erzurnte Joachime Viktors ge-
rades Gestandnis seines concepit hinterbrachte, Matzen oder Jo-
achimen erlaubt, den gegenwartigen Gebrauchzettul zu entwer-
fen, nach welchem hier der Eheherr das Sebastiansche billetdoux
einzunehmen bekommt. -
- »sie habe vielmehr« (fuhr er fort) »seiner Schwester lange dar-
43* HUNDPOSTTAG 1199
auf die Uhr mit dem Blattchen geschenkt - Joachime hab* es in
Viktors Gegenwart herausgezogen, und der hab* es fur schick-
lich gehalten, ihr eben dieses frei zu bekennen, was sie und er sel-
ber aus Ehrfurcht noch nicht der Fiirstin entdeckt hatten. — In-
zwischen sei ihm seine Schwester darauf ausgewichen - worauf
er sich Klotilden genahert, vielleicht nach einer vaterlichen In-
struktion, um den Bruder in nahern Verhaltnissen zu haben. -
Aber allemal misch' er in vaterliche Plane des Ehrgeizes eigne des
Vergniigens und sei gutgesinnt, so wie die Englander, die er fiir
10 verkappte Franzosen halte.«
Der Fiirst versteckte unter dem ganzen Vorhalten dieser arti-
gen Schlangenpraparate seine Furcht unter Zorn;\Matthieu, der
die Maske und das Gesicht sah, schnitt bisher alles nach jener zu
und machte den. scheinbaren Mangel an Furcht zum Deck-
mantel seiner Kiihnheit, sie zu erregen. - Und so ging er vom
Fursten weg in einen unbestimmten spaBhaften Arrest fiir
deri Mord; Jenner ring aber an, die Sachen und Zeugen zu
untersuchen.
Vor dem Berichte des Erfolges lasset mich esgern gestehen,
20 daB Matz, der Edle, schon liigen kann y um so mehr, da er die
Wahrheit als Sparrwerk seines Liigen-Mortels hinsetzt. Wie im
polnischen Steinsalzbergwerk lasset der gute Liigner beim Unter-
graben immer so viele Wahrheiten zu Saulen stehen, als gegen das
Einbrechen des Gewolbes notig sind. Oberhaupt ist jede Liige
ein gluckliches Zeichen, daB es noch Wahrheit in der Welt gibt;
denn ohne diese wiirde keine geglaubt und also keine versucht.
Bankerutte machen dem Rechtschaffenen Freude als neue Belege
des unerschopften Religionfonds von fremder Ehrlichkeit, die
vorhanden sein muBte, wenn sie sollte betrogen werden. Solange
30 noch Krieg- und Friedentraktate schandlich gebrochen werden,
so lange ist noch Hoffnung genug da, und so lange fehlt es Hofen
an echter Redlichkeit nicht; denn jeder Bruch eines Vertrags
setzet voraus, daB man einen gemacht hat - und gemacht konnte
keiner mehr werden, wenn kein einziger mehr gehalten wurde.
Es ist mit den Liigen, wie mit den falschen Zahnen, die der Gold-
faden nur an ein paar echte hinterbliebene schlieBen kann. -
1200 HESPERUS
Jenner fing die Miinzprobationtage des Matthaischen Evange-
liums an.
i) Der Pfarrer wurde vorgeladen, urn in Gegenwart der lan-
desherrlichen Hoheit zu bekennen, was er fur Zusammenrottun-
gen im Priesterhause geduldet. Der schlug in Oemlers Pastoral-
theologie nach, um zu ersehen, wie sich ein Pfarrer zu benehmen
habe, der gehenkt werden soil. Ohne Murren Iegte er jetzo den
Hals vor kleinern maBigen Ungliickfallen auf den Block und un-
ter das Beil, vor dem Rattenkonig, der durch seine Behausung
sausete, vor dem Strumpfband, das unter dem Gehen langsam 10
iiber die Kniescheibe abglitt, und vertauschte die Angstlichkeit
des Gliicklichen gegen die Angst des Ungliicklichen. Im Verhore
sagt* er, er habe an heiliger Statte und an anderer auf die Klubs so
gut als einer geschmalet und sich deswegen den Girtanner ge-
kauft. Auf die Frage: ob Flamin sein Sohn sei? versetzte er trau-
rig : er hoffe, seine Frau breche seine und ihre Ehe nie. - Als er
wieder nach Hause kam, nahm er, um nur nicht in der Angst der
Verhaftung zu sein, einen Biindel alter Predigtmanuskripte in
einen Steinbruch hinein und lernte sie da auf drei bis vier Sonn-
tage vorher auswendig. 20
2) An demselben Tage stattete der Minister von Schleunes (aus
Gefalligkeit gegen die Fiirstin) einen Besuch in Le Bauts Hause
ab und teilte der Lady und Klotilden aufrichtig die laufenden Ge-
ruchte iiber Flamins Abkunft mit. Beide Damen mufiten glauben,
Viktor habe die letzte dem Fiirsten entdeckt, um den Ungliick-
lichen zu retten. Wie hatten sie ihm nicht nachahmen sollen, da
ihnen die eiserne Birn des Schwurs von der Zunge und aus dem
Munde genommen war, und da man ein Geheimnis verletzen darf,
wenn man sonst die Wahrheit verletzen miiBte, und da die zarten
Seelen sich nun so herzlich iiber diese offne Jubeljahrtur im Ge- 50
fangnis ihres Lieblings freueten? - Mit einem Wort: der Minister
brachte nichts zuriick als Bekraftigungen der Hypothesen seines
Sohnes.
3) An demselben Tage wurde der Kaufmann Tostato vom
Grafen O iiber seinen Buden-Mitarbeiter und Viktor vom Pater
iiber den Verfasser des Hirten- oder Schaferbriefes in der Uhr
43 • HUNDPOSTTAG 1 20 1
erforscht und dann vernommen. Auch hier hatte Matthieu, wie
zu erwarten, die Wahrheit ganz auf seiner Seite; Viktor war jetzt
zu stolz, zu fromm, zu resigniert, um zu verhehlen.
4) Alle Sunden-Kerbholzer in Kussewitz und iiberall grirTen
ineinander ein; sogar aus Viktors vorigem Mittleramt, das er
sonst beim Fiirsten fiir Agnola versah, aus seinen kleinen Unbe-
sonnenheiten, aus seinen Satiren, aus seiner Hosen-Einkleidung
der Soldatenjungen, aus seiner Reise mit dem Fiirsten wurde nun
lauter Zugwerk und Grundstriche einer gegen den Thron ent-
10 worfenen Schlachtordnung zusammenbuchstabiert. Oberhaupt
wars notwendig, Jenner muBte, je mehre Sehrohre er auf diese
Lufterscheinung der Luge richtete, sie nur desto groBer erblik-
ken. -
Ich habe die Furstin vergessen, die sich bei Jenner uber das
Billet sehr beleidigt und unwissend anstellte und kaum mit der
Strafe zufrieden war, daB dem Helden der Hundposttage der Hof
verboten wurde. - Der Hof- dir, guter Viktor! der du bald die
Erde dir verbieten willst!
Jenner iibersah leicht vergangne Beleidigungen, aber er riigte
20 streng \ukunftlge. Und da noch dazu Matz wie eine Klapper-
schlange so arg klapperte, nicht um zu warnen, sondern um, wie
auch die Neuern an der andern fanden, den Raub steif und scheu
zu machen : so war der Lord so uber alle Thronstufen aus Jenners
Herzen herabgepurzelt, daB es ihm nicht einmal etwas helfen
konnte, wenn er sogleich aus der Luft herausgetreten ware. Fla-
min war ohne ihn gefunden. - Den drei Englandern schkkte man
die Erlaubnis in das Haus, nach ihrer Insel (England) abzusegeln,
wenn sie wollten. Sie lieBen zuriicksagen, sie brauchten nur einen
Tag, um auf ihrer Insel anzukommen, und warteten nur auf ihren
30 Reisegefahrten. Unter der Insel meinten sie aber die Insel der Ver-
einigung - und unter dem Reisegefahrten den gefesselten Flamin,
den sie mit bereden wollten.
Es gefallt mir, daB meinem Viktor der Hof verboten wurde.
Das Hof-Verbot ist sonst eine Wohltat - diesen Namen verdient
nun wohl eine Befreiung von den Hofdiensten -, die sonst nicht
immer an den Wurdigsten erteilt wird, sondern oft einem Teufel
1202 HESPERUS
wie Louvois so gut als einem Apostel wie Tessin. Heifiet aber das
nicht einer vorzuglichen Gnade, einem Orden pour le merite
alien Wert benehmen, wenn man sie Schelmen zuwirft, da sie
doch nur fur den rechtschaffensten, freimiitigsten, altesten Mann
am Hofe als die groBte und letzte Belohnung, als ein TrefF- und
SpieBfolgedank, als eine Ovation sollte aufgehoben bleiben? -
Im nachsten Kapitel kann man sich auf einen Larm gefaBt
machen, dergleichen man in wenig deutschen Kapiteln hort; die
Larmkanonen der Hofpartei, das Herabpoltern der Biihnen und
das Umschmeifien der Stiihle nach gehegtem peinlichen Gericht
werd' ich bis in meine Insel heriiber horen konnen. Der schwarz-
haarige und schwarzherzige Hof junker wird, wenn er aus dem
Arreste los ist, mit seiner ironischen Miene und mit der eignen
leisen Stimme - die Ripienstimme seines boshaftesten Hohns, wie
sie bei andern die des erhabensten Enthusiasmus ist— iiberall herum-
streichen und sagen : er wiinsche, der Lord erschiene, er habe bis-
her in seinen Sachen nach Vermogen gearbeitet. Am Hofe ist man
zuweilen erhaben durch eine vorstehende Bosheit, wie nach Burke
kein Geruch erhaben ist als der allerstinkendste und kein Ge-
schmack als der bitterste. Und ebenso verbirgt allda jeder die mit- ;
leidige Teilnahme am fallenden Giinstling leicht, ahnlich dem
weisen Vater, der beim Fall eines Kindes das mitleidige Gesicht
unter ein lustiges versteckt.
Den 2i.Oktober kommt Matthieu los und darf zu Flamin
gehen - er hat sichs ausgebeten - und ihm die Freiheit und die
Standerhohung miteinander ansagen In wenig Tagen konn-
ten die Begebenheiten und mein Protokoll derselben aus einem
Zeit-Stundenglase rinnen, wenn der Hund ordentlich kame; aber
er kommt, wenn er will.
44- HUNDPOSTTAG 1203
44. HUNDPOSTTAG
Die Bruderliebe - die Freundliebe - die Mutterliebe - die Liebe
Der Hund ist da, aber der Lord nicht - der Larm ist klein, aber
die Freude nicht - alles ist vorbereitet, aber doch unerwartet -
das Laster behauptet das Schlachtfeld, aber die Tugend die elysi-
schen Felder. - Kurz es ist recht narrisch, aber recht hubsch. -
Ich denke, das ist das letzte Kapitel dieses Buchs. Ich schaue
ordentlich den Posthund - meinen pommerischen Boten 1 - der
Schwanz ist sein BotenspieB - mit Running an, und mich argerts,
10 daB er mit Adam gefallen und einen Knochen unter dem ver-
botenen Baum gefresseo hat: denn im Paradies leuchteten die
ersten Hundeltern wie Diamanten, und man konnte durch sie
sehen, wie Bohme behauptet. - Eben darum, da der Berghaupt-
mann bald ausgeschrieben hat, verzeih' mans ihm, daB er in die-
sem Kapitel der Liebe feuriger und angenehmer ist als je und iiber-
haupt jetzo schreibt, als war* er besessen.
Anfangs ziehen den Himmelwagen noch Trauerpferde . . . .
Sehr friih den 2i.Oktober 1793 wars, wo der Hof junker ins
Stockhaus Flamins lief aus dem eigenen und diesem darin biiBen-
20 den Bruder alles yerkiindigte, seine Entlassung - seine Ver-
schwisterung mit Klotilden - seine Einkindschaft ins furstliche
Haus - seine aufsteigende Lauf bahn und zugleiqh die Amnestie
des morderischen Boten, die eigne namlich. O wie gliihte die
Freude iiber Matthieus Lossprechung und Vorsprache und iiber
die eigne Standerhohung seine stockenden Adern an. Denn Fla-
min bestieg den hohern Stand als eine Anhohe, um seine Wohl-
taten und Entwiirfe weiter zu werfen; Viktor hingegen war iiber
seinen Standes-Bankerutt froh gewesen, weil er Stille begehrte,
wie jener Getose. Viktor wollte mehr sich, jener mehr andere um-
jo bessern. Flamin stieB lebendiges Schiffvolk iiber den Bord ins
Meer und nagelte den Staats-Bucentauro mit Rudersklaven voll,
um ihn schneller gegen Winde anzutreiben. Viktor aber erlaubte
1 Auf der Universitat Paris dauert noch der Bote von Pommern fort, der
jahrlich nach Pommern etc. abging, um von den Eltern Briefe fur die Pariser
Studenten abzuholen.
1 204 HESPERUS
sich nur erne Leiche zur Erleichterung des Kaperschiffs zu machen
— seine eigne. Er sagte zu sich: »Wenn ich nur den Mut allezeit
heilig aufbewahre, mich selber auf(uopfern: dann braucK ich keinen
grofiern\ denn der groBere opfert doch gestohlne Giiter. - Das
Schicksal kann Jahrhunderte und Inseln opfern, um Jahrtausende
und Weltteile zu begliicken 1 ; der Mensch aber nichts als sich.«
Jubelnd lief Flamin mit seinem Erloser nach St. Liine, um die
treue Schwester in der untreuen Geliebten dankend und abbittend
zu umfassen - ach als die hohe Warte in seine Augen aufstieg : so
zog sich blutig und schmerzhaft wie ein Augenfell die Decke von 10
ihnen herab, die bisher die Unschuld seines besten Freundes, Vik-
tors, verflnstert hatte. »Ach wie wird er mich hassen ! O hatt* ich
ihm mehr getrauet!« seufzete er, und nichts freuete ihn mehr; denn
den Schmerz eines guten Menschen, der ungerecht gewesen, auch
in der Meinung der vollesten Gerechtigkeit, kann nichts trosten,
nichts als viele, viele Aufopferungen. Er schlich sich seufzend
nicht zur neuen Mutter, sondern sank den treuen Drillingen sanft
an das unbeleidigte Herz. Die redlichen Seelen bewillkommten
alle den Evangelisten als einen helfenden Freund; und diese bunte
Spinne kroch mit ihren unreinen Spinnwarzen auf alien diesen 2°
edeln Gewachsen einer offenen Liebe herum; die Spinne horte
alles, sogar die Abrede, daB die Englander den Befehl, nach der
Insel abzugehen, nach dem Buchstaben nehmen und sich in die
englische Insel des Lords so lange einsperren wollten, bis Flamin
und die Lady mit ihnen alien in ihre groBere Insel - ins Werkhaus
der Freiheit - in den klassischen Boden aufgerichteter Menschen
abzuschiffen imstande waren.
Denselben Morgen zog der Kaplan in seinen Steinbruch und
legte sich da vor Anker, weil er vom Neuesten noch nichts wuBte.
DrauBen versa B er die Angst, und nachts zog er wieder ein. Er 3°
ging da mit niemand um als mit seinem Korper - wie manche sich
1 Untf auch da nur in Beziehung auf Unsterblichkeit und Wiederersatz.
Wir fuhlen keine Ungerechtigkeit, wenn ein Wesen ein Plantagenneger, ein
anderes ein Sonnenengel wird ; aber ihre Schopfung beginnt ihre Rechte,
und der Ewige kann ohne Ungerechtigkeit nicht einmal mit den Schmerzen
des winzigsten Wesen s die Freuden aller bessern kaufen, wenn es nicht jenem
wieder vergiitet wird.
44- HUNDPOSTTAG I205
mit ihrer Seele, so unterhalten sich andere mit ihrem Korper - und
sah von Zeit zu Zeit nicht die Natur, sondern sein Wasser an, um
daraiis - da dessen Farbenlosigkeit nach der Physiologie Kummer
bedeutet - die Kenntnis zu schopfen, ob er sich sehr abharme
oder nicht* wiewohl kein Protomedikus fur ihn stehen wird, daB
er nicht urinam chyli oder sanguinis fur urinam potus wird ange-
sehen haben. Da die Arzte behaupten, daB Seufzer niitzen, den
Puis schneller und die Lungenflugel leichter machen - ein Regent
kann also ganzen Landern auf einmal niitzen, wenn er sie zu seuf-
10 zen notigt -: so schrieb sich Eymann eine bestimmte Anzahl Seuf-
zer vor, die er zum Besten seiner Lunge taglich zu holen hatte.
Denselben Morgen ging die Lady zur Pfarrerin, um ihr zu
sagen, daB Flamin ein Unschuldiger, aber ihr Sohn nicht sei; und
Klotilde ging mit ihr, um die Hande der zwei Tpchter zu nehmen
und ihnen zu sagen : ihr habt einen andern Bruder. Denn Viktor
hatte seine Abkunft noch verhehlt. »0 Gott!« (sagte die verar-
mende Pfarrerin und schloB Flamins Mutter und Schwester an
die schmachtende Mutterbrust, die mit heiBen Seufzerzugen einen
Sohn begehrte) - »wo ist denn mein Kind? - Fiihren Sie meinen
20 wahren Sohn mir zu! - Ach ich ahnete es wohl, daB mich das
Duell doch ein Kind kosten wiirde ! Er findet alles wieder, aber ich
biiBe alles ein. - O Sie sind eine Mutter, und ich bin eine Mutter,
helfen Sie mir!« - Klotilde schauete sie mit dem weinenden
Wunsche des Trostes an; aber die Lady sagte: »Ihr Sohn lebt und
ist auch glucklich, aber mehr kann ich nicht sagen.«
Und denselben Morgen war dieser Sohn, unser Viktor, nicht
glucklich. Ihm war, bei dem Geruchte von Flamins Loskettung
und von Matthieus Dienstfertigkeit, als wenn er das Zischen und
den Kugelpfiff des herabschieBenden StoBvogels vernahme, der
30 bisher unverruckt gleichsam mit angenageltem Fittich hoch im
Blauen uber dem Raub geruhet hatte. - Verarget es dem Doktor
nicht gar zu sehr, daB ihn die verlorne Gelegenheit krankte, sei-
nen Freund aus dem engen Gefangnis und sich aus dem weiten
des Lebens loszumachen. Denn er hat zu viel verloren und ist zu
einsam; die Menschen kommen ihm wie die Leute in dem pol-
nischen Steinsalzbergwerk vor, die herumtappen mit einem an
1 206 HESPERUS
dem Kopf gebundnen Licht, das sie ein Ich nennen, vom genuB-
Iosen Blinken des Salzes umzingelt, weiB gekleidet und mit roten
Binden, als waren es AderlaBbinden. - Die Sprache seiner Be-
kannten ist, wie die der Sineser, einsilbig. - Er muB dem be-
schamenden Tag eritgegenleben, wo Jenner und die Stadt die
Niedrigkeit- seines Standes ihm zum Betrug anrechnen. — Vor
jedem Auge steht er in einem andern Lichte oder Schatten viel-
mehr: Matthieu halt ihn fur grob, Jenner fiir intrigant, die Wei-
ber fiir tandelnd, so wie Emanuel fiir fromm und Klotilde fiir zu
warm -, denn jeder vernimmt an einem vollstimmig besetzten 10
Menschen nur sein Echo. Welches Herz konnt' ihn nun noch be-
wegen — seines ohnehin nicht -, das Ruder im SklavenschifT des
Lebens langer zu halten? O eines konnt' es, ein machtiges warmes,
das miitterliche : »Sttirze dich nur aus der Erde,« - sagte sein Ge-
wissen - »dann stirbt dir deine Mutter voll Liebe nach und tritt in
der zweiten Welt vor dich mit so vielen Tranen, mit alien heiBen
Wunden und sagt: Sohn, dieser Schmerz ist dein Werk!« - Er ge-
horchte und sah ein, wenn es edel ist, fur eine Geliebte zu sterben,
so sei es noch edler, fiir eine Mutter zu leben.
Daher beschloB er, noch heute abends - abends, damit die 20
Nacht sich vor einige verwitternde Ruinen der bessern Zeit, vor
einige voriiberziehende Nachtleicken der Erinnerung stellte - nach
St. Liine zu gehen, seine Mutter zu rufen und ihr miides sieches
Herz wenigstens mit einer Freudenblume zu starken und ihr - da
ihn kein Eid mehr band - zu sagen : du gibst mir jetzt zum zweiten-
mal das Leben. Wie wohl wurd* ihm ! - Ein einziger guter Vor-
satz bettet und liiftet das scharfe Siechbette eines zerrissenen
Lebens.
Aber am Abende, ihr guten Bedrangten, am Abende - nicht des
Lebens, sondern - des 2i.Oktobers wird euch leichter und fri- 30
scher werden, und die Kugel eurer Fortuna wird sich aus der
Wetterseite in die Sonnenseite drehen !
Abends kam Viktor in St. Liine an und hiillte sich in die Laube
des Pfarrgartens ein, wo er Klotilden die ersten Tranen der Liebe
gegeben. - Das Pfarrhaus, das SchloB, die Warte, die zwei Gar-
ten lagen wie verfallne Ritterschlosser um ihn, aus denen alle
44- hundposttag 1207
Freuden und Bewohner langst gezogen sind ! - Alles so herbst-
still, so stehend um ihn - die Bienen saBen stumm auf dem Flug-
brett neben hingerichteten Drohnen - sogar der Mond und ein
Wolkchen standen fest nebeneinander - die Wachsmumie war
mit dem starren Gesicht gegen das stille Zimmer umgewandt! -
Endlich kam die Pfarrerin durch den Garten, um ins Schlofi zu
gehen. Er wufite, wie sehr sie ihn wieder lieben muBte, da seine
Treue gegen den eifersiichtigen Flamin jetzt ans Licht gekommen
war. O sie sah so miide und kranklich aus, so rotgeweint und ver-
10 blutet und veraltet! Ihn dauerte es, daB er erst ein gleichgiiltiges
Wort sagen muBte, um sie in die Laube zu rufen. Als sie hinein-
trat: erhob er sich und buckte sich tief und legte sich ausloschend
an die teure Brust, hinter der eine Welt voll Seufzer und ein Herz
voll Liebe war, und sagte: »0 Mutter, ich bin dein Sohn - nimm
mich auf, dein Sohn hat nichts, er liebt nichts mehr auf der ganzen
weiten Erde, nichts mehr als dich - O liebe Mutter, ich habe viel
verloren, bis ich dich fand. - Warum siehst du mich so an? -
Wenn du mich verschmahest : so gib mir deinen Segen und laB
mich entfliehen ... O ! ich wollte ohnehin nur deinetwegen leben
20 bleiben.« - Sie schauete ihn, zuruckgebogen, mit einem nassen
Blick voll unaussprechlicher Zartlichkeit und Trauer an und
sagte: »Ists denn wahr? O Gott! wenn Sie mein Sohn waren! -
Ach, gutes Kind ! - ich habe dich langst geliebt wie eine Mutter. -
Aber tausche mich nicht, mein Herz ist so wund!« - Der Sohn
schwur — und hier sinke der Vorhang langsam an der mutter-
lichen Umarmung herab, und wenn er Sohn und Mutter ganz be-
deckt: so schaue ein gutes Kind in seine eigne Seele zuriick und
sage: hier wohnet alles, was du nicht beschreiben kannst!
Jetzt abends schlich der Kaplan vom Felde heim und durch den
30 Garten hindurch und rief seinem neuen Sohne entgegen:
»Ach! Herr Hofmedikus, ich schwinde lasterlich ein. Ich sehe ja
offenbar aus wie ein Ecce homo und Fieberhafter. Es wird mir zu-
gesetzt - ich soil eine persona miserabilis, einen souffre douleurs,
einen Patropassianer abgeben.« - Da Viktor ihm berichtet hatte:
»es sei alles voruber, der Regierrat sei los und unschuldig«: so
blickte Eymann fest auf die Warte und sagte : »Wahrlich droben
1 208 HESPERUS
sitzt der Rat und guckt 'ruber« und wollte hinauf zu ihm; aber
Viktor hielt ihn sanft und sagte zartlich : »Ich bin Ihr Sohn« und
ofFenbarte ihm alles. - »Wie? - Sie? - Du? - Der Sohn eines so
vornehmen Lords ware mein Sohn? - Meinen Herrn Gevatter
hatt' ich gezeugt? — Das ist unerhort, ein Bruder der Pate des
andern — zwei Sebastiane hab' ich auf einmal im Hause.« - Er
wurde die Pfarrerin ansichtig und fing einen Hader an - welches
allemal ein Zeichen seiner Freude war. — »So, Frau? Das weiBt
du heute den ganzen Tag, und mich lassest du drauBen im Stein-
bruch im Notstall sitzen, mitten im Harm, und ich laute bis nachts 10
an der Armensunderglocke? Hattest du nicht den Kalkanten hm-
auslassen konnen zum Notifizieren? Das war recht schlecht - die
Frau steckt zu Hause und trinkt Bitterwasser, in das ihr ganze
Zuckerfasser und Konfektteller hineingeworfen sind - und der
Mann halt sich in Steinbruchen auf und sauft seine bittern Extrakte
aus einem Brechbecher fort.« - Sie antwortete nie darauf.
Jetzt erfuhr erst Viktor von seiner Mutter, daB Flamin bloB fur
den Freund (Matthieu) und fiir das Vaterland habe sterben wol-
len - daB er seine eifersuchtige Ungerechtigkeit bereue und die
verscherzte Freundschaft bejammere und daB sie ihn eben darum 20
abhole, um ihn in die Hande der wahren Mutter und vor das An-
gesicht der gekrankten Schwester zu fiihren. Es war heute am
Morgen menschliche Schwache gewesen, daB das erfrorne Glied
der Freundschaft, sein Herz, ein wenig kalter und unempfind-
licher gegen Flamin geworden war, da er dessen Rettung aus dem
Gefangnis vernahm - aber es war jetzt abends menschliche Giite,
daB Flamins groBer EntschluB, zu sterben, wie eine Frostsalbe
seinem starren Herzen Warme und Bewegung wiedergab. Sein
Inneres regte sich gewaltsam, quoll auf, iiberstromte den er-
druckten Groll, und das Bild des Jugendfreundes stand auf und 3°
sagte : »Viktor, gib dem Schulfreund wieder deine Hand - o er
hat so viel gelitten und so edel gehandelt!« Tranen schossen ihm
aus den zuckenden Augen, als er sich entschloB, auf die Warte zu
gehen und zum alten Liebling zu sagen : »Es sei vergessen - komm,
wir wollen miteinander zu deiner Schwester gehen.« Er ging allein
auf die Warte, um ihn nachher der Lady vorzustellen. Die Pfar-
44- HUNDPOSTTAG I2O9
rerin sprang einige Minuten von Viktor ab, urn seine zwei Schwe-
stern zu benachrichtigen und zu bringen und den blinden Julius
aus der Stadt fuhren zu lassen, damit in der goldnen Halskette der
Liebe kein Gelenk abginge.
Welche Himmelleiter, in der jede Minute eine hohere Sprosse
ist, steht in dieser Nacht auf der wankenden Erde, und gute Men-
schen steigen hintereinander hinauf ! -
Unten an der Treppe des Thrones der Versohnung arbeitete
Viktors Herz gewaltsam im heiBen durchwuhlten Blute. Flamin
10 sah ihn langsam hinaufsteigen; aber er kam ihm nicht entgegen,
weil es ungewiB war, komme Viktor ztirnend oder vergebend. Als
dieser endlich oben war: so stiitzte Flamin sein abgekehrtes Ge-
sicht beschamt in das Gezweig; denn er konnte dem so sehr gemiB-
handelten Geliebten nicht ins Auge blicken, bis er wuBte, daB er
ihm verziehen habe. Sie schwiegen schauerlich nebeneinander
unter dem rieselnden Lindengipfel - sie errieten einander nicht
ganz, und das machte das Schweigen finsterer und das Versohnen
zweifelhaft. Endlich reichte ihm Flamin, heftig atmend und mit
dem ins Laub gelegten Gesicht, die zitternde Hand entgegen. Da
20 Viktor diese stumme, um Versohnung flehende Hand zittern sah:
so tropften siedende Tranen durch sein Herz und zertrennten es,
und nur aus Wehmut und liebender Schonung verschob er es,
die demutige Hand zu nehmen. Aber hier kehrte sich Flamin
(im falschen Argwohn) stolz, errotend und voll Tranen und voll
alter Liebe um und sagte: »Ich bitte dich recht gern um Verge-
bung, daB ich gegen dich Engel ein Teufel war; aber dann, wenn
du mir keine erteilst, so schleudere ich mich hinunter, damit mich
nur der Teufel holt.« - Sonderbar! dieses Erpressen der Verzei-
hung zog Viktors offne Seele ein wenig zusammen ; aber er um-
30 faBte doch den freundschaftlichen Wilden und sagte mit der mil-
den Stimme der stillen Liebe : »Aus dem Grunde der Seele nab* ich
dir heute vergeben; aber geliebt nab' ich dich immer und allezeit,
und in wenig Wochen wiird' ich fur dich gestorben sein, um dein
Leben zu retten.« - Nun traten ihre Seelen nahe und unverhiillt
voreinander und deckten ihr Leben auf — und da sich beide alles
erzahlt und Viktor ihm eroffnet hatte, daB er an seine Stelle ein-
I2IO HESPERUS
geriickt und der Sohn der beraubten Mutter geworden sei: so
wollte Flamin vor Reue vergehen und driickte verschamt sein
Angesicht defer nur an Viktors Brust - und ihre Seelen feierten
neuvermahlt auf dem Traualtar der Warte ihre Silberhochzeit
unter der Brautfackel des Mondes, und ihre Seligkeit wurde von
nichts erreicht als von ihrer Freundschaft.
Sie wandelten im zartlichen Taumel langsam in Le Bauts Gar-
ten, und der Strom der Wonne wurde immer defer; aber eiskalte
Wellen wie vom Flusse Styx erschreckten plotzlich den sanft er-
warmten Viktor, da er in die Trauerlaube kam, wo er gerade heute 10
vor einem Jahre, am 2isten Oktober - also ist heute Klotildens
Geburttag -, aus seinem zerriitteten Rerzen ihr Bild gerissen
hatte, und wo er wieder ankam, um es aus den alten Narben viel-
leicht wieder auszureiBen. Denn das Senken seines Standes hatt'
ihn ein wenig — stolzer gemacht und seine Liebe fur Klotilden
scheuer. Die Wahrheit zu sagen, so glaubt* ers selber nicht recht,
daB ihr seine niedrige Abkunft unbekanntgewesen ; er schlofi viel-
mehr das Widerspiel aus dem Anteil, den sie der Lord an seinen
Briefen und an alien Geheimnissen nehmen lassen - aus ihrem
anfanglichen Kampf gegen ihre aufkeimende Liebe und aus dem 20
kleinen Stolze gegen ihn am ersten Tage - aus ihrem Lobe der
MiBheiraten - aus ihrer Begiinstigung der Liebe Giulias gegen
Julius, den sie als Lords-Sohn kannte - aus ihrer leichten Ein-
willigung in die Verlobung, die ja sonst ihr Vater nach der Er-
kennung nicht mehr zugelassen hatte - und aus andern Zugen, die
man bei der zweiten Lesung dieses Werks leichter selber sammelt.
Wie gesagt, diese HofFnung, daB sie ihn allemal gekannt, wider-
legte einige Einwiirfe seiner Delikatesse und seiner Entsagung;
und bliihte heute noch hoher auf unter so vielen Freuden und
schonen Zufallen. - Ach! wenn er ohne alle HofFnung gewesen 30
ware: so hatt' er ja mitten im Kreise so vieler Begliickten als die
letzte Opferleiche niederfallen miissen! - Aber das Etwas im
Menschen, das ihm allemal einen groBen Verlust so wahrschein-
lich und einen groBen Gewinn so unwahrscheinlich vormalt,
quake, vereinigt mit wehmutigen Erinnerungen, ihn jetzo.
Er bat daher Flamin, ihn ein wenig in der Laube zu lassen und
44- HUNDPOSTTAG 1 2 1 1
allein (da die Pfarrerin schon im Garten war) in die befreundeten
Arme der gefundenen Schwester und Mutter zu eilen, und setzte
dazu, er komme bald nach. Als Flamin fort war: ring Viktor
immer vor Klotildens Erschutterung zu zittern an, die sich ihrer
vielleicht bei der Nachricht seiner Abstammungbemeistern werde ;
und es driickte ihn sehr, da er dachte, daB fur alle im Garten die
Trauer von dem schwarz ausgeschlagnen Trauerzimmer der Erde
abgenommen werde, nur fur ihn wohl nicht. -
Aber da kam, von neuen Entzuckungen widerscheinend, seine
10 Mutter und trocknete ihm, eh* sie fragte, erst die Augen ab. Ihre
neuen Entzuckungen kamen davon her, daB Klotilde ihr, da sie
seine Abkunft erzahlet hatte, um den Hals gefallen und sie um
> Verzeihung des so langen Verhehlens, des so lange fortgesetzten
Raubes des Kindes gebeten - und daB sie die Mutter an ein auf
dem Spaziergang nach der Verlobung gegebenes und nun ge-
haltenes Versprechen erinnert hatte. Der Mutter - und ich sorge,
dem Leser - war vieles entfallen, und Klotilde flog nur eilig und
errotend uber die Sache weg; hatte sie aber dort nicht zu ihr ge-
sagt: »Wir andern unser Verh<nis nicht«, namlich das einer
20 Schwagerschaft? - Die Pfarrerin beschloB den Bericht mit dem
Gesuch der Lady, ihr den neuen Sohn recht schnell zu bringen.
Viktor konnte vor weinendem Entzucken nichts sagen als : »Ist
denn meine gute Agathe und der Blinde noch nicht da?« - Und
beide standen - hmter ihm; und er verbarg das ObermaB seiner
Wonne unter Liebkosungen der Schwester und des Freundes;
sein weiter Leidenkelch war ja ganz mit Freudentranen vollge-
gossen.
Als er den schonen Weg zu den lieblichen Verbiindeten antrat
im gehenden Zirkel drei liebender Seelen: so kamen sie ihm alle
30 entgegen mit glanzenden Zugen - mit schwimmenden BHcken -
mit verschmerzten Erinnerungen, oder vielmehr mit genossenen,
denn von den zertretenen Freudenblumen auf dem Lebenswege
wehet Wohlgeruch auf die jetzige Stunde heruber, wie ziehende
Heere oft aus Steppen den Wohlgeruch zerquetschter Krauter
ausschicken. Die Lady wurde von ihren zwei Kindern gefuhrt
und sagte verbindlich lachelnd : »Hier stell' ich Ihnen meine ge-
1 212 HESPERUS
liebten Kinder vor, setzen Sie die Freundschaft gegen sie fort, die
Sie ihnen bisher gegeben haben.« - Ihr Sohn Flamin flog, gleich-
gultig gegen Sitte, an seinen Hals. Klotilde biickte sich defer, als
sie vor einem Fiirsten getan hatte, und in ihrem Auge schwamm
die Frage der wehmiitigen Liebe: »Bist du noch ungliicklich?
hab' ich noch dein Herz? Warum ist dein Auge benetzt, warum
deine Stimme gebrochen?« - Viktor erwiderte mit ebensoviel
Zartlichkeit als Anstand, indem er sich gegen die Lady wandte:
»Sie konnten an keinem schonern Tage Ihren Sohn wiederfinden
als am Geburttage Ihrer Tochter.«. ... 10
Daran hatte in den bisherigen Wirbelwinden keiner gedacht.
Welches frohe Chaos! Welch eine herzliche liebende Sprachver-
wirrung von gliickwiinschenden Improvisatoren ! Welch ein ge-
riihrter Augendank Klotildens fiir ein so verbindliches Gedacht-
nis!
Man zog trunken durch den kiihlen Garten in das SchloB. O,
wenn Schwesterliebe, Kindesliebe, Mutterliebe, Geliebtenliebe
und Freundschaft nebeneinander auf den Altaren brennen: so tut
es dem guten Menschen wohl, daB das Menschenherz so edel ist
und den Stoffzu so vielen Flammen verwahrt, und daB wir Liebe 20
und Warme nur fuhlen, wenn wir sie auBer uns verteilen, so wie
unser Blut uns nicht eher warm vorkommt, als bis es, auBerhalb
den Adern flieBend, im Freien ist. - O Liebe! wie glucklich sind
wir, daB du, von einer zweiten Seele angeschauet, dich wieder-
erzeugst und verdoppelst, daB warme Herzen warme Ziehen und
schafFen wie Sonnen Planeten, die groBern die kleinern und Gott
alle - und daB selber der dunkle Planet nur eine kleinere, iiber-
zogene, eingehausige Sonne ist Alle Seelen standen heute hoch
auf ihrer Alpe und sahen - wie auf einer physischen - den Regen-
bogen des Menschengliicks als einen groBen vollendeten Zauber- 30
kreis zwischen der Erde und der Sonne hangen. - Im Schlosse bat
die Lady ihre Tochter, allein in das dunkle Zimmer der Mund-
harmonika zu gehen, sie woll' ihr das Angebinde des Wiegen-
festes geben. Klotildens Auge nahm vom bleibenden Freund mit
einem zweiten Dank fiir seine Seele einen zartlichen Abschied.
Nach ihrer Entfernung gab ihm die Lady einen Wink, mit ihr
44- HUNDPOSTTAG 1 21 3
hinter den andern nachzubleiben - da sank er gern vor Klotildens
Mutter, die urn ihre Einwilligung in seine Liebe noch nicht ge-
beten war, mit den Worten auf das Knie : »Wenn Sie meine Bitte
nicht erraten: so nab* ich nicht den Mut, sie anzufangen.« Sie hob
ihn auf und sagte: »Bitten, die so stillschweigend geschehen, wer-
den ebenso still erfullt - aber jetzt kommen Sie lieber und sehen
zu, womit ich meine Tochter beschenke.« - Aber er muBte erst
lange die Hand benetzen und kussen, die ihm den Lindenhonig
eines ganzen Lebens reichen will.
10 Beide gingen nun in diesem aus dem tausendjahrigen Reiche
herubergeschickten Abende ins dunkle Zimmer zur Tochter.
Warum entflossen Klotilden Tranen vor Wonne, noch eh* die
Mutter sprach? - weil sie schon alles erraten konnte. Die Mutter
fuhrte den Geliebten an die Geliebte und sagte zur Braut: »Nimm
hin das Angebinde deines Festtages. Wenige Mutter sind reich
genug, ein solches zu geben - aber auch wenige Tochter sind gut
genug, es zu erhalten.« - Das Brautpaar wurde vom Druck der
schweren Wonne, des groBen stummen Dankes vor ihr nieder-
gedriickt auf die Knie und teilte sich in die zwei wohltatigen
20 Hande der Mutter; aber diese zog sie sanft aus fremden weg und
legte den Liebenden die ihrigen ineinander und schlupfte davon
mit dem Laute : »Hieher will ich unsre Gaste bringen !« —
— O ihr zwei endlich begliickten , nebeneinander knienden guten
Seelen I wie unglucklich muB ein Mensch sein, der ohne eine Trane
der Freude - oder wie glucklich einer, der ohne eine Trane der
Sehnsucht euch sehen kann jetzo stumm und weinend einander in
die Arme fallen - nach so vielen LosreiBungen endlich ver-
kniipft - nach so vielen Verblutungen endlich geheilt - nach
tausend, tausend Seufzern doch endlich begliickt - und unaus-
30 sprechlich begliickt durch Herzenunschuld und durch Seelen-
frieden und durch Gott! - Nein, ich kann heute meine nassen
Augen nicht von euch wenden - ich kann heute die andern guten
Menschen nicht anschauen und abzeichnen - sondern ich lege
meine Augen mit den %wei Tranen, die der Gliickliche und der
Unglikkliche hat, fest und sanft auf meine zwei stillen Geliebten
im dunkeln Zimmer, wo einmal der Hauch der Harmonikatone
1 214 HESPERUS
ihre zwei Seelen wie Gold- und Silberblattchen aneinanderwehte.
- O, da sich mein Buch jetzt endigt und meine Geliebten ent-
weichen : so ziehe dich langsam weg, dunkles Allerheiligstes mit
deinen beiden Engeln - tone lange nach, wenn du auffliehest mit
deinen melodischen Seelen, wie Schwanen in der Nacht mit Flo-
tentonen durch den Himmel ziehen. Aber ach, steht nicht
schon hoch und weit von mir das Allerheiligste und hangt als
Silberwolkchen am Horizon t des Traums? - O, diese guten
Menschen, dieser gute Viktor, dieser gute Emanuel, diese gute
Klotilde, alle diese Lenz-Traume sind aufgestiegen, und mein i°
Herz blickt schmerzlich auf und rufet ohne Hoffnung nach:
»Traume des Fruhlings, wann kommt ihr wieder?«
O warum wiird' ichs tun, wenn nicht die Freude, die wir so
fest an den Handen fassen, auch Traume waren, die aufsteigen?
Aber diesen rufet das auf dem Grabstein zuckende, zuriickge-
fallne jammernde Herz nicht nach: »Traume des Fruhlings, wann
kommt ihr wieder?«
NACHTRAG ZUM 44. HUNDPOSTTAG
Nichts -
Da dieser Nachtrag zu einem Posttaglein zu klein war: so war- 20
tete ich immer auf den Hund und auf neuen biographischen
Pfeifenton und Teig. - Weil aber die poste aux chiens ausbleibt,
so will ich nur die wenigen Katzen-Tone, die ich aus dem lieben-
den Konzert des vorigen Kapitels weggelassen, hier auf meine
No ten setzen. Es ist lauter verdruBliches Zeug, was ich hier noch
nachzuholen habe, und eben jene Knarrtone konnen wieder eine
neue Lauwine herabwerfen und neuen Unfug stiften. Es ist nur
dumm, daB so das Buch aus und doch nicht aus ist, da der Hund
von einem - Hund ganz unerwartet weg ist, wie Schnupftabak.
Die stiefmutterliche Kammerherrin, die vom biographischen 30
Geister- und Korperbanner seit langem aus diesen Blattern lan-
desverwiesen ist, war bei der Ankunft der Lady aus sehr natur-
NACHTRAG ZUM 44. HUNDPOSTTAG 121 5
licher Antipathie wegmarschiert auf ein kleines Landgut. Reise zu,
du bist ohnehin meine Amancebada nichtf- Matthieu war im
vorigen Kapitel nach seiner alten Kuhnheit unter lauter Wider-
sachern seines dunkelbraunen Ich ein wenig dageblieben; und saB
im Schlosse, als die gluckliche Prozession aus dem Garten einzog.
Er wuBte noch nicht, daB der Hofmann Viktor wahrhaftig nichts
ist als ein bloBer platter Pfarrsohn. Anfangs setzte er den antiken
SpaB seiner Lieberklarung gegen Agathen fort und reizte den
Pfarrer zu Komplimenten und Dankadressen fur die Dienste an,
10 die er alien heute erwiesen. Als er aber zu viel Gleichgultigkeit
gegen seine kalte Bosheit vorfand, benahm er seiner Verachtung
die Zweideutigkeit. Oberhaupt war sein Herz aufrichtig und stellte
sich lieber boshafter als tugendhafter an, als es war; er haBte
eine Verstellung, wodurch sich mancher Hofling leicht jene Miene
des Tugendhaften gibt, die am besten durch Lavaters Bemerkung
zu erklaren ist, daB der Zornige auf seinem Gesicht die Mienen
dessen, den er hasset, bekomme.
Endlich erriet Matthieu die Geheimnisse, und der Pfarrer be-
statigte sie ihm. Ein solches Wasser fiir seine Schneide- und Sage-
20 miihle, auf der er Menschen fiir sein Throngeruste zurechtschnitt,
war noch nie auf ihn zugeflossen - wenn er dieses neue Falsum,
diesen neuen entsetzlichen abscheulichen Betrug, den der Lord
dem Fiirsten gespielt, dem Fiirsten vortragt: so muB - schlieBet
er - Jenner auBer sich kommen vor Erstaunen liber Lord Ho-
rions Liigen und tiber Matthieus Wahrheiten. - Jetzt hielt ers fiir
Pflicht, zu lacheln zwar, aber nicht mehr schadenfroh wie Matz,
sondern ordentlich verachtend,wie ein Hof-Lehnmann soil ;auch
fiihlte er, wie sehr es unter seiner Wiirde sei, sich langer in dieses
biirgerliche Quodlibet, ohne es doch zum Narren zu haben, mit
30 einquirlen zu lassen. Er ging mithin - um die Neuigkeit aus sei-
nem Saetuch in gutes Land auszuwerfen - nach einem kurzen,
aber aufrichtigen Gliickwunsche zur Vermahlung noch dieselbe
Nacht an den Hof zuriick und der Teufel folgte ihm als
Kammermohr anstandig hinterdrein.
Ich wollte, der Spitzbube tate keinen Tritt mehr in meine bio-
graphische Schreibstube und casa santa; er ist sich so vieler un-
I2l6 HESPERUS
moralischer Hiilfquellen bewuBt, daB er ordentlich im Kraft-
gefuhl derselben mit den Siinden spielt und immer einige mehr
wagt, als er braucht; so wie er z.B. in der Maienthaler Allee mit
der Stimme der Nachtigall aus bloBem Obermut Viktor und Klo-
tilde in seine Nahe lockte, obgleich Flamin beide ohne jene Phi-
lomelenmaschinerie hatte belauschen konnen. Von dieser Seite
wiinsch' ich fast gar nicht mehr, daB der Posthund weiter kommt;
ich muB zu sehr besorgen, daB Matthieu neuen Krotenlaich und
eine neue Essigmutter des E lends an die Warme Jenners bringt,
damit sie neues giftiges scharfes Ungliick aushecke; denn er JO
wird es gewiB hochsten Orts berichten, daB die drei Englander
sich in die Insel wie in eine Katakombe verstecken - daB Flamin
sich ihnen zugeselle - daB Viktor bisher einen Fiirsten belogen,
dessen Untertan er sei - noch anderer Dinge zu geschweigen,
welche die ministerialische Spionin und Kammerherrin von Le
Baut mitteilt und sein so antiklubistischer Vater schwarz farbt,
und die jene zeichnet und dieser koloriert. Und wenn ich bedenke,
daB in dieser Lebensbeschreibung ein kleines Ungliick immer die
Eierschale und das EiweiB eines groBen war : so bin ich sehr ge-
neigt zu glauben, daB der Ausdruck des Pfarrers am 21. Oktober 20
mehr Witz als Wahrheit enthalte: »daB sie gegenwartig alle statt
des Tranenbrots den Brautkuchen der Freude anschnitten.«...
Ihr guten Menschen! worm mag jetzt in dieser Minute euer Busen
auf- und niedergehen, im weichen diinnen Ather der Freude oder
im Gewitter-Brodem der Angst? -
Nachtrag zum Nachtrag
Ich habe hierzu, wahrend sich die erste Auf lage vergriff, einige
recht interessante Umstande fiir die zweite erfahren. Julius urn-
halsete im Garten seinen Viktor recht fest und sagte : »Ich bin sehr
froh, daB ich wieder da bin - ich war den ganzen Tag so allein 30
und horte keinen Menschen - dein italienischer Bedienter ist ganz
fortgelaufen.« In Viktor stieg iiber diese unerklarliche Entwei-
chung eines treuen gliicklichen Dieners, wenn nicht eine Ge-
witterwolke, doch ein Nebel auf. Die stille Marie hatte dem Blin-
45* ODER LETZTES KAPITEL 1217
den die Dienste des Fliichtlings emsig getan. »Ich hatte dem
Italiener gern vorher seinen Brief gegeben,« (fuhr Julius fort) >>aber
da nab* ich ihn noch.« Viktor besah ihn und fand voll Erstaunen
die Adresse von der Hand des - Lords. Der Brief wurde einige
Minuten nach des Menschen Flucht an den Blinden mit der Bitte
abgereicht, ihn niemand als dem Welschen zu geben. Wiewohl
Flamin und die Lady und die Pfarrerin versprachen, das Er-
brechen des Briefes zu verantworten : so ging Viktor doch an diese
Auf losung einer neuen Scharade seines Lebens ungern ; denn Klo-
10 tilde schwieg dazu. Hier ist die vidimierte Kopie:
»Sie haben recht. Aber reisen Sie nicht erst morgen, sondern
auf der Stelle zum Mr.***. Der Ort bleibt 1?. Aber VI sind not-
wendig.«
Mr. konnte den Monsieur (den fiinften Sohn) bedeuten. Wei-
ter war aus diesem Wolkenzug nichts vom kunftigen Wetter
durch die besten Wetterpropheten zu erraten. Aber nur aus ihrer
eignen ban gen WiBbegierde nach der Deutung dieser Himmel-
zeichen konnen sich die Leser eine Vorstellung von der groBen
unsers Helden machen.
20 45STES ODER LETZTES KAPITEL
Knef - die Stadt Hof - Schweiflfuchs - Rauber - Schlaf- Schwur - Nacht-
reise - Gebiisch - Ende —
Ich sage nur so viel voraus; solange man noch Dinte - wie den
Johannisbeerwein - aus Federspulen verzapfte; solange noch
Kiele geschnitten wurden, um Friedeninstrumente zu machen -
oder verkohlet, um Krieginstrumente zu machen (denn die Kohle
des SchieBpuIvers bereitet man aus Federn) - und noch langer
vorher : so Iange ist der sonderbare Vorfall gar noch nicht vorge-
fallen, den ich der Welt jetzo zu berichten habe. Wie gesagt, ich
30 sage nur das voraus: der Vorfall ist leidlich.
Weil der Posthund seit dem 44sten Kapitel von diesem gelehr-
ten Werke die Hand oder Pfote abgezogen: so wollt' ichs allein
I2l8 HESPERUS
hinausmachen und nur noch ein Ietztes Kapitel - aber nicht dieses
- als SchluBstein und Schwanengesang gar anstoBen, damit das
opus einmal auf die Post und auf die Welt kame. Gute^Rezensen-
ten, dacht* ich, lassest du iiber den Mangel an einer Finalkadenz
sich mit dem Posthunde und biographischen Leithammel so lange
herumbeiBen, als sie wollen Es war schon gegen das Ende
des Oktobers und meiner Robinsonade auf der Johannisinsel, als
der alte gute Freitag dieses Robinsons, mein Doktor Fenk, von
seiner langen botanischen Alpenreise nach Scheerau heimkehrte,
aber sogleich wieder in die See stach und auf memem Johanniter- 10
meistertum ausstieg.
Wir setzten uns nieder zu zwei oder drei Gangen mit histo-
rischeni Eingeschneizel (Ragout) von Reiseanekdoten. Zuletzt
macht* ich ihn - wie alle Gelehrte tun - auf das aufmerksam, was
ich schriebe, auf mein neuestes Opusculum, das so verdammt
hoch vor uns aufgebettet stand wie ein Sternenkegel : »Es ist ganz
fliichtig« (sagt' ich) »von mir gefallen, oft in der Nacht, so wie
Voltaire oder die Pfauhennen im Schlafe Eier aufs Stroh herunter-
springen lassen. Ich habe die Welt mit diesem Vermachtnis von
vier Heftlein gern bedacht ; aber das Vermachtnis wartet noch aufs 20
letzte Kapitel — sonst wird die Hundarbeit im edeln Sinn eine im
schlechten.« Er las das ganze Vermachtnis vor meinen Augen
durch - welches fur einen Autor eine narrisch schwiile Empfin-
dung ist - und schwepperte oft mit den zwei Armen auf und nie-
der und wollte den Verfasser rot machen durch ubertreibendes Lob ;
aber es verfing nichts; denn ein Verfasser hat sich jedes schon
vorher tausendmal erteilt und ist zugleich seine eigne Fleisch-
waage, sein eignes Fleischgewicht und sein eignes Fleisch, weil er
wie ein Tugendhafter mit seinem eignen Beifall zufrieden ist. -
»Der Held deiner Posttage« - sagt* er - »ist ein wenig nach dir 50
selber gebosselt.« - »Das« ? versetzte ich, »entscheide die Welt und
der Held, wenn mich beide kennen lernen; es tuns aber alle Auto-
res, ihr Ich steht entweder abgezeichnet vor dem Titelblatte oder
darhinter mitten im Werke, wie der Maler Rubens und der Zeich-
ner Ramberg fast in alien ihren Arbeiten einen Hund anbringen.«
Nun aber denke man sich mein staunendes Handezusammen-
45- ODER LETZTES KAPITEL, 1219
schlagen, als der Doktor mir das Landchen nannte, wo die ganze
Geschichte vorging: *** heiBet wirklich das Landchen. »Ich solle
nur hin,« sagt* er, »so konnt* ich das 45ste Schwanz-Kapitel aus
der Quelle schopfen. Bei seinem Durchmarsch ware man in
Flachsenfingen erst iiber dem 40sten Hundposttage her gewe*sen.
Wenn ich eigne Pferde nehmen wollte (das will ich, sagt' ich, ich
kaufe mir heute noch eigne): so konnt' ich vielleicht einem vor-
nehmen Passagier nachkommen, der, wenn ihn nicht alles troge,
der Lord leibhaftig sei.« We gen einiger Lot Teufeldreck, die
10 Fenk unterweges notig hatte, war er sogar bei Zeuseln in der Apo-
theke gewesen, dem, sagt* er, die Zahl 99 so leserlich wie dem
Nummernvogel (Catalanta) die Zahl 98 anerschaffen seL
Verdenken kann mans wahrlich keinem Alitor, der nach seinem
4$sten Schwanz- und Schleppen-Kapitel krebset und fischet, da8
er wie unsinnig weglief - aufpackte - anschirrte - einsafi - fort-
jagte und so wiitig zufuhr im VoriiberschieBen vor Hotels, vor
Landhausern, vor Prozessionen, vor Sternen und Nachten, daB
ich nicht etwan in ** Tagen, sondern schon in *** Tagen (mancher
wird gar denken, ich mache Wind) in den Gasthof zum goldnen
20 Lowen bestaubt, aber ungepudert hineinsprang. Besagter Gasthof
liegt namlich in der Stadt Hof, die ihrerseits wieder in etwas Gro-
Berem liegt, namlich im Voigtland. Ich nenne mit FleiB weder
die Tage meiner Reise noch das Tor, wodurch ich zu Hof ein-
schoB, damit ichs nicht neugierigen Schelmen und mouchards
durch die Marschroute verrate, wie Flachsenfingen heiBet. Hof
konnt* ich ohne Schaden herausnennen, weil man von da aus -
sobald man iiber die Tore hinaus ist - nach alien Punkten des
Kompasses fahren kann; und so kann man da (welches recht gut
ist) auch aus alien Orten ankommen, aus Monchberg, Kotzau,
30 Gattendorf, Sachsen, Bamberg, Boheim und aus Amerika und aus
den Spitzbubeninseln und aus dem ganzen Biisching und Fabri.
Nicht weit vom goldnen Lowen (eigentlich im HabergaBchen)
stand ein vornehmer Englander und sah zu, wie seine vier rauchen-
den Pferde eine Medizin von 2 / 3 gemeinem Salpeter und ^g.Rofl-
schwefel gegen das Verschlagen einbekamen. Der Fremde - der
ungefahr so viel Jahre haben mochte als dieses Buch Tage - war
1220 HESPERUS
schwarz gekleidet, lang, ehrwtirdig, reich (nach der Equipage zu
urteilen) und mannlich gebildet. Sein heller und fixierter Blick
lag wie ein Brennpunkt ziandend auf den Menschen - sein Gesicht
war fein und kalt - auf seiner Stirne stand die lotrechte Sekante
als der Taktstrich der Geschafte, als Ausrufzeichen iiber die
Muhen des Lebens - mit bleichen waagrechten Linien war dieser
Taktstrich rastriert, beide Arten von Linien waren gleichsam als
Zeichen in die zu hohe Stirne eingeschnitten, wie hoch das Tra-
nenwasser der Triibsal schon an dieser Stirne, an dieser Seele auf-
gestiegen sei. »Ich wollte den Lord Horion« - dacht' ich - »anders 10
geschildert haben, wenn mir dieses Gesicht eher vorgekommen
ware.« Vielleicht denkt der Leser, das war der Lord selber.
Als der Englander mein Terzett von SchweiBfiichsen erblickt
hatte : ging er gerade auf mich zu und leitete ein Tauschprojekt ein
und wollte meinen Fuchs gegen einen Rappen einwechseln. Er
hatte die Phantasie der vornehmen Russen, mit einem ordent-
lichen Zento ungleichfarbiger Pferde zu fahren - so wie er die
schonere Sitte der Neapolitaner hatte, ein freies lediges Pferd wie
einen Hirsch neben dem Wagen hertanzen zu lassen -; daher,
des RoB-Quodlibets halber, wollt' er meinen elenden Fuchs er- 20
stehen, der, die Wahrheit zu sagen, nirgends sein eignes Haar
trug als hinten auf dem Burzel. Ich sagte es ihm geradezu — um
ihm keinen Argwohn eines Eigennutzes und einer Absicht zu
lassen — : »meine drei Fiichse sahen wie die drei Furien aus und
stellten die drei Kavitaten der Anatomie ein wenig vor; bloB der
SchweiBgaul, den er wolle, sei herrlich gebauet, besonders um
den Kopf herum, und ich verlor' ihn ungern gerade jetzt, da mir
der Kopf erst recht einschlagen will.« - »So?« sagte der Brite.
»Naturlich,« sagt* ich, »denn ein Pferdekopf 1st das beste Mittel
gegen Wanzen, und der muB nun bald, wie eine reife Pflaume, 30
vom Gaul abfallen - den Kopf kann ich in mein Bettstroh tun.«
Der Englander lachelte nicht einmal; unter dem ganzen Handel
regte er keinen Finger, keine Miene, keinen Muskel. Erst als ich
selber gesagt hatte: »Wenn nur die drei Parzen so lange auf den
Beinen bleiben, bis ich das 45ste Kapitel abgeholt habe auf der
Achse«, so fiel es mir auf, daB er mich auf eine entfernte Art mehr
45* ODER LETZTES KAPITEL 12.21
zu studieren und auszufragen getrachtet als den SehweiBfuchs -
und ich geriet auf die Hypothese, ob er nicht gar den ganzen RoB-
tausch nur zum Deckmantel seiner verdachtigen Ausforschfragen
gemiBbraucht habe.
Der Leser lese nur weiterl - Der Englander fuhr mit meinem
Fuchs-Muskelnpraparat davon - und ich spater hintennach mit
dem Rappen, der so stark, schwarz und gleiBend war wie der alte
Adam des Menschen.
Aber ich muB erst sagen, was ich in Hof wollte: - zueignen
10 wollt* ich. Anfangs sollte jedes dieser Heftlein einer Freundin zu-
geeignet werden; aber ich muBte besorgen, es wiirde mich ge-
reuen, weil ich mich jeden .Monat mit einer andern - mit alien auf
einmal nie - zu zanken pflege. Ich mochte wissen, unter welcher
geographischen Breite der Mann Iage, der nicht mit seiner Freun-
din tausendmal ofter keifte als mit seinem Freund. Der Lebens-
beschreiber muBte also aus Not - weil er zu veranderlich ist -
mit seinen vier Heftlein quer aus dem goldnen Lowen iiber die
Gasse ziehen und zu dem einzigen ins Haus gehen, gegen den er
sich nicht andert.und ders auch nicht tut, und zu ihm sagen : »Hier,
20 mein Iieber guter Christian Otto, eigne ich dir wieder etwas - vier
Heftlein auf einmal - hiibsch war' es, wenn du jedes wieder an die
Deinigen dediziertest, dreie langen gerade zu, und deinesbleibtdir
auch - ich reite nun dem 4jsten Kapitel nach, und du schneide und
raupe indes an den 44 andern Rabatten so viel ab, als du willst.«
Und hier, mein Treuer, muBt du das letzte Kapitel auch gar
haben, und ich setze nur noch dazu: »Diesen Hesperus, der als
Morgenstern iiber meinem frischen Lebensmorgen steht, kannst
du noch anschauen, wenn mein Erdentag voriiber ist; dann ist er
ein stiller Abendstern fur stille Menschen, bis auch er hinter sei-
30 nem Hiigel untergeht.«
Da alle Briefe an mich, wie bekannt, in der emsigen und etwas
gramlichen Stadt Hof abgegeben werden; und da iiberhaupt viele
Reisende sie passieren : so kann man mir schon den kleinen Platz
zu zwei Bemerkungen vergonnen, welche die Stadt iiber die Stadt
selber gemacht. Die Hofer bemerken namlich alle und tadelns,
da/3 sie sich nicht recht zusammengewohnen konnen; wir sollten
1222 HESPERUS
uns samtlich, sagen sie, einander recht gut ausstehen konnen und
schon dadurch des groBen Montesquieu Bemerkung widerlegen,
daB der Handel Volker verkniipfe und Einzelwesen zertrenne.
Zweitens werfen es alle einander vor, daB sie von Jahr zu Jahr
weite Diiten voll Balsaminen-, Rosen-, Klee- und Liliensamen
und hohe Schachteln voll herrlicher Apfelkerne (besonders Kerne
von Herrenapfeln, Violenapfeln, Adams- und Jungfernapfeln und
hollandischen Ketterlingen) in Menge antauschten und aufschut-
teten und in Winterhausern aufspeicherten — daB sie aber von
diesem Gesame wenig oder nichts versaeten oder aussteckten:
»Im Alter«, sagen sie, »sollen uns gute Friichte und Blumen zu-
passe kommen, wenn wir aus den jetzigen recht viel Samen ziehen
und ihn dann versaen.« - Einem Kandidaten (einem akademischen
Srubenkameraden von mir) gaben diese zwei Bemerkungen An-
laB zu zwei recht guten Teilen in einer Nachmittagpredigt: im
ersten Teile zeigte er seinen Hofern aus der Epistel, daB sie ein-
ander in der fliichtigen Lufterscheinung des Lebens nicht raufen,
sondern recht lieben sollten, ohne Riicksicht auf die Nummern
der Hauser - und im zweiten Pars tat er dar, sie sollten sich im
kurzen abnehmenden Lichte des Lebens von Zeit zu Zeit einen :
und den andern SpaB machen
Als ich kaum einige Stunden - Tage - Wochen gefahren (denn
die Wahrheit sag' ich nicht) und gegen Mkternacht in meinem
Wagen bergauf in einem dicken Forste eingeschlafen war: so
stiirzten zwei Hande, die von hinten durch das Riickenfenster sich
hereingearbeitet hatten, eine Bienenkappe iiber meinen Kopf,
schnallten sie hurtig um den Hals mit einem VorlegschloB, ver-
schrankten und verdeckten meine Augen, und mich selber er-
griffen, hielten und banden zehn bis zwolf andere Hande. Das
Schlimmste bei so etwas ist, daB man denkt, man werde totge- 5
schlagen und von seinen Juwelenkastchen entbloBt; nun kann
man aber einen Autor, der sein Buch noch nicht hinausgemacht
hat, nicht argerlicher und verdrieBlicher machen, als wenn man
ihn erschlagt. Kein Mensch will in einem Plane sterben; und doch
tragt jeder zu jeder Stunde des Tages zugleich aufknospende,
griine, halb reife und ganz reife Plane. Ich suchte also mein Leben
45- ODER LETZTES KAPITEL 1223
mit einer Tapferkeit zu verfechten - weil mir urns 45ste Kapitel
und dessen Kunstrichter zu tun war — , daB ich - ich kann es sagen
- vier bis fiinf Prinzenrauber leicht iibermeistert hatte, war' es
nicht ein halbes Dutzend gewesen. Ich streckte das Gewehr, be-
hauptete aber das Schlachtfeld, namlich das Kutsch-Kissen, und
merkte iiberhaupt, daB man den Berghauptmann nicht sowohl
tot machen wollen als blind. Es wurde noch abenteuerlicher -
mein eigner Kerl wurde nicht vom Throne seines Bocks gesturzt -
mein Wagen blieb auf dem Wege nach Flachsenfingen - zwei
10 Herren setzteri sich zu mir hinein, die, nach ihren Madchenhanden
zu urteilen, von Stande waren - und noch sonderbarer, es boll
ein Hund, der, dem Bellen nach, als MeBhelfer und Mitmeister
an diesem gelehrten Werke gearbeitet hatte.
Wir soupierten und goutierten unter freiem Himmel. Hier
wurde mir ein chirurgisches Ordenband auf bio Ben Leib umge-
tan, weil ich unter den Viertelschwenkungen und Hand-Evolu-
tionen meiner Gegenwehr ungliicklicherweise mein Schulterblatt
in eine Degen-Spitze getrieben hatte. Essen konnt' ich recht gut,
weil das blecherne Kanarienbauer-Tiirchen an meiner Bienen-
20 kappe weit aufgedrehet war. O lieber Himmel ! wenn das Publi-
kum den Verfasser der Hundposttage hatte seine EB waren in die
aufhangenden Torflugel von Blech einschieben sehen; er ware
vergangen vor Scham! - Unter dem Essen Iockte ich den Hund
mit dem Namen »Hofmann!« zu mir: er kam wirklich; ich fuhlte
ihn aus, ob an seinem Halse kein 45sr.es Kapitel hinge - er war leer.
Nach einem langen Wechsel von Fahren - Essen - Schweigen
- Schlafen - Tagen - Nachten wurd' ich endlich in eine See ge-
setzt und so lange herumgefahren (oder kams von einem Schlaf-
trunk), bis ich schlief wie eine Ratte. Was darauf geschah: mach'
3° ich - so wunderbar es immer ist - erst bekannt, wenn ich die
Bemerkung ausgeschrieben habe, daB die groBe Freude und der
groBe Schmeri die edlern Neigungen in uns beleben und ver-
jungen, daB aber die Hoffnung und noch weit mehr die Angst den
ganzen Wurmstock elender Begierden, den Infusionslaich kleiner
Gedanken anbriiten und auseinanderringeln und ins Nagen brin-
gen - so daB also der Teufel und der Engel in uns eine argere
1224 HESPERUS
Paritdt ihrer zwei Religionen, als selber in Augsburg bei zwei
andern ist, zu erhalten wissen, und daB jede von den zwei Reli-
gionparteien im Menschen ebensogut ihren eignen Nachtwachter,
Zensor, Wirt, Zeitungschreiber besoldet als, wie gesagt, in Augs-
burg....
- Ich hatte die Augen noch geschlossen, als ein Lispeln, von
tausend Gipfeln weitergewirbelt, mich umschwamm, das ge-
triebene Luftmeer zog durch enge Aolsharfen und schlug daran
Wellen, und die Wellen uberspulten mich mit Melodien - eine
hohe Bergluft, von einer voriiberschieBenden Wolke herzuschla- 10
gend, fuhr wie ein Wasserstrahl kiihl an meine Brust - ich offnete
die Augen und dachte, ich traumte, weil ich ohne die eiserne
Maske war - ich war an die funfte Saule auf der obersten Stufe
eines griechischen Tempels gelehnt, dessen weiBen FuBboden die
Gipfel taumelnder Pappeln umzingelten — und die Gipfel von
Eichen und Kastanien liefen nur wie Fruchthecken und Gelander-
baume wallend um den hohen Tempel und reichten dem Men-
schen darin nur bis an das Herz. -
Ich muB ja diese wiihlende Gipfelsaat kennen, sagt' ich - dort
hangen Trauerbirken die Arme - da drauBen knien Stamme vor 20
dem Donner, der sie getroffeh — flattern nicht neun Flore und zer-
staubte Springbrunnen in gefleckten Zweigen durcheinander? -
und die Gewitter haben hier ihre Ableiter als funf eiserne Zepter
in die Erde gepflanzt. - Das ist doch gewiB ein Traum von der
Inset der Vereinigung^ die so oft bisher den Nebel des Schlafs mit
Strahlen durchschnitten und himmlisch und ziehend meine Seele
angeschimmert hat.
Es war aber kein Traum. Ich stand von der Stufe auf und wollte
in den griechischen durchhellten Tempel, der bloB aus einem
griechischen Dache und aus funf Saulen und der ganzen um ihn 30
gelagerten Erde bestand, eintreten, als mich acht Arme umfaBten
und vier Stimmen anredeten: »Bruder! - wir sind deine Bruder.«
Eh' ich sie anschauete, eh' ich sie anredete: flel ich gern mit ausge-
breiteten Armen zwischen drei Herzen, die ich nicht kannte, und
vergoB Tranen an einem vierten, das ich nicht kannte, und hob
endlich, nicht fragend, sondern begliickt, die Augen von den un-
45* ODER LETZTES KAPITEL 1225
bekannten Herzen auf in ihr Angesicht, und unter dem Anschauen
sagte hinter mir mein geliebter Doktor Fenk: »Du bist der Bin-
der Flam ins, und diese drei Englander sind deine leiblichen Brii-
der.«... Die Freude zuckte durch iiiich wie ein Schmerz - ich
driickte mich stumm an die Lippen der vier Umarmten und Um-
armenden - aber ich sturzte dann an den altern Freund und
stammelte: »Guter lieber Fenk! sag mir alles! Ich bin zerruttet
und bezaubert von Dingen, die ich doch nicht fasse.«
Fenk ging lachelnd mit mir wieder zu den vier Briidern und
10 sagte zu ihnen: »Seht, das ist der Monsieur, euer funfter, auf den
sieben Inseln verlorner Bruder und euer Biograph dazu - nun hat
er endlich sein 45st.es Kapitel erwischt.« - Da wandte er sich an
mich: )>Du siehst doch,« (sagt* er) »daB das die Insel der Vereini-
gung ist - daB die Drillinge hier die drei Sonne des Fursten sind,
die unser Lord bringen wollte. - Deinetwegen, weil du schon lange
von den sieben Inseln weg bist, ist er durch alle Marktflecken und
um alle Inseln von Europa gefahren. Endlich schrieb ich ihm«. . . .
»Du bist gewifi auch« (unterbrach ich ihn) »mein Korrespon-
dent mit dem Hund gewesen.« -
20 »Fahr nur fort«, sagt* er.
»Und Knef ist der umgekehrte Fenk - und hast dich bei Viktor
fiir einen Italiener, der kein Deutsch kann, ausgegeben - und ihm
den ganzen Tag seine eigne Konduitenliste fiir den Lord abge-
schrieben, und fiir mich im Grunde auch, um sein und mein Spion
zu sein.« -
»So ists - und habe also« (sagt' er) »dem Lord auch geschrieben,
dein franzosischer Name Jean Paul mache dich verdachtig, und
da du noch dazu selber nicht weiBt, wo du her bist, und dazu ge-
rechnet dein narrisches Stuck Lebensweg, der wie in einem eng-
30 lischen Garten nicht eine Meile lang geradeaus geht<< —
»Der Biograph«, sagt' ich, »sollte iiberhaupt sein eigner sein.^ -
»Jetzo wird mirs unbegreiflich, wie ich nur nicht gleich darauf
1 Und ich mache hier mit Vergnugen dem Publikum zu meiner eignen
Lebensbeschreibung Hoffnung, womitich es,wenn ich nur noch einigenotige
Kapitel daraus erlebt habe, unter dem Titel beschenken werde : Jean Pauls
Apostelgeschkhte, oder dessen Taten, Begebenheiten und Meinungen.
1226 HESPERUS
fallen konnen; denn deine Ahnlichkeit mit Sebastian, die der
funfte Sohn des Fursten haben sollte, merktest du langst selber -
und dein Stettiner-Dosenstiick auf dem Schulterblatt,'das die
Herren da alle aufhoben, und das der Lord vorgestern selber
unter deinem Verbande angesehen.«
»So, so !« (sagt' ich) »Deswegen bekam also euer Biograph die
Falkenhaube, die Ruckenwunde, den hiibschen Rappen, und der
Fremde in Hof war der Lord?« -
Kurz bei allem diesen hatte der Lord sich gar vollig iiberzeugt,
dafi ich der sei, den er so lange gesucht; denn vorher hatte er 10
schon lange das Schreiben von Fenk durch funfzehn Hande er-
halten, indem es von Hamburg oder auch aus dem Lande Hadeln
nach Ziegenhain in Niederhessen lief, dann in die Herrschaft
Schwabeck, dann in die Grafschaft Holzapfel, nach Schweinfurt,
nach Scheer-Scheer und doch wieder zuruck nach ** und nach ***
und endlkh nach Flachsenfingen, wo ers erst erhielt: dort, in der
Insel der Vereinigung, war er lange versteckt gewesen, bis ihn
das Schreiben, der endigende Oktober, der die Muttermaler
gleichsam mit roter Dinte unterstrich, und am meisten die drei
aus St. Lune verwiesenen Briten, die auf der Insel ausstiegen, 20
nach Scheerau oder vielmehr nach Hof im Voigtland abzureisen
zwangen. Hier muBt' ich ihm nach einer Verabredung mit dem
italienischen Bedienten, d.h. mit dem Doktor Fenk, derenwegen
er mich eben aus meiner Insel dem 45sten Kapitel nachschickte
und deren Wiederholung in dem vom Blinden aufgefangnen, nun
entzifferten Billet vorkam, natiirlich begegnen, und mein altes
Gesicht, das er sofort mit einem jiingern Nachstich vom fiinften
Fiirstensohne zusammenhielt, warf sogleich im »HabergaBchen«
iiber alles das reichlichste Licht.
Sobald er das wuBte, lieB er mich allein hinter meiner Bienen- 30
Blechkappe und Mosis-Decke fahren und eilte voraus zum Fursten
gerade eine Minute fruher, eh' es - zu spat war. Denn Matthieu
hatte alles verraten; und die Drillinge wollte man eben aus der
Insel, worein sie geflohen waren, und unsern Viktor aus seiner
Mutter Hause, worin er schon Hof und Adel iiber Patienten und
Wissenschaften und Braut vergessen hatte, abholen zum Verhaft,
45- ODER LETZTES KAPITEL 1227
als der Lord sich bei dem Fiirsten melden lieB. Der Fiirst fiirch-
tete von ihm, wie Casar von Cicero, iiberredet zu werden. Der
Lord - dessen Seele ohnehin eine petrographische Karte erhabe-
ner Ideen war - verwirrte die MaBregeln des Fiirsten durch
einen kiihnern Trotz, als die MaBregeln berechnet hatten. Er fing
mit der Nachricht an, daB er nicht blofi einen Sohn dem Fiirsten
bringe, sondern alle, welches letzte er darum nicht versprochen
habe, weil er nicht wissen konnen, inwiefern ihn das Schicksal
vielleicht verlasse oder trage. - Er drang dem Fiirsten eine lange
io kalte Rede auf, worin er ihm den Studienplan der funf Sonne und
ihre Entwicklung, Geschichte und Bestimmung vorlegte. Indem
er die Beweise ihrer Abstammung vorauszusetzen schien, webte
er sie doch in die Schltisse aus der Abstammung kiinstlich ein. So
sagt' er z. B., niemand habe um das wichtige Geheimnis gewuBt
als die Lady und Klotilde und Emanuel, dessen heilige, alles mit
dem Tode beschworenden Dokumente er ihm hier neben andern
fiir die Kinder gebe; bloB ein gewisser Hof junker habe wahrend
der BHndheit von funf Geheimnissen ernes entwendet und gemifi-
braucht. Der Lord zerfaserte diese Fallstrick-Seele nicht, da sie,
20 wie er sagte, zu unbedeutend zur Genugtuung, zu schwarz ge-
beizet zur Strafe sei, und da er selber ohnehin bald aus diesen
Gegenden auf immer komme. Kurz, er griff so mit seiner All-
macht den Fiirsten an und zog so rein der Vergangenheit alle
Schleier ab, daB er diesen fast zwang, statt zu verdammen oder
loszusprechen, bloB abzubitten und Anklage und MiBtrauen mit
Dankbarkeit zu vertauschen. Das einzige Gute, endigte Lord
Horion, was der Junker getan, sei, daB er durch seine Saema-
schinen des Unkrauts die groBe schone Erkennung gerade auf
eine Monatzeit gereift und beschleunigt habe, worin die Frucht-
3° schnur der funf Schultern (die Muttermale) in Bliite stehe. Der
Fiirst wurde trotz des fremden Eises geschmolzen, denn seine
vaterliche Liebe war mit neuen Schatzen bereichert. Doch mischt'
er in seinen Dank diesen feinen Vorwurf wegen Viktors vorgeb-
lichen Adel: »Ich bin voll Dankbarkeit fiir Sie, ob Sie mir gleich
zu bald die Gelegenheit nehmen, sie zu zeigen. Bisher freuet' ich
mich, daB ich wenigstens an dem Sohne beweisen konnte, wie
1228 HESPERUS
sehr ich dem Vater, wenn nicht dankbar, doch verbunden ware.
Aber Sie kennen meinen Irrtum.« Der Lord - jetzo biegsamer
durch den Sieg - versetzte: »Ich weiB nicht, ob mich gute Ab-
sichten und schlimme Verhaltnisse entschuldigen ; aber ich konnte
nur einen Menschen fur wurdig halten, Ihr Leibarzt zu sein, den
ich fur wurdig erkannte, mein Sohn zu sein.« - Der Furst um-
armte ihn aufrichtig; der Lord erwiderte es ebenso warm und
sagte: am 3isten Oktober (der ist heute, und gestern sagte ers)
woir er seine redlichen Gesinnungen gegen den Fiirsten auf eine
Weise besiegeln, die mehr als a lie Worte entscheide — IO
Edler Mann ! Du verzehrst nichts weiter auf der Erde als dich
und bist ein Sturmvogel, durch dessen Fett ein Docht des Leuch-
tens gefadelt ist und den jetzo sein eignes Licht ausbrennt und ver-
kohlt — mir ahnet, als wenn deine schone Seele bald auf einer
andern, auf einer hohern Inset der Vereinigung sein werde als auf
dieser irdischen!
Ich schreibe dieses den 3isten Oktober vormittags um 10 Uhr
auf der Insel.
*
Abends um 6 Uhr in Maienthal
Womit wird dieses Buch noch enden? - mit einer Traae oder 20
mit einem Jauchzen? -
J Der Doktor Fenk warf bis um 2 Uhr (wo der Lord erst kommen
wollte) den Koch- oder Lumpen-Zucker der Laune auf unsere
Minuten und Schmerzen; sein narrisches rotes Gesicht war das
violette Zuckerpapief der SuBigkeit. Mein guter Viktor war mit
Klotilden in Maienthal. Fenk lachte mich in einem fort aus als
einen Dauphin. Er macht viel Gleichnisse, er sagt: ich bekame
erst am Ende eines Buchs und der ganzen Komodie den rechten
Titel, wie man den Journalen den Haupttitel erst im letzten Heft
beidruckt - oder ich avanciere, gleich einem Schachbauern, erst JO
auf dem letzten Felde zu einem Offizier. Es ist mir aber aus der
Geschichte recht gut bekannt, daB inFrankreich schon unter Lud-
wig XIV. das jetzige Gleichheitsystem, obwohl erst fur Prinzen,
da war, die der Konig gleichmachte, sie mochten als Mestizen oder
45- ODER LETZTES KAPITEL 1 229
Kreolen oder Quarteronen 1 oder Quinteronen oder Eingeborne
des Throns ans Leben ausgestiegen sein. Da man nun ebensogut
in Deutschland neue Gesetze und Novellen der Reichsgesetze
hervorzubringen vermag als auBer den Grenzen desselben:
so konnt* es ja bei meinen Lebzeiten geschehen, daB legiti-
mierte Prinzen fur thronfahig erklart wiirden - wodurch ich frei-
lich zur Regierung kame. Gut war's fur Flachsenfingen, wenns
geschahe, weil ich mir vorher die besten franzosischen und latei-
nischen Werke iiber das Regieren kaufen und es darin so stu-
10 dieren will, daB ich nicht fehlen kann. Ich glaube, ich darf mir
vorsetzen, das arme Menschengeschlecht, das ewig im ersten
April lebt und das nie vom Gangelwagen steigt - bloB mehre
Rader werden dem Wagen angesetzt -, ein wenig auf die Beine zu
bringen durch meinen Zepter. Sonst war ein Edelmann und das
Pferd eines englischen Bereiters imstande, den Hut abzuziehen,
ein Pistol loszuschieBen, Tabak zu rauchen, zu wissen, ob eine
Jungfer in der Gesellschaft war u.s.w.; jetzt aber haben sich
Pferd und Edelmann durch die Kultur so voneinander getrennt,
daB es eine wahre Ehre ist, letzter zu sein, und daB es meinem
20 Adel nichts schadet (ob ichs gleich anfangs besorgte), daB ich
mehr als gemeine Kenntnisse habe. In unsern Tagen sind die ade-
ligen Vorderpferde nicht mehr so we it wie vor hundert Jahren
vor den burgerlichen Deichselpferden am Staatswagen voraus-
gespannt; daher ists Pflicht, wenigstens Klugheit (auch fur einen
neuen Edelmann wie ich), daB er (oder ich) sich herablasset und
das Gefiihl seines Standes - warum soil mir das nicht so gut ge-
lingen wie andern? - unter die Verzierung einer gefalligen leichten
Lebensart versteckt, und sich iiberhaupt auf keine Ahnen etwas
einbildet als auf die kunftigen, deren samtliche Verdienste ich mir
30 nicht groB genug denken kann, weil die Erde noch blutjung und
erstim Fliigelkleide und, wie Polen, im polnischen Rockchen ist.
Ich komme zuriick. Um 2 Uhr kam der Lord mit seinem blin-
den Sohn, gleichsam die Philosophic mit der Dichtkunst. Scho-
ner, schoner Jungling! die Unschuld hat deine Wangen gezeich-
1 Quarteronen sind Kinder von Terzeronen, die wieder Kinder von Mu-
latten und WeiCen sind.
1 230 HESPERUS
net, die Liebe deine Lippen, die Schwarmerei deine Stirne. Der
Lord mit der Laudons-Stirne und mit einem heute mehr als in
Hof verdunkelten schattigen Gesicht, an das" die Flitterwochen
der Jugend und die Marterwochen des spatern Alters vermischtes
Helldunkel warfen, dieser trat heute fast warmer zu uns, obwohl
mit lauter Ziigen des Gefuhls, daB das, Leben ein Schalttag sei und
daB er nur die Menschenliebe, nicht die Menschen liebe. Er sagte,
wir sollten ihm und dem Hofmedikus den Gefallen tun, letzten
noch heute in Maienthal zu besuchen und herzubringen, weil er
hier ohne Augenzeugen noch allerlei Anordnungen fur die An- 10
kunft des Fiirsten zu vollenden habe; wir sollten aber in der Nacht
mit Viktor wiederkommen, weil unser Herr Vater morgen sehr
fruhe eintreffe. Der Blinde konnte als Blinder dableiben. Es fiel
mir nicht auf, daB er dem guten verhiillten Julius verbarg, daB
er sein Vater war, denn er sagte zwei- und dreideutig: »Da der
Gute schon einmal den Schmerz, einen Vater zu verlieren, xiber-
standen hat, so muB man ihn diesem Schmerze nicht zum zweiten
Male aussetzen.« Aber dies fiel mir auf, daB er uns bat, ihn fur das,
was er bisher fur Flachsenfingen tun wollen, dadurch zu beloh-
nen, daB wirs selber taten, und ihm eidlich zu versichern, daB wir 20
in den Staatsamtern, die wir bekommen wiirden, seine kosmopo-
litischen Wiinsche, die er uns schriftlich ubergab, erfiillen wiir-
den, wenigstens so lange bis er uns wiedersdhe. Der Furst hatt* ihm
dieselbe feierliche Versicherung geben miissen. Wir sahen zu ihm
hinauf wie zu einem bewolkten Kometen und schwuren mit Trauer.
Wir traten den Weg nach Maienthal an. Ein Englander er-
zahlte uns, daB er hinter dem Trauergebiisch - der Schlafkammer
der Mutter des Blinden, der Geliebten des Lords, die unter einer
schwarzen Marmorplatte ausruht - einen zweiten Marmor habe
aufgestellt gesehen, den die anfiatternden Flortucher xiberdecken 50
sollten und doch nicht konnten. O da sah jeder von uns sich be-
klommen nach der Insel urn, wie nach einer unterminierten Stadt,
eh* sie zenissen aufgeschleudert wird. - Aber meine Sehnsucht,
Viktor und Maienthal, diesen Irr- und Blumengarten meiner
warmsten Traume, zu erblicken, iibertaubte die Angst.
Endlich erstiegen wir den sudlichen Berg, und das bunte Eden
45- ODER LETZTES KAPITEL I23I
wuchs mit seiner Blatter-Fiille und mit dem Gewimmel seiner
pulsierenden Zweige rauschend ins Tal hinab - driiben lag in
Asten wie ein Nachtigallennest Emanuels stille Hiitte, in der jetzo
mein Viktor war - naher an uns brauste die Kastanienallee, und
oben drauBen ruhte der abgemahte Kirchhof. - Mir, der ich alles
dieses bisher nur im Traum der Phantasie gesehen, war jetzo wie-
der, als zogenTraume heran ; und der undurchsichtigeBodenwurde
ein durchsichtiger voll Duft-Gebilde -und ich sank voll Wehmut
auf den Berg .... Ich ging endlich hinab wie in ein gelobtes Land,
ro aber meine ganze Seele wickelte ein weicher Leichenschleier ein.
- Und mein Viktor riB den Schleier weg und driickte seine
warme Seele an meine, und wir schmolzen ein zu einem gliihen-
den Punkt. - Aber ich will ihm nachher, wenn er wiederkommt
aus der Abtei, noch einmal und noch warmer an die Brust fallen
und ihm dann erst meine Liebe recht sagen . . . . O Viktor, wie bist
du so milde und so harmonisch, so veredelt und so erweicht, wie
schon in der Freudentrane, wie groB in der Begeisterung ! - Ach
Menschenliebe, die du dem innern Menschen das griechische
Profil und seinen Bewegungen SchonheitHnien und seinen Reizen
20 Brautschmuck gibst, verdopple deine Wunder- und Heilkrafte in
meiner hektischen Brust, wenn ich Toren sehe, oder Sunder, oder
unahnliche Menschen, oder Feinde, oder Fremde!
Viktor, der nie die Angst eines Menschen noch groBer machte,
gab uns einige Beruhigung uber den Lord. Er ging zu Klotilden
ins Stift, um uns bei ihr und der Abtissin anzumelden — der spate
Besuch wird durch die Notwendigkeit der nachtlichen Zuruck-
kehr entschuldigt. Bis er wiederkommt, halt' ich mit meiner Ge-
schichte still. Ich sah ihm nach auf seinem Wege zur Braut, und
seine Hand, sein Auge und sein Mund waren voll GriiBe fur jeden,
30 besonders fur verschmahte Menschen, fur Greise, fur alte Wit-
wen. Die Freude meines Helden wird die meinige ; die Zeit arbeitet
an dem schonen Tage, wo sein Herz auf immer mit dem ver-
lobten verschmilzt, wo er, ohne ein Gelenke der entzweigeschnit-
tenen Floh- und AfTenkette des Hofes, frei durch die Natur geht,
nichts ist als ein Mensch, nichts macht als Kuren statt der Cour,
nichts liebt als die ganze Welt und zu glikklich ist, um beneidet
1232 HESPERUS
zu werden. Dann will ich einmal, mein Bastian, abends im Mond-
schein unter Linden-Dampf und Linden- Gesumse bei dir essen
und mich auf den Ballen gerade ausgepackter abgedruckter Hund-
posttage setzen. Obrigens bin ich - ob ich mir gleich mein eignes
Ich sitzen HeB, urn seines abzufarben - nur ein elender zerflosse-
ner ausgewischter Schieferabdruck von ihm, nur eine sehr freie
paraphrasierte Verdolmetschung von dieser Seele; und ich finde,
daB ein gebildeter Pfarrsohn im Grunde besser ist als ein ganz un-
gebildeter Prinz, und daB die Prinzen nicht wie die Poeten ge-
boren werden, sondern gemacht. 10
Ich hoffe, ich habe so lange Materie zum Schreiben, bis er
wiederkommt. Ich habe iiberhaupt in dieser Lebensbeschreibung
als Supernumerarkopist der Natur allezeit die Wirklichkeit ab-
geschrieben-z.B.beiFlaminsCharakterhatt' icheinenDragoner-
rittmeister im Kopf - bei Emanuels seinem dacht' ich an einen
groBen Toten, einen beruhmten Schriftsteller, der gerade am
Tage, wo ich Emanuels Traum von der Vernichtung mit siiBer
schauernder Trunkenheit schrieb, aus der Erde ging und halb
unter sie. - Die Gottin Klotilde fiigt' ich aus zwei weiblichen
Engeln zusammen, und ich werde in wenig Minuten selber sehen, ™
ob ich sie getroffen. VerdrieBlich ists, daB ich aus Gewohnheit
den Leuten dieses Buchs in Gesprachen die hundposttaglichen
Namen gebe, da doch Flamin eigentlich ** heiBet und Viktor **
und Klotilde gar **. Es ware zu wiinschen - ich nab' es nicht ver-
schworen - ich machte die wahren Namen nach dem Tode einiger
moralischer Maroden und Pestkranken dieser Hefte oder nach
fneinem eignen der Welt bekannt. TV ichs, so wird das gelehrte
Europa hinter alle die Grunde kommen, die das politische schon
weiB, welche den Berghauptmann abgehalten haben, in einige
Partien seiner Historie (zumal tiber den Hof) so viel Licht ein- 30
fallen zu lassen, als er wirklich hatte geben konnen; und ich er-
warte, ob nach der Ausstellung dieser Grunde der Zeitungschrei-
ber Y. und der Gesandtschaftsekretar Z. - die zwei groBten
Feinde des flachsenflngischen Hofes und meiner Person - noch
behaupten werden, ich sei dumm. Ja ich bin so kiihn, mich hier
orTentlich auf den ** Agenten in ** zu berufen, ob ich nicht manche
45* ODER LETZTES KAPITEL 1233
Personen in der Geschichte ganz ausgelassen habe, die darin
mitgehandelt hatten und die in meiner biographischen Zucker-
muhle als unterschlachtige Rader mit im Gange gewesen waren;
noch mehr, ich gebe meinem Widersacher-Paar sogar die Erlaub-
nis, die weggelassenen Personagen - letzte haben einige Gewalt,
zu schaden - der Welt zu nennen, wenn dieser doppelte Geier
das Herz dazu hat ....
Der gute Spitzius Hofmann wedelt jetzt und springt vor mir in
die Hohe. Guter, fleiCiger Posthund! biographische Egerie Jean
10 Pauls! ich werde dich zur Aufmunterung, sobald ich Zeit habe,
ausschinden und nett ausbalgen und mit einer Heu-Wurstfulle
durchschieBen, urn dich in eine offentliche Ratbibliothek als dein
eignes Brustbild neben andere Gelehrte von Rang einzustellen!
- Meusel ist ein billiger Mann, den ich in einem eignen Privat-
schreiben um einen Sitz im gelehrten Deutschland fur den Spitz
ansprechen will. Dieser Gelehrte wird, so gut wie ich, nicht ein-
sehen, warum ein so fleiBiger Handlanger und Kompilator und
Spediteur der Gelehrsamkeit, als mein Hund ist, bloB darum ein
elenderes kalteres Schicksal erleiden soil als andere gelehrte Hand-
20 langer, bloB darum, sag' ich, weil er einen Schwanz tragt, der
sein SteiB-Toupet vorstellt. BloB der setzt das arme Vieh auf der
Rangliste der Gelehrten herunter.
- Ich sehe jetzo Viktor durch die Lauben des Gartens von Lich-
tern begleitet; ich will nur nocheiligst herwerfen, daB ich in der
mit entblattertem Gestrauch vergitterten Sakristei Emanuels sitze.
Eile nicht so, Sebastian, der du wegen deiner bisherigen Ver-
wechslungen den drei oder vier Pseudo-Sebastianen in Portugal
gleichst, eile nicht, damit ich nur noch zu meiner Schwester sagen
kann: du geliebte Ex-Schwester, dein toller Bruder schreibt sich
30 von y aber du hast nur seine Brust, nicht sein Herz verloren. Wenn
ich nach Scheerau komme, will ich mich um nichts scheren und
an dir unter dem Umarmen weinen und endlich sagen: es hat
nichts auf sich. Mein Geist ist dein Bruder, deine Seele ist meine
Schwester, und so verandere dich nicht, verschwistertes Herz.
- Der gute Viktor geht hastig. Ach Menschen, die der Schmerz
oft erkaltet hat, haben weder in den korperlichen noch mora-
1234 HESPERUS
lischen Bewegungen die langsame Symmetric des Glucks, so wie
Leute, die im Wasser waten, groBe weite Schritte tun. — Armer
Viktor! warum weinest du jetzo so und kannst dich gar nicht
trocknen?...
*
Friih um 4 Uhr in der Insel der Vereinigung
Ach es ist lange, daB ich fragte : wird sich dieses Buch mit einer
Trane schlieBen? — Viktor kam heute nachts um 8 Uhr mit zwei
groBen unbeweglichen Tranen auf dem Augenrand zuriick und
sagte : »Wir wollen nur ein wenig schnell auf die Insel zuriickeilen ;
Klotilde blttet uns selber darum, sie lieber ein anderesmal zu 10
sehen. Ein Ungluck - (habe ihr getraumt) - richte sich jetzo groB
und hoch wie eine Meerschlange auf und werfe sich nieder auf
Menschenherzen, wie jene auf SchifTe, und driicke sie hinunter.<<
Sie war mit jeder Minute banger und enger geworden, wie man
an einer dumpfen Stelle wird, tiber der noch der Blitz zielet und
zischt. Was setzte dies anders voraus, als daB der Lord seiner
treuen Freundin Dinge entdeckt hatte, die wir in dieser Nacht zu
erleben besorgten? Und wir konnten uns alle die Sorge nicht mehr
verhehlen, daB sein mtider Geist vielleicht wie Lykurg das Siegel
seiner Leiche auf seine Versicherung driicken wolle, daB wir Jen- 20
ners Sonne sind, ferner auf unsern Schwur, gut zu sein, und auf
den furstlichen, meinen Brudern zu folgen, bis er wiederkomme.
»Weine nicht so sehr, Viktor !« (sagt' ich) »es ist doch noch nicht
gewiB.« Er trocknete sich still und gern die Augen ab und sagte
bloB: »So wollen wir denn auf die Insel ^etzo gehen - es wird
schon 9 Uhr.«
Wir gingen fern, fern vor der fleckigen Trauerbirke voriiber,
die ihr abgerissenes Laub der welken Hiille des groBen Menschen
nachwarf. Viktor konnte vorSchmerz nicht hiniibersehen; aber
ich blickte mit einem kalten Zittern nach ihrem Schwanken im 30
heitern Nachthimmel. Erst seit einigen Tagen, wo Viktor gliick-
Hcher geworden war, hatte sich der Staub Emanuels gleichsam
wieder in eine blasse Gestalt zusammengezogen und sich auf das
Toterigriin herausgestellt und die Arme weit fur seinen alten Lieb-
45- ODER LETZTES KAPITEL 123$
ling aufgetan - und Viktor jammerte und schmachtete und wollte
vergeblich sich sterbend an den weiBen Schatten pressen.
Er lachelte schmerzlich, da er uns und sich durch die Worte
zerstreuen wollte : »Der narrische Mensch duckt (biickt) sich wie
ein Vogel, wenn nur das Ungliick von weitem auf ihn zugeht.« Seine
Tranen machten ihn zum Blinden, und ich und Flamin waren seine
Fiihrer, dennoch griiBte er in seinem Schmerze einen Nachtboten.
Ich habe nichts gesagt (denn ich kann rficht) vom Garten des
Endes, von dem verbliihenden Boden abgebluhter abgelaubter
10 Freudentage.
Ober die Stoppeln und iiber die Puppen der Nachtschmetter-
linge (der Gaukler in kiinftigen Fruhlingnachten) und iiber den
festen unterirdischen Winterschlaf fuhren die einsamen Nacht-
winde - ach der Mensch muBte wohl denken: »Liifte, kommt ihr
nicht iiber Graber her, iiber teure, teure Graber?« —
Ich sagte: »Wie schmal ist der blaBgriine Zwischenraum von
Erde zwischen Menschenleibern und Menschengerippen !«— Viktor
sagte : »Ach die Natur ruht so viel,und warum unser Herz so wenig?«
Es war gegen Mitternacht. Der Himmel blinkte naher an der
20 Erde, der Schwan, die Leier, der Herkutes 1 schimmerten unter-
gesunken durch ein anderes Himmelblau. GroBer Himmel -
; sagte jedes Herz -, gehorest du fur den Menschengeist, nimmst
du ihn einmal auf, oder gleichst du nur dem Deckengemalde
eines Doms, das die gemauerten Schranken verbirgt und mit Far-
ben die Aussicht in einen Himmel auftut, der nicht ist? - Ach jede
Gegenwart macht unsere Seele so klein, und nur eine Zukunft
macht &ie groB.
Viktor war auBer sich und sagte wied'er: »Ruhe! dich geben
weder die Freude noch der Schmerz, sondern nur die Hoffnung.
30 Warum ruht nicht alles in uns wie urn uns?«
Da schlug der von alien Waldern nachgelallte Knall eines
Schusses durch die stille Nacht - und die Insel der Vereinigung
schwamm im Nachtblau auf, und ihr weiBer Tempel hihg iiber
ihr - und neben dem Trauergebiisch, das iiber das Zerfallen eines
1 Der Schwan ist die Giulia, die Leier des Apollo Emanuel, der Herkules
erinnerte an den Lord.
1236 HESPERUS
jungen Herzens hiniiberwuchs, schossen gen Himmel neun
schmale Flammen, die an den neun Floren aufliefen, gleichsam
Freudenfeuer zu einem Friedenfeste.
Bleich, eilend, seufzend, schweigend beriihrten wir das erste
Ufer der Insel. Das Wasser war vom Boden trocken eingesogen.
Das schwarze Morgentor hatte sich weit aufgerissen und seine
weiBe Farbensonne an Baume gelehnt und verdeckt. Viele Lei-
chenfackeln auf weiBen Gueridons knupften sich ans Morgentor
an, gingen den langen griinen Weg hinein, flimmerten iiber Rui-
nen, Sphinxe und Marmortorsos und endigten sich dunkel im 10
Tr auergebiisch .
Flatterndes Getone der Aolsharfen wurde am Eingang von
langen Tonen durchzogen. Unter dem Morgentor ruhte still der
Blinde und spielte froh auf seiner Flote - so wie eine Taube in den
Donner fliegt.
Er fiel freudig an seinen Viktor und sagte : »Es ist gut, daB du
kommst; ein stiller langer Mann hat sich eine halbe Viertelstunde
an mein Herz gelegt und in meine Hand geweint und mir ein
Blatt an dich gegeben.«
Viktor riB das Blatt zu sich, es hieB : »Ihr alle habt geschworen, 20
so lange meine Bitten zu erfullen, bis ihr mich wieder hort; aber
decket den schwarzen Marmor nicht auf.« - Der Lord hatt' es
dem blinden Sohne gegeben. Viktor rief : »0 Vater, o Vater, ich
konnte dir also nichts belohnen !« und sank an die Brust des Sohns.
Er wollte sich von ihr reiBen, aber der Blinde umklammerte ihn
und lachelte freudig unwissend in die Nacht. - Wir eilten ins
Trauergebiisch - und indem darin die zwei Leichenfackeln aus-
brannten, so sahen wir, dafi einzweites Grab darin ausgehohlt war,
dessen frische Erde daneben lag - daB ein schwarzer Marmor die
Hohle zudeckte, und daB das schwarze Kleid des Lords ein wenig 30
aus der Hohle vorsah, und daB er sich darin getotet hatte. - Und
auf seinem schwarzen Marmor stand, wie auf dem Marmor seiner
Geliebten, ein blasses Aschenherz, und unter dem Herzen stand
mit weiBen Buchstaben:
Es ruht
Ende des Buchs
ANHANG
Anmerkungen
»Der Theolog hasset juristische Anspielungen - der Jurist theologische -
der Arzt beide - der Mathematiker alle vorigen - ich liebe sie alle; was soil
man da lassen oder nehmen?« schreibt Jean Paul mit scherzhafter Ratlosig-
keit in der Vorrede zur zweiten Auflage des »Hesperus« (S. 483, 23 <ff.). Diese
Haltung des Dichters und die aus ihr entspringende, eigenwillige Neigung
seines Erzahlstils zu verklausulierenden Anspielungen und »Ausschweifen<',
zu abliegenden Assoziationen und Metaphern bringen es mit sich, da6 man
zum vollen Verstandnis der Werke auf Erklarungen nicht ganz verzichten
kann.
Die Anmerkungen unserer Ausgabe versuchen nicht, das dichterische
Wort Jean Pauls, seine Gedankengange oder die Bewegung seiner Sprache
zu deuten und zu interpretieren. Sie versuchen auch nicht umgekehrt, in
kleinlicher Weise das oft spielerisch zusammengetragene Wissen des Dich-
ters, zumal wo er es als oeigentlich iiberflussige Gelehrsamkeit« ausdriicklich
zum »Vexieren<i des Lesers bestimmt hat, wieder in seine Elemente und Bau-
steinchen zu zerlegen, sondern die Anmerkungen sollen im ganz konkreten
Wortsinn dem unmittelbaren Verstandnis des Textes dienen und nach
Moglichkeit dem Leser alle dazu erforderlichen Hilfen an die Hand geben.
In knapper Form enthalten sie zunachst die notigen Erklarungen un-
gebrauchlicher Worter und Begriffe, vor allem der vielen Fachausdriicke
aus oft recht abseitigen und versteckten Wissensgebieten, und der zahl-
reichen, uns heute fremd gewordenen Namen. Manche von diesen waren
schon dem Zeitgenossen unbekannt: er sollte sie nach dem Wunsch des
Autors gar nicht kennen, und jede Erklarung wiirde hier den Reiz des Spie-
les, das der Dichter mit seinem Publikum treibt, zerstoren. Mit den meisten
Namen aber verband der zeitgenossische, gebildete Leser eine zugleich feste
und lebendige Vorstellung, auch wenn eine Anspielung oder ein Zitat ihm
im einzelnen dunkel blieb. Daher schien dem Herausgeber in solchem Punkt
haufig eine Erklarung am Platze, selbst wo sie das Textverstandnis nicht
direkt erleichtert. Auf Namen, die heute noch als bekannt und gelaufig vor-
ausgesetzt werden diirfen, wird jedoch nur kurz und stets nur im Zusammen-
hang einer bestimmten Textstelle oder Anspielung eingegangen.
Soweit es moglich oder von Nutzen war, wurden auch Nachweise der
bei Jean Paul sehr haufigen Zitate aus anderen Werken und fremden Schrift-
stellern gegeben, bei zum Verstandnis wesentlichen und nicht zu umfang-
lichen Stellen wird bisweilen auch der Wortlaut angefuhrt Lateinische
I24O t ANMERKUNGEN
Zitate im Text werden iibersetzt, bei den franzosischen glaubte der Heraus-
geber, davon Abstand nehmen zu diirfen. Dartiber hinaus wird auf Bezie-
hungen zu anderen Werken und Autoren, auf Motivparallelen und die
Obernahme von einzelnen Handlungsziigen verwiesen, die besonders fur
die friihen Schriften entscheidend und sehr charakteristisch sind.SchlieB-
lich enthalten die Anmerkungen noch Angaben iiber eventuelle Erweite-
rungen, Einschiibe und Veranderungen der spateren Auflagen gegenuber
der Erstausgabe und iiber Konjekturen und Textverbesserungen unserer
Ausgabe.
Jedem Werk ist ein kurzer AbriB iiber die Entstehungsgeschichte und
die Geschichte der Drucke vorangestellt, der einmal das Nachwort ent-
lasten, zum andern auf besondere Schwierigkeiten und Probleme der Text-
gestaltung und der Kommentierung hinweisen soli. Die Anmerkungen selbst
folgen dem Text fortlaufend und sind mit Seiten- und Zeilenzahlen gekenn-
zeichnet. Da alle Erkiarungen mehrfach, bisweilen sehr haufig notwendig
sind, werden sie stets nur an der ersten oder aber an der wichtigsten Stelle
gegeben: einfache Worterklarungen einmal innerhalb jeder Schrift. ohne
da 6 spater nochmals auf diese Note verwiesen wird, langere Sacherklarun-
gen nur einmal innerhalb eines Bandes. Doch erfolgt dann in jedem einzel-
nen Werk ein Verweis auf diese erste Anmerkung.
Fur die Wort- und Namenerklarungen war der Herausgeber, da die
Registerbande der Gesamtausgabe noch nicht vorliegen und da gerade fur
den ersten Band auch sonstige Vorarbeiten fehlen, durchwegs auf eigene,
oft sehr langwierige Einzelnachforschungen angewiesen. Als Quellen wur-
den nach Moglichkeit Nachschlagewerke und Worterbiicher der Zeit be-
nutzt; die Zuverlassigkeit der Angaben richtet sich daher in vielen Fallen
nach der nicht immer zweifelsfreien Zuverlassigkeit dieser Quellen. In
Fragen der Zitate, der Anspielungen, der Vorlagen und literarischen Par-
allelen konnte man sich hingegen auf die Anmerkungen der von Eduard
Berend edierten Kritischen Ausgabe stiitzen, deren Ergebnisse weitgehend
in den Kommentar mit einbezogen sind.
Herr Professor Berend stand daruber hinaus dem Herausgeber bei der
muhevollen Arbeit des Kommentierens stets hilfsbereit zur Seite, fiir welche
liebenswurdige Unterstiitzung ihm an dieser Stelle auf das herzlichste ge-
dankt sei.
Norbert Miller
ANMERKUNGEN I24I
Die unsichtbare Loge
Plan und Vorarbeiten zur »Unsichtbaren Loge« reichen bis in die Mitte des
Jahres 1790 zuriick. Niedergeschrieben wurde der Roman dann nach dem
Ausweis des Tagebuchs zwischen dem 1 5.Marz 1791 und dem Schalttag des
folgenden Jahres. Das korrigierte und erganzte Manuskript (aber noch ohne
den »Wutz« und mutmafilich ohne Titel) ging am 7-Juni 1792 an Karl
Philipp Moritz..Dieser reagierte begeistert und vermittelte Jean Pauls Erst-
ling an seinen Sch wager Carl Matzdorff in Berlin, in dessen Buchhandlung
der Roman 1793 in zwei Banden erschien. — Eine zweite, inhaltlich kaum
veranderte Auflage erlebte die »Unsichtbare Loge« erst 1822 im Verlag von
Georg Reimer, Berlin. Jean Paul begmigte sich im wesentlichen mit sprach-
lichen Anderurigen: Tilgung des Fugen-S, Eindeutschung der Fremdwor-
ter, und mit geiegentlichen Glattungen im .Wortgefiige. Auf die wenigen
und geringfugigen inhaltlichen Erweiterungen wird in den Anmerkungen
hingewiesen. Fur die Gesamtausgabe diktierte der Dichter in seinen letzten
Tagen noch eine »Entschuldigung«, ohne den Text jedoch neu durchsehen
zu konnen.
Titel: Eine konkrete Erklarung des^Titels aus der Handlung heraus
versucht der Dichter in seiner »Vorrede zur zweiten Auf lage« (vgl. S. 20, 1 5 ff.)
zu geben. Der ganze Ausdruck: »die unsichtbare Loge« scheint jedoch aus
der Freimaurersprache ubernommen zu sein und dort etwa dem Begriff der
»unsichtbaren Kirche« in der theologischen Terminologie zu entsprechen.
So werden beide Formeln von J. P. im Antrittsprogramm des »Titan« neben-
einander angefuhrt.
Motto: freies Zitat nach dem »Witzigen Anhang« zur *Ersten Zu-
sammenkunft mit dem angenehmen Leser« aus J. P.s zweitem satirischem
Werk.
S. 1 5, 1 8 neun Jahre lang: Nach einem friihen Romanversuch: »Abelard
und Heloise« schrieb J. P. fast zehn Jahre lang nur Aufsatze und Satiren, von
denen 1783 in zwei Bandchen die »Gronlandischen Prozesse<( und 1789 die
»Auswahl aus des Teufels Papieren« im Druck erschienen. — 22 hora^isches
Jahrneun: Horaz fordert in seiner Epistel: »de arte poetica« (v. 388/89):
»nonumque prematur in annum / membranis intus positis« (Neun Jahre
halte es unsichtbar und laB die Handschrift eingeschlossen ruhen).
S. 16, 24 im 30ten Jahre: Goethe war beim Erscheinen der »Lehrjahre«
37 Jahre alt; Henry Fielding (1707-54) war 35 Jahre, J.J.Rousseau (171 2
bis 1778) fast 50 und Samuel Richardson (1689-1761) iiber 51 Jahre, als
ihre ersten Romane erschienen. - 2S romantisch: hier im alteren Sinne von
»romanhaft.« - 2j Georg Chr. Lichtenberg (1742-99) : In seinem »Vorschlag
zu einem orbis pictus usw.« (1780). Auch der erste Teil des Absatzes ist dieser
Schrift verpflichtet.
1 242 ANMERKUNGEN
S. iS^iyff. Zacharias Werner (1768-1823): romantischer Dramatiker,
Freund E. T. A. Hoffmanns, gefordert von Iffland und Goethe, war 18 10
nach einem unsteten Wanderleben zum Katholizismus iibergetreten. Die
beiden Dramen: ^Luther oder die Weihe der Kraft« und ftAttila, Konig der
Hunnen« erschienen noch vor seinem Glaubensiibertritt 1807 und 1808. -
18 Adolf Milliner (1774-1829): Jurist und Stiickeschreiber, Hauptvertreter
der sog. Schicksalsdramatik. stKonig Vngurda erschien 1817, »Die Albanese-
rina 1820.
S. 19,* Friedrich Hoffmann: Gemeint ist E. T.A.Hoffmann, zu dessen
erstem Buch: »Fantasiestiicke in Callots Manien (18 14) J. P. die Vorrede
geschrieben hatte. Mehr aus personlichen Grunden entfremdeten sich beide
Dichter in der Folge. - z o Tieck: J. P. zielt auf die oft form- und ziigellosen
Marchenspiele und Erzahlungen,-wie sie Ludwig Tieck urn die Jahrhundert-
wende liebte (»Der gestiefelte Kater«, »Prinz Zerbino« usw.)
S. 23, 1 Vorredner: Die Einkleidung ist von Laurence Sternes »Empfind-
samer Reise« (1768) beeinfluBt. Dort schreibt Yorick ebenso die Vorrede
in einer geschlossenen Desobligeante (einem einsitzigen Reisewagen). -
30 Schwiegervater : Dieser Absatz ist wie die beiden Stellen S.27, 4-12 und
S.31, 35-32, 3 dem Prolog zur »Bayrischen Kreuzerkomodie« entnommen,
einer satirischen Fruhschrift des Dichters. So kommt der Junggeselle des
Romans in der Vorrede zu einem Schwiegervater.
S. 24, 3 offyinell: arzneilich, heilsam. - 4 Albrecht von Hatter (1708-77) :
»das Wunder seiner Zeit«, Arzt, Naturforscher, Politiker und Dichter. Sein
med. Hauptwerk: »Elementa physiologiae corporis humanh (1759-66, dt.
8 Bande 1762-76) iibte auf den jungen J.P. ungemeinen EinfluB aus. -10
phlogistisch : eigtl. brennbar, hier: stickig, erstickend. — 12 antimephitischer
Respirator: ein Gerat, um das Atmen in Stickluft zu ermoglichen, das 1783
von dem franz. Physiker und Aeronauten Pilatre de Rosier (1756-85) er-
funden wurde. - 21 Phthisiker: Schwindsuch tiger. - 24 Miasma: Anflug-
gift.
S. 25, 2 Joachim Heinrich Campe (1746-1818) : Padagog, Sprachforscher,
in seinen frProben einiger Versuche dt. Sprachbereinigung« von 1791, FuB-
note zu S.9. - 12 Lagado: vgl. Swift, Gullivers Reisen, 3-TeiI,. 5-Kap. -
29 Montgolfiere: von den Briidern Montgolfier 1783 konstruierter Luft-
ballon.
S. 26, / 2 Haberrohr: seit dem 17. Jahrh. ublicher Name fur Schalmei. - 3S
homer ischer Schlaf: Nach dem bekannten Wort des Horaz in »de arte poetica«
(v. 357f.) : »et idem / indignor, quandoque bonus dormitat Homerus.« (Und
ebenso verdrieBt es mich, wenn einmal der treffliche Homer schlaft.)
S.27, 22 chaussure: FuBbekleidung.
S.28,7^ Claude Prosper Jolyot Cribillon d.J. (1707-77): franz. Schrift-
steller, oft vorziiglicher Autor erotischer Romane (»Le sopha« 1740).
S.29, 2 Candide: Voltaires Erzahlung (1759) als Beispiel des kurzen,
unepischen Episoden-Romans. - 3 Joh. Heinr. Vofi (1751-1826): schrieb
ANMERKUNGEN 1 243
seine Idyllen in betont schlichter, schrittweise vorgehender Erzahlweise.
VgL auch S. 127, 31. — 7 magister sententiarum: Lehrmeister der Entschei-
dungen, ein Beiname des Scholastikers Petrus Lombardus (f 1 160), der eine
Sammlung: »LibriIV sententiarum* (Ausspriiche derHeiligen) verfaBthat.-
8 39 Artikel: die Glaubensartikel der anglikanischen Kirche von 1563. -
8 So De^isionen: Entscheidungen Justinians uber altere Rechtskontroversen
aus den Jahren 529-32. — 22 Tom Jones (1749) und Clarissa (1747—48): die
Hauptwerke Fieldings und Richardsons. - 30 Friedr. Max. Klinger (1752
bis 1831): fruchtbarster Dramatiker des Sturm und Drang. Seine Dramen:
bMedea in Korintha und » Medea auf dem Kaukasus* entstanden 1787
und 1791.
S.33,5 darin: auf »Jahr«, nicHt auf »Schach« zubeziehen! - 5 Santa Her-
mandad (heilige Bruderschaft) : scherzhafte Bezeichnung der Polizei in
Spanien. - s> Strehpenik: Im heutigen Strobeck bei Halberstadt waren die
Einwohner wegen ihres leidenschaftlichen und guten Schachspielens ehemals
von alien Abgaben befreit. - 16 Kempelscke Schachmaschine: Wolfgang
von Kempelen (1734-1804) gelangte durch die Erfindung eines Schach-
automaten, der als Tiirke gekleidet war, zu europaischem Ruhm. -18 Kon-
viktorist: Freitischganger, Tischgenosse.
S. 34,5) deployieren: entfalten, ausschwarmen lassen. — 14 Quaterne :Vier-
treffer im Lotto, vier Gewinne von funf moglichen in einer Reihe.
S. 36,1 5 ]oh. Christian Adelung (1732-1806): aufklarerischer Sprach-
forscher, hatte im »Magazin fur die dt. Sprache*, 2.Bd. 1. Stuck, gegen
diesen MiBbrauch geschrieben. - .27 philidorisch: wie Francois Andre*
Damian, gen. Philidor (1726-95), der anerkannt erste Schachspieler seiner
Zeit.
S.38,7 Anschrot; eigtl. Anschnitt, dann Rand und Besatz.
S. 40, 32 Priniipalkommissarius ; seit 1663 Titel des kaiserlichen Ver-
treters auf dem Reichstag.
S.4i,/ Narrheit- Journal: das von Bertuch und Kraus edierte »Journal
des Luxus und der Moden^ 1786 ff. - / 5 Epitomator: Verfasser eines Werk-
auszugs.
S.44,3/ Kleisteralchen; Infusionstierchen, das in Kleister und Essig auf-
tritt. - 33 terminus medius: verbindendes Mittelglied eines, logischen
Schlusses.
S.46,/6' Preiskurant: Preismiinze, scjierzhafte Koppelung, da Kurant
iunachst »gangiges« Geld, schlechteres Silbergeld bezeichnet. - 24 Knots
(Knjas) : russ. FiirstentiteL.
S.47,/* anastomosieren; zusammcnmunden (der Adern), beriihren. -
2i hogarthisches Schwan^stiick: »Tail-Piece, Finis or the end of the world*
nannte der engl. Maler und Kupferstecher William Hogarth (1697-1764)
seinen letzten Kupferstich.
S.48,/ Meibomium de cerevisiis: Von Joh. Heinr. Meibom (1590-165 5)
ist ein posthumes olibrum de vino et cerevisiis* (Ober Wein und Biere) er-
1244 ANMERKUNGEN
schienen. — 24 Luperkalien: urspr. ein ausgelassenes rom. Fest zu Ehren
des Pan.
S.49,.9 die sec As nicht natiir lichen Dinge: Diese werden auch in Sternes
»Tristram Shandy* (IV, 19) apostrophiert.
S.50,z Monturen in Kassel; Anspielung auf den Soldatenhandel Fried-
richs II* von Hessen -Kassel, der 1776-77 fur den amerikanischen Krieg
12000 Soldaten nach England verkaiift hatte. - 7 Mufiteil: die Halite der
bei Erbteilung vorgefundenen Speisevorrate, welche der Witwe des Erb-
lassers zufallen.
S.yi,z5 Hephata (hebr.): »Tu dich auf!«, vgl. Markus 7,34^
S. $5,1 Gin: Die Druckesetzen wohl versehenriich »an«. - 21 Schwa-
bacher: alter Fraktursatz. - 22 Daniel Nic. Chodowiecki (1 726-1 801):
der bedeutendste deutsche Illustrator der Zeit. Er hatte auch zum erwahnten
)>Versuch eines orbis p ictus usw.« von Lichtenberg Tafeln beigesteuert. -
24 orbis pictus: So nannte Joh. Amos Comenius (1 592-1670) sein groDes
Lehrbuch in Bildern, das 1658 erschien und bis weit ins 18. Jahrh. verwendet
wurde.
S.56,4 Hofmeister: s.o.S. 105, i9fF. — 20 Adjunktus: Gehilfe.
S. 57,5) Chodowiecki: Ahnlich ruft Theodor G. v. Hippel (s.u. zu S. 134,
26) in seinen oLebenslaufen nach aufsteigender Linie« 1778, Bd.I, S.2i6
Chodowiecki zu Hilfe, um eine Szene zu illustrieren. So verlangt aber auch
schon Sterne nach dem Pinsel Reynolds und Fielding mehr als einmal nach
der Feder seines Freundes Hogarth. Wirklich hat Chodowiecki diese Szene
auf dem Frontispiz der ersten Ausgabe dargestellt, bei welcher Gelegenheit
wohl erst diese Apostrophierung nachgetragen wurde.
S. 58, 2y Corbey: Ober die Lilie im Kloster zu Corvey vgl. Briider
Grimm: »Deutsche Sagen«, Nr.264.
S. 59,^ Robinets-Vexierbild: Jean Baptiste Robinet (1735-68), franz.
Auf klarer, nahm in seinem Hauptwerk : »De la nature* (5 Bde. 1761—68) wohl
eine gortliche Ursache der Natur an, verwahrte sich jedoch gegen eine
Beschreibung des gottlichen Wesens mit endlichen und menschlichen
Pradikaten. So wird - nach J. P. - Robinets Gottesbild zu einem Suchbild
Gottes.
S.6o,/ 3 Stephanus: vgl. Ap. Gesch. 7, 55/56.
S.65,jj Schulpforte: gemeint ist die 1553 gegriindete Fiirstenschule
Schulpforta in Sachsen.
S.6%19 Waldhammer : ein mit dem Signum des Besitzers versehener
Hammer, mit dem die zum Fallen bestimmten Baume vorher gezeichnet
werden.
S.70,zo Wuukelmann (von Bause): verbreiteter Kupferstich nach dem
Gemalde von Anton Maron. - 18 es geschieht aber wetter hinten: Die Auf-
klarung wird dem Leser nicht mehr gegeben. — 22 Strohkran^rede: Den
Strohkranz muBten ehemals in manchen Gegenden gestrauchelte Madchen
als Schandzeichen am Hochzeitstag tragen. Spater anderte sich der Brauch,
ANMERKUNGEN 1 245
und der Strohkranz wurde nun der Braut am Tag nach der Hochzeit mit
einer scherzhaften Rede uberreicht. — 32 ^ehn deutsche Kreise: 1521 wurde
das Reichsgebiet, ohne die bohmischen Lande, in zehn Kreise geteilt. Diese
Kreisverfassung blieb bis 1803 in Kraft.
$.ji } iff. Sanktorius usw..* In Hallers »Physiologie« (vgl. dort Bd.8,
XXX. Buch, II.Abschnitt, § 7) werden nur Bernoulli und derengl. Anatom
Keill angefiihrt, Sanktorius und Blumenbach jedoch nicht erwahnt. Blumen-
bachs erste Schrift, sein »Handbuch der Naturgeschichtefl erschien auch erst
nach Hallers Tod. — // Provincial: Landesvorsteher eines Ordens. — 22
Statua curulis oder triumphalis: eigtl. eine Darstellung des siegreichen
Herrschers auf dem Viergespann.
S.72,* 3 Lutherum de causis matrimonii: Luthers Schrift erschien deutsch
unter dem Titel: »Ober den Ehestand« zuerst 1522. - 26 Nov, 22 c. 25:
Diese Novelle im vierten Teil des Corpus juris gibt im 15. (nicht 25.)
liapitel dem Ehemann das Recht zur Scheidung, wenn seine Frau die Nacht
auCer Haus verbringt. - 30 Langens geistliches Recht: Heinr. Arnold Lan-
ges »Geistliches Recht der ev.-luth. Landesherren und ihrer Untertanenfl,
1786 aus dem NachlaB des Kirchenrechtlers herausgegeben, war das an-
gesehenste Handbuch seiner Art.
S.73, 20 Origenes: O. (185-254), der groCte Theologe der Ostkirche,
hatte sich als Jiingling in asketischem Wahn entmannt. - 31 David Hume
(171 1-76): engl. Philosoph, in seinem beruhmten »Treatise of Human
Nature« (1739/40).
S. 74, 7 Keil: Gemeint ist das Buch : »Anatomy of Human Body, abridged
usw.« (1698) von James Keill (1673-1719), das auch in Deutschland lange
als Lehrbuch an Universitaten eingefuhrt war.
S. 76,^5 Silberschlag-Noackitische Arche: Joh. Esaias Silberschlag (1716
bis 179 1), Oberkonsistorialrat in Berlin, versuchte in seiner »Geogonie«
von 1780 eine Rekonstruktion der biblischen Arche.
S.77,/ Moses 1 fFunder:vg\. 2. Mose8, 17L-29 nomenproprium:Eigen-
name.
S.78,5 Christian Felix Weifie (1 726-1 801): Jugendfreund Lessings, ge-
falliger dramatischer Vielschreiber, machte sich durch seine Zeitschrift : »Der
Kinderfreund« (1775-82) auch als Jugendschriftsteller einen Namen. -
1 8 Joh. Chr. Edler v. Quistorp (1737—95): Strafrechtsgelehrter, lieB in
den Jahren 1777-80 seine bBeitrdge zur Erlauterung verschiedener ....
Rechtsmaterien aus der burgerlichen und peinlichen Rechtsgelahrthein
erscheinen.
S.7^,32 Akyessist: Anwarter, Beisitzer.
S.8o,/7 insinuieren: einhandigen.
S. 82,7 6 Poussierer: Forthelfer. - 33 Sophi: Titel des persischen Konigs.
S. 84, 3 1 Affirmant usw..* »Sie behaupten fest, der gleiche Korper konne,
wenn er sich an zwei Orten befinde, an beiden getrennte, nicht abhangige
Gestalten haben, so dafi er hier sich bewege, dort nicht, hier warm sei, dort
I246 ANMERKUNGEN
kalt, usw. hier sterbe, dort lcbe, hier bald korperliche, dann gefuhlsmaBige,
dann geistige Beschaftigung ausiibe, dort nicht.* Frei nach den bdisputationes
selectae theologicaet (1648—55) des Gisbert Voetius* {Arriaga und Bee anus
waren fuhrende Theologen der Gegenreformation am kaiserlichen
HofinWien.)
S.85, 31 Wolfii lecu memorab: Nach Johann Wolffs »Iectiones memora-
biles et reconditae*, 1600.
S. 86, / Nuniius a und de latere: papstl. Gesandter erster Klasse. - 4 Ame-
rika: Angespielt ist im ersten Falle wohl auf die Teilung Amerikas 1493
zwischen Spanien und Portugal durch den Schiedsspruch Alexanders VI.,
im andern sicher auf die Lustseuche, die angeblich von dort eingeschleppt
wurde. — 14 Pietro Moskati (1739-1824) : Professor der Medizin in Padua,
in seinem Buch »Von dem korperlichen wesentlichen Unterschiede zwischen
der Struktur der Tiere und der Menschen«, dt. Gottingen 1771. - 21 Pap-
stin Johanna: Nach einer verbreiteten Sage des i3.Jahrh. regierte nach 855
eine Frau zweieinhalb Jahre die Kirche, bis die Geburt eines Kindes sie ver-
riet. Arnim hat den Stoff in einem Drama behandelt.
5.90. 24 Pertinen{- Mensch: (dazugehoriger) Rest-Mensch. - 33 Grava-
mina: Beschwerden (urspr. der Reichsstande gegen die rom. Kurie). -
34 papinianische Magenmaschine : ein von Dionys Papin 1680 konstruiertes
Gerat, um Knochen zu erweichen und wieder in Gallert zu verwandeln.
S.91, 9 insolvent: zahlungsunfahig. — 28 f. Leichenprediger : Spater wurde
diese Predigt in »Dr. Fenks Leichenrede auf den hochstseligen Magen des
Fiirsten von Scheerau* weiter ausgefuhrt (1797). Schon fur den Anhang
zum &Titan« vorgesehen, wurde sie erst 1801 gedruckt und dann in die
oWerkchen« von »Dr. Katzenbergers Badereise« (1809) mit aufgenommen.
S. 92, /./Anton Friedr. Busching (1724-93): Begriinder der neueren
Geographic Seine »Neue Erdbeschreibung«, 1754 begonnen, war 1793 noch
unvollendet. Der Scherz begegnet schon im 4.Hefdein der »Physiognomi-
schen Reisen* von Musaus (s.u. zu S. 360, 34). - / y Reichsmatrikular-
anschlag: Steuer fiir das von den Standen aufzubringende Truppenkontin-
gent. - 18 Kammer^ieler : seit 1548 Steuer zur Erhaltung des Kammer-
gerichts.
S. 93, 1 Sachsenhausen: von Frankfurt durch den Main getrennter, damals
noch selbstandiger Ort. Die halb scherzhafte Animositat blieb bis heute
sorgsam gewahrt. - 1 3 Monomotapa: einst selbstandiges afrikanisches
Kaiserreich im heutigen Siid-Rhodesien, seit 1630 verfallen. Allerdings
pflegte - nach Zedler - das Land nicht dem Kaiser nachzuniesen, sondern
ihm dabei jedesmal herzlich Gesundheit zu wiinschen. - 16 laxieren: ab-
fuhren.
5.94. 25 Ausbruch: edler Wein, zu dem die reifsten Beeren an den Stok-
ken ausgebrochen weirden. Damals noch auf den Ungarwein beschrankt.
S.96,4 Sclerotica: Augenhornhaut
S<97,i> Pistillen, Stigmen, Antheren: Stempel, Stempelspitzen und Staub-
ANMERKUNGEN 1 247
gefaBe. - ly u. i$ Pentandria und Dodecandria: die fiinite und elfte Klasse
in dem neuen System Linnes. -30 Theresianischer Kodex: Die »Constitutio
criminalis Theresiana«, die osterr. Halsgerichtsordnung von 1768, war mit
Darstellungen von Folter- und Hinrichtungsszenen erlautert.
S.98,i Physiognomiscke Fragmente {ur Beforderung der Menschenkennt-
nis und Menschenliebe: So lautet der vollstandige Titel dieses beruhmten
Werks iiber die Physiognomik von Joh. Kasp. Lavater (1741-1801). -
i3Brdune: Halsentziindung. - 21 St.Kilda: die nordlichste Insel der
AuBeren Hebriden. In den Drucken steht falschlich »St. Hilda«
S.99, 21 Isolatorium: Gerat zu elektrischen Versuchen, urn die Beruh-
rung (Rapport) mit dem Boden zu verhindern.
S. 100,/ 4 Ob er verheiratet sei usw.: Auch Tristram Shandy laBt II, 18
spottisch offen, ob er verheiratet sei oder nicht. -20 Dispensatorium:
Arzneibuch fur Apotheker.
S. 101, 35 Michel-Angelos Petschaft: Das Pariser Kunstkabinett bewahrte
einen solchen Stein, der als Michelangelos Werk in hohem Ansehen stand.
Vgl. die kostliche Anekdote um den Steinkenner Stosch, die J. P. im »Leben
Fibels«, Kap. 20 erzahlt.
S. 102, 2 Poussiergriffel: richtig Bossiergriffel, Bildhauerwerkzeug zur
Arbeit in weichem Material. — 3 Leges tackel: Legerohre bei Insekten, durch
die sie ihre Eier legen. - 31 Rles: PapiermaB, das je 20 Buch oder 480 Bogen
umfaBt.
S. 103, 1 2 ablahieren: aufpfropfen, hier verbinden. - 28 Anfurt: Schiffs-
lande, Anlegeplatz.
S. 105,-20 Jck kabe mich usw.: So beginnt Sterne das zweite Buch des
>>Tristram Shandy«: »Ich hab ein neues Buch angefangen, damit ich Raum
genug vbr mir habe, die Natur der Verlegenheiten zu erklaren, in welche
mein Onkel Toby ... verwickelt wurde.« — 28 badinieren: schakern, tandeln.
S. 106, 34 kantschuen: prugeln.
S. 107 , 8 Backs Kegel: Carl Philipp Em. Bach (1714-88), der »>Berliner
Bach«, schreibt im ersten Teil seines »Versuchs iiber die wahre Art das
Klavier zu spielen« (3. Hauptstiick, § 29): »Indessen kann man merken, daB
die Dissonanzen insgemein starker und die Consonanzen schwacher ge-
spielt werden, weil jene die Leidenschaften mit Nachdruck erheben und
diese solche beruhigen.« - 2$f. Bologna: Die alteste Universitat Italiens
hatte in ihrer Bliitezeit als Rechtsschule hochsten Ruf (Bononia docet). Zur
Zeit J. P.s florierte dort besonders der Handel mit den kleinen, nach dieser
Stadt benannten Hiindchen. i
S.108,20 Recht der toten Hand (droit demainmort):verhaBtes Feudal-
recht, das in Frankreich dem Lehensherrn das ganze Erbe eines kinderlos
verstorbenen Untertanen anheimgab. In Deutschland schon im i4.Jahrh.
dahin gemildert, daB ihm das beste Stuck des Erbes zufiel, das er sich aus-
wahlen konnte.
S. 109, 2i Print von ^rtois: Charles-Philippe (1757-1836), der Bruder
1 248 ANMERKUNGEN
Ludwigs XVI., wurde von seinem GroBvater 1759 zum Grafen von Artois
erhoben. Der gewandte, glanzende Hofmann iiberlebte die Revolution und
wurde 1 824 als Karl X. Konig von Frankreich.
S. iii,zo Negermarketender : DasMotivistdemBuch: »Erzahlungen von
den Sitten und Schicksalen der Negersklaven« (von I.E.KoIb) 1789 ent-
nommen. — 1 Sff. Acker bau y Handel usw. : Zu diesen Gedanken vgl. o. S. 928,
i 5 ff.
S. 114,2 Envoye: Gesandter, dem Range nach Stellvertreter des Ambas-
sadeurs. — 8 Sobouroff: Gemeint ist Alexander Suwurow, Fiirst I tali j ski
(1730— 1800), der russ. Oberbefehlshaber in den Kriegen mit Polen und dem
revolutionaren Frankreich. — 21 Quinquennell: Stundungsbrief auf funf
Jahre. — 28 Moloch: sem. Gottheit, der Menschenopfer, insbesondere
Kinderopfer, dargebracht wurden.
S. 116,26 Kalenderpraktiha ; Wettervorhersage.
S.i 18, 1 Wilsonscher Knopfableiter ; Benjamin Wilson (1721-88), schot-
tischer Maler und Physiker, konstruierte einen runden BHtzableiter und
geriet dariiber 1757 mit Benjamin Franklm in eine heftige Kontroverse, als
dieser fiir die zweckmaBigere, spitze Form eintrat.
S. 119, 23 a parte ante; Mit »a parte ante« und »a parte post« bezeichnet
man die Teile der Ewigkeit, die vor oder hinter einem liegen.
S. 120, 20 Vierherren: Luthers Verdeutschung des griechischen Fiirsten-
titels : »Tetrarch« fiir die Konige von Israel, von denen jeweils jeder iiber ein
Viertel von Palastina zu regieren hatte. - 2 5 Konfortativ: Starkmittel.
S. 121,2 Plethora; Oberfiillung. — 13 Schnurren, Schnacken und Charak-
teriilge; Titel einer Schrift von J. J. v. Hagen, die dieser in 3 Teilen zu
Berlin 1783-86 erscheinen lie 13 . - 19 Behemoth; GroBtier, der biblische
Name des Nilpferdes.
S.i25,/2 Joh. Matth. Schrockh (1733-1808): ev. Kirchenhistoriker
(»Christl. Kirchengeschichte«, 45 Bde. 1768-1812) schrieb, durch WeiBe
(s.o. zu S.78, 5) veranlaBt, eine »Allgemeine Weltgeschichte fur Kinder«,
1779-84, der 1774 bereits ein »Lehrbuch der allg. Weltgeschichte zum Ge-
brauch beim ersten Unterricht der Jugend« vorausgegangen war.
S. 126,? 5 Jak. Friedr. Feddersen (1736-88): Erbauungsschriftsteller, gab
eine Fiille moralischer Kinderschriften heraus: oBeispiele der Weisheit und
Tugend aus der Geschichte«, »Lehrreiche Erzahlungen aus der bibl. Ge-
schichte« usw.
S. 127,27 ip waren: erg. »es«. Solche Ellipsen sind bei J. P. haufig. -
31 Vofi seine Jdyllen; s.o.S.29, 3 und die t Anmerkung dazu.
S. 128, 8 gescheite: In der 2.Aufl. ist nur hier versehentlich »gescheute«
unverbessert geblieben. - 1 6 Schwabenspiegel: das im 13. Jahrh. kodifizierte
schwab. Landrecht.
S. 129,2 o Wildau: s.u. zu S. 1050, 28. - 34 Anmerkung; zielt auf die Er-
neuerung der klassischen Philologie vor allem durch die Arbeiten von Wolf
und Friedrich Schlegel.
ANMERKUNGEN 1^49
S. 130,2 Joachim Camerarius (1500-74): Philologe und Historiker, als
Humanist der geistige Nachfolger des Erasmus, schrieb eine griechisch ab-
gefaBte »Geschichte des Schmalkaldischen Kneges«, die er selbst auch latei-
nisch herausgab. - y infulieren; (mit dem Bischofshut) bekronen. — 8 Her-
mes Tdchter:Jak. Tim. Hermes (1738-1821), bekanntdurch seine Romane:
»Miss Fanny Wilkes« und »Sophiens Reise von Memel nach Sachsen« (6 Bde.
1769-73) trat haufig und entschieden fur eine hohere Bildung der Frau ein.
(»Ftir T6chteredlerHerkunft« 1787). - i5 S.Marino-Felsen: kleiner ita-
lienischer Freistaat bei Rimini. — 21 f* Vossius y Lipsius, Casaubonus; Vom
alteren Vossius weifi J. P. an anderer Stelle zu berichten, er habe stets die
Werke des Lukan bei sich getragen; Just Lipsius verfafke eine Reihe von
Untersuchungen zu Seneka, Isaak Casaubonus veranstaltete 1600 eine Aus-
gabe der Gedichte des Persius. - 23 Damokles; Klingers Drama von 1790.
S. 13 1, 6 James Burnett, Lord Monboddo (1714-99) : schottischer Rechts-
gelehrter und Sprachphilosoph. Sein Hauptwerk : »Of the Origin and Pro-
gress of Language* wurde 1785 ins Deutsche ubersetzt, wozu Herder eine
Vorrede schrieb. - 19 Balzac: Gemeint ist der franz. Lyriker Jean L.G. de
Balzac (1597-1654), dessen groBartig gebaute, rhetorische Briefe viel-
bewundert waren. Der Sinn der Stelle ist wohl : Ein einfacher, »klassischer«
Geschmack kann bei Volkern in einen iiberladenen und schwulstigen, »bar-
barischen* Geschmack entarten. Doch ist der gedankliche Gegensatz mit
nicht sehr gliicklichen Beispielen belegt.
S. 132,4 Joh. Georg Hamann (1730-88): philos. Schriftsteller, der
»Magus des Nordens«, wie ihn Fr. K.v. Moser wegen seines dunklen, orakel-
haften Stils nannte. Seine kleinen, oft nur aphoristischen Schriften (»Sokra-
tische Denkwiirdigkeiten« 1759, »Kreuzzuge des Philologen« 1762 usw.)
hatten die wichtigste Anregung so wohl fur Herder als auch fur den Sturm
und Drang gegeben. Hamann gestand selbst in einem Brief an Franz Buch-
holtz aus dem Jahre 1786: »Mein Gedrucktes besteht aus bloflem Text, zu
dessen Verstande die Noten fehten, die aus zufalligen auditis, visis, lectis et
oblitis bestehen.« - ij Neuner- Probe : math. Rechenprobe, ob eine Zahl
durch 9 teilbar ist, (wenn es die Quersumme ist). - 2S Devalvation: Ab-
wertung. -30 Anthologen: die griechischen Lyriker, deren Lieder und
Gedichte in der spatantiken »Anthologia Graeca« gesammelt sind. J. P. hatte
sie durch Herder kennengelernt. - 32 Copiam vocabulorum: »Eine Menge
(leerer) Worte«. Die Floskel ist als Antwort auf die letzte Frage des vorher-
gehenden Absatzes zu verstehen. - 34 gradus ad Parnassum: Stufen zum
ParnaB, s.u. zu S. 1161, 10.
S. 133,5 Omarsche Verbrennung alter Alten; Nach einer unverbiirgten
Sage soil der Kalif Omar I. bei der Einnahme von Alexandria im Jahre 642
die berixhmte Bibliothek der Stadt ein zweites Mai zerstort und mit ihren
Buchern sechs Monate lang die offentlichen Bader geheizt haben. — 1 4 Chri-
stian Gottl. Heyne (1729-18 12): vor allem als Lehrer vorzuglicher, klass.
Philologe. Er trat in zahlreichen seiner Reden und Schriften fur den Ge-
I250 ANMERKUNGEN
danken einer formalen Bildung des Geistes durch den Umgang mit den
alten Sprachen ein. — 28 Ausgabe des Shakespeares : Die erste Gesamtiiber-
tragung der Shakespeareschen Stucke von J.J.Eschenburg (1775-83) fugte
einen Anhang mit den Novellen bei, die den Stiicken zugrunde liegen.
S.i34,2<S»&6er die Ehe« (1774): eine halb, scherzhafte, umfangreiche
Abhandlung Th.G.v.Hippels (1741-96). Ein Freund Kants und Hamanns,
schrieb dieser geistvolle Erzahler in den MuBestunden, die eine glanzende
juristische Laufbahn ihm gonnte, zwei groBe Romane in Sternes Manier:
»Lebenslaufe in aufsteigender Linie«, 1778, und »Kreuz- und Querziige des
Ritters A— Z«, 1793, die beide, zusammen mit dieser Friihschrift, stark auf
den Stil und das Denken J.P.s eingewirkt haben.
S. 135,2/ Aug. Ludw. v. Schlb\er (1735-1809): Historiker und Publi-
zist. Er versuchte, vor allem in seinem Buch: »Vorstellung der Universal-
historie« (1772-73), an die Stelle der ublichen, pragmatischen Geschichts-
schreibung eine synthetische zu setzen, die sich nicht um eine lineare Nach-
zeichnung des historischen Ablaufs bemiiht, sondern die Vergangenheit in
einer Zusammenschau der auBeren geschichtlichen Fakten und Vorgange
mit den wirtschaftlichen und geistigen Bewegungen begreifen will. — 23
Ahnlichkeit des Entlegenen: Der ganze SchluCabsatz ist ein wesentlicher
Schliissel zu den Grundlagen von J.P.s Schreibweise.
S. 136,* .2 dessauisches Philanthropinwaldchen : ein Wald bei Dessau, der
zu J.J.Basedows Erziehungsinstitut gehorte, s.u. zu S.235, 5. — 19 Karo-
lina; die »Constitutio criminalis Carolina«, das erste deutsche Strafgesetz-
buch. Es wurde 1532 durch Karl V. zum Reichsgesetz erhoben und blieb
bis in die Mitte des 18. Jahrh., in Preufien bis 1806 in Geltung. - 20 There-
siana: s.o. zu S.97, 30. - 28 kakochymisch (schlechtsaftig) : ubellaunig, ver-
stimmt.
S. 137,* 5 Poenitentiaria: Gerichtshof der rom. Kurie, der uber Ablafl
und kirchliche BuBen zu befinden hatte. - 28 Parlamenis-Wollensack : Im
englischen Oberhaus bestanden die Banke aus roten Wollsacken.
S. 138, 7 Hermes: s. o. zu S. 1 30, 8. -7 ChristianWilh. Oemler (1728-1 802) :
Konsistorialrat in Jena, gab 1786-89 ein vierbandiges, ubergriindliches
»Repertorium iiber Pastoraltheologie und Casuistik« heraus, das dem Pfarrer
. Rat und Hilfe in alien erdenklichen und unerdenklichen Situationen seines
Berufes geben sollte. - 1 o aquae supra coelestes: iiberhimmlische Wasser
(vielleicbt analog zu dem Begriff: ftiiberirdische Wasser« als Steigerung ge-
dacht). - 1 1 humor es peccantes: siindige, schadliche Fliissigkeiten (nach
Galens Terminologie etwa »Krankheitssafte«). Die Herkunft der beiden
Ausdrucke - vielleicht entstammen sie der zeitgenossischen theologischen
und medizinischen Literatur - ist unklar, den Sinn kann man jedenfalls so
umschreiben : »die uberhimmlischen Tranen seiner Augen begleiteten stets
die zwei Schuh tiefere Bewegung der ,siindigen Fliifiigkeit' des Bieres.« -
34 Frais- und Zentherr: ein Gutsherr mit dem Privileg, die peinliche Ge-
richtsbarkeit auszuiiben. - j5 Feimer: Femerichter.
ANMERKUNGEN 1 2 5 1
S. 141,20 Marie Catherine $Au(l)noy (um 1650-1705): franz. Dichte-
rin, schrieb neben heroischen Romanen die Marchensammlung : »Les illus-
tres fe>s« (1698), die im 18. Jahrh. unzahlige Nachahmungen gefunden hat.
S. 142, 1 bureau d* esprit: Versammlung von Schongeistern. - 2Jf. Historie ;
Diese Geschichte beruhrt sich eng mit dem Marchen von den Sterntalem
bei den Brttdern Grimm, zumal die abweichende Gestalt des Schlusses
(S. 142, 6-1 1) eine Erweiterung der 2.Aufl. bildet.
S. 143,7.9 Dephlegmation: Wasserentziehung. — 31 Veit Weber: Pseud-
onym furLeonhard Wachter (1762-1837), der durch seine mehrbandigen
frSagen der Vorzeit* (1787-98) mit ihrer biedermannisch getarnten Schliipf-
rigkeit einen recht zweifelhaften Ruf besaB. -31 August von Kotqebue
(1 761-18 1 9): seichter, aber virtuos die Gefuhlseffekte berechnender Dra-
matiker (»Die KIeinstadter«, »Die beiden Klingsberg«, »Menschenhafi und
Reue« usw.) und Romanschreiber.
S. 1 44, 1 7 Versikel: Bibelvers. — 2 1 Contes moraux: u. a. der Titel von Mar-
montels Erzahlungen (1761), die 1791 ins Deutsche ubersetzt worden waren.
S. 145, 23 Nouvelles a la main : Handgeschriebene Zeitungen waren schon '
friih ublich und besonders im 18. Jahrh. weit verbreitet, zum Teil bedingt
durch die strenge Zensur. Am beriihmtesten ist Melchior Grimms »Corre-
spondance Iitterajre, philosophique et critique* (1753^73), an der Diderot
hervorragenden Anteil hatte. Auch J. P. hatte sich fruher einmal an einem
fcVierzehn-Tage-Blatw versucht. - 26 Marforio und Pasquino: volkstum-
liche Namen fur zwei antike Brunnenfiguren in Rom, an denen die Spott-
vogel ihre satirischen Verse und Pamphlete anzuheften pflegten. - 28 Jour-
nal fur Deutsckland: Diese von Leop. Th. v. Goeckingk in den Jahren
1784-92 edierte aufklarerische Zeitschrift trug den genauen Titel: ^Journal
von und fur Deutschland«.
S. 146, 26 George Louis Leclerc, Graf von Buffon (1707-88): franz.
Naturforscher, verfafite mit Daubenton eine umfangliche »Naturgeschichte
derTiere* (1749-83, 24 Bde.). Seine beriihrnte »Histoire naturelle, g&i&ale
et particuliere* erschien fast gleichzeitig mit 38 Banden in Paris 1750-89.
S. 147, 8 Rappimuhh; Handmuhle zum Tabakmahlen. - 16 Regale:
landesherrliches Recht.
S. 148,/^ Strata: Grundbuch fur die ersten Eintragungen in der Buch-
haltung.
S. 149,77 Fratschlerweiber: Trodlerinnen.
S. 150,76" Opkir: sagenhaftes, goldreiches Land im A.T. - 31 Idiotikon;
Worterbuch von den Spracheigentumlichkeiten einer Mundart.
S. 151,5 Ensoph: mystischer Name fur das hochste, gottliche Wesen in
der Kabbala.
S. 152, 2 4 ff. Friederich Georg Jacobi (1743-1809): Dichter und Philo-
soph, von J. P., der mit ihm spater befreundet war, zeit seines Lebens sehr
hoch geachtet Die beiden Briefromane: *WoMemart und tEduard Allwills
Brufsammlung* erschienen 1779 vai ^ 1781, die Abhandlung: %Vber dULehre
12^2 ANMERKUNGEN
des Spinoza, in Briefen an Moses Mendelssohn« 1785 und »David Hume iiber
den Glauben« 1787. — J7 Hamann, s.o. zu S. 132, 4 stand sein ganzes Leben
gegen die Allgemeine Deutsche Bibliothek und ihren* Herausgeber- Fried-
rich Nicolai (s.u. zu S.415, 34) in einem heftigen Kampf, der von der
gegnerischen Seite nicht immer mit lauteren Mitteln gefiihrt wurde und der
erst durch Hamanns Tod ein Ende fand. - jj Mardochai: der Pflegevater
der Esther im gleichnamigen Buch des A. T., durch den der Minister Haman
an den Galgen kommt.
S. 1 53,5 3 Ignatius-Blech : schutzbringendes Amulett gegen Krankheit und
Bezauberung. — 24 Lukas- und Agatha%ettel: Sie helfen nach altem Volks-
glauben, wenn sie mit lateinischen Segensformeln beschrieben sind, gegen
Brand und Krankheiten. — 25 auch: Die Drucke setzen mutmafilich fehler-
haft ein zweites »aus«. - 33ff- Anmerkung: s.o. S.36, 5fT.
S. I54,i> Montaigne: vgl. Essays I, 27. — 13 Ciceros Ideal: vgl. Cicero,
Laelius de amicitia XVI. — 2S der alte Shandy: vgl. Tristram Shandy II, 19. -
34j[f* Si ad illam usw. : »Wenn zu jenem tugendhaften Leben (die Bequem-
lichkeit) von einem Salbflaschchen und einem Schabeisen hinzutritt, wird
ein kluger Mann das Leben mit diesen Dingen lieber fiihren, auch wenn er
aus diesem Grunde doch nicht gliicklicher wird.« Der Hauptsatz, von dem
die Konstruktion abhangig ist und in dem sich Cicero gegen diese stoische
Meinung verwahrt, ist in der Anmerkung weggelassen. Die Stelle ent-
stammt Ciceros Schrift: i>uber die Gren^en von Gut und Bose« IV, 12.
S. 1 56, 24 Abt Galiani: Fernando Galiani (1728—87) : it. Nationalokonom,
Philosoph und Schongeist, »ein Plato mit den Mienen und Gesten des Har-
lekin« (Diderot). Als Diplomat in Paris schrieb er seine boshaften »Dia-
logues des femmes«. J. P. verwechselt iibngens stets den Titel Abbe vor sei-
nem Namen, der einen Weltgeistlichen ohne Amt bezeichnet, mit dem
deutschen, nur urspr. synonymen »Abt«.
S. 157,/ y Hallische Hausapotheke : Die Arzneien, die in den Francke-
schen Stiftungen zu Halle hergestellt wurden, standen bis in den Anfang
des 19. Jahrh. in hohem Ansehen. Doch ist hier wohl an eine Sammlung von
Rezepten und Hausmitteln der dortigen Anstalt zu denken, die auch in Joh.
Gottwerth Miillers Roman: »Herr Thomas« (Bd.I, FuBnote zu S.356) er-
wahnt wird. - 19 pres shaft: oberdt. fur bresthaft. - 20 materia medica:
s.u. zu S.301, 13. - 29 roter Faden: diente in derVolksmedizin zur Heilung
der Schwindsucht. - 32 peruvanische Rinde oder Chinarinde: Mittel gegen
das kalte Fieber. - 33 Rock a la peruviinne: ein modisches Kleidungsstiick
aus geblumtem Seidenstoff.
S. 158,7 Trepan: Schadelbohrer, »Hirnbohrer« (J.P.). - 27 Tempe-Tal:
das idyllische Tal des Penaios zwischen Ossa und Olymp in Thessalien, das
vieien arkadischen Erzahlungen als Schauplatz diente.
S. 162,2s Bach: s.o. zu S. 107, 8. - 28 Georg Benda (1722-95): Hof-
kapellmeister in Gotha und gefeierter Klavierist, erregte als Opernkompo-
nist durch die Neuheit seiner Melodramen (»Ariadne auf Naxos« 1775,
ANMERKUNGEN 1 25 3
»Julie und Romeo« 1776, »Medea« 1778) selbst in Italien Aufsehen. - 29
Mordanten, eigtl. Mordenten: Pralltriller. - z^falscke Quinten: Im strengen
mehrstimmigen Satz galten Quintenparallelen als fehlerhaft. Vgl. den Arti-
kel: »Quinten« inSulzers &Theorie der schonen Kiinste und Wissen-
schaften«.
S. 163,/ spondaisch: Nach dem Versmafi (lang-kurz) muB hier not-
wendig trochaisch stehen. Berend vermutet J. P. sei zu dieser Verwechslung
durch Musaus (s. u. zu S. 360, 34) veranlafit worden, der in den »Physiogno-
mischen Reisen« wiederholt vom Spondaengang eines Pferdes spricht. -
2SEpihet: Der griechische Philosoph war der Sage nach durch die Grau-
samkeit seines Herrn an einem Bein verkriippelt.
S. 164,5 Lympha: Gewebesaft. — y Infarktus; Verstopfung.
S. 165, 19 Prefiknechte : s.u. zu S. 188, 30.
S. i66,z6[^ Jesuiten, Aristokraten, Voltaire: Der Jesuitenorden wurde
1773, nachdem schon vorher einzelne Lander Verbote gegen ihn erlassen
hatten, durch Papst Clemens XIV. aufgehoben. Die Aristokraten gerieten
durch die franzosische Revolution und die Wirkung dieser revolutionaren
Ideen in eine bedrohliche Situation. Bei Voltaire ist wohl auf dessen mehr-
fache Verbannung aus Paris angespielt.
S. 167,-2 leuterieren: svw. lautern.
S. 168,:^ Ter{ie: der sechzigste Teil einer Sekunde.
S. 169,18 Haselant: HasenfuB, auch Possenreifier, hier wohl synonym
mit dem vorausgehenden »Faselhans«.
S. 170,75? Grofisultan: Wegen dieses Titels s.u. zu S.317, 26. - 20 Fran-
cois de Salignac de la Motte Fenelon (1641-171 5) : Prinzenerzieher und Pre-
diger am Hofe Ludwigs XIV., dann Erzbischof von Cambray. Sein Reise-
und Liebesroman: »Les aventures de TiUmaque^ der ihn bei Hof in Ungnade
fallen IieB, erschien ohne sein Wissen 1695 in Paris und wurde schnell in
alle Sprachen iibersetzt. Er diente alien Erziehungsromanen des Jahrhun-
derts zum Vorbild. - 33 Alexander dem Aristoteles: »Aristoteles bekam von
Alexander 3000 Menschen, die in 3 Weltteilen Tiere fur ihn zusammen-
trieben*, notierte sich J. P. in seinen Exzerpten.
S. 171,^ Bittsteller: In dem o. zu S.25,2 genannten Werk S.40.
S. 173, 3 vertieren: ubersetzen. - 4 Louis Dominique Cartouche (1693 bis
1721): Haupt einer Diebesbande, die einige Jahre durch ihre fast sprich-
wortlichen Streiche Paris in Bann hielt. - 5 Carlo Goldoni (1707-93): Der
italienische Dramatiker lebte seit 1762 in Paris, wo er trotz allem Ruhm und
aller Verbreitung seiner Komodien in Armut starb.
$.ijj,28 Brokardika: kurze, gedrangte Rechtsregeln, wahrscheinlich
nach einer von Burkard von Mainz (f 1025) hinterlassenen Sammlung von
Kirchengesetzen, den sog. »regulae Brocardicae« benannt.
S. 179,5 Claude Adrien Helvetius (171 5-71): franz. Philosoph, erklarte
sich in seinem Hauptwerk: »De T£sprit« (1758) entschieden und radikal fiir
einen hedonistisch gefarbten Sensualismus, und grundete darauf wesentlich
j 2 5 4 ANMERKUNGEN
sein philosophisches System. — 21 %wei Monche: Nach S. 54,27 waren es
drei Monche. - 28 ff. : vgl. Nachtrag S. 1311.
S. i8o,z^ Wetilaer Tor: Das Reichskammergencht hatte seit 1689 in
Wetzlar seinen Sitz. - ly Styliten: Die Saulenheiligen in Agypten, die dort
bis ins spate Mittelalter nachweisbar sind, waren keine eigentliche Sekte.
Als Einsiedler verb rach ten sie ihr Leben biiBend auf Saulen, die bis zu 1 5 Meter
hoch waren. - 36 Stab Wehe: vgl. Sach. 11, 7.
S. 181,1/ Morhof: Daniel Georg Morhofs Sammelwerk: »Polyhistor«
(1668— 1707) hat J. P. haufig zum Exzerpieren benutzt. In den Werken des
Dichters wird der erwahnte Gelehrte Fortius stets in »Fortins« verschrieben.
S. 182, 30 EphoTus: Aufseher, in Sparta ein Amt, das dem des rom.
Zensorsverwandt war.
S. 185,-2,9 Trancheekatien: erhohte Angriffswerke, um in die gedeckten
Gange des Feindes Einsicht zu gewinnen.
S. 186 1 of. damit ich in die Brust nicht steche usw.: Der Satz lautet ver-
standlicher umgekehrt : »damit ich nicht die Brust sehe, in die ich steche*.
Zu solchen haufig vorkommenden Umstellungen vgl. etwa U.S. 703, 30 oder
S.858,11.
S. 1 87, 7 5 peristaltische Bewegungen : Darmbewegungen.
S. 188, 22 Malefiirat: Richter beim Blutgericht. - 22 Fakultist: Mitglied
einer Gelehrten-Innung an den alteren Universitaten. - 30 Prefigange:
nachtliche Streifziige, auf denen man in England versuchte, junge Leute
oder Matrosen von Handel sschiffen, die in der Hafengegend sich herum-
trieben, zum Seedienst bei der Flotte zu zwingen.
S. 189, 8 Patrimonialgericht : grundherrliches oder Erbgericht.
S. 1 91, 4 Steingut in ihr en Kopfen: Die sog. Krebsaugen wurden als Arznei
verwendet. - 6 Daktyliothek: Gemmensammlung. — 10 mephitisck: stickig.
S.193,*:^ Bendas. Romeo: s.o. zu S. 162,28.
S. 198, 25ff. Gustavs Bild: s.o. S. 69,25 ff.
S. 199,70 Baireuther Eremitage: Dort hatte Markgraf Georg Wilhelm
nach 1715 im Wald vereinzelte Hiitten aus Tuffstein und Holz errichten
lassen, in denen ein recht frohliches Eremitentreiben sich abspielte. - 34
Curatores absentis: Sachwalter in Abwesenheit, rechtliche Stellvertreter.
S. 200, 1 3 papUlotieren : einkrauseln.
S.202, 24 Horeb: Name des Sinai.
S.205,j Greveplat^c Auf ihm fanden fruher in Paris die offentlichen
Hinrichtungen statt. — 3Jf. Wahrhaftig Zeitungschreiber usw. : Zu diesem
Gedanken verweist Berend auf eine Stelle im ersten Kapitel von Hippels
»Ober die Ehe« : »Ich weifi wohl, daB alle Autoren mit der hochsten Gerichts-
barkeit, die iiber Hals und Hand, wie die Kunstverstandigen sich ausdriik-
ken, gehet, belehnt sind usw.« -20 Abrigis: Ausztige.
S. 206, 20: Patois: (eigtl. ein bestimmter Dialekt), volkstumliche oder
»gewohnliche« Sprache. - 27 Wenzel Anton Fiirst v. /Catmi^-Rietberg
ANMERKUNGEN 1 2 5 5
(171 1-94): Osterreichs AuBenminister in der Theresianischen Ara. Er war
bei Erscheinen des Buchs noch im Amt.
S.207,7.2 Doktor-Grahams-Bette: James Graham (1745-94), Quack-
salber mit dubiosem Doktorgrad, hatte in seinem mondanen Haus in dem
engl. Kurort Bath ein »celestial bed« aufgebaut, das gegen Unfruchtbarkeit
helfen sollte.
S. 208, 2yBileam unddie Eselin ; vgl. 4. Mose 22, 22-34. - 3 / kartesianischer
Wirbeh Nach der Lehre des Descartes (Principia philosophica III, 19) be-
wegt sich die flussige Himmelsmaterie nach Art eines Wirbels urn die Sonne.
S. 212, 7.9 Ambe: Doppeltreffer im Lottospiel.
S.216, 8 IVurielfasern: Die Drucke setzen »Wurzelfaser«.
S. 217, 57 meine Rukestatt: Es muB wohl an dieser Stelle »mein Ruhe-
statt« gelesen werden, da an ein Wortspiel mit dem Namen des Dorfes nicht
gedacht werden kann.
S. 218,77 Morgenland: Dieses Wort gehort zu den auch vom Zeit-
empfinden mitgepragten Lieblingsvorstellungen des Dichters. So schreibt
er selbst in der zweiten Vorlesung seiner »Selberlebensbeschreibung«: »In
fruhester Zeit war das Wort Weltweisheit - jedoch auch ein zweites Wort
Morgenland — mir wie eine offene Himmelsp forte, durch welche ich hinein-
sah in lange lange Freudengarten.« Vgl. auch S.614, i6ff.
S.219, 5 Kirche von S.Adriano: am Forum. Die heute aufgehobene
Kirche war in fruhchristlicher Zeit in der Kurie des alten rom. Senates er-
richtet worden. Sie bestand bis 1937. - 24 Scibile: (»das WiBbarec), der
Wissensstoff.
S.224, 28 XX. Trinitatis: Es miifite der XXIII. Trinitatis-Sektor folgen.
S. 225, 4 Empor-Stube: Dachstube. — 36 mahrische Briider: So nannte
man die Anhanger einer bis ins 17. Jahrh. in Bohmen verbreiteten rel. Sekte,
aus der mittelbar die Herrnhuter-Bewegung hervorgegangen ist.
S. 226, 21 Hiskias Sonnenuhr: Um diesem Konig ein Zeichen zu geben,
liefl Jesaias d ie Sonnenuhr im Palast 1 o Stufen zuriicklaufen. Vgl. 2. Kon. 20,
9-1 1. - 26 Mosis-Angesicht: Als Moses vom Sinai wiederkehrte, war sein
Gesicht so voll Glanz, daB niemand ihn anzublicken vermochte und er sein
Haupt beim Sprechen verhiillen muBte (daher bei J. P. auch haufig die
Bezeichnung »Mosis-Decke«). Vgl. 2. Mose 34, 29— 35. — 28 Homannische
Karten; Die Landkarten des Kupferstechers und Geographen Joh. Bapt.
Homann (1663-1724) wurden bis in J.P.s Zeit haufig nachgestochen. -
32 Pallium: Bischofsmantel.
S.227, 3 wie Mitglieder der Berliner Akademie: Die Berliner Akademie
der Wissenschaften hatte in PreuBen ein Kalendermonopol.
S.228, 27 Vergleich von iyo5: Die Anspiclung geht vermutlich auf den
»RezeB wegen der reformierten Religions- und Gewissensfreiheit in der
Pfalz«, der 1705 zwischen Kurpfalz und PreuBen geschlossen wurde.
S.23I,* das nachste: der Mund.
S. 235,5 Philanthropin: Name fur Erziehungsanstalten nach dem Vor-
I256 ANMERKUNGEN
bild der Dessauer Philanthropin, die 1774 der Padagoge Joh. Bernh. Base-
dow (1723-90) eingedchtet hatte.
S. 242, 1 6 Kanikularferien : Hundstagsferien.
S. M%3° derpfiffige Phidias: Phidias soil bei der Arbeit an seiner Statue
der Athena Lemnica in deren Schild sein Bildnis eingemeiBelt haben, um es
fur die Ewigkeit zu bewahren.
S.244,z^ preteuse de lete; worth Kopfverleiherin. - 19 dappieren (rich-
tig tapieren oder toupieren): das Haar hochkammen und in Locken dre-
hen. -32 Palais royal: einst a Is StadtschloB Richelieus in Paris errichtet,
dann im Besitz der franz. Konige. Es stand seit den Tagen der Regentschaft
durch den Herzog von Orleans in iiblem Ruf; besonders seit Beginn der
Revolution trieben die Dirnen in seiner Umgebung ihr Unwesen.
S. 247, 1 2 Plumage: Gefieder. - lybekielen: befiedern, bei Klavieren
durch das Futter auf dem Saitenbelag.
S. 248, 5 Silbermannisches Klavier: Gottfried Silbermann (1683-1753),
der bedeutendste Klavierbauer des i8.Jahrh., erbaute das erste Pianoforte
in unserem Sinn, das bis zur Erfindung des Hammerklaviers in Deutschland
fuhrend blieb. — 26 palingenesiert: wiedergeboren.
S.249,7 Galerieiu Floren^: dieheute fast 600 Selbstbildnisse umfassende
Sammlung der Uffizien, die von Kardinal Leopoldo de Medici (1616-79)
gegriindet wurde. - 1 2 Philips Wouwermans (1619-68) ; in der Zeit haufig
kopierter, holh Landschafts- und Genremaler. - ijSalvatore Rosa (161 5
bis 1673): Maler, Stecher, Dichter und Musiker aus Neapel. Seine drohen-
den Bildszenarien aus schroffen Felsabsturzen und Meeresbuchten waren
fur die Bilderfindung und Komposition von Landschaften lange von ent-
scheidendem EinfluB. — 14 Allan van Everdingen (1621-75): holl. Land-
schaftsmaler. Er war der Lehrer Ruysdaels, dessen knapp umgrenzte, im
Vordergrund sorgsam gestaltete Landschaften er kleinmeisterlich vor-
bereitete.
S.250,3 Dissemination: Samenverstreuung. - 8 epikurische Abblatterun-
gen : Epikur lehrte, daB sich alle Dinge wieder in kleinste Bestandteile auf-
losen, die so lange in der Luft fliegen, bis sie sich wieder zusammenballen
und ein neues Ding oder Lebewesen erschaffen. - 18 veloutieren: mit Samt
bespannen. - 28 Idolo del mio cuore: Das Lied findet sich als »Canzonetta
Veneziana« in den »Oden und Liedern aus den besten dt. Dichtern« von
Friedr. Wilh. Rust (1739-96), t. Sammlung 1784, S.35. Vermutlich weil
J. P. sich uber die richtige Form des Wortes nicht im klaren war, lieB er in
der zweiten Auflage »cuore« wegfallen.
S. 25 1, / 5 Aderlafimannchen: nackte Figuren, bei denen an alien Gliedern
durch Zeichen die Stellen angegeben wurden, an denen man sich am giin-
stigsten zur Ader lassen konnte. Sie waren bis in neueste Zeit in alien Volks-
kalendern ublich.
S.2$2 y ioff. Wer nicht hat usw.: vgl Luk. 9,58.
S. 253, .24 injenem griinen Gewolbe: Das Griine Gewolbe im Westfliigel
ANMERKUNGEN 1 2 5 7
des Dresdner Schlosses (1721-24 ausgestattet) barg in seinen acht Raumen
die vollkommenste Preziosensammlung eines deutschen Fiirsten des
i8.Jahrh.
S.256,.2* Hornschroter : Hirschkafer. - 23 Felice Fontana (173 0-1805):
it. Naturforscher, machte damals durch seine zoologischen Experimente
viel von sich reden.
S.257,^^u£ (quae) scit usw.: »Wer zu sterben weifi, lafit sich nicht
zwingen.« - 4/. majori animo usw. : »Mit hoherem Mute wird der Tod wieder-
holt, als begonnen.« Frei nach Seneka, Gesprache II, 2, 12. Der Satz wird
dort auf das Ende des jungeren Cato in Utica bezogen. Dieser durchbohrte
sich beim Nahen Caesars mit dem Schwert, wurde durch seine Freunde
gerettet und vollendete seine Tat, indem er die Verbande aufriG und sich
die Eingeweide zerfleischte. - 9 defaillir: »ohnmachtig werden« und ftdem
Gericht fernbleiben«. J. P. setzt irrtumlich die Form »defaillante<i.
S.258,j Mediceische Venus: Zu diesem Wortspiel vgl. u. S.915, iff. —
6 boue de Paris: »Schmutz von Paris*. Man konnte an eine der damals ge-
brauchlichen, scherzhaften Farbbezeichnungen denken (z. B. »caca du Dau-
phin* usw.), vielleicht hat auch J. P. das Wort selbst in Analogie zu »cul«
und »gorge de Parish gebildet. In jedem Fall mufi man den Ausdruck mit
»>kunstlichem, d.i. geistigem Schmutz« ubersetzen. - 7 Schriftsteller : Nach
dem 6. Kap.in J.P.S »ErkIarung der Holzschnitte«, wo dieser Gedanke wieder-
holt wird, ist Aug. Wilh. v. Thiimmel (1738-1817) gemeint, der liebens-
wiirdige Verfasser der »Wilhelmine« (1764), dessen »Reise in die mittag-
lichen Provinzen von Frankreich« damals (1791) eben zu erscheinen begann.
S. 261,77 Parloir: Sprechzimmer in Klostern. - 23 Ernst Plainer (1744
bis 1818): Mediziner, Anthropologe und philosophischer Schriftsteller an
der Leipziger Universitat. Er zog durch die Vielfalt seiner philosophischen
Studien und Gedanken den jungen J. P. an und war in den Leipziger Uni-
versitatsjahren 1781-84 der starkste Anreger des Dichters. Vermutlich
denkt J. P. dabei an Platners »Neue Anthropologies, 2. Buch, 2. Hauptstiick,
die Abschnitte 2 und 3.-35 Dohnenschneit oder Dohnenstrich: eine Bahn
von verbundenen Schlingen zum Vogelfang.
S. 263,2 2 Georg Ernst Stakl (1660-1734), der als Chemiker die lange
giiltige Phlogistonlehre begriindete, vertrat als Arzt einen Animismus,
wonach die Seele alle Teile des Korpers einzeln durchfuhle und zusammen-
halte. Er vertrat diese Lehre vor allem in seiner »Theoria medica vera
etc.« (1707-37). - 16 Tonus: Spannkraft der Nerven.
S. 264,12 musivisch: mosaikartig. - 33 taillieren und coupieren: mischen
und abheben.
S. 266,57 Strafiburger Uhrwerk: In den Jahren 1547-91 entstand nach
den Planen Christian Herlins im Strafiburger Minister eine gewaltige astro-
nomische Uhr. Das alte Uhrwerk, worauf sich J. P.s Bemerkung bezieht,
stockte 1793 und wurde im 19. Jahrh. neu gestaltet. - 33 National- Versamm-
lung: Spielt auf die Assembled Nationale an, die damals in Paris tagte (1791).
1258 ANMERKUNGEN
S. 268, 20 Ochs Apis: Ehe der Apis-Stier, die Verkorperung des Osiris,
nach seiner Auffindung in den Tempel nach Memphis gebracht wurde,
hatten die agyptischen Weiber 40 Tage lang Zutritt zu ihm. - 31 Michaelis-
ritter aus Spaa: Der Orden des hi. Michael wurde 1469 von LudwigXI.
von Frankreich gestiftet, stand bis zum Ende des »ancien regime* in hoch-
stem Ansehen und wurde wahrend der Revolution aufgehoben. In dem
belgischen Badeort Spaa gaben sich auch Gauner und Beutelschneider als
Mitglieder des Ordens aus, wie J. P., nach Berend, aus Weckherlins dGrauem
Ungeheuer« (1785, Bd.4, S.i79ff.) wufite. - 33 Leonhard Euler (1707-83):
Schweizer Mathematiker, legte seine Gedanken zur Astronomie in seiner
oTheoria motUum planetarum et cometarum« von 1744 nieder. — 36 Alex-
ander Graf Cag/iostro, eigtl. Guiseppe Balsano (1743-95): Abenteurer,
Alchimist und Geisterbeschworer. Er war allerdings seit 1789 bereits in
papstl. Haft.
S.269,/7 Pandekten: der Hauptbestandteil und zugleich die zweite Ab-
teilung des romischen Rechts in der Kodifizierung durch Justinian. -
2 2 das eherne Meer: Dieses gewaltige Becken im Tempel von Jerusalem
wurde von 12 Rindern getragen. Vgl. i.Kon. 7, 24-25. - 25 Mlthridates
der GroBe (132-63 v. Chr.): Konig von Pontus, soil 22 Sprachen, die
Sprachen aller Vblker seines Riesenreiches, beherrscht haben.
S.271,5^ tournure: kunstvolle Einkleidung.
S. 272, if Er erlnnerte sich usw. : Diesen Scherz verdankt J. P. der dritten
Satire von Edward Young {s.u. zu S.635, 11), wo von einem Zerstreuten
gesagt wird : »Er macht sich einen Denkzettel, urn etwas zu vergessen.« Das
Wortspiel, das bei J. P. ofters wiederkehrt, wird in § 47 der »Vorschule der
Asthetik« als beispielhaft angefuhrt.
S. 273, 5 Rosenmadchen in Salency: Der hi. Medardus soil zuerst in seiner
Heimatstadt Salency bei Noyon das Rosenfest eingefuhrt haben, bei dem
das schonste und kliigste Madchen mit einem Kranz aus Rosen gekront
wurde. Schon 1774 hatte Adrien Ernest Modeste Gr£try cine Oper: »La
roziere de Salenci« komponiert. Durch einen ProzeB im Jahre 1776 wurde
das Fest dann allgemein bekannt und fand in der Schaferwelt des spa ten
Rokoko viel Nachfolge.
S. 275,/ 8 prdiipitieren: niederschlagen. -20 Latitudinarier : Freidenker.
S. 276, 2 o Konnen Sie mich usw, : Das abrupte Durchbrechen eines Selbst-
gespraches ist Sterne nachgebildet, der diese Technik im »Tristram Shandy«
virtuos ausgebildet hat.
S.277,? 1 den sie: Zu »sie« fehlt das Beziehungswort im vorhergehenden
Satz. Entweder ist beim Schreiben oder im Druck ein Satz ausgefallen.
S. 285,74 Ottomars Brief: vgl. o.S.2i7ff.
S. zS6,i2Jf. Erinnerungen: J. P. denkt hier an seinen Jugendfreund Adam
Lorenz von Oerthel, der 1786 und wie Amandus im Oktober gestorben
war. Vgl. dazu Tristram Shandy VI, 25 : »Doch was - was ist das gegen
jenes kiinftige trauervolle Blatt, wo ich das samtene Leichentuch betrachte,
ANMERKUNGEN 1 2 5 9
verziert mit dem kriegerischen Ehrenzeichen deines Herrn - des ersten —
des besten der geschaffenen Wesen.« So riickt Sterne auch nach der Grab-
schrift Yoricks zwei schwarze Trauerseiten ein (Tristram Shandy I, 12).
S. 287, yf. aufheben, einkriimmen, fuhlen ; Es fehlen die zugehorigen Hilfs-
verben, die man wohl mit »konnte« und »muBte« zu ergiinzen hat.
S. 290,/ 8 inrotulieren: (in einen Rotul, ein Aktenbiindel) zusammenlegen
und einrollen, d.i. die Akten fur die hohere Instanz fertig machen. — 19
tockieren: mit dickem Pinselauftrag skizzieren. - 2Sf. Maler und Urbilder:
Dazu merkt Forster in einer Note zur zweiten Reimerschen Gesamtausgabe
von 1840 an: »Vor den Augen des Gentile Bellini lieB der turkische Sultan,
um ihm einen Fehler in der von ihm gemalten Enthauptung Johannis zu
beweisen, einem Christensklaven den Kopf abschlagen. Philipp Hackert
hatte von der Kaiserin Katharina u.a. den Auftrag erhalten, die Verbren-
nung der tiirkischen Flotte durch die russische im Hafen von Tschesme zu
malen; Graf Orlow lieC fur diesen Zweck den Kiinstler eine russische Fre-
gatte bei Livorno in die Luft sprengen.«
S.29i,j6" Pharao: vgl. 2.Mose 1,15 fF.
S. 292, 6 Erbosung uber den Seligen: Hier klingt zuerst das Motiv auf, das
dann im Testament van der Kabels in den »FIegeljahren« ausgefuhrt wurde.
Vgl. Flegeljahre, Nr. i Bleiglanz. — 36 Reinecke: Joh. Friedr. Reinecke
(1745-87) ist gemeint. Vermutlich kannte J.P. den bedeutenden Darsteher
nur aus Bildern und Schilderungen.
S. 294, 1 3 Liripipium : weite, kapuzenartige Kopf bedeckung, die im Mittel-
alter an Universitaten iiblich war. - 28 Phatanen; Nachtfalter.
S. 297, 36 Amandus* Seele: Alle Ausgaben lassen hier falschlich »Gustavs
Seele« stehen, obgleich Zusammenhang und Sinn eindeutig sind. Vgl. auch
u. S. 396,9 und die Anmerkung. In beiden Fallen erklaren sich die Versehen
aus der Eile, mit der die zweite Halfte der Arbeit in einem Zug niederge-
schrieben wurde.
S. 300, 2 3 Blanchards-Fliigel: Nik. Frangois Blanchard (1738-1809),
franz. Aeronaut und Konstrukteur, erfand schon mit 16 Jahren ein Flug-
gerat und arbeitete bis zu seinem Tod an der Entwicklung des Luftballons.
-31: vgl. Nachtrag S. 131 1.
S. 301 , 1 3 Nikolais materia medico ; Anton Nikolais »Systema materiae me-
dicaeadpraxinexplicatae« (1750-52).- 22 materia /jeccanj.* KrankheitsstofT.
S-302, 20 Schikanedrische Truppe: Emanuel Schikaneder (1751-1812)
zog seit 1766 als Prinzipal einer angesehenen Schauspieltruppe durch
Deutschland, hatte sich jedoch seit 1786 fest als Schauspieldirektor, Dichter
und Schauspieler in Regensburg, spater in Wien etabliert.
S. 303, 6 Nie hab* ich einen Sektor usw.: Berend verweist zu diesem Ab-
schnitt auf Tristram Shandy III, 28: »Ich geh* an diesen Teil meiner Ge-
schichte mit einem so schweren und melancholischen Gemiite, worin sich
nur jemals eine sympathetische Seele befunden hat. - Meine Nerven werden
schlaff, indem ich's erzahle. - Bei jeder Zeile, die ich schreibe, fuhl' ich, dafi
1 260 ANMERKUNGEN
die Lebhaftigkeit meines Pulses sinkt usw.«, doch unterscheidet beide Stellen
der ironische Tonfal) Sternes und auch der sehr verschiedene Zusammen-
hang. — s> unvergejiliche Novemberstunde : die Todesvision am Abend des
1 5. Nov. 1790, die J. P. als entscheidend fur sein ganzes Leben betrachtete.
S- 308,34 ein Konig: Ottomar denkt vermutlich an die Abdankung
Kaiser Karls V.
S. 312, .2<? Rota (Romana): »romisches Rad«, der oberste Gerichtshof
der papstliche Kurie.
S.313,.^ Jocher: Christian Gottlieb Jocher gab 1750 ff. ein »Allgemei-
nes Gelehrtenlexikon« in vier Banden heraus, das spater oft erganzt wurde
und noch heute ein unentbehrliches Nachschlagewerk darstellt. — 20 Jenaer
Re%ensenten: Rezensenten von der »Jenaischen AUgemeinen Literatur-
zeitung«.
S. 3 14, 30 Pathognomik : Lehre von den Krankheitszeichen.
S. 3 1 6, 5 Loren^odose : In Sternes »Empfindsamer Reise« bietet der Monch
Lorenzo, den Yorick, der Held des Buchs, sehr gekrankt hat, diesem gut-
miitig Tabak an, ohne der Beleidigung zu achten. Yorick tauscht daraufhin
seine Tabaksdose gegen die des Monches, um sich seiner heilsam zu erinnern,
und wird Lorenzos Freund.
5.317,26" Sultane und Bon^en: In Frankreich geiflelte als erster Montes-
quieu in seinen beruhmten »Lettres persanes« (1721) die einheimischen
Laster in orientalischem Gewand, ihm folgten Crebillon, Diderot (»Les
bijoux indiscrets« 1748) und Voltaire (»Zadig« 1749, »La princesse de Baby-
lon« 1768 usw.). In Deutschland schrieb Chr. Martin Wieland mit dem
»Goldenen Spiegel* 1772 und der »Geschichte des weisen Danischmendft
vorbildliche Erzahlungen dieses Genres. - 28 Pasquino: s.o. zu S. 145,26.
S. 3 1 9, 1 5 erhabenes Lied: aus der erwahnten Sammlung von Rust (S. 30) ;
s.o. zu S. 256,28. Der Text ist Herders »VoIksliedern« entnommen (Nr.29:
»Das Lied vom Bache«):
S. 3 22, / 4 Stell dich ein : vgl. in der zu S. 25, 2 angefuhrten Schrift S. 3 8.
S. 323, 2<? Bernard Connor (1660-98); engl. Arzt von Weltruf, erregte
durch sein grofles Werk: »Evangelium medici seu medicina mystica usw.«,
1697, in welchem er die Wunder der Bibel, auch die Auferstehung von den
Toten, medizinisch zu erklaren versuchte, grofies Aufsehen und noch gro-
Beren AnstoB. - 33 Gerhard: Johannes Gerhardus (1 582-1637), Professor
der Theologie in Jena, schrieb 9 Bande »Loci communes theo!ogici«, Jena
i6ioff.
S. 324, 7 Asop y Pope, Scarron usw. : Die Namen setzt erst die zweite Auf-
lage ein, da wahrend der Arbeit am Roman Lichtenberg noch lebte. -
y Paul Scarron (1610-60): franz. Dichter, schrieb Lieder, Stiicke und Bur-
lesken. Scarron ist bedeutend durch seinen »Roman comique«, beruhmter
als erster Gatte der Maintenon. - 19 Curtius-Stur^: Auf dem rom. Forum
klaffte in sehr fruher Zeit ein Schlund, dem verderbliche Dampfe entstiegen.
Um ein Orakel zu losen, das Rom erst dann Befreiung versprochen hatte,
ANMERKUNGEN 1 26 1
wenn es seinen besten Besitz geopfert habe, stiirzte sich der junge Krieger
M. Curtius mit RoC und Waffen in den Abgrund, der sich uber ihm schlofi.
8.325,** Origenes; s.o. zu S. 73,20.
S.326,z Dekoht: Abstid. — 3 Rosenmddcken: s.o. zu S.273,5.
8.327,* 4 Idylle von Fontenelle: Bernard Le'Bovier Fontenelle (1657 bis
1757), dessen ^Dialogues des morts« (1683), dessen geistvolle Abhandlun-
gen und Elogen zu den groflen Zeugnissen der franz. Sprache gehoren,
schrieb 1688 ein schmales Bandchen »Poesies pastorales*.
S.328, 26 Lovelace: der Verfuhrer in Richardsons »Clarissa«. - 26 Che-
valier: Gemeint ist der Vicomte de Valmont, der Held in den »Gefahrlichen
Liebschaften« des Choderlos de Laclos von 1782.
S. 329, .9^. Lovelace kingegen usw.: Zum folgenden vgl. Clarissa, Bd.V,
besonders die Briefe 7 und 35-37.
S. 330,36" be-Sit^en: Die ungewohnliche Schreibweise ist mit Absicht ge-
wahlt, um die wortliche Verwendung des Ausdrucks sinnfallig zu machen.
S.331,5 traganten: Tragant ist eine Art Gummilosung, die auf Mal-
papier aufgetragen wird.
S. 332, 6 Assekuranibrief: Versicherungsbrief. — 9 Penny-Post: die
Stadtpost in London.
S. 334,32 Brieftauben: Nach der antiken Mythologie wird der Wagen
der Venus von Tauben gezogen.
$-338,3* Plenipotentiar : bevollmachtigter Gesandter. - 32 missi regit:
konigliche Boten.
S-339,4 Schmaufiens Corpus: Joh. Jak. Schmaufi (1690-1757), Rechts-
gelehrter und Publizist, gab in zwei groBen Sammlungen das »Corpus juris
civilis« 1722 und das » Corpus juris gentium« 1730 heraus. — 6 Modejournal:
s.o. zu S.41,1.
S. 340, 19-2 o Wieviel besser usw. . Die beiden hier eingeschobenen Zeilen
gehoren offenbar in einen anderen Zusammenhang.
S. 342, 1 4 Olla Potrida : »fauliger Topf«, ein spanisches Nationalgericht
aus Gemuse und Fleisch, hier svw. Potpourri oder Allerlei. - 24 Saillie:
witziger Einfall.
$.W7)36limbus infantum: Aufenthalt der ungetauft gestorbenen Kin-
der, ein Ort ohne Freude und ohne Leid, der wie das Fegefeuer zwischen
Himmel und Holle gedacht ist.
S. 348, 32-349, .9 Zusatz der 2.Aufl., um den Fall Gustavs geniigend zu
rechtfertigen.
S. 3 5 1, 9 Bologna mit der Freiheit: Bologna war seit dem spaten 1 5. Jahrh.
vom Kirchenstaat abhangig. — 9 Legende: Umschrift auf Miinzen.
S. 352,77 Inhdsivprotestation: Beharrungserklarung. - 20 Jakob: vgl.
i.Mose 32, 25fT. - 33 in meine Stube: vgl. o. S.3i4,iff.
S. 354, 25 wie der Wilde usw.. Das Gleichnis ist Montesquieus »Esprit
des lois«, V. 13 entnommen.
S. 360,32 Heripolype: Fleischgewachs am Herz. — 34 Musaus: Joh.
1262 ANMERKUNGEN
Karl Aug. Musaus (1735-87), Romancier und Satiriker, schrieb mehrere
Romane in der Nachfolge Fieldings und Sternes, darunter die vier Hefte
»Physiognomische Reisen« (1778-79) gegen Lavater, die J. P. sehr haufig
zitiert und benutzt. Die folgende Geschichte ist den »Nachgelassenen
Schriften des verstorbenen Professor Musaus« entnommen, die Kotzebue
1791 herausgab. Vgl. dort S. 21 und 95 fT. Dort auch mehrere der erwahnten
Gedichte zum Geburtstag seiner Frau.
S. 362,/ Exieptionsschrift ; Verantwortungsschrift.
S. 364, 1 Sff. Neununddreifiigster Sektor usw. : Das Motiv der Erkrankung,
das den Autor am Fortfuhren seiner Geschichte hindert, taucht bei Sterne
auf und ruft dort die Reise nach Frankreich im VI. Teil hervor, von der
ahnlich auch Thiimmel und vor ihm Hippel beeinflufit sind. Aufgenommen
und an die Grenze getrieben wird dieses Spiel J.P.s in Brentanos Roman:
»Godwi« (1801). - 2G]oh. Georg Ritter von Zimmermann (1728-95):
medizinische Zelebritat. Seine Abhandlung: »Ober dieEinsamkeit« (1784 in
endgiiltiger Form) hatte ihm fruh literarischen Ruhm eingebracht. Er lebte
als Leibarzt des engl. Konigs in Hannover. — 2j Richter: Das Wortspiel
mit Aug. Gottl. Richter (1742-18 12) und seinen »Anfangsgriinden der
Wundar^neihunsn (7 Bde. 1782— 1804) ist erst ein Zusatz der zweiten Aufl.
Die erste verschwieg bekanntlich noch J.P.s wahren Namen.
S.365, 23 Lohbeet: mit geriehener Baumrinde gefullter Treibkasten.
$.366,7.2 Semiotik: Lehre von dem Anzeichen der Krankheit, ein Teil
der Diagnose.
S.367, Sff, Schwester: Ahnlich tritt in Hippels »Lebenslaufen« (s.o. zu
S.134,26) im 4. Teil, S.542, fur den kranken Erzahler seine Gattin ein. -
77 Joh. Leop. Avenbriigger (1722-1809): Wiener Arzt, wurde schon 1754
auf die Schallunterschiede beim Klopfen an die Brustwand aufmerksam und
veroffentlichte 1761 seine Abhandlung: »Inventum novum ex percussione
thoracis humani, ut signo, abstrusos interni pectoris morbos detegendi«, in
der er zeigte, daB ein schwacher oder dumpfer Ton auf Krankheiten der Lunge
hindeute. Erst nach 1808 hat sich diese Erkenntnis weiter durchgesetzt.
S.368,7 heureusement: Wie Dr. Fenk benutzte auch der Dichter dieses
Wort gern zur Federprobe.
S. 370, / 1 Audienia (span, audiencia) : Name fur Gerichtshofe in Spanien,
die den alten franz. Parlamenten vergleichbar waren, dann auch fur den
Richter an einem solchen Amt. - 21 Thiimmel (s.o. zu S. 258,7): Er schil-
dert in seiner »Reise in die mittagl. Provinzen von Frankreich« einen Hypo-
chonder, der durch eine Fahrt sich von seinen Einbildungen kuriert. -
2?ff. Willis^ Posidonius y Aetius, Glaser: Das Anhaufen und Vermengen
bekannter, und unbekannter Arztenamen, auch der Gegenstand selbst er-
innern hier stark an die Untersuchung des alten Shandy uber den Sitz des
Verstandes. Vgl. Tristram Shandy II, 20.
S.371, GOktapla: Achtsprachenbibel, hier etwas gezwungen auf die
acht Bande von Hallers »Physiologie« umgedeutet. - 29 Favorit-Krankkeit :
ANMERKUNGEN 1 26 3
Der Einfall, der im »Hesperus« wieder begegnet (s.u. zu S. 730,7 jH> stammt
vermutlich aus Fieldings »Tom Jones« II, 13.
S-373, 3 Johann Kaempf (1726-87): praktizierte mit einer Klistier-
maschine und von ihm erdachten Pflanzenklistieren gegen Krankheiten des
Unterleibes, vor allem gegen die Hypochondrie und gab eine Anzahl be-
schreibender Schriften daruber heraus.
S-$74,3<Fohismus: s.u. zu S.1099,15. - 4 multum^ non multa: »Viel,
nicht vielerlei.« Schon bei PHnius, Briefe V, 6, als Sprichwort zitiert.
S.375,^ in integrum restituieren: unversehrt wiederherstellen.
S.376, .2 3 Samuel Heinecke (1727-90).* Begriinder des Taubstummen-
wesens, trat gegen das herkommliche Buchstabieren im Grundunterricht
und fur eine Lautmethode ein.
S. 377, z Dissenters (»Andersdenkende«) : Personen und Gruppen in Eng-
land, die auBerhalb der anglikanischen Kirche stehen. - 22 leidtragende Kan-
%eln: s.o. S. 110, iff.
S-379)'^ Blonden: Spitzen aus heller Seide.
S. 383,^0 Bethesda: Das Wasser dieses Teiches machte nach Joh. 5, 4,
wenn es von einem Engel bewegt wurde, »jeden gesund, gleichviel an wel-
cher Krankheit er litt«. — 19 Plinius: vgk PHnius* d. A. »Naturgeschichte«,
VIII, 16, 14. - 23 Josaphats-Tal: Tal des Kidron, ostl. von Jerusalem. In
ihm versammeln sich am Jiingsten Tag die Menschen zum Gericht. —
25 Baquet: Zuber.
S. 386, 2 3 Medea; Zu dem gefeierten Melodram Georg Bendas (s.o. zu
S. 162,28) hatte Fr. W.Gotter, der zu Goethes erstem Weimarer Kreis ge-
horte, einen diirren und unergiebigen Text verfertigt. - 29 Gotth. Friedr.
Burger (175 3-1 8 16): damals Prediger in GroBenhayn, gab 1789-94 vier
Bande mit Predigten heraus. »Was J. P. an den recht unbedeutenden Pre-
digten so, angezogen hat, ist mir unklar; vielleicht bestand irgendeine
personliche Beziehung.« (Berend.)
S'389>j* Francois de Ton (1730-93) : franz. Reisender, schrieb »Me" moi-
res sur les Turcs et les Tartares« (1784).
S.39CV.9 Freuden: in beiden Ausgaben verdruckt: »Freunde.«
S.391, 32 Concert spirituel: urspr. ein geistliches Konzert, das in der
Karwoche an die Stelle der iiblichen Theaterauffuhrungen trat, dann ein
Konzert in kleinem Rahmen.
S.392,/^ Kabinettprediger der Topfe; Melanchthon soil sich in seiner
Jugend an Top fen im Predigen geiibt haben.
S.393,z6" nach Keifiler: Joh. Georg Key filer (1 693-1743), Reiseschrift-
steller, aus dessen »Neuesten Reisen durch Teutschland ... die Schweiz, Italien
usw.« (1740) sich J. P. viele Notizen gemacht hatte.
S.396,.9 Vierter Freuden-Sektor : Es fehlt die laufende Oberschrift. -
1 o Fenks: In den Drucken steht versehentlich »Hoppedizels«. Vgl. o. zu
S. 297,36.- 13 Schrockh; s.o. zu S. 125,12. Er gab 1767-91 in acht I?anden
eine umfangliche »Allgemeine Biographie« heraus.
I264 ANMERKUNGEN
S.400,,9 Epiktets Lampe: Lukian erzahlt von einem reichen Mann, der
aus dem NachlaB des Philosophen dessen tonerne Lampe fur teures Geld
erworben habe, in der Meinung, damit auch seine Gelehrsamkeit zu er-
werben. — 13 Quadrupel-Allian{: Viererbiindnis. Im i8.Jahrh. verstand
man darunter vorwiegend jenen Vertrag zwischen Frankreich, England,
Osterreich und Holland von 171 8, der dem Regenten im Falle eines Ab-
lebens des jungen Konigs die franz. Krone sichern sollte. f
S.403,.2 Menschenfreuden: Chr. Friedr. Sintenis (1 750-1 826), Verfasser
von religiosen Romanen und Traktaten, schrieb 1778 »Menschenfreuden
aus meinem Garten in Zerbst«. — 32 Bartolus: Die Anspielung ist unklar.
Gemeint ist jedenfalls Bartolo v. Sassoferrato (1314-57), Professor der
Rechte in Padua, der bedeutendste Jurist des Mittelalters in Italien.
S. 407,2 5 der Weltweise: Dafur steht in der Erstausgabe noch der Name
Joh. Christian Wolfts, auf dessen Ideenlehre sich die Stelle bezieht.
S. 408, 2 8 Lauten{ug: ein Dampfregister an der Orgel und am Cembalo. -
3 6f. wie in Gras umkleideteB lumen: Zum Verstandnis dieser Stelle vgl. »Hes-
perus« S. 579, 8 f. : »und in der Nacht sehen die Blumen selber wie Gras aus.«
S. 409, y Otaheiti (oder Tahiti) : eine der Gesellschaftsinseln. Die Kennt-
nis dieser Insel und der Brauche ihrer Einwohner verdankt J. P. im wesent-
lichen J.Georg Forsters »Reise um die Welt* (s.u. zu S. 427, 30). Otaheiti
wird haufig erwahnt und bezeichnet bei J. P. ein Eldorado oder Paradies
nach Rousseauschem Geschmack.
S.415,^^ Christoph Friedr. Nicolai (1733-1811): Publizist, Popular-
phi losoph und Romancier, ein Freund Lessings und Mendelssohns, war als
Herausgeber der »Allgemeinen Deutschen Bibliothek« durch Jahrzehnte der
Gesetzgeber der Berliner Aufklarung. — 3S Schmalhaldiscke Artikel: die
von Luther 1534 abgefaBten Glaubensartikel, die der Schmalkaldische Bund
auf dem Konzil von Mantua vertreten sollte; sie wurden aber erst sehr viel
sparer und in abgeschwachter Form wirksam.
S. 41 8, p ich hah* es dem Leser auch gesagt: vgl. o. S. 64, 22 ff. - zg V-^ka :
Gemeint ist »Venzka«, das Gut der Familie v. Spangenberg, auf dem J. P.
als Lehrer in Topen ofters geweilt hatte.
S. 419, 6 gewisse Bemerkurig von Ottomar: vgl. o. S.407,28ff.
S.420, 11 Sechsfinger; vgl. o. S. 293,36. Das Motiv ubernahm J. P.
spater in den »Hesperus« (vgl. o. S. 629, 19) und wollte urspriinglich sogar
beide Romane durch diese Gestalt miteinander verbinden.
Schulmeisterlein Wut\
Jean Paul nennt als Entstehungszeit der Idylle den Dezember 1790. Da-
gegen lafit Eduard Berend es auf Grund der Briefe als sicher erscheinen, daB
die Erzahlung erst nach den Skizzen des »Falbel« und des »Freudel« ge-
schrieben wurde, in der ersten Halfte Februar 1791 (vgl. in der hist.-krit.
Ausg., 1 . Abt. die Einleitung zu Bd. 2, S. XL VIII f.). Nachdem die Arbeit vom
ANMERKUNGEN 1 26 $
Dichter im Marz des Jahres vorlaufig abgeschlossen worden war, iiber-
arbeitete er die Idylle noch einmal im Oktober des Jahres, wobei die erste
Fassung wesentlich erwekert wurde, und entschloB sich damals offenbar
auch, die Erzahlung mit der »Unsichtbaren Loge« locker zu verkniipfen.
Doch stellte er noch in seinem Begleitbrief an Karl Philipp Moritz (vom
6. Juli 1792) diesem anheim, ob die Idylle dem Roman »beigeleimt« werden
solle oder nicht. - Fiir die Neuauflage 1822 ist auch das oSchulmeisterlein
Wutz« nur stilistisch iiberarbehet worden. Selbst die alte Schreibweise des
Namens »Wuz«, die J.P.s Gepflogenheiten in dieser Zeit ganz fremd war -
er schreibt in den Briefen stets »Wutz« -, ist dabei versehentlich unverbessert
geblieben. Dem Beispiel der Kritischen Ausgabe folgend, haben wir diese
Anderung uberall durchgefuhrt.
S.422,i6" Christian: Georg Christian Otto (1 763-1 828) ist gemeint, mit
dem den Dichter seit seiner Schulzeit eine lebenslange, innige Freundschaft
verband. Otto stand auch durch Jahrzehnte dem Dichter beratend und an-
regend in seiner Arbeit zur Seite.
S.423,z> Gottlieb Cober (1682-1717): Prediger und Erbauungsschrift-
steller, gab 1 7 1 1 einen » Aufrichtigen Cabinettprediger usw.« heraus, von dessen
Beliebtheit mehrere Neuauflagen zeugen.
S.424, 5 Dishabilli: svw. Neglige. - 9 palingenesieren : wiedererzeugen.
S.425,5 Loretto-Hduschen: Das Geburtshaus der Maria in Nazareth
wurde der Sage nach 1295 von Engeln nach Loreto in Italien gebracht. Dort
wird die ocasa santa«, eingebaut in einen gewaltigen Dom, noch heute ver-
ehrt. - 7 Rousseauische Spa&ergdnge : Rousseaus Spatwerk: ^Reveries d*un
promeneur solitaire« wurde 17.82 aus seinem NachlaB veroffentlicht. -
19 Lavaters Fragmente: In den »Physiognomischen Fragmenten« (s.o. zu
S. 98, 1 f.) waren in 21 Kupferstichen die Lebensabschnitte von Mann und
Frau jeweils von 10 zu 10 Jahren dargestellt. - 19 Comenii orbis pictus: Auf
Tafel36 dieses Buches (s.o. zu S. 55,24) waren die sieben Alter des Men-
schen als Stufen einer Pyramide dargestellt.
S. 426, 5 physiognomische Fragmente von Lavater: Ihr erster Band erschien
1778. -10 dem Sckweiier: Die Erstausgabe hat dafiir )>den Schweizer«. -
29 Federscher Traktat: Joh. Georg Heinr. Feder: »Ober Raum und Cau-
salitat. Zur Priifung der Kantischen Philosophie«, eine Streitschrift gegen
Kant (1782). - 26 Ballet: Teilgebiet einer Ritterordensprovinz.
S. 427, 8 Friedr. Nicolai: s.o. zu S. 41 5, 34. - ti auf einmal: Das stimmt
nicht ganz, denn Sturms ^Betrachtungen uber die Werke Gottes im Reiche
der Natur und der Vorsehung« erschienen in neuer, verbesserter Auflage
bereits 1775-76, Schiller s bRdubert und Kants bKritik der reinen Vernunfa
erst 1781. - 16 Cookische Reise: Gedacht ist wohl auch hier an Forsters
»Reise um die Welt« (s. u. zu S. 427, 30), nicht an den von Hawksworth ver-
faBten Reisebericht der Expedition Cooks. - 29 vorherbestimmte Harmonte:
Die erste Auflage setzt noch den gelaufigen Terminus : »prastabilierte Har-
monie«. - 30 Joh. Georg Forster (1754-94) : Naturforscher und Schriftsteller,
1266 ANMERKUNGEN
begleitete seinen Vater J. R. Forster auf Cooks zweiter Weltumseglung und
gab mit ihm zusammen einen umfangreichen Bericht dariiber heraus (»> Ob-
servations from a voyage round the World.« 1777 dt. : »J. R. Forsters Reise
um die Welt in den Jahren 1772-7 5 «, ersch. 1778-80). Die Unruhen der
Revolution trieben ihn als Mainzer Abgeordneten nach Paris wo er elend
zugrunde ging. - 30 Patrick Brydone (1741-1818): engl. Reisender, schrieb
»A tour through Sicily and Malta« (1773). - 30 Jakob-Jonas Bjornstahl
(1730-79): schwedischer Orientalist, dessen »Reise nach Frankreich, Ita-
lien ... der Tiirkei und Griechenland« 1780-83 ins Deutsche iibersetzt
wurde.
S. 428, y Rousseaus vBekenntnisseo-: Sie erschienen in den Jahren 1781-88.
19 Dionysius-Ohr : Ein von dem Tyrannen Dionysius von Sizilien errich-
tetes Gefangnis, das, wie ein Trichter zugespitzt, ihn die Klagen seiner
Gefangenen horen lieB. - 26 Annulus platonis: »Annulus platonis oder
physikalisch -chymische Erklarung der Natur usw.« Unter diesem Titel
wurde 178 1 eine Neuauflage der »Aurea catena Homeri« veranstaltet, einer
alchimistischen Schrift des Herward v. Forchenhamm, die 1723 zuerst ge-
druckt worden war. — 28 Gyges-Ring: unsichtbar machender Ring, mit
dessen Hilfe sich nach Herod ot der Hirte Gyges zum Herrscher Lydiens
aufschwang.
S.429,* thorax^ caudex, pulexque: die unregelmaBigen Substantive der
dritten lat. Deklin^tionsklasse auf x, die mannlichen Geschlechtes sind. -
2 5 Philanthropin: s.o. zu S.235,5. - 28 Guardian; Vorsteher eines Fran-
ziskanerklosters. - 30 Kruditaten: unverdauliche Speisen. - 32 Bassiano
Carminati (1 750-1 830): Prof, der Therapeutik in Pavia, untersuchte die
arztlichen Verwendungsmoglichkeiten des Magensaftes in seinen »Ricerche
sulla natura e sugli usi del succo gastrico in medicina ed in chirurgia«*"
(1785). — 33 supernumerar : iiberzahlig, iiberschiissig.
S>430,z peristaltische Bewegungen: Darmbewegungen. — 5 Ka%ik:
Stammeshauptling bei den sudamerik. Indianern.
S.431,/^) Wutiische Kunst y stets frohlick {u sein: »Ars semper gaudendifl
heifit ein gelehrsames theologisches Werk von Alfonso de Sarasa (1664-67),
und im AnschluI3 daran nannte Joh. Peter Uz einen Traktat von 1760 »Ver-
such liber die Kunst, stets frohlich zu sein«. Beide Werke zitiert J. P. ihres
Titels wegen zu Anfang seines unvollendet gebliebenen »Freudenbiichleins«.
S.432, 3 Jodit^: In dem kleinen Dorf bei Hof im Voigtland verbrachte
J. P. einen Teil seiner eigenen Kinderzeit. — 19 Regeldetri: Dreisatz in der
Mathematik.
S.433,z 8 Lustrum: Zeitspanne von funf Jahren. - 34 Werthers Freuden:
»Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers, des Mannes«
nannte Friedr. Nicolai 1775 seine ebenso schwache, wie bissige Parodie auf
Goethes Roman.
S. 434, /_7 Kappfenster: kleines vorspringendes Dachfenster. — 23 Tempe-
Tal: s. o. zu S. 1 58, 27.
ANMERKUNGEN 1 267
S.435,7 Ripienist: Musiker oder Sanger, der nur die Fiillstimme auszu-
fullen hat. — 1 jf. Johqnna-Therese-Charlotte usw.: Charlotte und Mariane
heiBen die Geliebten Werthers und Siegwarts, Clarissa und Heloise die
Heldinnen in den gleichnamigen Romanen von Richardson und Rousseau.
Ober die Herkunft der ersten beiden Namen ist mir nichts bekannt. -
*7~437>4 Potentaten: Die Geschichte mit den Potentaten und den PfefTer-
kuchen wurde erst bei der Oberarbeitung eingeschoben. - 33 vorige Kaiserin :
Kaiserin Elisabeth (1709-62).
S. 436,//. Streich- und Streckteich ; Teiche zur Erzeugung und ungefahr-
deten Aufzucht der Fischbrut. — 29 schottischer Meister: maitre £cossais,
der hochste Grad in der Freimaurerei.
S-437, 1 3 Revision des Schulwesens: J. H.Campe (s.o. zu S.25,2) gab
1785-91 in 16 Bdn. eine ^Revision des gesamten Schul- und Erziehungs-
wesens« heraus, ein Werk, an dem J. P. selbstverstandlich keinen Anteil
hatte. - 14 Friedr. Gedike (1754-1803): Padagoge aus der Schule Base-
dows. Er stammte selbst aus sehr armlichen Verhaltnissen und wuchs fast
ohne Erziehung und Bildung auf. — 21 Scibile: Wissensstoff.
S. 43 8,/ Kallipadie: die Kunst, Kinder schon zu erziehen.
S. 439, 7 j Symbolum Athanasii; ein angeblich von dem Kirchenlehrer
Athanasius verfaBtes Glaubensbekenntnis, das die Lehre von der Dreieinig-
keit und der Menschwerdung Christi formuliert. — 36 Langens geistlickes
Recht: s.o. zu S.72, 30,
S. 440, j 6 Messiade: Von Klopstocks »Messias« erschienen nach einer
langen Pause die letzten funf Gesange (nicht drei) im Jahre 1773.
5.441.1 j Romer; Auf dem Frankfurter Romer, dem Rathausplatz der
Stadt, stand eine Reihe bekannter Gasthofe.
S. 442, 6 Nofiel: MaBeinheit, etwa x / 8 Liter. - 33 : vgl. Nachtrag S. 13 1 1.
5.445. 2 iff. O wie schon ist Gottes Erde; die letzte Strophe von L.G.
Holtys »Aufmunterung zur Freude« von 1777. Eigentlich lautet die erste,
von J. P. ganz gegen den Rhythmus wiedergegebene Zeile : »Wie wunder-
schon ist Gottes Erde.«
S.446,p metaphysischer Esel: der sog. Esel des Buridan. Nach diesem
spatmitte la Iter lichen Gleichnis verhungert ein Esel, der zwischen zwei gleich
groBeHeubiindel gestellt wird,weiler sich fur keines von beiden entscheiden
kann. Die Geschichte findet sich nicht in den Schriften des franz. Schola-
stikers Buridan, dem sie zugeschrieben wird. Sie wurde vielmehr wohl
von seinen Gegnern erfunden, um seine Wi liens lehre zu verspotten.
S. 447, 7 4 papillotieren: einkrauseln. — 22 Schuli von Paris: Friedr.
Schulz »t)ber Paris und die Pariser«, 2 Bde. 1791. Die Stelle findet sich in
Bd. 1, S.397rT. - 28 sponseln oder spannseln: (ein Weidetier an den Vorder-
fuBen) fesseln. - 28 Chignon; Haarzopf. - 32 Frage^eichen: Hier fallt J. P.,
wie es ihm vor allem im zweiten Teil der Erzahlung noch mehrfach unter-
Iauft, aus seiner Rolle als Erzahler heraus.
S. 448, 4 Alpheus (Alphios) : der groBte FluB im Peloponnes.
1 268 ANMERKUNGEN
S. 449, 20 Schiffund Geschirr: ein tautologischer Ausdruck fur Geschirr,
hier svw. die Gesamtheit der Toilettengegenstande. - 3 iff. Sckmetterling :
Zu dieser Geschichte vgl. die Szene im Tristram Shandy (I, 18), wo der
gutmutige Onkel Toby eine Fliege, die ihn lange umsumst und geargert
hat, ebenso zum Fenster hinausfliegen laflt.
5.452. 6 Sponsalien: Ehevertrag. - 14 Kirchenagende : Kirchenhandbuch.
5.455.7 Semiotik: s.o. zu S. 366, 12. - 16 Rudera: Oberbleibsel. -
zy Antikentempel: In Sanssouci hatte Friedrich der Grofle 1765 durch Karl
v. Gontard fur seine kleine Sammlung den sog. »Antikentempel« errichten
lassen; in Dresden waren die Antiken und die groBe Sammlung von Ab-
giissen seit 1786 neu im Z winger untergebracht. — 32 gemaltes Jesuskind:
auf Corregios beruhmtem Bilde der »Heiligen Nacht«, das sich seit 1746 in
der Dresdener Galerie befindet, geht alle Helligkeit in Strahlen von der
Krippe aus.
S. 45 6, .24 Band und Kreole: Die erste Ausgabe setzt deutlicher: »der
Obergang, das Band und der Kreole.*- 30 Alltags-Kleider : vgl. o. S. 287, 246*".
S.tfj^G Konig von Preuflen: Friedrich II.
Auslauten oder Sieben let{te Worte
Der SchluBabschnitt wurde zugleich mit der Idylle am <5.Juli an Moritz
geschickt. Jean Paul schrieb dazu in seinem Begleitbrief: »Ich werde selten
eine Stunde haben, wo mein Herz so hoch schlug, wo mir fast alle Sinnen
so vergingen, wie in der Geburtsstunde jener Sieben Worte.« Der Titel ist
deutlich in Analogie zu den Sieben letzten Worten Christi am Kreuz gesetzt.
S. 463, 10 Medea: Als Medea mit Jason und dem goldenen Vlies aus
Kolchis floh, schlachtete sie, um den verfolgenden SchifTen ihres Vaters
Aietes zu entkommen, ihren Bruder und streute seine Glieder auf der Bahn
ihres Schiffes ins Meer. — 19 Pikesche oder Pekesche: nach Husarenart ge-
schnittener, studentischer Rock.
S. 464, 6 Junius mit der Sense: Schon seit dem Mittelalter werden Juni
und Juli in der Ikonographie mit der Sense dargestellt als dem Zeichen der
Monatstatigkeit.
S. 467, i o %wei Menschen : J. P. denkt an seine beiden frtih verstorbenen
Jugendfreunde Adam Lorenz v. Oerthel und Johann Bernhard Herrmann.
Hesperus
Zur Entstehungszeit des Romans vermerkt das sog. »Vaterblatt«, in dem
Jean Paul iiber seine Werke Buch zu fuhren pflegte: »Hesperus den 21. Sept.
1792 — 21. Juni 1794 (1 Jahr, 9 Monate).« Wirkonnen jedoch die Vorarbeiten
sehr viel weiter zufiickverfolgen, der Plan selbst tauchte vermutlich schon
wahrend der Arbeit an der »Unsichtbaren Loge« auf und bildet wohl auch
ANMERKUNGEN 1 269
den Hauptgrund, warum der Dichter in so ungewohnlicher Weise diesen
Roman abbrach. So schreibt Jean Paul bei der Obersendung der noch nicht
zum Druck fertigen »Loge« an seinen Freund Christian Otto (Brief v.
27.Febr. 1972): »Obrigens ist dieses Pack ein corpus vile, an dem ich das
Romanenmachen lernte; ich habe jetzt etwas bessers im Kopfe!« Wir haben
also unter der erwahnten Notiz des »Vaterblattes« nur die Zeit der eigent-
lichen Niederschrift zu verstehen. Der »Hesperus« erschien dann in drei
Heftlein in Karl Matzdorffs Buchhandlung in Berlin zum Sommer 1795,
wobei der Druck, ob er gleich durch den ganzen Winter gedauert hatte,
doch nur sehr nachlassig ausgefuhrt war. - Der unvorhergesehene, gewal-
tige Erfolg des Buches machte schon bald eine zweite Auflage notwendig.
Von kleineren Arbeiten zunachst aufgehalten, unterzog Jean Paul den
Roman im Fruhjahr 1797 einer durchgreifenden Umarbeitung, wobei er
die Hauptsorgfalt der auBeren Handlung zuwandte: die undurchsichtigen
und verworrenen Geschehnisse der Vorgeschichte wurden breiter dar-
gestellt und nach Moglichkeit sorgsamer motiviert, die Handlungsfaden
deutlicher aufgezeigt und sinnfalliger aufeinander bezogen. An vielen Stellen
wurde schlieSlich auch die Charakteristik der Personen durch Einzelziige
oder eingeschobene Szenen verstarkt. Da Jean Paul selbst im Roman haufig
auf solche Umarbeitungen und Veranderungen anspielt, werden in den
Anmerkungen wichtige Einschube und, wo es zum Verstandnis notwendig
schien, auch einzelne kleinere Veranderungen verzeichnet. Als »zweite, ver-
besserte und vermehrte Auf Iage« erschien die Neubearbeitung, nunmehr in
vier (statt drei) Heftlein abgeteilt, 1798 ebenfalls bei Matzdorff. - Dann
dauerte es bis 1819, ehe Reimer die dritte und letzte Auflage, die zu Leb-
zeiten des Dichters erschien, veranstalten konnte. Jean Paul begniigte sich,
wie in der zweiten Auflage der »Unsichtbaren Loge« mit freilich sehr ein-
gehenden, stilistischen und sprachlichen Anderungen, die den Gepflogen-
heiten seiner Spatzeit entsprachen : Tilgung des Fugen-S, weitgehende Ein-
deutschung der Fremdworter, Milderungen und Glattungen im Ausdruck
(vgl. dazu S.475ff.). Inhaltlich hat er nur gelegentlich Versehen richtig-
gestellt oder veraltete Anspielungen getilgt.
Motto: Das Zitat ist in gekiirzter Form dem gleichen Abschnitt der »Teu-
felspapiere« entnommen wie schon das Motto zur »Unsichtbaren Loge«. Die
Originaldrucke fugen einen Seitenverweis bei (S. 115), der in unserer Aus-
gabe entfallt.
S.475, i5 Campe: s.o. zu S.25,2. - /5Karl Wilh. Kolbe (1766-1835):
Radierer, Schriftsteller und Sprachforscher. Seine Schrift : »Ober den Wort-
reichtum der deutschen und franzosischen Sprache* (2 Bde. 1804-06) wurde
von J. P. sehr geschatzt. - 29 stimtliche Werke: Statt dessen muB in der
Anmerkung stehen: »Aus meinem Leben«. Das Zitat findet sich bei der
Charakteristik des StraCburger Historikers Schoepflin im u.Buch von
»Dkhtung und Wahrheit«.
I27O ANMERKUNGEN
S.4j6,i Ernst Moritz Arndt (1769-1860): die publizistische Hauptkraft
der deutschnationalen Bewegung wahrend und nach der Franzosenherr-
schaft. Er zeigte sich in den Schriften dieser Zeit von einem oft sehr ein-
seitigen National stolz. J. P. war tiberdies durch die derben Angriffe Arndts
in dessen »Briefen an seine Freunde« (18 10) verargert, in welchen er den
Dichter exemplarisch fur die Verweichlichung und Inzucht des Gefuhls in
der deutschen Literatur verantwortlich machte. - i5 deutsche Gesellschaft:
Die »Berlinische Gesellschaft fur deutsche Sprache* (gegr. 18 14) hatte J. P.
18 1 6 zum auswartigen Mitglied ernannt. - 2.1 Humboldt: Bezieht sich wohl
auf dessen fruhe Schrift: »Ansichten der Natur« (2 Bde. 1808). - 29 Wil-
helmi: Berend vermutet unter diesem Namen Gottfried Tobias Wilhelm,
dessen 1792 ff. veroffentlichte »Unterhakungen aus der Naturgeschichted
von J. P. ausgiebig exzerpiert wurden. - 30 Lorenz Oken, eigentlich Ocken-
fuC (1779-1851): der Begriinder der neueren Naturphilosophie, von
1807 bis 1819 Prof, in Jena. 1813 erschien sein »Lehrbuch der Naturwissen-
schaft*.
S. 477, 2.2 Morgenblattbriefe: In Cottas »Morgenblatt« verofTentlichte
J. P. 18 18 zwolf Briefe »Ober die deutschen Doppelworter«,.in denen er sich
unter dem EinfluC des Sprachapostels Wo Ike lebhaft fur die Tilgung des
Fugen-S einsetzte. Dem Wunsch nach Priifung seiner Argumente kam u. a.
Jakob Grimm nach, der in einem langeren Aufsatz 18 19 J.P.s Beweis-
fuhrung ablehnte und an vielen Stellen widerlegte.
S. 478, 6 Ernst Wagner (1769-18 12): Romanschriftsteller. J. P. schatzte
und forderte ihn als den Verfasser von »Willibalds Ansichten des Lebens«,
die 1 806 in zwei Teilen gedruckt wurden. - 6 F. H. Freiherr de la Motte-
Fouqui (1777— 1843), der Dichter der »Undine«, war mit seinen zahlreichen
Ritterromanen damals der fast am meisten gelesene Romantiker. — 10 er-
haben ruhig: vgl. etwa o. S.698,7.— 16 Werner und Milliner : %.o. S.i8,i6ff.
und die betreffenden Anmerkungen. - 3S Goethe: vgl. Faust I, Vers 911.
S. 480, 7 dienender Bruder (frere servant) : verrichtet in den Freimaurer-
logen die niederen Dienste, ohne eigentliches Mitglied zu sein. - 8 Meister
vom schottiscken Stuhl: s.o. zu S. 436, 29.
S. 483,27 Druckfehler: Die Druckfehler sind in der zweiten Auflage
leider zum groBen Teil und entgegen dem Versprechen unverbessert ge-
blieben.
S.485, jzo aphroditographische Fragmente: »Aphr. Fragmente zur ge-
nauern Kenntnis des Planeten Venus« ist der Titel einer astronomischen
Schrift von Joh. Hier. Schroder (1796). - zy Ter^ie: der sechzigste Teil
einer Sekunde. - 34 Asteriskus: Sternchen (sonst ubertragen verwendet
fur das Anmerkungszeichen). ,
S.487,7 Prosektor: In der Anatomie der Gehilfe des Chirurgen, der die
Leichen zur Sektion vorbereitet.
S.489,7 Homoiomerien: Nach der Meinung des Anaxagoras kleine Ur-
bestandteile der Materie, die den Dingen gleichartig sind und diese aus sich
ANMERKUNGEN 1271
bilden. So setzt skh etwa das Wasser aus unzahligen kleinen, aber in sich
und zum Ganzen gleichartigen Grundteilen zusammen. - iSfunfte Bine:
»Und vergib uns unsere Schuld.«
S. 490, * 8 Deukalion und Pyrrha ; Sie schufen nach der Sintflut ein neues
Menschengeschlecht, indem sie die Steine der Erde iiber ihre Schulter war-
fen. - 22 Cherson: Das ehemalige taurische Cherson, die Hauptstadt der
Krim, war in byzantinischer Zeit eine wichtige Handelsstation auf dem
Wege von RuBland nach Byzanz.
S. 491, / 1. Hundposttag: Nur die erste Auflage schreibt »i.Hundposttag«,
die folgenden lassen die »i« vielleicht mit Absicht weg. da es zu Beginn des
Kapitels noch ungewiB ist, ob der Biograph weiterschreiben wird. Ahnlich
nennt J. P. auch das letzte Kapitel nicht mehr »Hundposttag«. Vgl. o.
S. 1217,20 und die Anmerkung dazu.
S. 492, 5 Giovanni Battista Riccioli (1 598-1671) : Lehrer fur Astronomie
am Jesuitenkollegium in Bologna, fiihrte die noch heute iibliche Benennung
der Mondkrater nach beruhmten Astronomen ein. Sein Hauptwerk : »Alma*
gestum novum* erschien 165 1. — 12 Haresiarch: Erzketzer.
S-493,6" Tostato: Nach der ersten Auflage tauscht Viktor die Pfarrers-
leute durch einen Brief, erst die zweite, in der dieser Absatz stark erweitert
ist, fuhrt den Italiener Tostato hier bereits als Bo ten Viktors in die Hand-
lung ein. Die Anderung begriindet J. P. selbst im Text. - 6 Auerbachs-Hof:
beruhmter Gasthof in Leipzig. - 22 Plutos-Helm; Pluto bekam von den
Giganten als Dank fur ihre Befreiung eine Kappe, die ihn wie in einer Wolke
verhullte. - 2S Gygesring; s.o. zu S.428, 28.
S. 494, .27 Orden^unge: Teilgebiet eines Ritterordens. — 29 Swift: vgl.
dazu »Vorschule der Asthetik«, § 32. J. P. huldigt dieser Sitte selbst in
seiner satirischen »Erklarung der Holzschnitte« (1797) und im »Leben
Fibels« (181 1).
S. 495, 14 Henri Louis Cain, genannt Lekain (1728-78): bedeutender
franz. Schauspieler, vor allem ausgezeichnet als Darsteller des Affektes in
Tragodien. - zS alte griechische Komodie; die politische Komodie des Ari-
stophanes und Kratinos als Gegensatz zum »neuen« Charakterlustspiel des
Menander.
S.496, 24 Kontroversist : Gegner, Widerpart.
S. 497, 20 Mordanten, eigtl. Mordenten: Pralltriller. — 23 Trauerpferd:
ein mit einer schwarzen Schabracke bedeck tes Pferd, das bei fiirstlichen
Begrabnissen im Trauerzug mitgefuhrt wird.
S.499j* 2 Briiderunitat: Name der Herrnhutischen Glaubensgemeinde.
S. 500, 35 Prima Plana ; Chargen einer Kompanie, die nicht in Reih und
Glied stehen miissen.
S. 502, 4 Ohnehosen : Eindeutschung von »Sansculottes«, wie die auf-
riihrerischen Proletarier wahrend der franz. Revolution verachtlich von
den Adligen genannt wurden, weil sie nicht die culottes (Kniehosen) der
1272 ANMERKUNGEN
Standespersonen trugen, sondern offene, lange Hosen. — s> Reduktion: Ver-
minderung, hier Abdankung.
S. 505,^ Montgolfiers-Kugeln: Die beiden Briider Montgolfier kon-
struierten 1783 den ersten tragfahigen Flugballon. — 8 Belidors-Druck-
kugeln; Bernard Foret de Belidor (1693-1761): franz. General und Bal-
listiker, erfand 1756 die sog. globes de compression, Druckminen von einer
darnals ungeahnten und verheerenden Wirkung.
S. 506, 5 Sujohannis: Zum folgendenvgl. o. S. 146, ioflf. und S. 400, 5 ff.-
y Strata: s.o. zu S. 148,12. - 2.6 Teidor-Insel: vgl. ebenfalls S. 400,5 ff.
5.507,? 3 Berghauptmann: Vorsteher eines Bergamtes.
S. 508, 3 Edward Gibbon (1737-94): der bedeutendste engl. Geschichts-
schreiber des i8.Jahrh. Sein gewaltiges Werk: »The decline and fall of the
Roman Empire«, das den Niedergang Roms von den Friedenskaisern bis
zum Fall von Konstantinopel behandelte, wurde 1787 abgeschlossen und
gait als der absolute Gipfelpunkt der neueren Geschichtsschreibung. -
3 Justus Moser (1720-94): Staatsmann und Publizist, besaB durch seine
sehr griindliche, obgleich unvollendete »Osnabriicker Geschichte* (2.Aufl.
1780) auch als Historiker einen Namen.
S. 509, 2 3 Voltaires Karl und Peter: J. P. denkt an die beiden fast roman-
haften Abhandlungen : »Histoire de Charles XII.« (1737) und »Histoire de la
Russie sous Pierre le Grand« (1759-63), moglicherweise auch nur an die
erste.
S. 511,5 und p Kothurn und Sokkus; der hohe und niedere Schuh als
Kennzeichen fur Tragodie und Komodie, ein alter Topos fur Lachen und
Weinen. - i 6 Karl Wilh. Ramler (1725-98): Freund Lessings und Nico-
Iais, Dichter und Essayist. Er gab 1785 zwei Bandchen: ^Salomon Gefiners
auserlesene Idyllew heraus, worin er die zierliche, filigrane Prosa des Schwei-
zers in schwerfallige Hexameter iibertragen hatte. — 2j Lohkasten: s.o. zu
S. 365,23. — 29 Hamadryade : Baumnymphe.
S. 512, 1 3 paphischer Hain: s*u. zu S. 1027,3. " l 7ff' 2. Hundposttag :
Dieses Kapitel wurde fur die zweite Auflage vielfach erweitert und die
Reihenfolge der Erzahlung verandert, in dem Bemiihen, zugleich die ver-
worrene Vorgeschichte aufzuhellen und den diirren, knapp gedrangten
Bericht motivierend zu lockern. Vollig neu eingeschoben wurde dabei ein-
mal die Erzahlung von der Gemahlin des Lords und von seiner Erblindung
bei ihrem Tode (S.513, 27— 514,13, ebenso alle spateren Bezugnahmen dar-
auf), zum andern das psychologisch glanzend kontrastierende Gesprach
zwischen dem Lord und Viktor (8.520,10-20). - i$>f. Eingang: Diese
Stelle ahmt den Anfang von Hippels »Lebenslaufen in aufsteigender Linie«
nach. Zugleich erinnert sie an das Fragespiel zu Beginn von Diderots
Roman: »Jaques le fataliste et son maitre« (franz. erst 1796), der 1792 bei
Mylius in dt. Obersetzung (aus einer Abschrift des Manuskripts) erschien. -
2 5 don gratuit : freiwillige Abgabe, die in vielen Landern alsPflichtsteuer ein-
gefuhrt war. — 30 Titus: J. P. bringt hier das bekannte Wort des Titus:
ANMERKUNGEN 1 273
»Diem perdidi« (Ich habe einen Tag verloren) mit der Tatsache in Ver-
bindung, daB ein Weltreisender, der nach Osten um die Erde fahrt, einen
Tag verliert oder richtiger einspart.
S. 513,4 sieben Inseln: Gemeint sind wohl die Sept Isles am Golf von
St.Malo, — yf. Prin^ v. Wallis, Brasilien und Asturien : die Titel der Thron-
folger in England, Portugal und Spanien. Die erste Auflage spricht noch
von einem Prinzen von Kalabrien (dem neapolitanischen Thronfolger), ein
Titel, der offenbar dem »Monsieur« zugedacht war. Darum ist in den beiden
folgenden Auf lagen an dieser Stelle und 8.515,16 statt »Asturier« versehent-
lich »Kalabrier« stehengeblieben. Der Krit. Ausgabe folgend haben wir
dieses Versehen an beiden Stellen berichtigt. - 6 Monsieur: Mit diesem
Titel wurde der Bruder des franz. Konigs angeredet. — 31 der Alte vom
Berge: So iibersetzten die Kreuzfahrer den Titel Scheich el Dschebel (Ge-
bieter des Berges), den das Oberhaupt der Assassinen fiihrte.
S. 514, ^7 Kreui- und Quer^uge: Anspielung auf Th.G.v.Hippels (s.o.
zu S. 1 34, 26) Roman : »Kreuz- und Querziige des Ritters A-Z«. — 1 9 Namen-
vetter: vielleicht der engl. Astrologe und Arzt Nicolas Culpepper (1616 bis
1654). — 30 conscientia duhia; zweifelhaftes Gewissen.
S-5i5,zj wie Kotiebue: August v. Kotzebue (s.o. zu S. 143,31) ging
1790 aus Kummer iiber den Tod seiner Gemahlin nach Paris und beschrieb
die Reise ein Jahr spater in seinem Buch: »Meine Flucht nach Paris im
Wintermonat 1790.*
S. 516,^ Mauerkrone: eine Krone aus Gold oder Metall, die dem
Ritter oder Soldner iiberreicht wurde, dei ills erster die Walle einer
feindlichen Stadt im Sturm erstiegen hatte. - 3 Joujou de Normandie:
Rollradchen, um 1790 und neuerdings wieder in Mode gekommenes
Ballspiel. - 14 wie Cicero verlangt: in »Laelius de amicitia«, XVI. Vgl. o.
S. 154,13.
S. 517,^7 Weisel: Anfiihrer, besonders Bienenkonigin.
S. 518,^2 Uriasbriefe: Urias, dem Gemahl der Bathseba, wurde auf
Davids Befehl ein Brief mitgegeben, der die Weisung enthielt, den Uber-
bringer im Kampf an die gefahrlichste Stelle zu stellen; dort wurde er dann
auch erschlagen. Vgl. 2.Sam. 11.
S. 519,/p Otaheiter: s. o. zu S.409,7. Die Erzahlung von dem Namens-
tausch der Otaheiter wird auch im »Siebenkas« Kap. 2 (Bd.II unserer Aus-
gabe S. 167,5) erzahlt. Sie beruht auf einer Bemerkung im VIII. Hauptstuck
von Forsters Buch.
S. 520, 9 Pulververschwbrung: Anschlag von katholischen Fanatikern,
Jakob I. und das Unterhaus bei der ParlamentserofTnung 1605 in die Luft
zu sprengen.
S. 521, 6 Royalbogen: sehr grofier Bogen Papier.
S. 522,*/ Samielwind: Samum, der heiBe afrikanische Sandsturm. - 14
conjunctio concessiva: einraumende Partikel.
S. 523,22 Epihets Handbiichlein: Das »Enchiridion«, das ein Schiller des
1 274 ANMERKUNGEN
Epiktet, Arrianus, nach dessen Lehrvortragen zusammenstellte, gehorte zu
den wesentlichen philosophischen Eindriicken des junger J. P. - 28 Pan-
dekten : s. o. zu S. 269, 2 j.
S. 524,75 Psalter (ndt. salter) Vordermagen von Wiederkauern, -
26 und 2y Podagra und Chiragra: FuB- und Handgicht.
S. 525, 23 musivisch: mosaikartig.
S. $26,22 Lady Maire: Analogiebildung zu der alten Form Lord Maire
(Burgermeister von London).
S. 527, 7 6 dictum probans : Beweissatz, - ij Pasquino: Name eines sagen-
haften rom. Schneiders, der seine bissigen Spottverse auf einer spater nach
ihm benannten antiken Eigur (s.o. zu S. 145,26) anzuschlagen pflegte. —
ij magister sententiarum : s.o. zu S. 29,7. — 18 Ldstergeschichte : Eindeut-
schung von )>chronique scandaleuse«. Die zweite Auflage schreibt noch
»skandalose Chronik«.
S. 528,;/ almanac royal: Im Hofkalender wurden Namen, Rang und
Adresse der zum Hof gehorigen Standespersonen und ihrer Gefolgsleute
verzeichnet. — 3S allgemeine Welthistorie s. u. zu S. 638, 18.
S. 529,7 Gravamina: s.o. zu S. 90,33. - i5 Regensburger Ansagieitel:
Die Langsamkeit des Geschaftsganges auf dem Regensburger Reichstag
war so sprichwortlich wie die vor dem Wetzlarer Kammergericht.
S. 530, 34 Quinterne: HaupttrefFer, alle fiinf moglichen Gewinnzahlen im
Lotto.
S. 531, 3 Ambe: s.o. zu S.212, 19. - 4 die Periode: Berend macht hier auf
das Wortspiel aufmerksam, daB sich »die Periode* gleichzeitig bezieht auf
»>die zweite Liebesperiode und auf den abgebrochenen Satz, obgleich J. P.
das Wort in der letzten Bedeutung sonst mannlich gebraucht«.
S. 532,^7 sieben Weihen: die sieben Weihegrade bei der Priesterweihe.
S. 536,7^ Flamin: Das folgende Portrat Klotildens stand in der ersten
Ausgabe erst nach S. 541,32. — 24 von: moglicherweise Druckfehler fur
»vor«.
S. 538,7 Pastor fido (der getreue Schafer): Liebhaber, urspr. der Titel
von GuarinisberuhmtemSchaferspiel:»Il pastor fido« (1585). - 18 Respekt-
oder Respittage: Fristtage, die nach dem Verfall eines Wechsels noch ge-
wahrt werden. — 28 Doppel-Uso: doppelte Wechselfrist.
S. 541,76" Exordium: Einleitung.
S. 542,5 Omai (richtig O-Mai) : ein Tahitier, den Cook von seiner Reise
mit nach England brachte, der dort zwei Jahre lebte und groBes Aufsehen
erregte. Vgl. Forster in der Vorrede zur »Reise um die Welt in den Jahren
i772-74«. - 9 Li-Bu: Konigssohn von den Pelew-Inseln, der von Kapitan
Wilson 1783 ebenfalls nach London gebracht wurde, dort aber schnell
starb. Ober ihn berichtet G. Keate in »Nachrichten von den Pelew-Inseln«,
dtsch. von Forster 1789.
S. 543, 7 6* Fontenelle: s. o. zu S. 327,14. - 26 Crebillon: s. o. zu S. 28, 19. -
26 Pierre Carlais de Marivaux (1688— 1763): schrieb noch vor Richardson
ANMERKUNGEN 1 275
zwei bedeutende empfindsame Romane: »La vie de Marianne* (1731-36)
und »Le paysan parvenu« (1735), die auf die englische Romankunst stark
eingewirkt haben, und eine Menge geistreicher und grazidser Komddien.
S. 544, 5 Pillory: Pranger. — 10 Makarius der Grofte (um 300-390):
agyptischer Einsiedler, unter dessen Namen sich 50 Homilien, theologische
und mystische Traktate, erhalten haben. Diese seine Lehre fand in einigen
russischen Sekten Verbreitung, wahrend sie im Westen bald abgelehnt
wurde. - 1 9 Aristoteles : Vgl. Poetik II. - 24 Luperkalien: s.o. zu S.48,24. -
28 Ordalien: Gottesurteile im Mittelalter.
S. 546^7 Fontenelle: Gemeint ist Fontenelles Schrift: »Les entretiens
sur la plurality des mondes« (1686).
S. 547,/^ homiletisch: kanzelrednerisch. - 2j Goethes moralisches Pup-
penspiel: »Das Jahrmarktsfest in Plundersweilen«, eine satirische Posse des
jungen Goethe von 1773.
S. 548, 6 hogarthisch.es Schwan^stuck : s.o. zu S. 47,21. — 11 Blumauers
Aneis: Aloys Blumauer (1775-98), Wiener Literat der Aufklarung, nach
1781 langere Zeit Zensor in Wien, verfertigte 1783—86 eine plumpe Tra-
vestie der Aneis: »Abenteuer des frommen Helden Aeneas.« — 11 Julian
Offray de La Mettrie (1709-51): franz. Philosoph (»L'Homme machine«
1743) und glanzender Satiriker. EineRadierung vonSchmitt zeigt ihn darum
als Demokrit, den lachenden Philosophen, mit einem breit zum Lachen ver-
zogenen Mund. Das Bild ubernahm Lavater in seine »Physiognomik«, auf
die sich J. P. vermutlich bezieht. — 13 Vademecum; Die Titelblatter des
Berliner Vademecums (s. u. zu S. 905, 8) waren mit einem lachenden Gesicht
geschmiickt.
S. 551,/ 6" me der Areopag: Vor dem athenischen Areopag war das rheto-
rische Ausschmiicken der Rede untersagt.
S. 552, 26" musikalischer Armsessel: Die Nachricht uber diesen wirklich
existierenden Stuhl »entnahm J. P. einem Aufsatz uber das furstliche Lust-
schlofi Esterhaz in Ungarn in der Literatur- und Theaterzeitung, 1782,
S. $i« (Berend).
S. 553, 9 Meister vom Stuhl: der hochste Grad innerhalb einer Frei-
maurerloge.
S. 555, J2p Narrenschiff volt romantischer Originalromane: Im »Narren-
schiff« des Sebastian Brant von 1494 werden die Narren und Torheiten der
Zeit unter dem Bild einer Schiffsreise versammelt, und zugleich heftig und
derb gegeifielt. Ober J.P.s Stellung zu den romantischen Originalromanen
s.o. S. 17, i2ff. und die betreffenden Anmerkungen.
S. 556, 8 Maupertuis* Halbsonnen: Pierre Louis de Maupertuis (1698 bis
1759), f ranz * Physiker, trat gegen die Cartesianer fur die Auffassung New-
tons von der Gravitationslehre ein. Er vertrat seine sehr eigenwillige Theo-
rie von den »Halbsonnen« in einer umfangreichen Abhandlung: »Discours
sur la figure des astres« von 1732. - 20 Subsidienvertrag: Hilfeleistungs-
vertrag.
I276 ANMERKUNGEN
S. 557,77 das Gam weifi sieden: ein Brauch in J.P.s Heimat und in der
benachbarten Oberpfalz.
S* 559? 30 Cansteinische Bibel: Bibel aus der von Karl Hildebrand von
Canstein 17 10 gegriindeten Halleschen Bibelanstalt, die viel zur Verb rei-
ning der Heiligen Schrift unter das Volk beitrug.
S. 560, 2 Seileriscke Bibel-Ckresthomathie : »Die heilige Schrift des alten
Testaments im Auszug samt dem ganzen neuen Testament... mit Anmer-
kungen von G. Fried r. Seiler«, Erlangen 1781. Schon in den »Teufels-
papieren« hatte J. P. gegen den von ihm wenig geschatzten Bayreuther
Konsistorialrat und Erlanger Theologieprofessor vom Leder gezogen. —
7 Lautens: J. P. folgt hier wie ofters der Abneigung des dilettantischen
Sprachforschers Wolke, dessen Marotten er in seiner Spatzeit haufig an-
nahm, -gegen den Umlaut. - $ Kennikottisten: Der engl. Theologe Benja-
min Kennicott (1718-83) veranstaltete mit einer groBen Schar von Mit-
arbeitern in den Jahren 1776-80 eine Ausgabe des Alten Testamentes mit
den Varianten. Doch gelang es ihm nicht, die gesuchte Urgestalt des Textes
uberzeugend herzustellen, so daB er viel Tadel, Ablehnung und Spott er-
fahren muBte.
S. 561, 5 portugiesische Israeliten; Anspielung auf die noch zu J.P.s Zeit
wahrenden Judenverfolgungen durch die Inquisition. - 1 2 Christinens ver-
legte Krone: Christine von Schweden dankte 1654 zugunsten ihres Vetters
Gustav von Zweibriicken ab und zog sich nach Rom zuriick. - 23 orbis
pictus: s.o. zu S. 55,24. — 32 Melanchthon: s.o. zu $.392,18.
S. 565,^ Fufigeburt: Geburt, bei welcher das Kind mit den Beinen
zuerst auf die Welt kommt. - 10 Basselisse: tiefkettig gewebter Wand-
teppich.
$.<)66,iS beneficiis juris usw.; »Rechtswohltaten - der unversehrten
Wiederherstellung — der Ausnahme hochster und allerhochster Verletzung —
der Entschuldigung - Lossprechung usw.« - 23 Renuniiationsakte : Ver-
zichterklarung, besonders die Akte, mit der Philipp V. von Spanien das
Erbrecht an Frankreich abtrat. - 2 5 Media teur: Mit tier, Schiedsrichter. -
25 Austragatgericht : ein Gerichtshof, oft von den Parteien selbst gestellt,
der uber Streitigkeiten zwischen den Reichsstanden in erster Instanz zu ent-
scheiden hatte.
S. 568, 2 in den Weinen: Der Sinn der Stelle ist unklar. Vermutlich ist
»in den Weinen« ein Lesefehler des Setzers, den J. P. in alien drei Ausgaben
unverbessert gelassen hat. - 5 Randelmaschine : dient zum Pragen des ge-
zackten Randes bei Miinzen. - 16 Arndts Paradiesgartlein : die Gebet-
sammlung: »Das Paradiesgartlein voll christlicher Tugenden« (16 16) des
Erbauungsschriftstellers Johann Arndt (1555-1621). - 2J-3S Lob des
Gartens: Einschub der zweiten Auflage.
S. 571,-2 Erhebung von 4$° : Die Szene, erinnert an Tristram Shandy II,
17 und VIII, 25.
S. 572, 22 Tetragrammaton ; Namenszug Gottes, da er in vielen Sprachen
ANMERKUNGEN I 277
aus vier Buchstaben besteht. - 2 5 Diebs-Daumen: Daumen, die man von
Leichen am Galgen abschnitt, sollen zauberische Krafte besitzen. -30
Habakuks Engel: Nach Daniel 14,33-39 tragt ejn Engel den Propheten
Habakuk zu Daniel nach Babylon, damit er diesen in der Lowengrube mit
Essen starke. — 31 Novelle: hier im Sinne von Neuigkeit.
S. 573,-24 Ripienstimme : Fullstimme.
S. 575, 2S subhastieren: an den Meistbietenden versteigern.
S. 576, 23 Pandekten in Floren%: Seit 1406 benndet sich eine unversehrte
Handschrift der Digesten (lat. Name fur Pandekten) des Justinian aus
dem 6.Jahrh. in Florenz. - 24 Wiener keiliger Leib; beriihmte Reliquien
in einigen Kirchen Wiens, deren Beriihrung wundertatige Heilung be-
wirken soil.
S. 578, 2 Rikoschetschiisse : Prallschusse, bei denen die Kugeln, wie flache
Kiesel auf der Wasseroberflache, mehrfach aufschlagen, um die feindlichen
Geschutze auf den Bastionen auBer Gefecht zu setzen. - 1 z Sckwabacher:
alte Frakturschrift. - tSff. Vgl. dazu o. S.423,29fT. In beiden Fallen wirken
personliche Erfahrungen und Gewohnheiten nach. — 28 Blonden; Spitzen. -
3$ wie Gulliver: vgl. Gullivers Reisen Teil I, Kap. 2.
S. 579, 2if. Bendas Romeo: s.o. zu S. 162,28. Die Worte gehdren noch
zum Rezitativ der Arie.
S. 583,^30 Palladium: Kultbild der Athene, an dessen Besitz die Erobe-
rung von Troja gekniipft war, dann iiberhaupt svw. schiitzendes Heiligtum.
S. 584, 2 Dehortatorium: Abmahnungsschreiben. — 12 Audien^a: s.o. zu
S. 370, 1 1.
S. 585,5 Bettiopf: Lederriemen iiber dem Bett, um das Aufstehen zu
erleichtern.
S. 588,/ o Profefihaus: In ihm wohnen die Mitglieder des Jesuitenordens,
welche bereits Profefi abgelegt haben, d.h. im Besitz der hoheren Weihen
sind.
S. 590,2/ sinesische Sckatten: die Figuren beim Schattenspiel. - 13 Stoa
und Portikus: Wandelhalle und Vorplatz. - 3$ Geiferfleckcken: Latzchen
fiir Kinder.
S. 59*,? 4 Mosis-Glan^: s.o. zu S. 226, 26. - 33 magnetische Sensen: Eisen-
stangen konnen durch langes Hammern magnetisch gemacht werden. -
36 Grofiavanturhandel: Handel a la grosse aventure (engl. Respondentia)
nennt man im Seerecht das Geldleihen eines Kaufmanns auf Waren, die er
verschtrTt, unter der Bedingung, bei Loschung der Waren das Geld wieder
zuriickzuzahlen, im Falle des Verlustes aber nicht.
S. 592,5 Spiralwiirste von Lausewen^el: Tabakrollen aus einer schlechten
Tabaksorte. - 19 Plutarchin: Plutarch stellt in. seinen Lebensbeschreibun-
gen jeweils die Vita eines Griechen und eines Romers gegeniiber, die er
dann in einem dritten Teil vergleicht.
S. 593,/j > Kammeriieler: Steuer fur das Reichskammergericht. - 13
Karitativsubsidien : Wohlfahrtszuwendungen.
1 278 ANMERKUNGEN
S-594,* 3 grossieretes : Widerwartigkeiten. - 2 y gorge und cut de Paris:
»Unterziehbusen und UnterziehsteiB« nennt J. P. selbst beide Geratschaften
wenig vorher (s.o. S. 547, 23). — 31 Kaperbrief: Regierungsvollmacht zur
Freibeuterei. — 36Hieron. cont.Jov. L. 2: die zwei Biicher derStreitschriften
des Hieronymus gegen den freigeistigen Theologen Jovinian von 393.
S> 595j * 3 Z ett des Psatmbetens : die nachtlichen Stunden der Versuchung.
Pierre Bayle (1647— 1706) erzahlt an der betreffenden Stelle seines »Diction-
naire historique et critique« (zuerst 1695-97) von dem irischen Monch Ald-
helm, der nachtlicherweise oft vom Teufel in Gestalt eines buhlerischen
Weibes in Versuchung gefuhrt wurde, er habe seine Tugend bewahrt, in-
dem er laut den Psalm betete.
S. 596,20 Fungiten: Schwammkorallen, pilzartige Versteinerungen. -
21 strombi: versteinerte Fliigelschnecken. — -26*Petrus Camper (1722-89):
bedeutender Forscher der vergleichenden Anatomie, wies in einer Preis-
schrift aus dem Jahre 1779 die anatomischen Unterschiede zwischen Mensch
und Orang-Utang nach.
S. 597, J-^ postiche-Tod: Aftertod.
S. 599, 23 travestierte Aneis: s.o. zu S- 548,11.. — 26 chambres ardentes:
zwei Gerichtshofe im alten Frankreich, die fiir Giftmord und Ketzerei den
Feuertod zu verhangen hatten, dann auch der Name der gefurchteten
Sondergerichte La Regnies unter Ludwig XI V. aus den Jahren 1677-80,
in denen die Giftmorde der Voisin untersucht wurden. - 32 Hoffurier:
Hofbedienter, der die Befehle des Hofmarschalls auszufiihren hat. — 34
Essigalchen: kleines Infusionstier, das im Essig auftritt.
S.600, 3 Roturier: Mann von niederem Stand.
5.601.21 Philipp Jakob Spener (1655-1705): evang. Theologe, der Be-
griinder des Pietismus. Ihm wurde von seiner Jugend an ein ernstes und
gesetztes Wesen nachgeruhmt. - 21 Kato: Von Cato dem Jtingeren weiB
Plutarch zu berichten, er habe bereits als Kind selten gelachelt, nie gelacht.
S.603, 26 Ichor: Blut der Gotter.
S.604, 35 Note: Diese Anmerkung des Dichters zieht Emanuels Traum
so eng in die eigene Erlebnissphare, daB die Anmerkung zunachst weder
Emanuel noch J. P. ohne weiteres zuzuordnen ist.
S. 606, 1 8 Styliten : s.o. zu S. 180,18. - 2S gan% anders: Die ersten beiden
Auflagen schreiben umgekehrt »so wie«. Durch diese Sinnverkehrung der
Ietzten Auflage geht nun allerdings der stilistische Aufbau der Stelle verloren.
S.6o8,z£ scholastischer Esel: s.o. zu S.446,9.
S.6o%2of. privilegium de non appellando: das durch die Goldene Bulle
den Kurfursten gewahrte Recht, daB von ihrem obersten Gerichtshof aus
nicht weiter appelliert werden darf.
S.6io,i i Petermannchen: eine Fischart, die den Makrelen verwandt ist.
Zur Geschichte selbst vgl. Matth. 17, 27. - 12 Stater: grofites Silberstuck
der attischen Wahrung.
5.611.22 servitus oneris ferendi: das Recht, sein Haus auf ein Nachbar-
ANMERKUNGEN 1 279
gebaude zu stiitzen. — 23 servitus projiciendi: das Recht, sein Ha us auf
benachbartes Grundstiick uberragen zu lassen. — 28 Friedrich der Anti-
machiavellist ; Berend zitiert aus dem 1 8. Kap. des »Antimachiavell« die Satze :
»J*avoue d'ailleurs qu'il y a des necessity facheuses, oil un prince ne sau-
roit s'empecher de rompre ses traites et ses alliances; mais il doit. . . . en venir
jamais a ces extremites, sans que le salut de ses peuples et une grande n^ces-
site Fy obligenw.
S. 6iz,tf. Vertrag von zyiS: Im Mai 1715 schlossen die Urkantone,
Luzern u.a. mit Frankreich den sog. »Trukli-Bund«, einen Vertrag, der
Ludwig XIV. zum Schiedsrichter in alien inneren Streitigkeiten der Eid-
genossenschaft bestellte. - 23 Herr Herkommen: J. P. notierte sich in seinen
Exzerpten aus Bielfelds »Staatsrecht« III die Anekdote : »Ein franz. Schrift-
steller hielt das Reichsherkommen, auf das man sich in offentlichen Urkunden
immer beruft, fur einen grofien Gelehrten im Staatsrechte, der Herr Her-
kommen hie Be usw.« Der Name findet sich auch im ersten Heft der
»fhysiognomischen Reisen« von Musaus (vgl. dort S. 46 der 2. Aufl.), -
28 acta sanctorum: die von den Bollandisten (Jesuiten in Holland) heraus-
gegebene Sammlung von Lebensbeschreibungen der Heiligen.
S.6i3,yff. Der Schlufiabsatz und der Hieb auf Humes Seelenlehre sind
fast identisch mit einer S telle der Strohkranzrede in der »Unsichtbaren
Loge« (vgl. o. S.7iff. und 73,306°.).
S.617,1 4 Radertier (vorticella rotatoria): eine Gattung der Infusions-
tierchen.
S. 620, 1 4 Provisor: Apothekergehilfe. - 23 enfants perdus: verlorene
Kinder nannte man das mit Arkebusen bewaifnete Fuflvolk, das im Sturm
vor der ersten Schlachtreihe vorauslief und darum als verloren gait. -
30 Leibni%isches Monaden-Mahl:is ist an das bekannte Bemiihen des Philo-
sophen zu denken, seine Monadenlehre mit der Lehre von der Transsub-
stantiation in Einklang zu bringen. Berend verweist noch auf eine von
Fr.HJacobi iiberlieferte Anekdote (»Ober die Lehre des Spinoza«, S-46f.),
»da3 Leibniz einmal beim Kaffeetrinken geauBert habe, es mochten wohl
in der Tasse heiBen KafTees, die er gerade zu sich nehme, Monaden sein, die
einst als verniinftige, menschliche Seelen leben wiirden«. J. P. hatte sich
diese Stelle in seinen Exzerpten notiert.
S.6zi 7 3 mephitisch: stickig, erstickend. — 1 4 Benefiz-Komodie : Schau-
spielauffuhrung zugunsten eines Mitwirkenden. — 1 5 Gays Bettleroper:
John Gay (1685-1732): engl. Dichter und Essayist, schrieb 1728 die Par-
odie : »The Beggars Opera«, die einer der groBten Theatererfolge in England
wurde.
S.622,-^ Rotes Haus; lange Zeit ein vornehmer Gasthof in Frankfurt.
S.623, 2i seinem: Man erwartet statt dessen die Form »seinen«, doch ist
der Dativ, der in alien Ausgaben steht, vielleicht vom lateinischen »ponere«
beeinfluBt, kommt doch auch sonst im Werk des Dichters der Dativ bei
»stellen« gelegentlich vor.
1280 ANMERKUNGEN
S. 624,5 Prtn^ipalkommissarius ; s. o. zu S.40,32. — 11 os\dlieren;
schwingen, schleudern. — 12 Re^ensenten: So heiBt es im Tristram Shan-
dy IV, 13: »HolIa! — guter Freund Lasttrager! Da hat Er drei Groschen —
geh Er doch nach jenem Buchladen, und hoi Er mir einen handfesten Kri-
tiker her. Ich will gerne einem jeden von ihnen einen Gulden geben, der
mir mit seinen kritischen Seilen und Winden helfen will, meinen Vater und
meinen Onkel Toby die Treppe herunter und zu Bette bringen.d - 14
Maskopeibruder : Teilhaber einer Handelsgesellschaft. - 1 5 homerischer
Schlafer (Die Originaldrucke setzen falschlich )>Schafer«) : s. o. zu S. 26,35. -
zy Dr. Grahams-Bette: s.o. zu S. 207, 12. - 13 von: Die Drucke setzen da-
fur versehentlich »vor«.
S. 625, 2 j Barrieren-Traktat: Grenzwehrvertrag, besonders der Ver-
trag, der zwischen Osterreich und Holland 1715 geschlossen wurde. -
30 Re^efi: Vergleich zwischen dem Landesherrn und den Standen.
S.626, 23 Shakespeare: In »Antoriius und Kleopatra« heiflt es V, 2, 81 f.:
»Sein Antlitz war ein Himmel; ausgeschmiickt / Mit Sonn* und Mond, die
ihre Bahn durchrollen, / Dem kleinen O, der Erde, Licht verleihn.« —
24 James Bruce (1730-94): engl. Reisender. Sein Hauptwerk: »Travels to
discover the sources of the Nile* wurde 1790-92 ins Deutsche iibersetzt.
S.627,^ Agioteur: Borsenspekulant. — 22 Langiscke Kolloquia: bezieht
sich auf das verbreitete Schulbuch: »ColIoquia scholastica latina captui
tironum accomodata« (1713 u.6.) von Joachim Lange (1670-1744).
S. 628, 20 Newton, Linne, Swift: Newton und Linne" wurden gegen Ende
ihres Lebens durch Krankheit und Alter auch geistig hinfallig, der alternde
Swift verfiel bekanntlich in Trubsinn. - 33$". Pfingstprogramm: Meist zu
Ostern oder Pfmgsten erschienen an Schulen und Universitaten sog. Pro-
gramme, kleinere wissenschaftliche Beitfage von Angehorigen der Anstalt
enthaltend. Eine Schrift mit dem Titel : )>de Chalifis verhorum studiosis« (Ober
die schriftgelehrten Kalifen) war jedoch nicht nachweisbar.
S.62%13 supranumerar: uberzahlig. - 1 9 Seeks finger : Urspriinglich
so lite durch diese Gestalt die Hand lung des »Hesperus« mit der »Unsicht-
baren Loge« verbunden werden (vgl. o. S.293,36 und S. 420, 11). - 2S
Sabbaterweg: eine Strecke von 1000 Schritten, iiber die hinaus sich der
glaubige Jude am Sabbat nicht vom Hause entfernen darf.
S. 630, 1 1 Kdstner: der Gottinger Mathematiker und Gelegenheitsdichter
Abraham Gotthelf Kastner (1719-1800). — 1$ Vetturin: Lohnkutscher.
S. 63 1,/ 5 Systole und Diastole: das Zusammen- und Auseinanderziehen
der Herzmuskeln.
S.633,/0/ Reinhold: Karl Leonhard R. (1758-1825) trat schon 1786 in
»Briefen iiber die Kantische Philosophie« fur Kants Lehre ein, schrieb 1789
»0ber die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie« und gait a Is
einer ihrer besten Kenner. - 1 y Joh. Aug. Ephraim Goe\e (1731-93) : Theo-
loge und Naturforscher. Er gab 1782 den »Versuch einer Naturgeschkhte
der Eingeweidewiirmer tierischer Korper« heraus.
ANMERKUNGEN I ^8 1
S. 634,3 Lese-Esel: schmales Polstergestell, auf dem man rittlings zu
lesen pflegte. - 6 arkehusieren: erschieflen. — 22 Klaviermeister: vgl. o.
S. i07,27ff. -26 Scientia media: hier »Wissenschaft«. EigtI. bezeichnet dieser
theol. BegrifT das ruhende, inaktive Vorherwissen Gottes. Durch ihn ver-
such ten die Jesuiten Molina und Fonseca den Gegensatz zwischen mensch-
licher Gedankenfreiheit und gottlicher Entscheidung aufzuheben. — 31
Krdn-Proiefl in Frankfurt: wohl die Kronung Josephs II. zum romischen
Konig im Jahre 1 764, nicht die zeitlich naherliegende Kronung Franz* II. von
1 792. — 32 Yorick : Der Zug findet sich nicht bei Sterne selbst, sondern in dem
ihm falschlich zugeschriebenen »Koran« von Richard Griffith (im 15. Kap.)-
S.635,/ Tiirspan: Span und Halm gehorten bis weit ins i7.Jahrh. als
Rechtssymbole zur gesetzmaBigen Obergabe eines Hauses. — 3Jf. investi-
ture, per ionam usw. : Einsetzung durch den Giirtel - durch den Ring - durch
den weltlichen Stab. — 1 1 Edward Young (1683-1765): engl. Dichter. Sein
lyrisches Hauptwerk: »The complaint, or night-thoughts on life, death and
immortality« (1742-45) formulierte am scharfsten die Gedanken der Welt-
flucht im i8.Jahrh. und wirkte damit iiber die Empfindsamkeit hinaus bis
zum Weltschmerz der-Spatromantik. — 12 Gravamina: Wohl »Der samt-
lichen Evangelisch-Lutherischen und Reformierten im H.R.Reich Neue
Religionsgravamina usw.«, Frankfurt i72off., 6 Folio-Bde. -12 dritter Band
von Siegwart: Joh. Mart. Millers empfindsamer Roman: »Siegwart. Eine
Klostergeschichte« wurde in der zweiten Auflage von 1777 in drei Bande
abgeteilt. Im SchluBband laBt der Dichter den Helden auf dem Grab seiner
geliebten Mariane verscheiden. - i4f. Home und Beattie: Gedacht ist an
das 7.Kap. in Homes Werk: »The elements of criticism* und an John Beat-
ties (1735-1803) Abhandlung: »On laughter and ludicrous composition
von 1776. - 22 Benefiz-Kombdie : Vorbild war die Obergabe der Prinzessin
Karoline von Parma an die Gesandten des Prinzen Maximilian von Sachsen,
die Anfang Mai 1792 in Hof vor sich gegangen war. Die Einkleidung dieser
Erzahlung in Akte erinnert an eine ahnliche Szene in Hippels Roman:
»Kreuz- und Querziige des Ritters A-Z« (vgl. dort § 23), der freilich erst
1793 ~ a ^ so wahrend der Arbeit am »Hesperus« - erschienen war. Die An-
spielung auf den TiteI(S. 514,17) und eine Parallelstelle in einem Brief vom
27-Juni 1793 deuten jedoch darauf hin, dafi J.P. das Buch unmittelbar nach
seinem Erscheinen gelesen hat. - 31 Ilium haculum usw.: Jenen Stab, auf
den er sich stutzte, zum Zeichen der Obergabe. - 32 Charles du Fresne du
Cange (1610-88): schuf in jahrzehntelanger Arbeit ein noch heute unent-
behrliches »Glossarium ad scriptores mediae et infimae Latinitatis«, das zuerst
1678 erschien.
S. 636,30 Platner (s.o. zu 5.261,23): in seiner »Neuen Anthropologies
Bd. I, § 876.
S.6$Z,iS englische Allgemeine Weltgeschichte : »An universal History
from the earliest account of time to the present, compiled from original
1282 ANMERKUNGEN
authors*, London 1736—63. Aus den 23 umfangreichen Foliobanden wurden
verschiedentlich Obersetzungen ins Deutsche vorgenommen.
S.639,7 curator absentis: rechtlicher Stellvertreter. — Z4JBassa: tiir-
kischer Fiirstentitel.
S.640,4/. parere scire usw.: Gehorchen und Wissen gereicht einer Herr-
schaft zu gleichem Ruhm. - 6 servi pro nullis habentur: Sklaven sind fur
nichts zu achten. - 20 Harmodios und Aristogiton: athenische Tyrannen-
morder, die den Hipparch, den Sohn des Peisistratos erdolchten.
S.641, jz magister legens: Magister, der das Recht hat, an der Universitat
Vorlesungen zu halten.
S.642,.9 Schlagschati: eine Miinzsteuer, um entweder die Kosten der
Pragung zu decken, oder um das Recht der Pragung zu erwerben. —
3$ Plainer: vgl. »Neue Anthropologies Bd.I, § 802.
S.644, 24 Abendmahl: Berend vermutet eine Anspielung auf Cosimo
Rosellis Fresko in der Sixtinischen Kapelle. - 27 Joseph Addison (1672 bis
1 71 9): einflufireicher Schriftsteller der engl. Aufklarung. Er gab mit seinem
Freunde Georg Steele die asthetisch-moralischen Wochenschriften : »The
Tatler«, »The Spectator* und »The Guardian* heraus. - 28 Johann Georg
Suiter (1720-79): Schweizer Asthetiker undPhilosoph schreibt im Artikel:
»Scherz« seiner »Allgemeinen Theorie der schonen Ktinste« (Neue Aufl.
1794, Teil 4, S.271): »Die vorziiglichsten Scherze sind diejenigen, in deren
Charakter viel Ernst und grofie Griindlichkeit liegt, und die deswegen zu
wichtigen Arbeiten aufgelegt sind. Der nuchterne, zu den groBten Ge-
schaften tuchtige Cicero, konnte mit Recht uber den unwitzigen Antonius,
der sein Leben in Schwelgerei und lustigen Gesellschaften zugebracht hatte,
spotten.« — 32 Pater Mer^ische Kontroverspredigt : Der Jesuitenpater Aloys
Merz (1727-92) war einer der fruchtbarsten und schlagfertigsten katho-
lischen Polemiker seiner Zeit. In zahlreichen Flugschriften und Streit-
predigten wandte er sich gleichermaBen gegen die Protestanten und die
josephinische Aufklarung in Wien.
S. 645, zo tratto di corda: Seilzug, mit dem in Italien bei der Folterung
die Gliederzerdehnt wurden. - 2 2 Regensburger Reichstag .*s. o. zuS. 529, 1 5. -
2$ Dunsin: Torin.
S.646, 2 5 Moloch; s.o. zu S. 114,28.
S. 647, 6 romischer Gott; Im alten Rom war es verboten, den Namen des
Stadtgenius auszusprechen, damit nicht auch die Feinde zu ihm beten konn-
ten. — 33 Barrierealliani: s.o. zu S. 625, 23.
S.648, 26 Dreifaltigheitsring; besteht aus drei geschweiften Ringen, die
ineinander verschlungen sind.
S. 649, 2 Stundenuhr; Uhr mit einem einfachen Werk, die nur die ganzen
Stunden anzuzeigen vermag. - 6 Lorenzo-Dose: s.o. zu S.316,5. — 7 Igna-
tiusblech: s.o. zu 8.1^3,23. — 7 Saulische Stunden: Stunden des Triibsinns
(nach 1. Sam. 16, 14). — 16 Thesesbilder : grofie, oft uber einen Meter hohe
Kupferstiche, die in Bayern und besonders in Augsburg sehr verbreitet
ANMERKUNGEN 1 283
waren. Mit ihnen illustrierten die Monche in komplizierten Allegorien die
Thesen und Themen ihrer Schuldisputationen. Vgl. Nicolais »Beschreibung
einer Reisedurch Deutschland und die Schweiz« (3. Aufl. 1788-96), Bd. VIII
S. 85 fF. - 19 Bunklischer Reformator : Anspielung auf den aufklarerischen
Roman: »T*he life of John Buncle Esq.<i (1756-66), der in der Obersetzung
von Pistorius 1778, die von Nicolai propagiert worden war, zwischen Nico-
lai und Wieland eine heftige Auseinan4ersetzung ausgelost hatte.
S.650, 28 Wahlverwandtschaften: Goethes Roman erschien bekanntlich
erst 1809. An Stelle der beiden angefiihrten Werke setzten die ersten zwei
Auflagen »Goethe und Salisfl. - 30 Kants Prolegomena: die ^Prolegomena
zu jeder kiinftigen Methaphysik« von 1783 sind gemeint.
S. 651,3 Simultan- und Tuttiliebe; So in den beiden ersten Auflagen. —
2 6 Samm- oder Zugleichliebe : So beansprucht Sterne im »Tristram Shandy«
(I, 21) das Benennungsrecht fur ein neues, von ihm erfundenes Argument
der Rhetorik. — 32 noch viel ofter: »noch« stellt eine Textkonjektur der
Krit. Ausgabe dar, da die dritte Auflage sinnwidrig das einfache »6fter«
der beiden vorhergehenden durch ein wiicht viel« erweitert.
S.653,z6" Strohkran^rede : s.o. zu S. 70,22. — 21 John de Mandeville
(1300-72?)' engl. Arzt und Reisender. Seine lateinische Reisebeschreibung
uber die Sitten und Volker des Fernen Ostens erwies skh als literarische
Falschung. Die Geschichte findet sich jedoch nicht bei Mandeville, sondern
in Plutarchs moralischen Schriften (dt. von Kaltwasser, i.Bd. 1783, S. 156).
Das Motiv von dem Einfrieren der Tone im hohen Norden begegnet schon
bei Rabelais, Gargantua und Pantagruel IV, 55 und 56, und kehrt in der
Geschichte des Freiherrn von Miinchhausen wieder. Vgl. Burgers »Miinch-
hausen«, ^.Kap. - 36 Zirkulierofen; Bei ihnen wird zur Verstarkung der
Warme das Feuer durch gewundene Gange gefiihrt.
S. 654,^2 B ruder Redner: ein Grad der Freimaurerei.
S.655,^ »Nach Grofikussewiti uswa: vgl. dazu o. S. 276, 20 und die'An-
merkung. - 9 a parte ante: s.o. zu S. 119,23.
S. 656,26" ablaktieren: aufpfropfen.
S.66o,S begriff nichts: Danach folgen in der ersten Auflage sogleich
knapp referierend die weiteren Enthullungen. Auch sonst ist das Kapitel in
Einzelzugen verandert und erweitert worden.
$.661,14 Semper freie (urspr.: sendbar Freie): »der hochsten Art von
Freiheit teilhaftig« (Grimm).
S.664,2^ Midas* Barhier: die bekannte Sage vom Barbier des Konigs
Midas, der als einziger das Geheimnis von dessen Eselsohren kannte. Da
er bei seinem Leben das Geheimnis nicht preisgeben durfte, es aber auch
nicht fur sich behalten konnte, vertraute er es dem Schilfrohr an.
S.665,5 Gracians homme de cour: Gemeint ist Baldassar Gracians (1601
bis 1658) Schrift uber den Weltmann: »E1 Discreto« (1646), die in einer
franz. Obersetzung von 1684 verbreitet war. - 6 Rochefoucaults Maximen:
Die ^Reflexions ou sentences et maximes mora!es« des Herzogs von Laroche-
IZ84 AMMERKUNGEN
foucault (1613—80). — 21 Die erste Gefalligkeit usw.: Der Satz ist in der
zweiten und dritten Auflage ausgefallen. Es lag wohl ein Druckversehen
vor, bedingt durch den gleichen Anfang des nachsten Satzes mit »die«. —
30 den er mit jencr besonnenen Hoflichkeit usw.: Wiederholung von S.66o,
22 f., die durch die erwahnten Umstellungen veranlafit wurde.
S. 666, 22 f. Man soil die Stimmen wagen und nicht \ahlen: Dieser Satz,
dem wir gewohnlich die Fassung Schillers aus dem »Demetrius« (1, 1) zu-
grunde legen, der aber auch bei Wieland und Lichtenberg begegnet, war
schon im Altertum sprichwortlich.
S.667,^ Atonte: Erschlaffung.
S. 670, 22 Verben in pa: Die griechischen Verben dieser Konjugation
fallen aus dem gewohnlichen Konjugierschema (Paradigma) heraus.
S.672, 23 Lauten^ug: Dampfregister an der Orgel.
S. 674,18 William Penn (1644— 1718): engl. Quaker, wanderte 1682 nach
Amerika aus und griindete fur die Anhanger seiner Sekte in den Kolonien
den nach ihm benannten Staat Pennsylvania.
S. 678, 2 1 der keute in den Spiegel der Inset seine Gestalt geworfen: Zusatz
der zweiten Auflage. Nach den Vorarbeiten wohnt Emanuel der Begegnung
bei und kommt darum erst so spat zuriick.
S.685,,9 Aristides: Joseph Miiller nimmt eine Verwechslung mit Alki-
biades an, nach dessen bekanntem Ausspruch, er sei stets nur in der Gegen-
wart des Sokrates gut gewesen. Doch verweist Berend zu Recht auf die Stelle
in den &Teufels Papieren*: »Wem es nicht bekannt ist, wie sehr Aristides*
Kenntnisse durch die Stubenkameradschaft und noch mehr durch die Be-
riihrung des Sokrates gewonnen: der kann den Theages des Plato unmog-
lich gelesen haben.« So steht auch in den ersten beiden Auflagen fur Ari-
stides der Name des Theages. Man muC das Miflverstandnis weckende
»blofi wenn« darum als ein »durch die blofie Gegenwart* verstehen. -
1 5 Thesesbilder s.o. zu S. 649, 16. — i5 rationes decidendi: Entscheidungs-
griinde. — i5 sententiae magistrates: Lehrspriiche.
S. 687,5 nach Lambert: Joh. Heinr. Lambert (1728-77), von J. P. mafiig
geschatzter Physiker und Philosoph, in seinen »Kosmologischen Briefen iiber
die Einrichtung des Weltbaus«, 1761.
S.691,/-^ Tristrams Werke: Gemeint sind Sternes Werke.
S.692, 34 Anmerkung: vgl. o. S.605, i6f.
S. 694, 1 8 seine meisten mannlichen Verwandten: Der Gedanke dient als
Grundmotiv in der Erzahlung vom »Quintus Fixlein« und taucht auch sonst
gelegentlich wieder auf. - 26 Widerspruch in adjecto: im Zusatz (z.B. trok-
kenes Wasser).
S. 7Q3> 3 regula falsi: »Regel des Falschen« (erg. Ausgangspunktes).
Mathem. Rechnungsverfahren zum Losen von Gleichungen. Man setzt
eine ungenaue (»falsche)« Losung und kommt durch schrittweises Ver-
bessern des Fehlers zum richtigen Ergebnis. - 30 so stand sein Auge usw.:
ANMERKUNGEN I 28 5
Man erwartet umgekehrt: »so stand in seinem Auge eine unverriickte Trane
usw.« VgL dariiber o. zu S.i86,iof.
S.704, 9 Schliefiquadrdtchen: bei den Buchdruckern der vierte Teil eines
Quadrates, mit dem man die Zeilen ausschliefit. - 31 ff. Anmerkung: Die
Anmerkung wurde bis »Wunder« in der zweiten Auflage eingefugt, der
SchluB ist ein Zusatz der dritten.
S-707, 3 Jean Janin de Combe-Blanche (1731-99): franz. Augenopera-
teur von Ruf, dessen »M£moires et observations sur l'oeil et les maladies,
qui affectent cet organe« (1772) von Selle ins Deutsche iibersetzt wurde
(2. Aufl. 1788). - 8 Meibomische Driisen (glandulae tarsales) : die von dem
Arzt Heinr. Meibom (1638-1700) zuerst 1666 beschriebenen, in die Augen-
lidknorpel eingelagerten Talgdriisen. - 18 Petit: Von den zahlreichen
Arzten dieses Namens kommt hier nur der alteste, Francois-Pourfbur du
Petit (1664-1741), in Betracht, der durch zahlreiche Untersuchungen zur
Anatomie des Sehorgans bemerkenswert ist. J. P. denkt wohl an seine
Schrift: »DifFerentes manieres de connaitre la grandeur de chambre de
l'humeur aqueuse dans les yeux de rhomme« von 1727.
S.7o8,z<? Labarum; die rom. Kriegsfahne mit dem Kreuzzeichen, die
unter den spateren Kaisern seit Konstantin eingefuhrt war. - 30 apokalyp-
tischer Engel: vgl. Apok. 19, 10. — 32 Engel mit Weltreichen: vgl. die Er-
zahlung von der Versuchung Christi bei Matth. 4, 8-10.
S. 709, 4 Philanthropistenwdldchen : s. o. zu S. 1 36, 1 2. — j5 Charles Sonnet
(1720-93): Naturforscher und Philosoph in Genf. Von seinen Schriften
kannte der Dichter vor allem die »Considerations sur les corps organises«,
die 1762 und die Contemplations de la nature*, die 1766 deutsch erschienen
waren. - 36 Robert Hooke (163 5-1703): engl. Physiker. In Frage kommt
nur seine Untersuchung : »A hypothetical explanation of memory« in den
posthumen »Philosophical experiments* 1726, die den einzigen Versuch
Hookes auf dtesem Gebiet darstellen.
• S. 7 io t 8 Fabius: Der rom. Feldherr Quintus Fabius Maximus (f 203
v. Chr.) bekam wegen seiner hinhaltenden und abwartenden Kriegs-
fuhrung gegen Hannibal den Beinamen »Cunctator« (Zauderer). - 32
Eulerscher Rosselsprung: Leonhard Euler schrieb 1759 eme Abhandlung
iiber den Rosselsprung, die in den »M£moires« der Berliner Akademie
erschien.
S.712, 24 toga virilis: weiBes Obergewand, das alle freien Romer vom
Tage ihrer Volljahrigkeit zu tragen hatten.
S. 713, 24 Romer: ital. Hausierer. - 34 Hospodar: (»Herr«) Titel der ehe-
maligen Fiirsten in der Walachei.
S.714,^7 Schachbrett: So nur die erste Ausgabe. Die spateren Drucke
setzen wohl falschlich die Verkleinerungsform : >>Schachbrettchen«. Vielleicht
liegt eine verlesene Korrektur J.P.s vor.
S. 71 5, 19 Mosisdecke: s.o. zu S. 226, 26.
S.716,7 Empyreum: Feuefhimmel, der Sitz der Seligen in der griechi-
1 286 ANMERKUNGEN
schen Mythologie. — 13 hora^ische Mischung: vgl. dazu am SchluB von »de
arte poetica« die Verse 438ff. Aber auch die bekannte Sentenz: »utile cum
dulci« des Horaz kann dem Dichter vorgeschwebt haben, obgleich diese in
einen anderen Zusammenhang gehort.
S.717, 2 Anjou: Dazu zitiert Berend aus den Exzerpten: »Die Eltern der
sechsfingerigen Familie in der Provinz Bas-Anjou lassen nach der Geburt
den 6. Finger wegschneiden; gebaren doch solche.«
S.71% 35 LochBaum, richtig Lachbaum: ein mit Lachen (Kreuzschnit-
ten) versehener Baum, der die Grenze einer Gemarkung bezeichnet.
S.720, 5 Herkules-Sdule : Als Saulen des Herkules wurden im Altertum
die Vorgebirge von Gibraltar und Ceuta benannt, da diese nach der Sage
von Herkules an den Grenzen der damals bekannten Welt aufgerichtet
worden waren.
S.721, 32 Berlinerblau: eigtl. Name einer Porzellanfarbe, die in der
Berliner Manufaktur hergestellt wurde, hier vermutlich eine Anspielung
auf die Allgemeine Deutsche Bibliothek.
S-722,* hocus pocus: Schabernack. Die Erklarung aus einer Verstiimme-
lung der Konsekrationsformel war damals und ist noch heute sehr ver-
breitet, doch liegt die Entstehung des Wortes, das zuerst in England als
Taschenspielername auftritt, vollig im dunkeln. - 2 John Tillotson (1630
bis 1694): wirkungsvoller, volkstiimlicher Prediger der anglikani schen
Kirche, zugleich auch als Politiker tatig. Er starb als Erzbischof von Canter-
bury, zu dem er 169 1 bestallt worden war. Seine »Complete Works* wurden
1752 in drei Banden gesammelt. - 13 Petrus Lomhardus: s.o. zu S.29,7.
5.723.4 Joh. Bernh. Basedow (s.o. zu S.235,5) im ersten Band seiner
*PhilaUthie<i (1764), S.252f. Der Gedanke selbst, den u.a. auch Kaiser
Friedrich II. verwirklichen wo lite, ist uralt und bereits bei den Griechen
als Legende zu belegen.
S. 724, 1 6 H. : Ahnlich umgeht Sterne im ^Tristram Shandy« (VIII, 13)
den Buchstaben K im Alphabet. - 17 Holbeins Bein; Die Anekdote ist
Campes »Reise von Hamburg bis in die Schweiz« (1786) entnommen.
S. 725, 28 Fetspopel: Die Gestalt war J. P. aus Flogels »Geschichte der
Hofnarren* (1789) bekannt. Vgl. dort S.82.
S. 726,^5? Joh. Georg Meusel (ly^-iSzo) : Publizist, setzte Hambergers
vielbandiges Sammelwerk: itGelehrtes Deutschland oder Lexikon der jetzt
lebenden deutschen Schriftsteller« fort und erganzte es durch ein umfang-
reiches dVerzeichnis der 1750-1800 verstorbenen deutschen Schriftsteller«. —
26 Hamann: s.o. zu S. 132,4. — zy Christ. Ludwig Liskow (1701-60):
satirischer Dichter, dessen funkelnder, an Swift geschulter Witz und dessen
glatter Stil ihn damals ebenso iiberschatzen, wie heute zu unrecht vergessen
HeBen. Eine »Sammlung satirischer und ernsthafter Schriften« gab er selbst
1736 heraus.
5. 727.5 Manipel und Pugillum; eine Handvoll und drei Finger voll,
ApothekermaBe. - 1 1 Moxa (spanisch) : BeifuBwolle, ein grauer Stoff, der
ANMERKUNGEN 1 287
auCerlich als Heilmittel gegen Gicht und Podagra verwendet wird. Dabei
wird die Moxa mit Speichel an die Haut befestigt und verbrannt, so dafl eine
eitrige Brand wunde zuriickbleibt. - 23 Gabe: Die ersten Auflagen setzen
das gelaufigcre »Dosis«.
S.728, 5 Her^-Polype: s.o..zu $.360,10. - zo kantonieren: (in der Mili-
tarsprache) voriibergehend Lager nehmen. - 27 Tuberose: Herbsthya-
zinthe. - 33 Schiff und Geschirr: tautologischer Ausdruck fur »Hausrat«.
$.729,35 steh auf, hebe dein Bett auf: vgl. Matth. 9,6. Der Satz ist in
der zweiten und dritten AufJage ausgefallen.
S.730,7^] Universalkrankheit: vgl. o. S. 371,29 und die Anmerkung. — 21
himmlisches Grahamsbett; s. o. zu S. 207, 12. — 24 Wurstschlitten: un-
bequemes, landliches Fuhrwerk.
S.731, 21 Neros Palast: Die »domus aurea«, das Goldene Haus des Nero,
64 n. Chr. nach dem Brande Roms erbaut, bedeckte mehr als anderthalb
Quadratkilometer, so dafi in Rom das Witzwort umlief: »Rom wird ein
einziges Haus.«
$-733>'^ Razllerie: Spotterei.
S. 736,27 Kato; s.o. zu S.601,21. - 28 Kontuma^haus : Absonderungs-
oder Quarantanehaus. — 29 russischer Eispalast: s.u. zu S. 847,7.
S.737, 5j William Pitt d.J. (1759-1806): engl. Staatsmann, seit 1783
Premier minister, dem es gelang, die engl. Wirtschaft und Politik nach dem
verlorenen Unabhangigkeitskrieg wieder zu stabilisieren. Der franz. Revo-
lution stand er lange abwartend gegeniiber, erst der Einfallder Revolutions-
armeen bewog ihn, 1793, in den Krieg gegen Frankreich einzutreten. -
36 bureau d* esprit; s.o. zu S. 142, 1 .
S. 739,-2.5-740, j Zuneigung 'des Fiirsten: Der Absatz ist in der zweiten
Auflage eingeschoben.
S. 741, 20 Linnaus: Karl von Linne" revolutionierte 1735 durch sein
»Systema naturae« und die folgenden Werke: »Genera« und » Classes plan-
tarum« (1737 und 1738) die Naturwissenschaft, indem er das Sexualsystem
auch bei Pflanzen zur Klassifizierung einfuhrte.
S. 743, .2 j er: Die Drucke setzen wohl versehentlich »es«.
S. 744, 28 Gleicher: deutscher, damals besonders dichterisch verwendeter
Ausdruck fur Aquator.
S.745,.9 keiliger Januar: An seinem Namenstag vergieCt der Leichnam
des San Gennaro, des Schutzpatrons von Neapel, aus seiner Sterbewunde
frisches Blut, und die Neapolitaner furchten Unheil, wenn dieses Bluten
einmal ausbleibt.
S.746,4 wie Portugal mit Blut: vgl. o. S. 561,5 und die Anmerkung da-
zu. - 11 Kastor und Pollux: die Sohne der Leda und des Zeus, die er in
seiner Verkleidung als Schwan gezeugt hatte. Sie wurden darum aus einem
Ei geboren.
S.75o,? 8 Sportelbuch: Rechnungsbuch iiber die gerichtlichen Neben-
einnahmen des Konsistoriums. - 2 3 Rekahnsfahrt: Gemeint ist » Anton
1288 ANMERKUNGEN
Friedr. Biischings ... Beschreibung seiner Reise von Berlin iiber Potsdam
nach Rekahn« von 1778. — 2 5 meine Schwester: die Philippine aus der »Un-
sichtbaren Loge«.
S. 751,7 3 Tribonidn (f 546): rom. Rechtsgelehrter, hatte durch lange
Jahre den Vorsitz der Rechtskommission, die unter Justinian das romische
Recht neu kodifizierte. - i5 nach Howard: John Howard (1726-90): engl.
Philanthrop, der sein Lebenswerk den hygienischen Verbesserungen im
Gefangnis- und Hospitalwesen widmete und zu diesem Zweck ausgedehnte
Reisen unternahm. Sein Bericht: »The state of the prisons in England and
Wales; and an account of some foreign prisons^ (1777, dt. 1780) erregte
ungeheures Aufsehn.
S.753,/^ ruckstdndige Ehepfdnder: vgl. die Strohkranzrede o. S.75, i8ff.-
32 Goldwoge: In der letzten Auflage steht der Druckfehler; »Geldwoge«. -
35 Poenitentiaria; s.o. zu S. 137, 15.
S.755,* 2 Maximilian, Herzog von Sully (1560-1641): franz. Staatsmann
unter Heinrich IV. Seine »M£moires« (deutsch 1783-86) zahlen zu den
wichtigsten Dokumenten der franz. Geschichte. - 22 Antoninus Philo-
sophus; Beiname des rom. Friedenskaisers Marc Aurel.
S. 757,25 edel: In Osterreich und Bayern nennt man Edler einen Adels-
grad, der zwischen dem Freiherrn und dem einfachen Adel steht. - 36 wie
Paulus die Schlange: vgl. Ap. Gesch. 28,5.
S.759^4 Kbnigsberger Bratwurst; Joh. Christ. Wagenseil (1633-1705),
der Niirnberger Polyhistor, gibt in dem in der Note erwahnten Werk -
seinem letzten - das Gewicht dieser ungewohnlichen Wurst mit 434 Pfund
an. - 31 Domizettar: junger Domherr, der im Kapitel noch nicht Sitz und
Stimme hat.
S. 760, to Michael Denis (1729— 1800): erst Jesuitenpater in Wien, dann
freischaflender Dichter. Auf Klopstocks Spuren wandelnd, verdeutschte er.
1768 Macphersons »Ossian« und schrieb eigene Gedichte als Sined der Barde.
Seine Dichtungen wurden gesammelt in »Ossians und Sineds Lieder«,
5 Bde. 1784. - 1 5 und 1 6 i>Skine von Wiem (6 Hefte, 1786-90) und »Fau-
stin oder Das philosophische Jahrhundert« (1783): beides Schriften des
mediokren Wiener Publizisten Joh. Pezzl (1756-1823). - 16 Blumauer:
s.o. zu S. 548,11.'— 1 8 ^Wiener Musenalmanachu; Er wurde von Alxinger
herausgegeben und erschien zuerst 1774. Neben Alxinger und Blumauer
arbeitete allerdings auch Denis an diesem Almanach mit.
S.761,5 Leberreim: gemeine und schlechte Stegreifgedichte, die nach
altem Brauch bis ins i7.Jahrh. iiber dem Essen einer Hechtleber gemacht
wurden. - 10 voile Krebse: Bei Vollmond sollen die Krebse besonders fett
werden. — 26 reisender Fran^ose: Die Stelle findet sich in den »Briefen eines
reisenden Franzosen iiber Deutschland« (von Kaspar Risbeck) 1783, i.Bd.
S.295.
S.762, 2—29 Abschnitt iiber Viktor und Brief der Pfarrerin: Einschub der
zweiten Auflage. - 3 Dr. Graham: s.o. zu S. 207, 12. — 22 Lordship: J. P.
ANMERKUNGEN 1 289
setzt »Lordschip«, denn er gesteht selbst im »Enochsblatt« des ersten komi-
schen Anhangs zum »Titan« : »daB mir, eh* ich im Englischen perfekt war,
immer ein ch nach dem s entfuhr, statt des h.«
8.763,? z Carl Stamiti (1 746-1 801): umschwarmter Virtuose auf der
Viola d'amore und bahnbrechender Tonsetzer der Mannheimer Schule.
J.P. hatte den vielgereisten Musiker 1792 bei einem Konzert in Hof gehort.
5.764.5 Anekdoten fur Prediger: Joh. Friedr. Tellers »Anekdoten fur
Prediger und Priester zur Unterhaltung« erschienen 1778 in drei Banden. -
28 Wiistenbock (syn. mit Sundenbock): vgl. 3»Mose 16,21 f.
S.767^* Philippine: s.o. zu $.750,25.
S.768, 31 Doppel-Uso: doppelte Wechselfrist.
S. 769, z z Schulpforta : s. o. zu S. 65 , 3 3 .
S.771,^ Tarantel: Zum Verstandnis zitiert Berend aus den Exzerpten
die Notiz : »Der von der Tarantel Gestochene leidet Pein, wenn der Musi-
kant in einem Ton oder Strich fehlt.« -22 dritter Sinn: Beim Jungen ist
an den Geruchssinn gedacht, bei der Sangerin jedenfalls an den Geschlechts-
sinn, der damals als sechster Sinn gerechnet wurde.
5.772. 6 Euler: Leonhard Euler gab 1739 eine knappe, mathematisch
begrundete »Theorie der Musik« heraus. - G.Sulier: s.o. zu S. 644, 28. Vgl.
den Artikel: »Dissonanzen« im ersten Band seines Werkes.
S. 773,25 tremolando: bebend. - 3 5 Antonio Sacchini (1730-86): ge-
feierter Opernkomponist aus Florenz.
S. 774,2 (£-77 5, .2 Appels Er^dhlung: Der Abschnitt, der ein fruheres
Motiv wieder aufklingen lafit (s. o. S. 577. 29 ff.), ist erst in der zweiten Auf-
lage eingefiigt.
S.776, 27 Gewittersturmer (analog zu Feuerstiirmer gebildet) : Sie zeigen
durch Lauten der Glocken die Brandgefahr bei einem Blitzeinschlag an.
S.781,4 Vergifi mein nickt: viel gesungenes, um 1790 gedichtetes Lied
von Max v. Knebel. Die Musik von Lorenz Schneider wurde haufig Mozart
zugeschrieben.
5.783,22 Ararat und Tabor: Auf dem Ararat landete die Arche Noah
nach der Sintflut, der Berg Tabor in Galilaa gilt als der Berg der Verklarung
Christi. - 30 Bayles Wdnerbuch: s.o. zu S. 595,13. - 34 Olla Podrida:
Allerlei.
S. 785, z Sff. hinter den rauchenden Bergen usw.: Die Stelle nimmt die
Gedanken aus Ottomars erstem Brief auf, vgl. o. S.217,27
S. 788, ,34 Nachsommer: So die kritische Ausgabe; die Originaldrucke
setzen, vermutlich durch das Wort: »Nebensonne« in der folgenden Zeile
verleitet, »Nebensommer«.
S-793,^ Latrie: Gotzendienst. - 5 und 6 Dulie und Hyper dulie: Heili-
genverehrung und uberschwengliche Heiligenverehrung.
S.794, 8 Wohlstand: altertumliche Form fur »Anstand«. — 26 dal segno:
vom (Wiederho lungs-) Zeichen an.
S. 795,2 5/.* Staaten: Anspie lung auf die zweitepoInischeTei lung von 1773.
1 290 ANMERKUNGEN
S, 796,^2 Musaus: s. o. zu S. 360, 34. - zzjakobi: s.o. zu S. 152,240*. -
22 Klinger: s.o. zu S. 29,30. — 31 Allwills Briefwecksel: s.o. zu S. I52,24ff.
S.798, 5 Namen der Groflen: In der ersten Auflage war noch der Witz
eingefugt, daB die Groi3en ihre SproBIinge wie Pasquille erstlich verviel-
faltigen, zweitens anonym versenden. Wie schon die Note vermerkt, hatte
J. P. den Scherz inzwischen in der »Erklarung der Holzschnitte« von 1797
verwendet (vgl. die Erklarung zum vierten). - 6 pieces fugitives : seit dem
i7.Jahrh. eine in Frankreich modische Form kleiner Gelegenheitsdich-
tungen. — 1 8 vingt-quatre : Das Hoforchester LudwigsXIV. trug diesen
Namen, weil es aus 24 Spielern bestand. - 19 Goethe: vgl. Wilhelm Meisters
Lehrjahre VIII, 5. - 28 Ostraiismus : das Scherbengericht in Athen, das
in offentlicher Abstimmung iiber die Strafe der Verbannung zu befinden
hatte.
S. 799,5) Karl Friedr. Bahrdt (1741-92): aufklarerischer Theologe, in
seiner Stellung so umstritten wie verhafit. Er hatte sich 1789 durch eine
Satire auf das preuB. Religionsedikt ein Jahr Festungshaft und die Aus-
weisung zugezogen. Als Schankwirt starb er verbittert in der Nahe von
Halle. - 26 in effigie: »im Bild«, sinnbildlich.
S.8oi,(3 Charles-Marie de La Condamine (1701-74) und Pierre Bouguer
(1698— 1758) unternahmen 1736 eine Expedition nach Peru, um die Gestalt
der Erde zu erforschen.
S.8o2,z Donatscknitier : grober VerstoB gegen die Elementarregeln der
Sprachlehre, genannt nach Aelius Donatus, einem bekannten rom. Sprach-
lehrer des 4.Jahrh. - 18 Fechser: Rebknoten als Setzling. - 24portugie-
sische Israeliten: s.o. zu S. 561, 5. — 28 Wer seines Herren Willen weifi usw.
nach Luk. 12,471".
S.804, 34 Pringle und Schmucker (1712-86) : Kapazitaten auf dem Gebiet
der Militararzneikunst. Besonders Pringles Hauptwerk: »Observations on
the diseases of the army« (1752, dt. 1772) war allgemein bekannt.
S.808, 21 der naturhistorische Goe\e: s.o. zuS.633,17. — 25 Linni; ^ Seine
&Oratio de telluris habitabilis incremento« steht in der Erlanger Ausgabe
seiner Aufsatzsammlung: »Amoenitates academicae« im zweiten Band. -
32 Deutscher Herr: Angehoriger des Deutschen Ritterordens.
5.810. 2 5 Nurnbergische Konvertitenbibliothek: sicher Anspielung auf
eine Erbauungsschrift der Zeit. Doch war es nicht moglich, ein Buch dieses
Titels ausfindig zu machen.
S.Siij^j Drehbasse: drehbares Geschiitz auf Schiffen.
5.812. 3 Ixions-Rad: Ixion, der Sohn eines Konigs der Lapithen, hatte
sich in Hera verliebt und wurde von Zeus zur Strafe auf ein feuriges, nie
stillstehendes Rad geflochten. - 23 Assekuran^brief: Versicherungsbrief.
S.8i3,*4 Donnerkaus: Modell, um die Wirkung von Blitzableitern zu
demonstrieren.
S.814, 5 Hexe von Endor: Sie weissagte Konig Saul seinen Sturz und
Tod. Vgl. i.Sam. 28. — 5 Hexe von Kuma; die cumalsche Sybille war die
ANMERKUNGEN 1 29 1
beriihmteste Wahrsagerin des Altertums. - 29 des Dreh-Rosinante : In den
beiden ersten Auflagen steht fur unser Empfinden gelaufiger )>der Dreh-
Rosinante*. Doch geschah die Anderung der letzten Ausgabe wohl mit
Bedacht, da der Name: »Rosinante« im spanischen mannlich ist. - 36 Wieg-
lebische natiirlkhe Magie: 1779 erschien »Joh. Nik. Martius* Unterricht in
der natiirlichen Magie... umgearbeitet von Joh. Chr. Wiegleb«. Das Werk
wurde dann bis 1805 in zweiter Auflage als ein riesiges Korpus in 20 Banden
ediert.
5.815.7 Trunkus, Plempsum, Schaltalei: gliickbringende Taschenspieler-
formel. — ti Nicole Malebranche (1638— 171 5): Philosoph in der Nachfolge
des Descartes, der ein umfangreiches Werk : »De la recherche de la verite«
geschrieben hat. — 13 Hamiltons memoires: Darunter ist der Roman: »M£-
moires du Comte de Gramont« (1713) von Anthony, Graf von Hamilton
zu verstehen. - 17 nach Morit%: K.Ph.Moritz, der seit 1789 Professor fur
Altertumskunde an der Kunstakademie in Berlin war, schrieb uber die
antike Mythologie und den antiken Kult verschiedene, bedeutende Auf-
satze und seine beruhmte »Gotterlehre der Alten« (1791).
5.817. 8 Digesten: s.o. zu S. 576, 23. Die einzelnen Verordnungen sind
dabei nach Titeln (Paragraphen) unterteilt. — 3 1 Buscking: s. o. zu S. 92, 14.—
33 Teriienuhren: astronomische Uhren, welche auch die Terzien (s.o. zu
S. 485, 27) anzeigen.
S.819, 8 Halbkenner: Verdeutschung der letzten Ausgabe fur »Igno-
rantfi. - 25 f. Girondisten und Feuillants (nach ihrem Versammlungsort im
Pariser Kloster der Feuillants bezeichnet) : zwei gemaBigte Parteien im revo-
lutionaren Frankreich. — 33 Ak^essit (»er ist nahe gekommen«) : Nebenpreis.
S. 820, 2 j Martinitag : 1 1 . November. - 2 6 Jonastag : 1 2. November. -
33 Leopoldstag: 15. November.
S. 821, 30 Ottomars-Tag: 16. November. Die Apostrophierung ist ah die
Gestalt Ottomars aus der »Unsichtbaren Loge« gerichtet.
S.823,^ Platigold: ein Praparat aus Goldlack, das beim Erwarmen mit
Knallen auffliegt.
S. 824, 34 Rehhsgravamina: s.o. zu S. 90,33.
S. 825, GBrokardikon: s. o. zu S. 177, 28. - 12 Institutionen: der erste Teil
in Justinians ^Corpus juris*. Die Institutionen geben eine systematische
Obersicht des rom. Rechts und waren zur Einfuhrung in das Rechtsstudium
gedacht. - 1 4 accessorium ; Beiwerk, Anhangsel. — 30 Prokulejaner: Die
Prokulianer waren eine der beiden fuhrenden Rechtsschulen der rom.
Kaiserzeit und standen mit der zweiten, den Sabinianern, in einer lebhaften
Kontroverse. Der zitierte Satz: »Der Augenblick einer Formanderung
schaift eine neue Sache« bildete einen der Hauptgegensatze. - 33 Siegwart:
s.o. zu S. 63 5, 12. - 36 Servituten: das Recht an fremdem Eigentum, auch
die Last, die mit einem Besitz verbunden ist.
S.830,*£ Rataffia: Fruchtlikor.
S.831,/7 quarentigiatisches Instrument: Biirgschaftsurkunde. — 18 Par-
I29 2 ANMERKUNGEN
tagetraktat: Abtretungsvertrag. - 29 den sie so liebte und Viktor auch: eine
an sich nicht notige Wiederholung aus dem letzten Satz.
$.832,77 Bunterie-Gespann: Berend vermutet unter »Bunterie« eine
Korrumpierung aus oBunte Reihefl.
S.833,z^ Mikrologie: Kleinigkeitsgeist.
S.837, 22 Michel Baron (1653— 1729): einer der groBten Schauspieler
der franz. Buhrie, als Darsteller der heroischen Partien in Dramen
Corneilles und Racines noch in hohem Alter umschwarmt. Seine Eitelkeit
brachte ihm viel Tadel und manche sicher unzutreffende Anekdote ein.
5.838,/* Bill und Act; Gesetzentwurf und das daraus erwachsene Ge-
setz. — 1 2 in nuce: im Keime. — 14 enrages und noirs: Bezeichnungen fur
radikale Revolutionsparteien in Frankreich. - 14 Philippe Her^og von Or-
leans (1747—93): »der rote Prinz«, stand unter dem Namen Philipp Egalit£
auf der auBersten Linken im Nationalkonvent und stimmte mit dieser fur
den Tod Ludwigs XVI. Als sein Sohn 1793 m k dem General Dumouriez
zu den Osterreichern uberging, wurde Philipp guillotiniert. — 2 5 Jean Paul
Marat (1744-93): fanatischer Anhanger Dantons, stiirzte mit ihm die
Girondisten und veranstaltete unter ihrenAnhangern eingraflliches Blutbad.
1793 wurde er von Charlotte Corday im Bad erstochen. — 29 mort: So nennt
man im I/hombre den Strohmann, den vierten Spieler, der gerade aussetzt.
S.840^ Muhameds Reise: Von Mohammed berichten die arabischen
Historiker ubereinstimmend (vgl. Gibbon: ^Decline und Fallof the Roman
Empire*, Kap. 56), er sei von einem geheimnisvollen Tier Borak aus dem
Tempel zu Mekka durch alle sieben Himmel vor Gottes Thron getragen
worden. Diese Reise nahm nach Gibbon allerdings doch den zehnten Teil
einer Nacht in Anspruch.
S.842,jj Marie Catherine Biheron (1719-86): Sie hatte in vieljahriger
Arbeit ein Kabinett von Wachsfiguren und von zerlegbaren, anatomischen
Figuren geschafTen, solche auch zum Teil verkauft.
S. 845,7 5 Edikt von Nantes: das Toleranzedikt von 1598, in dem Hein-
rich IV. den Hugenotten Religionsduldung zusicherte. - 33 Lehisternien:
Kulthandlung im antiken Rom, bei der kiinstliche Genienbilder zu
Tische lagen und feierlich bewirtet wurden. - 3$ Panist (»Versorgter«) :
Laienpfrundner.
8.846,*/ Forster: s.o. zu S. 427, 30. Vgl. seine vortreffliche Schilderung
in den »Ansichten vom Niederrheim i.Abt. XXI.Abschnitt. Es handelt
sich um das Hochaltarblatt von Rubens in der Antwerpener Kathedrale.
S.847, 2 unkennen: wenig gliickliche Eindeutschung von »ignorieren«. -
7 russischer Eispalast: Im strengen Winter 1756 hatte ein Hoflihg fur die
Kaiserin Katharina von RuBland auf dem See bei Petersburg einen Palast
aus Eis errichten lassen. An seinen Eingangen spien Delphine kalte Naphtha-
flammen. - 18 Papilloten: Haarwickel. - 34 wie Pompejus* Fitter: Caesar
soil wahrend des Biirgerkrieges seinen Soldaten befohlen haben, im Kampf
stets auf das Gesicht der Krieger des Pompejus zu zielen.
ANMERKUNGEN 1 293
S. 848, * 2 Freiheiten der gallikanischen Kirche; Die sog. »Gallikanischen
Freiheiten«, die 1438 in der »Pragmatischen Sanktion« erstmals gesetzlich
verankert wurden, sicherten der franz. Krone und dem Klerus weitgehende
Selbstandigkeit von Rom zu. 1594 durch Pithou systematisiert, blieben sie
bis zum Ausgang des »ancien-regime« in Kraft. Doch scheint der Vergleich
bei J. P. wie offers willkiirlich durch das Wort: »Freiheit« hervorgerufen. -
28 Clarissa: s.o. zu $.29,22. Die ersten vier Teile des Romans schildern
den Kampf von Clarissa gegen ihren Verfuhrer Lovelace, dessen gewalt-
samer Werbung sie im 5. Band zum Opfer fallt.
S. 849, 31 St. Clermont: J. P. denkt an die »ponts naturelles« bei Clermont-
Ferrand.
S.854, 30 ff. Iphigenie: vgl. »Iphigenie auf Tauris«, II, 1 und III, 1.
S. 856,4-^3.2 Er legte an den Spinnrocken usw.: Einschub der zweiten
Auflage.
S. 857, 20 Rikoschetblicke : s.o. zu S. 578,2.
S. 858, i if. dafi sonach die Geschichte usw. : wieder eine Sinnumkehrung.
Es mufite heifien : »dafi sonach. . . meine Beschreibung in einem halben Jahre
der Geschichte nachkomme«. Doch ist hier auch an einen Scherz zu denken.
S. 861, * .2 recht gern: In den ersten beiden Auflagen folgt: »Denn auch
Klo tilde mied, eingedenk der letztern Beklemmungen, das Schauspiel, und
bio 13 die funfjahrige Giulia muBte ihre liebende Seele kiihlen.« — 30 concert
spirituel: s.o. zu S. 391, 32.
S.862,:^ a la grecque: in griechischem Geschmack, svw. grotesk oder
bizarr.
S.$6<i,6jener Tyrann: der aus der Theseussage bekannte Riese Pro-
krustes, der grofigewachsene Gaste in ein zu kurzes Bett zu legen pflegte
und ihnen dann die iiberstehenden Glieder abhackte. — 34 mundieren: ins
reine schreiben.
S. 866, 6 drei Alphabete : in Druckbogen des Romans. Bekanntlich wurden
damals noch die Bogen in der Setzerei mit den Buchstaben des Alphabets
bezeichnet. - 21 joues de Paris: kimstliche Wangen, wie »cul de Paris«
gebildet.
S. 867, Sff. Sechster Sckalttag: Berend nimmt fur diesen bedeutenden
Aufsatz Anregung durch Herder an, von dessen »Briefen zur Beforderung
der Humanitat« der zweite, thematisch verwandte Teil 1793 erschienen
war, und wohl auch durch Christian Otto, der in dieser Zeit eine Unter-
suchung iiber den Parallelismus der Kreuzziige, der Reformation und der
Revolution ausarbeitete. — 28 wie ein bekannter Philosoph: vermutlich Her-
der in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1784
bis 179 1). - 33 Metamorph. L. II. Fab. to: nach der heute iiblichen Ein-
teilung der Metamorphosen: Buch 9,36 ff.
S.868,£ Vortiielle: Wimpertierchen.
S.869,5 bowling-green: Rasenplatz. — i5 die Nativitat stellen: das kiinf-
tige Geschick aus den Sternkonstellationen der Geburtsstunde vorher-
1 294 ANMERKUNGEN
sagen. — 21 allgemeine Welthistorie: s.o. zu 8.638,18. — 28 Code noir: 1685
erlassenes Gesetz, das die Verwaltung und den Handel der Neger in den
franz. Kolonien regelte. — 31 Dekretalbriefe und Extravaganten: die dem
»Corpus juris canonici« beigegebenen Sammlungen von Dekretalen (Ent-
scheidungen) Johannes* XXII. und der spateren Papste.
S. 870, 1 Achilles* Schild: Auf ihm stellte Hephaisth nach Homers Bericht
(Ilias XVIII, 478 ff.) Menschen, Tiere, Stadte, die Erde und das Meer, die
Sonne und alle Gestirne dar.
S. 871 ? 2 platonisches Jahr; ein Zeitraum von *und 25800 Sonnen-
jahren, den der Pol des Himmelsaquators braucht, um einen Umlauf um den
Pol der Ekliptik auszufuhren.
S. 872,2 6" Librationen: Schwankungen, bes. des Mondes in seiner Stel-
lung zur Erde.
S. 873,2.7 Untertanenhandel : s.o. zu S.50,1.
S. 875, 24-S77, s> Verwechslung Viktor s: Einschub der zweiten Auflage.
S. 878,^5 majore und minore: Dur und Moll.
S.879 >t 32 ich und der Leser: vgl. o.S.539,2if.
S. 882, 6—1 2 Viktor hatte sogar usw. : Zusatz der zweiten Auflage, ebenso
die Stellen, auf die darin angespielt wird. (Vgl. o. S. 690,9-11, S. 779, 20 f.
undS.856,23ff.)
S. 895,4 Coventgarden: das 1733 am Markt errichtete Londoner Theater.
S. 896,^33 Professor Hoffmann: Leopold Aloys Hofmann (1 746-1 806):
beriichtigter Denunziant und Journalist in Wien, gab 1792 die » Wiener
Zeitung« heraus, in der er versteckt und offen gegen die aufklarerischen
Tendenzen und die Ideen der Revolutionszeit zu Felde zog.
S. 897,2 / Chiragra: Handgicht. - 23 kartesischer JVirbel: s.o. zu S.208,
31- — 33 dephlogistisierte Luftart; Sauerstoff.
8.898,2.3 Haller: in den »Elementen der Physiologie«, 5.Bd., i5.Buch,
Abschn. 2, § 4.
S. 899,2 4 Geldborse am Hintern: s.o. zu S. 744, 12.
S.900,/<?/e grand escuyer tranchant; seit Philipp IV. von Frankreich
ein Titel des koniglichen Bannertragers. der bei feierlichen Anlassen als
Vorleger an die konigliche Tafel gezogen wurde. - 22 Wahlreiche und Erb-
lande: Bohmen und Ungarn sind unter den Wahlreichen Osterreichs zu
verstehen, wahrend Erblande die den Habsburgern erblich zugehorenden
Gebiete genannt werden.
S.901,4 fallopische Muttertrompete (tuba fallopia): Eileker, genannt
nach dem italienischen Anatom Gabriele Fallopio (1523-62). - 29 syllo-
gistische Figuren: in der Logik die vier moglichen SchluBfiguren einer
Folgerung. - 31 Salvationssckrift : Verteidigungsschrift.
S.902,j2<9 Boselkugel: Kegelkugel. - 32 Kalkant: Balgtreter.
S. 903, 1 7 Vergette: Biirste, kurzgeschorenes Stirnhaar. - 33 Haar der
Berenice: Das Haar, das diese agyptische Konigin der Aphrodite fur die
gluckliche Riickkehr ihres Gemahls Ptolemaus Euergetes geweiht hatte,
ANMERKUNGEN 1 295
verschwand aus dem Tempel und wurde in ein Sternbild (nahe dem Lowen)
verwandelt. - 3$ Kutmination im Nadir: Der Nadir ist als Tiefpunkt dem
Zenit entgegengesetzt, also eine Aufgipfelung im Tiefpunkt.
S. 904,22 Pfeilnaht (sutura sagittalis): verbindet die beiden Scheitel-
beine. - 1 4 Zainhammer (auch Zahnhammer) : Werkzeug der Steinhauer.
S.905,^ Antihypochondriacus : »A. oder Etwas zur Erschiitterung des
Zwerchfells und zur Beforderung der Verdauung«, Titel einer mehrbandi-
gen Sammlung von Anekdoten und Witzen, die G. A.Kayser in den Jahren
1782-96 herausgab. — 9 Vademecum: Von den zahlreichen Schriften dieses
Titels denkt J. P. (nach S. 548, 13) offenbar an das »V. fur lustige Leute, eine
Sammlung angenehmer Scherze, witziger Einfalle usw.«, Berlin 1764-92 bei
Mylius.- 13 Tobias5Vno//e*(i72i-7i):engl. Arztund Romanschrifts teller,
dessen Schelmenromane (»The adventures of Roderick Randonw 1748 und
vor allem»The adventures of Peregrine Pickle« 175 1) typisch fiir das von J. P.
als »niederlandisch« gekennzeichnete Genre sind. Vgl. ftVorschule der
Asthetik« § 72.
S. 908, / 4 man begeht die meisten Torkeiten usw.: vgl. o. S. 66 5, 13.
S. 9 12,32 Klaglibell: Klageschrift. — 33 Ruhr um: der mit roter Tinte
geschriebene Titel eines Urteils.
S.913, 5 Abt Galiani: s.o. zu S.156, 24. - 6 der alte Shandy: vgl. Tristram
Shandy III, 29. — 32 Salvator Rosa: s.o. zu S. 249, 13. — 34 jus imaginum:
Recht auf Bilder (Recht, sich Bilder zu setzen).
S. 9 1 4,jz Esaushande: Anspielung auf die bekannte Erzahlung vom
Erbbetrug des Jakob. Vgl. i.Mose27,nfT.
S. 91 5, 1 2ff. Sebastian: im einen Fall das beriihmte Spatbild Tizians (um
1 570), das sich heute in der Petersburger Eremitage befindet, im andern das
Jugendbildnis van Dyks, heute im Besitz der Alten Pinakothek in Miinchen.
Die beiden Stellen, an denen van Dycks »Sebastian« erwahnt wird (S.915,
16-19 un< ^ S. 9 19, 1 8-21 samt der zugehorigen Anmerkung) sind erst in
der zweiten Auflage eingeschoben. - 2 6 Kallus: Rinde, Haut. - 30 griechi-
sches Feuer: bereits im Alter turn bekanntes Kriegsmittel, das vor allem im
Seekampf gern verwendet wurde, da dieses Feuer auch durch die Beruhrung
mit Wasser nicht geloscht wird.
S.916, 14 Nikolaus Rosen v.Rosenstein (1706-73): beruhmter schwed.
Arzt, war bahnbrechend in der Entwicklung homoopathischer Heilmittel.
S. 919, 22 Weiber in Italien: Sie verhangen die Bilder, damit die Heiligen
sie nicht siindigen sehen. - 2 5 Hol^schnitt {u den iehn Geboten: Wohl der
Holzschnitt zum sechsten Gebot, auf dem David die nackte Bathseba im
Bade beobachtet. Die groben, unbeholfenen Holzschnitte des Bayreuther
Katechismus nahm J. P. spater zum AnlaB fur seine satirische »Erklarung
der Holzschnitte« von 1797.
S.920,p globe de compression von Belidor: Druck- oder Mordschlag,
s.o. zu S. 505,8.
5.925,? Sabbaterweg: s.o. zu S. 629, 25.
1 296 ANMERKUNGEN
S.926,22 Pitt: s.o. zu S. 737, 23. — 34 Isaak Casaubonus (15 59-1614):
franz. Humanist. 1614 verfaBte er im Auftrag Heinrichs IV. seine umfang-
reiche Schrift: »Exercitationes de rebus sacris et ecclesiasticis contra Baro-
nium«, in denen er den Geschichtsirrtiimern des gelehrten Kardinals (s. u. zu
S.966, 5) nachging. Der Nachsatz, der fur J.P.s Art, Anmerkungen zu
schreiben, recht bezeichnend ist, wurde in der dritten Auf lage angefugt.
S. 928, 34 Prefifreikeit: Gemeint ist wohl die Proklamation gegen auf-
ruhrerische Pamphlete, die 1792 erlassen wurde.
S.929, 29 Gradual-Disputation: ofTentliche Verteidigung einer These,
um den Doktorgrad zu erlangen. — 31 Nicolas de Catinat (1637-1712):
Marschall von Frankreich unter Ludwig XIV., zeichnete sich besonders in
den italienischen Feldziigen 1690-96 aus. Von ihm waren damals noch zahl-
reiche Sentenzen im Umlauf.
S.930,zjf/; Nominal- und Realterrition : miindliche und tatliche An-
drohung der Folter. - 19 Hermann Boerhaave (1668-1738): Professor der
Medizin und Botanik in Leyden, dort Lehrer Albrecht von Hallers, einer
der bedeutendsten Arzte aller Zeiten. — 36 Schufiwasser ■.* aus Krautern mit
Weingeist destilliertes Wundwasser.
S.932, 5 Harten: bayr. Kinderspiel, bei dem gekochte Eier mit den
Spitzen gegeneinander gesto Ben werden. Das hartere, unverletzt bleibende
Ei gewinnt. — 11 Iris: die griechische Gotterbotin. — 18 Vergifimeinnickt:
s.o. zy S.781,^.
S-933,-^ Stolgebiihren: Nebengebuhren fur den evang. Pfarrer. - 14
Pastoraltheologien: spottische Anspielung auf Oemlers schon erwahntes
oRepetitorium iiber Pastoraltheologie«, s.o. zu S. 138,7. - 36 Voetius: s.o.
zu S.84,3ofT. Die beiden Zitate sind der gleichen Stelle entnommen.
S.934,jz papinischer Topf: s.o. zu S.90,34.
S. 936,-2/ Kasualrede: Gelegenheitsrede.
S-937>' 7 Kautelai -jurisprudent: der Teil des praktischen Rechtes, der
sich mit den mdglichen VerhutungsmaCnahmen eines Schadens oder Ver-
brechens befaBt. — / y medicina forensis : Gerichtsmedizin. — ly Spkragistik:
Siege lkunde. - 29 so oft: in der dritten Auf lage fehlt »so«. - 3S Bander-
lehre (Syndesmologie) : Teilgebiet der Anatomic
S.938, -26" Fallhut: Ihn trugen kleine Kinder, um sich beim Sturz nicht
zu verletzen.
S. 940, 1 3 Ruhe du auch: s.o. S.766, 19.
S. 941, 9 nachtlichte: Durch diese eigene Wortpragung ersetzte J.P. in
der dritten Auf lage das gebrauchliche Fremdwort: »illuminierte«. Die
Reimersche Gesamtausgabe hat die falsche Konjektur: »nachtliche«, der die
meisten Ausgaben folgten.
S. 942, 2y Vierfunftel: Die Drucke setzen iibereinstimmend»FunfvierteI«.
Da ein SpaB an dieser Stelle aber auszuschlieften ist, mufi man an eine
Entgleisung der Feder denken.
S.945,?# car tel est noire plaisir: seit Franz I. die Formel, mit welcher
ANMERKUNGEN 1 297
der franz. Konig auf Briefen der Staatskanzlei seine Entscheidungen be-
zeichnete. - 29 Frani Koch: Diesen abgedankten, auf einer Art Maul-
trommel spielenden Soldaten, hatte der Dichter bei einem Konzert in Hof
im August 1792 gehort. Koch wurde — beilaufig bemerkt — durch den
Roman so beruhmt, daB sich ein zweiter Virtuose unter seinem Namen
etablierte.
S. 946,2.? Lorettohaus; s.o. zu S.425,5.
S.947,zc> teuerster **: Zu erganzen ist vermutlich »Christian Otto«.
S.949,^ weifte Taube: s.o. S.888,7ff. und S.766, 28 f. — 20 Wie sie so
sanft ruhenJ ': Anfang des Liedes: »Der Gottesacker«, dessen erste beiden
Strophen A. C.Stockmann dichtete und das sparer vielfach umgearbeitet
wurde.
S.95i } 5 Vergifi mein nicht usw.: frei nach der zweiten und dritten
Strophe des Knebelschen Liedes (s.o. zu S.781,4).
S.961, //. Vorrede %um dritten Heftlein: Der beigefugte Zusatz der dritten
Auflage ist falsch. Es muB umgekehrt heiBen; »das in der ersten Auflage
erst hier begann«.
S.963,^ Quinquenell: s.o. zu S. 114,21. — 13 Gehenna: Urspriinglich ein
dem Moloch geweihtes Tal bei Jerusalem, in der christlichen Kirchensprache
der Hollenpfuhl.
8.964,^ Halloren: So werden die Salzsieder in Halle genannt, die eine
streng in sich geschlossene Gilde bildeten und eine eigene, dem Rorwelschen
verwandte Sprache entwickelt haben. - 8 Gex: eine Landschaft und ein
Stadtchen im franz. Jura, in dem der Kretinismus sehr verbreitet war. - 31
Stab Wehe: s.o. zu S. 180,35.
S.965, 2 Platrler: vgl. seine »Philosophischen Aphorismen« 1793, Teil 1,
S.609, § 1008. — y blumauerische Parodie: s. o. zu S. 548, 1 1. — 21 Yorick mit
den Eseln: 1768 erschien in London eine Sammlung »Sermons to asses« von
John Murray, die in der deutschen Obersetzung von 1769 Sterne unter-
geschoben wurde und den Titel: »Yoricks Predigten an Esel« erhielt.
S.966,4 Cesare Baronio (1 538-1607): rom. Kardinal und Kirchenhisto-
riker, began n seine i>Annales ecclesiastich als junger Mann und vollendete
den letzen der 1 2 Foliobande erst in seinem Todesjahr.
S. 967, p Doppetspat: durchsich tiger Kalkspat, der a lie Gegenstande dop- .
pelt zeigt.
S. 968,3* Traum am dritten Osterfelertag: s.o. S.985,27fF.
S. 969,3/ die iweite Welt aufsteigt, und wenn: Dieses Stuck des Satzes
ist nur in der ersten Auflage enthalten, wahrend es in den folgenden ver-
sehentlich ausgefallen ist.
S. 970, 31 oft: Noch die zweite Auflage setzt verallgemeinernd »immer«.
Eine der zahlreichen Ausdrucksmilderungen der letzten Ausgabe. Vgl. o.
S. 606, 25 und die Anmerkung.
S.971, 31 Gullivers lettfe Reise: Im Land der Pferde war das Lugen un-
bekannt. - 33 Kubach: Gemeint ist »TagHches Bet-, BuB-, Lob- und Dank-
1298 ANMERKUNGEN
opfer, d.i. Grofles und vollkommenes Gebetbuch« von Michael Cubach,
das schon 161 6 in Leipzig erschien und mehrere Auflpgen erlebte. — 33
Schat{kdstlein: Titel von zahlreichen, religiosen Erbauungsschriften der
Zeit. — 33 collegia pietatis : So nannte Philipp Spener (s.o. zu S. 601, 21) in
Frankfurt seine gemeinsamen Andachtsstunden, die er erst in seinem Hause,
dann nach 171 2 auch in der Kirche abhielt und die bald an vielen Orten
Nachfolge fanden.
S. 972, z 0-973, 3 Besuch bei Agnola: Einschub der zweiten Auflage.
S. 974, 30 liquor probatorius (richtig: L. vini probatorius) : Hahnemann-
sche Weinprobe. Durch das einfache Auflosen von Weinsaure in Schwefel-
wasserstoff kann man die Verfalschung des Weines durch Bleisalz fest-
stellen*
S.975, 2 Moria: Auf diesem Berg fand nach dem A. T. dieOpferunglsaaks
durch Abraham statt. Vgl. i.Mose 22,2-14.
S. 976^,9 der beriihmte Graf von Briihl; der Gunstling und erste Minister
Augusts des Starken, den er ganzlich unter seinen verhangnisvollen Ein-
fluB zu bringen ver stand. »Leben und Charakter des Grafen von Briihk
wurden schon 1760-64, unmittelbar nach seinem Tode, von Justi dar-
gestellt.
S. 977, 1 4 Uriasbriefe : s. o. zu S. 5 1 8, 1 2.
S. 978,5 Freuden-Lymphe : Lympha heiBt urspr. »Gewebesaft«.
S. 979, i 5 Kurhut; Neun Kurfiirsten gab es nur von 1692 an (endg. 1708),
als Hannover mit der Kurwiirde bekleidet wurde, bis zum Aussterben der
bayr. Linie der Wittelsbacher 1777. Dann fielen durch die Erbfolge der
Heidelberger die getrennten Kurwiirden von Bayern (seit dem BeschluB
von 1623) und der Pfalz wieder in eine zusammen, und Hannover riickte
an die achte und letzte Stelle. - 24 investitura per pileum : Belehnung durch
den Hut, der nach germanischem Brauch bei der Lehensubergabe als Rechts-
symbol diente.
S. 980, 24 Fettmannchen: geringe kolnische Scheidemiinze. » 3&f. Ge-
richthalter y Musikmeister und Lebensbeschreiber : Das sind J.P.s Berufe in
der »Unsichtbaren Loge«.
S. 98 1 , 33 Phalanen : Nachtfalter.
8.985,^5 Lieder: Das richtige Verstandnis ist hier erschwert, da J.P.
fiir Lieder und Augenlider gleichmaBig »Lieder« schreibt. Vgl. jedoch o.
S. 968,32.
S. 987, 2 Konduktor: Leiter an einer Elektrisiermaschine. — 3 holier-
schemel: Isolatorium, s.o. zu S.99,21. - ly Nur meinen Vater usw.: Der
Sinn dieser Stelle, die offenbar dialektisch gefarbt ist, muB lauten : »Wenn
es nur meinen Vater nicht erschlagt!« Die ersten beiden Auflagen schreiben
dafur »nichts«, was wohl im Sinne der Redensart: »es verschlagt nichts« noch
zu verstehen, aber schwer mit dem Zusammenhang zu vereinen ist. -
19 JValdhammer: s. o. zu S. 69, 19.
S.989, 5 Herrenschmidts osculologia: Jak. Herrenschmidt gab 1630 ein
ANMERKUNGEN 1 299
dickleibiges Werk : »OscuIologia theologo-philologica usw«. heraus, das J. P.
vermutlich durch seinen Titel aufgefallen war, unter dem er sich jedoch zu
unrecht ein »Lehrbuch des Kiissens« versprach. So schreibt er an Wernlein
(Brief vom 20. April 1791): »Konnen Sie nicht Herrenschmidts osculologie
fur mich erstehen, weil ich ihn haben muB, um nur, wenn mich einer fragt :
was ist ein KuB, mit einer Nominaldefinition und einigen literarischen
Notizen bei der Hand zu sein. Hier will mirs kein Teufel definieren.« -
19 Frauinlob: Der Minnesanger Heinrich von MeiBen, gen. Frauenlob,
wurde 1 3 1 8 von acht edlen Frauen - nach dem Bericht Albrechts von Strafi-
burg — zu Grabe getragen, weil er den Frauen in seinen Liedern so groBes
Lob erteilt hatte. — 21 Verfasser des deutscken Alcibiades: Gemeint ist Karl
Gottlob Cramer (1758-1817), Verfasser von vielbandigen Ritter- und
Rauberromanen, der in Deutschland lange Jahre ein Modeautor war. Er be-
gann mit noch stark aufklarerischen Romanen, zu denen audi »Der deutsche
Alcibiades« (1790^) und »Hermann von Nordenschild« (1791 f.) gehoren. -
34 f. nach der Bergsprache: Bergleute von der Feder werden beim Bergbau
die Leute in der Schreibstube genannt, von Leder und von Feuer die Gru-
benarbeiter und die Hammerschmiede usw.
S. 990, iz Kot^ebue: s.o. zu 8.143,30. — 13 Poetenwinkel in Jena: Der
Ausfall auf die Jenaer Romantiker (den Kreis um die Gebriider Schlegel)
und die Note unten traten erst in der letzten Auflage an die Stelle einer noch-
maligen Nennung Cramers. - 34 Lucinde: Friedrich Schlegels frivoler und
halb programmatischer Roman von 1799. — 34 Herders Feinde: Herder
war in dieser Zeit mit den Kantianern und der romantischen Schule in Jena
und der dortigen »Literaturzeitung« in einem heftigen Kampf begriffen,
an dem sich audi der Dichter auf Herders Seite beteiligte.
S.992,j/ Youngin: (von den Gedanken Edward Youngs beeinflufite)
Schwarmerin.
S.993,zjtff- Prospekte und Florhut: Diese Szene ist schon bei Fielding
vorgebildet. Im »Tom Jones« (io.Buch, 7,Kap.) findet Blifil beim Helden
den Hut der Sophie Western und bringt damit Tom Jones in den gleichen
Verdacht.
S. 994, 1 9 wie Ritter Mhhaelis: Joh. David Michaelis (1717-9 1), Theologe
und Orientalist von europaischem Ruf, veroffentlichte 1762 in Frankfurt
a. Main »Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Manner, die auf Befehl S.M.
des Konigs von Dahemark nach dem Orient reisten«. - 3^~995> s Raub des
Schattenrisses ; Einschub der zweiten Auflage. Vgl. o.S. 541,20^.
S.995,^ Avisfregatte: Schnellboot zur Obersendung wichtiger Nach-
richten.
S. 996, 2 sokratischer Genius: Sokrates erzahlt bekanntlich in Platos
»ApoIogie« von dem Genius in seiner Brust, der ihm nie zustimmenden Rat
erteilte, ihn aber stets vor einem falschen Verhalten zu warnen pflegte.
S. iooo t 1 3 Maler: vgl. o. S.536,2off. Auch diese Stelle (bis Zeile 23)
ist in der zweiten Auflage eingefiigt worden.
1 3OO ANMERKUNGEN
S. 1 00 1, 32 Raguel: Im apokryphen Buch Tobit des A.T. schaiifelt
Raguel urn Mitternacht ein Grab fiir Tobias, der als achter Freier urn seine
Tochter Sara geworben hat. Alle anderen hatte der bose Geist Asmodeus
in der Hochzeitsnacht getotet. Da Tobias am Leben bleibt, schiittet er das
Grab am Morgen frohlich wieder zu. Vgl. Tobias 8,9-17.
S. 1 002, 1 6 Pkilippi-Jakobi : 1 . Juni.
S. 1005,/ 5 teurer: DieDrucke setzen ubereinstimmend »treuer«, was stark
gegen den Sinn der Stelle verstoBt.
S. 1006, *o Korpuskularphilosophie: Lehre von den Urkorpern. Danach
ist die Seele schon im Diesseits von unsichtbaren Korperteilen umgeben,
die den Urstoffzu einem atherischen Korper im Jenseits bilden. - 13 Zas-
pel: ein groBes GarnmaB von je 20 Strangen, - 13 weifen; haspeln, auf-
wickeln.
S.i 008, 12 Bestia-Spiel; Spiel mit hohem Einsatz. (Bete nennt man im
Kartenspiel den Strafsatz oder den Einsatz). - 31 Versohntag: Eigentlich
umgekehrt: »der groBe Versohntag des 4ten Mai.« vgl. o. zu S. 186, 10.
S. 1009, 3ff* Schnepfenthaler Er^iehanstalt usw. ; Bisauf das oscheerauische
Marianum«, das der ^Unsichtbaren Loge« entstammt, bedeutende Erziehungs-
institute der Zeit. Besonders die Schnepfenthaler Anstalt in Thiaringen, 1784
von Christian Gotth. Salzmann gegriindet, stand in hohem Ansehen. -
33 *'"".* eine der von Sterne beeinfluBten, scherzhaft genauen Winkel-
ahgaben.
S. 1010, 3 milder; Textkonjektur von Josef Mliller fiir das in den Druk-
ken stehende »wilder«. — 20 Septleva (richtig sept-et-le-va) : die siebenfache
Verstarkung des Spieleinsatzes und der entsprechende Gewinn.
S. 101 1, 4 Schnarrkorpusregister (auch Schnarrwerk genannt) : die Pfeifen
und Metallzungen an der Orgel, die einen schnarrenden Ton erzeugen. -
10 Wurstschlitten: s.o. zu S. 730, 24.
S. ioiz y i4 FUmet; Wohlgeruch bei Speisen. - 29 Centos- und Pluvios-
Tag; Wind- und Regentag.
S. 1014,4 sympathetische Kuren: Diese sind auf die geheimnisvolle
Wechselwirkung zwischen der Seele oder Organen des menschlichen K6r-
pers mit Dingen der Umwelt abgestimmt. Durch das Sprechen wiarde
dabei der Rapport unterbrochen.
S. 1015,^5 Brumaire: Nebelmonat (22.Okt.-20.Nov.), der zweite im
Revolutionskalender. - %5 Floreal: Blutenmonat (20.Apr.-19.Mai).
S. 1 01 6, zy Antoninen und Sulla: Unter den Friedenskaisern Antoninus
Pius und Marc Aurel, der von ihm adoptiert war (138—180 n. Chr.), stand
Rom in seiner hochsten Bkite, unter Sullas Diktatur herrschten Willkiir
und Gewalt, doch hatte Sulla wenigstens nominell die Herrschaft des Senates
und der republikanischen Ordnung wiederhergestellt. - 36 Lause Sullas:
Nach einer im Altertum verbreiteten Sage soil Sulla an Lausen gestorben
sein.
S. 1017,36" Karl Ferd. Hommel (1722-81): verdienstlicher Rechts-
ANMERKUNGEN 13OI
gelehrter. J.P.s Zitatangabe ist ungenau. Er meint die »Rhapsodia quae-
stionum in foro quotidie obvenientium usw.«, die, 1765 erschienen, ihren
Verfasser lange in Ansehn erhielt.
S. 1018, 8f. z'l.Oktober und 4, August: Die Anspielung auf den n.Ok-
tober (des Jahres 1788?) vermag ich nicht zu erklaren, am 4. August 1789
hob die franz. Nationalversammlung alle Feudalrechte auf. -to David:
vgl. i.Chron. 28, nff. - 30 Fiat justitia usw.: Es geschehe Recht, auch
wenn die Welt dariiber zugrunde geht! Devise Kaiser Ferdinands L von
Habsburg.
S. 1 01 9, 2Cf Januarius in Pu^olo: Berend vermutet in dem verklausu-
lierten Bonmot eine Anspielung auf die Zerstorung der Nase durch die
Lustseuche. - 31 kleir\en 6foacAen;Vor>>kleinen<<muBnotwendig>>einzelnen<(
erganzt werden, da ohne diesen Zusatz die Antithese nicht zur Geltung
kommt. - 37 Labats Reisen: Die Stellenangabe der Anmerkung bezieht
sich auf den 5.Teil der »Voyages en Espagne etltalie« (8Bde) des franz.
Missionars und Reisenden Jean Baptist Labat (1663-1738), die 1758-62 in
der deutschen Obersetzung von Trblsche erschienen waren.
S. \02O,iff. narrischer Gedanke: Diese Szene - ob dabei ein Wunsch-
traum des Dichters zugrunde liegt, wie es Berend sehr wahrscheinlich
macht, bleibe dahingestellt - dient ganz konkret der Vorbereitung auf die
Entdeckung J.P.s als funfter Fiirstensohn, an welcher Stelle (s.u. S. 1228,
30 ff.) der Gedanke spielerisch wieder aufgenommen wird. - // Knas:
russ. Fiirstentitel.
S. 1021, 3 infulieren: (mit dem Bischofshut) bekronen. - 4 Doktor Lud-
wig: wohl Christian Gottlob Ludwig (1709-73), dessen »Institutionen« der
verschiedenen medizinischen Diszip linen lange als Lehrbiicher dienten. -
5 Tissot von den Nerven: Der unvollendete »Traite des nerfs et des leurs
maladies« des beriihmten Schweizer.Arztes Simon- Andre Tissot (1728-97)
ist gemeint, der 1781/82 in deutscher Obersetzung erschien und von J. P.
exzerpiert wurde.
S. 1022, 1 Sf. dionysische und konstantinopolitanische Periods: Die erste
wurde um 525 n. Chr. von dem rom. Abt Dionysius eingefiihrt und setzt
als An fang der Epoche die Geburt Chris ti, die zweite taucht, unbekannten
Ursprungs, zuerst im 7. Jahrh. auf und gibt als Periodenbeginn das Jahr 5509
v. Chr. an. — 22 Paulus: vgl. 2.Kor. 12, 2f.
S. 1023, j ; capitulatio perpetua: ewig gtiltiges Abkommen. So wurde
der Wahlvertrag des Westfalischen Friedens genannt, da er unauflosliche
Geltung besitzen sollte.
S. 1024, 8 Sansculotide: So nannte man im Revolutionskalender Fest-
tage, die auf die Schalttage der einzelnen Monate fie ten. - 1 1 Robert Bett-
armin (1 542-1621): jesuitischer Theologe, seit 1599 Kardinal, entschiede-
ner Vorkampfer fur die Autoritat des Papstes gegen die Haretiker und die
Reformation. Sein Hauptwerk, die »Disputationes de controversiis chri-
stianae fidei adversus hujus temporis haereticosfl, erschien 1581-92 in Ingol-
1302 ANMERKUNGEN
stadt. - 7 6" Job. Jak. Moser (1701-85): wiirttemb. Staatsrechtler und Pa-
triot. Er wurde 1759 durch den Herzog fiir sechs Jahre auf dem Hohentwiel
in demutigender Weise gefangengesetzt und schrieb dort mit der Spitze
seiner Lichtputze Abhandlungen, Aufsatze und zahlreicHe Kirchenlieder.
Seine Leidenszeit hat er in der »Lebensgeschichte J. J.Mosers, von ihm selbst
beschrieben« (3 Bde. 3.Aufl. 1777) dargestellt. - 1 7 Despotismus ; Das
Gleichnis stammt von Montesquieu, s.o. zu S.354,25.
S. 1025,2 jene vier Punkte: der Doppelpunkt und die beiden Gedanken-
punkte am Ende des vorigen Absatzes.
S. 1026, 27 frere terrible: »SchreckIicher Bruder« wird in den Freimaurer-
Iogen der Bruder genannt, der die Adepten durch Schrecknisse zu priifen
hat. — 28 unsichtbare Mutter -Loge: s. die Anm. zum Titel dieses Romans.
S. 1027, 3 Paphos: eine der Aphrodite heilige Stadt auf Zypern. Dort
befand sich ihr Haupttempel mit einem beruhmten Hain. - 4 wie Lud-
wigXI.: KonigLudwig XI. vonFrankreich weihte 1478 auf einerPilgerfahrt
zur Notre-Dame de Boulogne Stadt und Grafschaft der Maria. - 7 der alte
Lipsius; Just Lipsius (1547— 1606), der als alter Mann wieder katholisch
wurde, gab zwei Werke iiber die Wundertaten der Notre-Dame von Hal
heraus. Im ersten »De diva virgine Hallensi liber, quo beneficia eius et
miracula fide atque ordine descripta« (Antwerpen 1604) teilte er eine Weih-
inschrift mit, mit der er dem Gnadenbild eine silberne Feder geweiht habe
zum Dank fiir den Schutz bei seinen literarischen Arbeiten. - 22 Schatull-
gut; ein Gut, dessen Ertrage der konigl. Schatulle zufallen. - 28 patrimo-
nium Petri: Erbvermogen Petri, der Kirchenstaat. - 36 Hesperiden-Apfel:
Nach der griechischen Sage bewachen die Hesperiden in einem Garten
jenseits des Weltmeeres die goldenen Apfel des Lebens.
S. 1028,7 Schupflehen: werden auf Lebenszeit verliehen, so daG man die
Erben nach dem Tod des Erblassers wieder »schupfen«, d.i. vertreiben
kann. — 13 Rittersprung : Er gab nach altem Rechtsbrauch Anrecht auf
einen Besitz. Bei J. P. sehr haufig metaphorisch gebraucht. - 29 primus,
adquirens: erster Besitzanwarter. - 29 Kunkellehn: ein Lehen, das auf die
weibliche Linie iibergehen kann.
S. 1029, 22 Fruktidor: Truchtmonat (18. Aug.- 16. Sept.), der zwolfte im
franz. Revolutionskalender.
S. 1032, 20 libieren: ein Trankopfer bringen, vergiefien.
S. 1034, 28 Bilderblinde (oder -blende): Nische, in die ein Bild ein-
gelassen ist.
S. 1035, 29 Mauerkrone: s.o. zu S. 516,3. — 34 Lindenblatter : Die
Drucke setzen versehentlich »Lindenblattern«.
S. 1037,^7 Proprehandlung: Handlung mit eigenen Erzeugnissen.
S. 1038,6 Sekundawechsei: bereits einmal protestierter Wechsel. - 10
Talmudische Artikel: Im Talmud sind die Lehren und Vorschriften des
nachbiblischen Juden turns zusammengefaBt, doch besitzt der Talmud keine
kanonische Giiltigkeit.
ANMERKUNGEN 1 303
S. 1046,16 Voltaire: J. P. spielt auf den letzten Aufenthalt Voltaires in
Paris in seinem Todesjahr 1778 an. — 21 Quadruplik: eigtl. vierte Eingabe
der Verteidigung in einenvStrafprozeB. — zyGustav; vgl. das Ende der
»Unsichtbaren Loge«.
S. 1047,4 Tremulant; Beberegister an der Orgel, das alien Stimmen
einen zitternden Klang unterlegt.
S. 1048,5 Zwieselwagen: einfacher, unbequemer Bauernkarren.
S. 1050, 5 mandata... propria: eigene Erlasse der heiligen kaiserlichen
Majestat. - 24 Voliere: Vogelhaus, Taubenschlag. - 28 Wildau: Aus
Sigauds »Dictionnaire des merveilles de la nature* hatte sich J. P. notiert:
»Wildau HeB Bienen an seinem Arm einen Muff bilden, am Gesicht eine
Larve - muBten auf seinen Befehl auf dem Tisch hin- und hergehn -
machte es mit jeder Biene, Wespe, Fliege so und in funf Minuten zahm.«
S. 1051,6* Tournure: Einkleidung. — 11 physiognomiscke Fragmente: s.o.
zu S.98, 1. - 18 Mosisdecke: s.o. zu S. 226,26. - 32 Pupillenkolleg: Ober-
vormundschaftsgericht.
S. 1056, 4 alter Traum: s. o. S. 766, 3 1 ff. — 2 z der Traum: s.o. S. 986, 9 f.
S. 1062, 20 Karnation: in der Malerei der Farbauftrag bei Fleisch- und
Gesichtspartien.
S. 1063, 3 nahere Weifie: J. P. spielt auf die Franzosenkriege der Zeit
an. - $ Kiblah: das Ziel. Die Mohammedaner blicken beim Gebet nach dem
Ziel ihres religiosen Lebens, nach Mekka. - 1 1 Seifersdorfer Tal: ein be-
liebter Ausflugsort in der Umgebung von Dresden.
S. 1065,26* Chrysalide: goldfarbige Schmetterlingspuppe.
S. 1070, 3 2- 1 07 1, 30 Streit uber das Vergeben: Einschub der zweiten Auf-
lage.
S. 1072,2* Maestoso: J. P. hat hier wohl, wie auch sonst mehrfach,
»maestoso« (feierlich) mit »mesto« (traurig) verwechselt.
S. 1076,20 heimgegangen: die gewohnliche Inschrift auf Grabsteinen in
den Herrnhutischen Friedhofen. ^
S. loSOjictff. Giulias Brief; So erhalt Siegwart, der Held in Joh. Martin
Millers gleichnamigen Roman (s.o. zu S. 635, 13), von einem Madchen
Sophie nach ihrem Tode ihr Tagebuch zugestellt, das die Geschichte ihrer
vergeblichen Liebe zu ihm und ihres tod lichen Leidens enthalt.
S. 1083,3 Kissen mit Heu: Um den Toten die Erde leicht zu machen,
pflegt man in manchen Gegenden Deutschlands ihnen Kissen aus Heu in
den Sarg zu legen oder den Sarg mit Heu zu bedecken. - 6 Lilie: s.o. zu
S. 58,27. — 31 Das Grab ist tief und stille usw.: Das Gedicht von Joh.
Gaudenz von Salis-Seewis (1762-1834) mit der Oberschrift: »Das Grab*
ist der bekannten Sammlung seiner »Gedichte« entnommen, die Joh. Mat-
thisson 1793 herausgab.
S. 1095,22 Dikasteriant; Schdffenrichter, auch Anwalt bei einem
Schoffengericht.
§.io<)6y29 Hysteron-Proteron; »Hinterst-zuvorderst« (Goethe), eine
I3O4 ANMERKUNGEN
grammatische Figur, der-die Verkehrung der richtigen Reihenfofge im
gedanklichen Ausdnick zugrunde iiegt.
S.i 097, 3 Haberrohr; seit dem i7.Jahrh» eingebiirgerter Name fur die
Schalmei. - 7 Mallei: J oh. Nep. Malzels (1772-1838) groBes Panharmoni-
kon, mit dem der Wiener Mechaniker zuerst seinen Ruf begriindete, war
1792 zum erstenmal gezeigt worden. - 8 Potemkins Orehester: Gregoire-
Alexandrowitsch, Fiirst Potemkin (1739-91), der beruhmte russ. Staats-
mann und langjahrige Favorit der Kaiserin Katharina, war fiir den Glanz
seiner Hofhaltung und die Extravaganz seiner Neigungen beruhmt. Beide
wurden 1793 in einem anonymen Buch tiber das »PrivatIeben des Fiirsten
Potemkin« ausfiihrlich dargestellt — 20 Epkorus Emerepes: Emerepes, ein
sparjanischer Ephor und ein Freund der alten Gepflogenheiten, soil die zwei
Saiten zerschnitten haben, mit denen der Sanger Phrynis die Leier zu ver-
vollkommnen suchte. Die Erzahlung ist Montaignes »Essays« (I, 22) ent-
nommen.
S. 1098,/ 7 Marianne Ehrmann, geb. Brentano (1755-96): Verfasserin
zahlreicher moralischer Romane und Erzahlungen. Sie hatte wirklich 1789
den StraBburger Privatgelehrten Ehrmann geehelicht, der sie in einer
StraBburger Zeitung rezensiert hatte.
S. 1099, 5 Epiphanius (gest. 403) : Metropolit von Konstantia und Freund
des Hieronymus. Er zahlt in seinem »Panarion« (Arzneikasten) achtzig
Arten der Ketzerei auf und Heilmittel gegen sie. - 5 Christian Wilh. Walch
(1726-84): Kirchenhistoriker, gab in seinem Hauptwerk, das 1762-85 un-
vollstandig in 1 1 Teilen erschien, einen »Entwurf einer vollstandigen Histo-
ric der Ketzereien, Spaltungen und Religionsstreitigkeiten bis auf die Zeiten
der Reformation*. — 9 Klinamen: Neigung. — 14 Monachismus: monchi-
scheji>weltabgewandte« Lebenseinstellung. - 1 5 Fohismus: die friihe buddhi-
stische Lehre des Fohi. Sie erkennt fiinf Umwandlungen in den Vorgangen
des Lebens, bei denen a lie Elemente ineinander ubergehen und sich wieder
aufheben. Aus dieser Kreisbewegung erwachst die ethische Forderung nach
einer gelassenen, verachtenden Gleichgiiltigkeit gegen das Leben. Alle
diese Begriffe besitzen fur J. P. keine historische Wertigkeit - sonst ware
eine Reihenfolge: Christentum - Stoizismus - Fohismus gar nicht mog-
lich -, sondern er verwendet sie fiir bestimmte gleichbleibende, philo-
sophische Haltungen und Lagen.
S. noOy 4 Bayie: s.o. zu S. 593,13. — 6 Miin^yvardein: Geldpriifer, der
Gewicht und Wert der Miinzen zu uberpriifen hat. - 27 Schneidertsche
Haut: eigtl. die Nasenschleimhaut, nach Konrad Viktor Schneider benannt,
der sie 1660 in seinem Werk: »de catarrhis« zuerst beschrieben hat. Hier ist
aber wohl eher an die Netzhaut des Auges zu denken.
S. 1 102. 28 Bonnet: s.o. zu S. 709,3 5. - 32 wie Kardan: Geronimo Car-
dano (1501—74), it. Philosoph und Naturwissenschaftler, gab 1546 und 1575
in zwei Teilen eine Autobiographic heraus: »de vita propria*, von der sich
J. P. sehr beeindruckt fiihlte. - 36 Hermann Samuel Reimarus (1 694-1 768) :
ANMERKUNGEN I3O5
Philosoph und Naturwissenschaftler mit vielsei tigs ten Neigungen. Er gab
1756 eine »Vernunftlehre als Anweisung zum richtigen Gehrauche der Ver-
nunft usw.« heraus, die 1790 bereits in funfter Auf lage gedruckt wurde.
S. 1105,2* 3j.Hundposttag; Das Kapitel ist fur die zweite AufJage
verandert und um zwei Szenen nicht unerheblich erweitert worden: einmal
ist das Gesprach Klotildens mit der Pfarrerin und Emanuels Brief (S. 1 1 14,3
bis 1118,13) eingeschoben, zum andern wurde die DuellarTare Flamins
durch den Besuch seines Vaters (8.1120,28-1123,25) vorbereitet. - 26 Pal-
myra: Die Ruinen von Palmyra, der unter der Herrschaft der Zenobia
bluhenden Handel sstadt in Syrien, waren schon im 18. Jahrh. durch das von
Wood und Dawson veroffentlichte Kupferstichwerk : »The ruins of Pal-
myra* (London 1753) sehr beruhmt.
S. 1 1 07, 5 Dominikaner Car done; Vincente Cardone, der um die Wende
des 16. Jahrh. lebte, schrieb als junger Mann jenes Gedicht: »L'R sbandita« t
das 1 61 4 zuerst erschien und 161 8 zusammen mit dem »L'AIfabeto distrutto«
wieder aufgelegt wurde. - 20 dictum probans : Beweissatz.
S.i 108, 23 Orleans: Philipp, Herzog von Orleans (1674-1723), der als
Vormund Ludwigs XV. von 171 5 bis zu seiner Miindigkeit 1723 dieRegent-
schaft in Frankreich innehatte, war fur sein ausschweifendes, ziigel loses
Leben beruchtigt.
S. 1109,2,9 lectures upon heads: George Alexander Steevens (1710-84),
ein maBiger Schauspieler und Schrifts teller, trat 1764 in einer literarischen
Kontroverse mit dem parodistischen Ein-Mann-Stiick: »A lecture upon
heads* auf dem Haymarket hervor, das ihn in beiden Sparten zum gefeierten
Mann machte.
S. 1 in, 34 Klotilde: Die hi. Chlotildis regierte als Frau des ersten
Frankenkonigs Chlodwig I. uber das frankische Reich.
$.ni2. y zS Platner: in seinen »Phil. Aphorismen«, Leipzig 1776, S.401,
§ 1049.
S, m$> 7 erste Auf lage; s.o. zu S. 1105,21. - 26 spiritus asper: Das
griechische Anlautzeichen bei nicht gehauchten Vokalen hat die Gestalt
eines nach links geoffneten Kreises.
S. 1 1 19, i Kant: vgl. »Kritik der prakt. Vernunft«, 1. T., 1. Buch, 3. Haupt-
stiick.
S. 1 1 22, 24 die junfte Bitte: s. o. zu S. 489, 1 5.
S. 1123,26" Viktor horte usw>: Auch diese Wiederholung (vgl.
S.i 117,35 ff.) * st durch die erwahnten Umstellungen und Erweiterungen
des Kapitels bedingt.
S.1128,2/ Moriti; Karl Philipp Moritz im »Magazin der Erfahrungs-
seelenkunde« (ersch. 1783-93). Der zitierte Aufsatz: »Eine fiirchterliche
Art von Ahndungsvermogen« erzahlt von Menschen, die andern den Tod
am Gesicht ablesen konnen. - 28 Tod! Ich bin schon begraben; s. o. S. 1088, 28.
S. 1 144, 27 Schlafe; Plural zu der alten Form: »Schlaf«.
S. 1145,^^ Traum: Dieser Traum Emanuels wurde von J.P. am
1 306 ANMERKUNGEN
Todestag von K.Ph.Moritz (Brief vom 26.Juni 1793) gedichtet, der fur die
Gestalt Emanuels als Vorbild diente. So schreibt der Dichter am i2.Aug.
1795 an Moritz* Bruder: »Nie hat der Zufall Spiele der Phantasie bitterer
realisieret als die im ,Hesperus' durch den Tod Ihres geliebten Verwandten.
Denn uber ein Jahr vorher war schon der Plan und also Emanuels Sterben
entworfen, das ich beinahe meistens schrieb, daft er es lese. Noch mehr,
den Vernichtungstraum im 38.Kapitel, den ich spater einfiigte, machte ich
gerade an seinem Todesmorgen.« Vgl. o. S.i 232,160*. Das widerspricht
auch durchaus nicht der Angabe des »Vaterblattes«, wonach Emanuels Tod
im Februar 1793 »voraus gemacht« wurde, denn das in sich selbstandige
Stuck war leicht und ohne grofie Modiflkationen in den fertigen Teil ein-
zufiigen.
S. 1 1 52, 1 j Devalvation: Abwertung.
S. 1 1 53, 5 Nebelstern: ein von einem kreisenden Schimmer umgebener
Fixstern.
S. 1 1 60, 3 Sagen meiner biograpkiscken Vor\eit: Anspielung auf Veit
Webers schon o. zu S. 143,31 erwahnte Sammlung: »Sagen der Vorzeit«
(1787—98). — 6 Banal-Chiffren: unaufgeschliisselte Zeichen einer Geheim-
schrift. — 7 unbe^ifferter Generalbafl: Die Grundstimme im musik. Satz, des-
sen harmonisches und korhpositorisches Gefiige noch nicht durch Zahlen
angegeben ist. — 8 hebraische Konsonanten: Das Hebraische deutet die
Vokale in der Schrift nur durch Punkte oder Striche unter den Konsonan-
tenzeichen an.
S. ii6i,zo gradus ad Parnassum (Stufen zum Parnafl).* So wurden lat.
oder griech. Worterbiicher genannt, die den Worten Synonyma, passende
Beiworter und metrische Bezeichnungen beigaben, zum Gebrauch bei pros-
odischen und poetischen Cbungen. Der erste »Gradus ad P.« wurde 1702
von Paul Aler in Koln ediert. - 1 3 er: bezieht sich auf Matz. Der Zwischen-
satz, der den Zusammenhang unterbricht, ist mit der Stelle S. 1160,34 bis
1 161,4 erst em Zusatz der zweiten Auflage. - 20 Dreikndpfler ; Le Baut war
als Kammerherr berechtigt, drei Knopfe an seinem Staatskleid zu tragen.
S. 1 162, 30 Schiefigeld und Meflgeschenk: Das Schiefigeld bekommt ein
Jager fur das von ihm geschossene Wild, MeBgeschenke werden fiir gute
Abschliisse auf den Handelsmessen ausgegeben. -3S Pre^ist; Bittsteller,
Pfriindner.
S. 1163,25 Drachen-Pechkugeln: Daniel gibt im A.T. dem babyloni-
schen Drachen »>Pechkuchlein« zu fressen, an denen das Ungeheuer zu-
grunde geht. Vgl. die apokryphen Zusatze zum Buch Daniel (Dan. 14, 23
bis 27).
S. 1 164, 23 Joh. Matth. Beckstein (1757-1 822) : Naturforscher urid Forst-
mann, untersuchte zuerst systematisch die Tiere nach ihrer Nutzlichkeit.
Aus seiner »Naturgeschichte Deutschlands« (1789-95) hat sich J.P. viel
exzerpiert.
■ S. 1 165, 3 Beinschwari: tiefschwarze Farbe aus gebrannten und zer-
ANMERKUNGEN 1 307
riebenen Knochen, - 4 peccata splendida: J. P. iibersetzt den von Augu-
stin gepragten, theol. Begriff meist wortlich mit »glanzende Siinden«. Augu-
stin bezeichnet so die Verdienste und Tugenden der Heiden.
S. ii 66, 14 hohern Antrieb: Die folgende Szene bildete in der urspriing-
lichen Konzeption einen der Brennpunkte des Planes. Erst wahrend der
Arbeit am Roman riickte die politische Thematik in den Hintergrund.
S. 1167,20 Filial: Nebenkirche. - 21 Sodalen: geistliche Zunftgenossen.
26 Tyrier: Die Statue des tyrischen Herakles oder Melkarth - er ist mit
dem Herakles, den wir aus der griech. Mythologie kennen, nicht identisch -
war a Is Symbol der gehemmten Sonnenkraft an die Tempelwand gefesselt.
Nur an wenigen Festtagen wurden dem Melkarth die Bande abgenommen.
S. 1169,** dekollieren: kopfen.
S. 1 171, 1 y Neunundneun^iger : Schimpmame der Apotheker, well sie -
nach Grimm - angeblich immer 99 % nehmen. - 26 Simson: vgl. Richt. 16,
28 ff.
S. 1172,29 Hiatus des dritten Kapitels: Wirklich hatte die hier an-
gehangte Episode zusammen mit der Fabel urspr. im 3.Hundposttag ge-
standen. Christian Otto hatte sie dort als storend empfunden, so dafl J. P.
sie hier etwas unmotiviert nachtragt.
S. 1 173, 1 5 Diopterlineal: Zielspaltenscheit, ein Lineal, auf dem zwei mit
Sehschlitzen versehene Metallplatten befestigt sind. - 36 Vikariatkonklu-
sum: Entscheidung des bischofl. Obergerichtes.
S. 1174,5 gleich dem Teufel: vgl. Apok. 12, 12. - 1 2 berlinischer Kalen-
der: Der »Almanach de Berlin* zeigte zu jedem Monat die entsprechenden
Landarbeiten an.
S. 1 179,* 3 Mor gemote: Ahnlich wiinscht sich Justel als Braut des Schul-
meisterlein Wutz in die Lander hinter dem Abendrot zu gehen. Vgl. o.
S.445,41*.
S.i 181,1 2 andeter gebuckter Mann: Berend vermutet hier eine Apo-
strophe an Friedrich v. Meyern (1762-1829), den Verfasser des indischen
Romans: »Dya-Na-Sore oder Die Wanderer* (3 Bde. 1787), an dessen
Handlungsschema sich J. P. im »Hesperus« mehrfach anlehnt. Eine solche
Apostrophierung war zumindest nach den Vorarbeiten geplant.
S. 1 1 82, 34 eine Stunde vor meinem Tode: vgl. o. S.420, i2rT.
S. 1 184, 2 Paraklet: Beistand, Troster. - 4 Retraitescku.fi: Abberufungs-
schuC, mit dem die Soldaten zum Riickzug befohlen werden. - 28 Luku-
. Brieren: das Nachtarbeiten.
S.i 1 86, 2 5 Buo~Upa$-Baum (antiaris toxicaria): ein sagenumwobener
Baum der malaiischen Inselwelt, der einen gefahrlichen Milchsaft enthalt. -
30 die Stimme: s.o. S.948,3off.
S. 1 1 87, 36 Latare-Sonntfag: Am vierten Fastensonntag, der als Fruhlings-
beginn gilt, wird in alien ostlichen Teilen Deutschlands der »Tod ausge-
tragen«. Dabei wird etne Strohpuppe, die die verderbliche Kraft des
Winters mit sich nehmen soil, aus dem Dorf geschleppt und verbrannt
1 308 ANMERKUNGEN
S. 1189,-24 Passauer Kunst: So heifit seit dem 30Jahrigen Krieg
das »Festmachen« des Korpers gegen Verwundungen durch Blei und
Eisen, weil diese Kunst ein Passauer Scharfrichter zuerst gefunden haben
soil.
S. 1190,-24 Cdndus: Dieser Riese wurde von den Zentauren seiner Un-
verwundbarkeit wegen unter einem Berg von Felsen und Baumstammen
lebend begraben. - 34 Rousseau: in dem Brief gegen den Selbstmord in der
»Neuen Heloise« (III, 22), den J. P. iibersetzt hatte. - 36 Orph. Arg. : die
sog. »Orphischen Argonauten«, eine spatantike Version des bekannten
Sagenstoffes.
S. 1193,5 Nicolas Boileau Despr6aux (1636-1711): fur mehr als ein
Jahrhundert der Gesetzgeber der franz. Poesie, mufite sich schon bei
Lebzeiten wegen seiner gesuchten Ausdrucksweise und seiner Langsamkeit
im Arbeiten viel Spot* gefallen lassen. - zy Ankerstrome : Gemeint ist
J.J.Anckarstrom (1762-92), ein schwed. Offizier, der am 16. Marz 1792
Konig Gustav III. ermordete.
S. 1 1 94, 35 Boguer: s.o. zu S. 801,6. Die Anmerkung ist ein Zusatz der
zweiten Auflage.
S. 1195,4 Wet^larer Prokurator: Anwalt am W. Kammergericht.
S. 1 197, 30 Montaigne: s.o. zu S. 154,9-
S. 1 198, 32 concepit (»er hat es verfafit«) : nach dem Namenszug stehendes
Signum zurri Beweis der Verfasserschaft.
S. 1200, 5 Oemler s Pastoraltheologie : s.o. zu S. 138,7. - 1 4 Gir tanner :
J. P. spielt auf die reakrfenareri und oft falschenden »Historischen Nach-
richten und politischen Betrachtungen iiber die franz. Revolutions an, die
Chr. Girtanner 1791 ff. erscheinen lieJ3. - zy elserne Birn: eine Art Knebel,
macht in der Folter den Opfern ein lautes Schreien unmoglich. - 30 Jubel-
jahrtiir: die sog. »porta santa«, ein vermauerter Seiteneingang zur Peters-
kirche, der nur alle 25 Jahre zum Jubeljahr vom Papst eigenhandig geoffnet
wird. - 34ff. An demselben Tage usw. : Auch hier schiebt die zweite Auflage
noch einmal Tostato ein. In der ersten heifit der ganze Absatz nur: t> Viktor
bekannte sich ruhig und gern zum Verfasser des Hirten- und Schaferbriefes
in der Uhr.«
S. 1202,7 Francois M. Le Tellier, Marquis de Louvois (1641-91): der
allmachtige Kriegsminister Ludwigs XIV. Er gab der spateren Politik des
Konigs das Geprage hochster Riicksichtslosigkeit und war in Deutschland
durch die von ihm befurwortete Zerstorung der Pfalz besonders verhaBt.
Der Ausgang dieses Pfalzischen Erbfolgekrieges hatte ihn schwer in seiner
Stellung am Hof erschuttert. — / Tessln: Gemeint ist Karl Gustav Tessin
(169 5-1 770), der Giinstling Adolf Friedrichs von Schweden und lang-
jahrige Botschafter in Paris. Er fiel 1752 in Ungnade und zog sich vom Hof
zuriick. - Sf. Treff- und Spiefifolgedank: Der Treffdank ist eine Pramie fur
mutige und erfolgreiche Soldner, der Spiefifolgedank wird den Soldnem
als Belohnung fur einen gegliickten Feldzug gegeben.
ANMERKUNGEN ^3°9
S.i 207, 3 3 souffre douleurs: »$chmerzensdulder« heiBt in Frankreich je-
mand, der zum Spielball des Spottes oder zum Siindenbock ftir die Bosheit.
seiner Umgebung geworden ist. - 34 Patropassianer : Ketzername fur jene
Bewegung der Monarchisten im 3.Jahrh., die streng an der Einheit der
Person Gottes festhielten und in Chrisms nur eine Erscheinungsform des
Vaterssahen. Darum warfen ihnen ihre Gegner vor, sie HeBen »Gottvater
selbst leiden«.
S. 121 1, 1 j dem Leser: vgl. o. S. 1 1 15, 18. Der Satz ist erst ein Zusatz der
zweiten Auflage.
S. 1214, 22 poste aux chiens; Hundepost, Analogiebildung zu )>poste aux
anes«.
S. 1 2 1 5 , 2 Amancebada (span.) : eigtl. »Konkubine«. J. P. denkt jedoch woh 1
allgemeiner an die Bedeutung: »Geliebte«. - 36 casa santa: s.o. zu S.425, 5.
S. 1216, 26 ff. Nachtrag %um Nacktrag: Erganzung der zweiten Auflage.
S. 1217, 10 vidimierte Kopie: beglaubigte Abschrift. - 20 4$.Kapitel:
Die laufende Bezeichnung als »Hundposttag« fehlt bewuBt, da ja der Hund
nicht mehr als Postbote in Erscheinung tritt. Auch dieses SchluBkapitel ist
an manchen kleineren Einzelziigen in der zweiten Auflage verandert worden,
die Hofer Episode (8.1221,31—1222,21) und der Rechenschaftsbericht des
Lords (S. 1226,30-1228, 10) wurden erweitert.
S. 1 21 8, 8 Doktor Fenk: eine der Hauptfiguren der ftUnsichtbaren Loge«. -
35 Ramberg: der vielbeschaftigte Zeichner Joh. Heinr. Ramberg, der mit
seinen zahllosen, routinierten und meist sehr fliichtigen Blattern durch
Jahrzehnte die deutschen Musenalmanache beherrschte. Sein Stern war
damals noch im Aufstieg begriffen.
S. 1219,22 die Zahl 99: s.o. zu S. 1171,17. - 31 Spit^bubeninseln: wohl
die sog. Ladronen, eine kleine Inselgruppe an der siidchin. Kiiste. — 31
Busching: s.o. zu S.92,14. - 31 Joh. Ernst Fabri (175 5-1825): Prof, fiir
Geographie in Erlangen, gab u.a. 1780—90 eine »Elementargeographie« in
vier Banden heraus, der er eine vom Dichter haufig benutzte »Geographie
fur alle Stande« folgen lieB.
S. 1 220, / 7 Zento (it. cento) : Flickwerk, auch Bezeichnung fur ein zu-
sammengestoppeltes Gedicht. - 2S die drei Kavitaten der Anatomie: Kopf-,
Brust- und Unterleibshohle.
S. 1222,/ 3 Kandidat: Er trug in der ersten Auflage denNamen: »J.P.
Friedrich Richter«, der spater getilgt wurde, als J.P.s wirklicher Name all-
gemein bekannt geworden war,
S.i 223, j Prinzenrauber: Anspielung auf den sachsischen Prinzenraub
von 1455.
S. 1 226, j Dosenstiick: Feine, medaillonartige Gemalde auf Schnupf-
tabakdosen waren damals sehr in Mode. Fiir ihre Herstellung war in
Deutschland besonders Stettin bekannt.
S. 1 227 , 3 petrographische Kane: Landkarte, auf der die Grenzen der
Gesteinsformationen eingetragen sind.
1 3 1 ANMERKUNGEN
S. 1228,7-2 Sturmvogel: »Der Sturm- oder Ungewittervogel wird von
den Einwohnern von Feroer p. wegen des vielen Fettes statt einer Lampe
gebraucht, indem sie bloB einen Docht durch den Korper ziehen und an-
brennem, notiert Berend zu dieser Stelle aus J. P.s Exzerpten. - 33 Gleich-
keitsystem: Anspielung auf den Versuch Ludwigs XIV., den Sohnen der
Maintenon die Ebenbiirtigkeit und damit die Rechtsanspriiche auf die
Thronfolge zu sichern.
S. 1229,7.2 Gdngelwagen: Laufgestell fur kleine Kinder.
S. 1230,2 Laudons-Stirn: Gideon Ernst Freiherr v. Laudon (1717-90),
der Sieger von Kunersdorf und Belgrad, osterr. Feldmarschall unter Maria
Theresia und Joseph II., war nach Berichten und Bildern im spateren Alter
haufig von Schwermut und Gewissenskampfen befallen, die seiner Stirn
ein dusteres, verschattetes Aussehen gaben.
S. 1 23 2, j Ballen ausgepacher Hundposttage : Erinnert an den Anfang des
sechsten Buches im »Tristram Shandy«, wo Sterne den Leser bittet, auf
den Ballen mit den Exemplaren der ersten fiinf Teile sich niederzulassen. -
1 GberiikmterSckriftsteller: K. Ph. Moritz, s. o. zuS. 1 1 45, 3 1 ff. — ig^weiEngel:
Amone Herold und Beate v. Spangenberg, zwei Jugendbekanntschaften
des Dichters. Das Fraulein von Spangenberg hatte schon fur das Portrat
Beatens in der »Unsichtbaren Loge« mehr als nur den Namen hergegeben, in
Amone hatte sich J. P. wahrend der Niederschrift des Romans sehr und
unglucklich verliebt.
S. 1233,^ Egerle: rom. Quellnymphe, die Frau und Ratgeberin des zwei-
ten rom. Konigs Numa Pompilius. - 27 Pseucto-Sebastiane : Nach dem Tod
des jungen portugiesischen Konigs Sebastian in der Schlacht von Alkazar
(1578) nutzten mehrere Betruger die Stimmung des Volkes aus, das an die
Wiederkehr des Monarchen glaubte, und spielten seine Rolle.
S. i234,zc> wie Lykurg: Lykurg nahm dem spartanischen Volk, ehe er
zum prakel nach Delphi ging, den Eid ab, nichts an seinen Gesetzen zu
andern, bis er wiederkehre. Da ihm das Orakel bestatigte, daB seine Ver-
fassung gut sei, entzog er sich die Speise und starb fern der Heimat. Noch
sterbend befahl er, seinen Leichnam zu verbrennen, damit die Spartaner von
ihrem Eid nicht entbunden werden konnten.
Nachtrag
S. ijy,28jff. Erstlich bin ich ^war einjahr hinter Gustavs Leben %u-
riick usw.: Die Stelle beriihrt sich eng mit ahnlichen Zeiterorterungen
bei Sterne, vgl. bes. Tristram Shandy IV,i3: »Ich bin diesen Monai ein
ganzes Jahr alter, als heute vor zwolf Monaten, und da ich, wie Sie sehen,
schon fast bis auf die Halfte meines vierten Bandes gelangt bin und noch
nicht weiter als bis auf den ersten Tag meines Lebens, so geht daraus
klar hervor, dafi ich schon jetzt dredhundertvierundsechzig Tage mehr zu
schreiben habe, als ich zuerst begann, so dafl ich, austatt wie ein gewohn-
licher Schriftsteller pflegt, in meinem Werke mit dem, was ich daran ge-
tan, weiterzukommen - vielmehr geradeso viele Bande zuruckgekommen
bin Lafi mkh schreiben, wie ich mag und wie ich will, nach Hora-
zens Rat mitten in meine Materie hineinfallen: ich werde mich niemals
einholen — trotz alles Treibens und Peitschens; wenn auch das Argste
zum Argen kommen sollte, habe ich doch immer einen Tag vor meiner
Feder voraus, und ein Tag ist genug fur zwei Bande, und zwei Bande
werden genug sein fur ein Jahr.«
S. 3°°>J i Febrikanten: svw. Fieberkranke. So verbessert das Druck-
fehlerverzeichnis der Erstausgabe. Die zweite Auf lage la fit versehentlich
»Fabrikanten« stehen, und dieser Fehler ist in alle spateren Ausgaben
ubernommen worden.
S. 442, 3 3 Valet defantatsie: Man wird diesen Ausdruck am treffend-
sten mit »kurzweiliger Rat« wiedergeben, obwohl ein genauer Quellen-
nachweis nicht moglich war. Es lie fie sich zunachst wohl auch an eine
Analogiebildung zu der in der barocken Gesellschaft und Literatur
iiblichen Bezeichnung: »berger de fantaisie« denken. Wenn ein »berger
de fantaisie« ein vornehmer Mann ist, der sich in die Rolle des Schafers
verkleidet, dann ware entsprechend ein »valet de fantaisie« jemand, der
sich als Diener verkleidet. (Es braucht nur an die Gepflogenheiten der
Verwechslungskomodien bis hin zu Marivaux erinnert zu werden.) Wahr-
scheinlicher aber ist es, dafi J. P. den Ausdruck wie andere, ahnlich ge-
baute Titel (grand escuyer tranchant) einem alteren franz. Werk iiber die
Hofordnung entnahm. Dann ware mit dem Ausdruck entweder der Mann
gemeint, der fur bestimmte Lustbarkeiten verantwortlich war, oder aber
eine Art Hofnarr. Beides schliefit der deutsche Ausdruck »kurzweiliger
Rat« in sich ein.
Nachwort
Jean Paul sah mit den Augen seines Luftschiffers Giannozzo Ab-
griinde und Himmelsstriche dieser Welt, wie sie damals noch nie-
mand gesehen hatte, und zu denen sich die Spateren langsam vor-
tasteten. Er sah sie, indem er nicht nur seine Phantasie auf die
Reise schickte, sondern jede ihm wahrnehmbare Einzelheit mit
der Bewegung und der Vibration der sich drehenden Erde ver-
sah. Aus hellwachen Traumen, uberwachen Erwartungen und
traumsicheren Wahrnehmungen baute Jean Paul seine Welt zwi-
schen den Polen des genau umzirkten Einzeldings, in einer Feld-
lerchen- und Grashalmperspektive, und des unermeB lichen Flugs
in die Licht- und Farbenfelder, in einer Zeitrechnung, in der sich
in einen Augenblick eine unabsehbare Zeitspanne drangt. Wie
kein anderer deutscher Schriftsteller hat Jean Paul seine eigene
Epoche hinter sich gelassen, einem Kometen gleich, der stets neu
gesichtet und neu entdeckt werden muB.
Die Romane Jean Pauls zeigen die Parabel vom Menschen,
der, mit seinen Passionen, Affekten und Vernunftgrunden
ausstaffiert, zwischen einer Umgebung der umgrenzten Gegen-
stande und einem Gegeniiber der unumgrenzten Raume sich be-
wegt. Wie verhalt er sich? Richtet er sich ein? Welche Halte-
punkte durchlauft er?
Die Sprache Jean Pauls ist so gut wie unentdeckt. Sie vermag
es, die heftigen Dissonanzen und die groBen, uberspannenden
Fliigelschlage in ihre Bildketten, Satze, signalisierenden Rhyth-
men und in ihre Gedankenfuhrung aufzunehmen.. Stefan George
hat Jean Paul als »die groBte dichterische Kraft der Deutschen«
bezeichnet, und Oskar Loerke schrieb von seinen Romanen, sie
seien »Troge fur ein Meer«.
1 3 14 NACHWORT
Die Formulierungen der Asthetik Jean Pauls haben von alien
asthetischen Versuchen in der deutschen Literatur am meisten die
Fesselung an die Zeit ihrer Entstehung gelost. Sie sind heute noch
verbindlich.
Wird das LeserbewuBtsein in Jean Paul endlich mehr entdek-
ken als den idyllischen und in der Gartenlaube schreibenden Vor-
fahren eines biedermeierlichen Lebensgefuhls, der er sicher auch
war? Jean Paul ist ein fast Unbekannter in der deutschen Litera-
tur. Wer sich ihm nahert, wer in seinen Bann gerat, zieht sein
Blickfeld weiter.
In den Band i dieser Ausgabe sind die beiden umfang-
reichen ersten Romane des Dichters: >Die unsichtbare Loge< und
>Hesperus< aufgenommen. In der >Unsichtbaren Loge<, seinem
bedeutenden und sehr zu unrecht von der Kritik vernachlassig-
ten Friihwerk, fand Jean Paul zur groBen Romanform und zu
seiner eigenen Handschrift. In diesem Werk erscheinen die Tra-
ditionen der aufklarerischen Satire, des empfindsamen Romans
und der gespenstischen Schauerromantik jener Zeit in einem
neuen eigenstandigen Stil aufgehoben und umgewandelt.
Im Anhang der >Unsichtbaren Loge< ist, wie in der Original-
ausgabe, Jean Pauls beriihmte Idylle >Das Leben des vergniig-
ten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal< abgedruckt, auf
die das neunzehnte Jahrhundert seine Wertschatzung Jean Pauls
aufbaute. Sie ist bis heute als das Meisterwerk dieser dkhteri-
schen Gattung anzusprechen, wenn auch als ein besonderes und
auBenseiterisches; Jean Paul nennt sie, mit all seiner astheti-
schen Vorsicht, »eine Art Idylle«.
Der > Hesperus <, der zweite groBe Roman, mit dem Jean Paul
der beliebteste deutsche Romancier seiner Epoche wurde, greift
die Thematik der >Unsichtbaren Loge< wieder auf. Im Wechselspiel
einer auBeren Handlung, die verwickelt und verflochten ist, und
einer inneren, die die seelische Bewegung der Helden in Liebe
und HaB, Eifersucht und Freundschaft nachzeichnet, fiihrt Jean
Paul an Abgriinde, an deren Randern seine Gestalten zwischen
Wachen und Traum, zwischen Leben und Tod dahintanzen. Die
auBere Handlung spielt in dem von einem Fiirsten regierten
NACHWORT 1315
Zwergstaat Flachsenfingen — sie zeigt Elemente der vielen kleinen,
geheimen Verschworungen in jener Zeit der GroBen Revolution — ,
gleichzeitig aber auch in rein idyllischer und in heroischer Um-
gebung: im Pfarrhause Eymanns in St.Lune und in dem para-
diesischen Ort Maienthal, dem Wohnsitz des indischen Erziehers
Emanuel, einer der groBen von Jean Paul erschaffenen Figuren,
sowie auf der >Insel der Vereinigung<, dem Refugium des Lord
Horion. In der inneren Handlung, fur die dieses Spiel aus Staats-
aktionen, Intrigen und Verwechslungen nur Vorwand und An-
laB ist, zeigt Jean Paul mit oft beklemmender Scharfsicht die ver-
borgenen Regungen des Herzens und die findigste Rabulistik des
Verstarides. Er fmdet im >Hesperus<, aufbauend auf den Erfah-
rungen der >Unsichtbaren Loge<, zu einer Ausdrucksfahigkeit,
die mit ihren Bildersturzen und mit ihren das BewuBtsein provo-
zierenden musikalischen Flugen Vorbilder fur surrealistische
Dichtung schuf.
Bevor Jean Paul im Fruhjahr 1791 als Achtundzwanzigjahriger
die >Unsichtbare Loge< zu schreiben begann, hatte er mannig-
fache Miihen, Ungliicksfalle und Erfahrungen durchzustehen,
die in den beiden ersten Romanen ihre Spuren hinterlieBen. Mit
einem Aufgebot von autodidaktischem FleiB, mit Zielglaubig-
keit und Selbstdisziplin versuchte er so lange die engen Verhalt-
nisse, in die er hineingeboren war, zu berennen, bis sich ihm gro-
Bere Bewegungsfreiheit eroffnete. Am 2i.Marz 1763 kam er in
Wunsiedel im Fichtelgebirge als erster Sohn des Tertius und Or-
ganisten Johann Christian Christoph Richter zur Welt. Die ab-
gelegene Gegend seiner Herkunft benutzte er als willkommene
Zufiucht seiner Phantasie und seiner literarischen Besonderheit;
er machte aus ihr ein Positivum, indem er sich durch sie gegen
abgeblaBtes Kolorit und weitergereichte Moden verwahren liefi:
»Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebaren und
erziehen, sondern wo moglich in einem Dorfe, hochstens in
einem Stadtchen«. In das Dorf Joditz bei Hof iibersiedelt die
Familie zwei Jahre spater; Jean Pauls Vater wird als Pfarrer dort-
hin berufen. 1776 ist der neue Wohnort Schwarzenbach a.d.
Saale, ebenfalls in der Nahe von Hof, Der fiinfzehnjahrige Jean
13 1 6 NACHWORT
Paul beginnt 1778 seine Exzerptenhefte zu fullen: mit den Zitaten
aus Uhmassen von gelesenen schongeistigen, wissenschaftlichen,
philosophischen, theologischen und halbwissenschaftlichen Wer-
ken. In den Jahren 1778 bis i78oentstehen alleinzehn Bande sol-
cher Art. In die Zeit von Februar 1779 bis Oktober 1780 fallt
der Beginn von Jean Pauls groBen Freundschaften : mit Lorenz
Adam von Oerthel, der als»vornehm zart, hektisch und empfind-
sam« charakterisiert wird, gleichaltrig mit Jean Paul, mit dem
»exzentrischen, kiihnen und unglucyich selbstherrlichen« Johann
Bernhard Hermann, zwei Jahre alter als Jean Paul, und dem ge-
wissenhaften, hilfsbereiten Georg Christian Otto, der, mit Jean
Paul im selben Alter, sein ganzes Leben hindurch der erste kri-
tische Begutachter seiner Werke geblieben ist. Diese Freund-
schaften schlieBt Jean Paul als Schiiler der Prima des Gymna-
siums zu Hof.
Im April 1779 stirbt Jean Pauls Vater; fur die Familie bedeutet
dies Einschrankung, schlieBlich Armut. Im Januar 1781 schreibt
der achtzehn jahrige Jean Paul fiir Lorenz Adam von Oerthel seinen
kleinen empfindsamen »Gymnasiastenroman« »Abelard und He-
loise«, hinter dem sich, unausgesprochen, das erste Liebes- und
Freundschaftsdrama des Dichters verbirgt. >Heloise< steht fur
Beate von Spangenberg von dem nahen SchloB Venzka, die
Freundin Oerthels. Jean Paul, der Einblick in den Briefwechsel
der beiden hatte, scheint sich selbst in Verliebtheit und in eine
mit Gewalt unterdriickte Eifersucht hineingesteigert zu haben,
was aus seinen privaten Aufzeichnungen hervorgeht. Jedenfalls
wurde die Gestalt Beates einer der auslosenden realen Schatten fur
»Beate« in der >Unsichtbaren Loge< und fiir »Klotilde« im >Hespe-
rus<, die beide zwischen zwei Freunden stehen. Beate von Spangen-
berg, die ein Jahr alter war als Jean Paul und Oerthel, verheiratete
sich in einer >Versorgungsehe< mit einem Amtmann SchafFer und
wohnte schlieBlich in der Nahe von Jena. Keine Frau scheint in
dem bewegten Leben Jean Pauls noch einmal einen so nachhal-
tigen Eindruck hinterlassen zu haben; sie ist »das vortreflichste
Frauenzimmer, das ich in meinem narrischen, bloB tockierten
Leben gesehen«. - Von Mai 1781 bis November 1784 studiert
NACHWORT 13 17
Jean Paul, in enger Freundschaft mit Oerthel, an der Universitat
Leipzig Theologie; einpragsam ist fur ihn nur der Philosoph
Platner mit seinen Shakespeare- Vorlesungen. Jean Paul liest und
exzerpiert, und beginnt im Stil seiner Zeit Satiren zu schreiben:
1782 »Lob der Dummheit«; 1783 erscheinen die »Gronlandisehen
Prozesse«, eine Satirensammlung in zweiTeilen, zu Berlin; ohne
Publikumserfolg. Er arbeitet an einer neuen Satirensammlung,
verlobt sich wahrend eines Ferienaufenthalts in Hof voriiber-
gehend mit Sophia Ellrodt, schreibt 1784 sein »Andachtsbuch-
lein«, und verlaBt schlieBlich im November 1784 fluchtartig und
unerkannt Leipzig, um sich seinen Glaubigern zu entziehen. In
Hof bewohnt er zusammen mit seiner Mutter eine Einzimmerwoh-
nung, drei Jahre hindurch, was ihm Stoff genug fur die Haus-
halts-Gerausch-Note in seinem spateren Roman >Siebenkas<
Hefert. In solcher Enge schreibt er 1786 ohne viel Gliick seine
>Mixturen fiir Menschenkinder aus alien Standem.
In diesem Jahr beginnt die Kette seiner Todeserfahrungen, die
ihn erschiittern und die seinen beiden ersten Romanen ihr Siegel
aufdriicken: Im Oktober stirbt Lorenz Adam von Oerthel, drei-
undzwanzigjahrig. -
Von Januar 1787 bis Ostern 1789 unterrichtet Jean Paul den
jungeren Bruder Oerthels, Christian Adam, in Topen als Haus-
lehrer; an Ostern 1789 erscheint seine schon fruher verfertigte
Satirensammlung unter dem vom Verleger gewunschten Titel
»Auswahl aus des Teufels Papieren«. Im selben Jahr begeht Jean
Pauls Bruder Heinrich Selbstmord in der Saale. Wieder in Hof,
beginnt Jean Paul die Reihe seiner »Gesamt«- oder »Tutti-Liebe«
im Kreis von funf jungen Madchen, seiner »Erotischen Akade-
mie«. Zu diesem Kreis gehort Amone Herold (geb. 1778), der
zweite »reale Schatten«, der hinter der Idealgestalt Klotilde ver-
borgen ist. Es wiederholt sich in diesen Jahren ein ahnliches
Freundschafts-Liebes-Drama, wie es zwischen Jean Paul, Oer-
thel und Beate von Spangenberg zehn Jahre zuvor spielte, nur
diesmal nicht im Verborgenen, sondern es wird in Gesprachen,
Briefen und Begegnungen ausgetragen. Amone Herold wird die
Frau von Jean Pauls Freund Georg Christian Otto : dies ist das
13 1 8 NACHWORT ^
Ergebnis der Wirrungen, die sich vom Fruhjahr 1791, ernst-
hafter vom Herbst 1792 bis zum Februar 1793 hinziehen. Jean
Paul schrieb uber den Anfang dieser Liebesverkettung, die mit
dem Beginn seiner Arbeit an der >Unsichtbaren Loge< zusammen-
fiel: »Was soil da das Einbein machen, das am namlichen Tag,
wo es einen Roman zu schreiben anfing, zugleich einen zu spie-
lenanhob...«.
Die Todes-Kette setzt sich ebenfalls fort: im Februar 1790
stirbt Jean Pauls Freund Johann Bernhard Hermann mit neun-
undzwanzig Jahren in Gottingen, im September 1792 der jungere
Oerthel, Jean Pauls einstiger Zogling. Am 15. November 1790
macht der Dichter in Schwarzenbach, wo er Privatlehrer ist,
seine Tagebuch-Aufzeichnung uber eine Todesvision, deren
Abglanz in seinen Werken des ofteren wiederkehrt: »Wichtigster
Abend meines Lebens: denn ich empfand den Gedanken des To-
des, daB es schlechterdings kein Unterschied ist, ob ich morgen
oder in 30 Jahren sterbe, daB alle Plane und alles mir davon-
schwindet und daB ich die armen Menschen lieben sol, die sobald
mit ihrem Bisgen Leben niedersinken«.
Vor diesem Hintergrund entstehen bis 1791 »Des Amts-Vogts
Josuah Freudel Klaglibell gegen seinen verfluchten Damon«,»Des
RektorFlorianFalbelsundseinerPrimanerReisenachdemFichtel-
berg« und schlieBlich die Geschichte vom »Leben des vergniigten
Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthak, die am 12. Marz
1791 beendet wird und spater im zweiten Band der >Unsichtbaren
Loge< gedruckt erscheint. Vom Fruhjahr 1791 bis Fruhjahr 1792
arbeitet Jean Paul an der >Unsichtbaren Loge<, die im Jahr darauf,
mit dem Untertitel >Mumien<, in zwei Banden aufgelegt wird. -
Im September 1792 beginnt er die Ausarbeitung des >Hesperus<,
die sich bis zum Sommer 1794 hinzieht. An dem Tag, an dem
Jean Paul seinen groBartigen »Traum Emanuels, daB alle Seelen
eine Wonne vernichte« niederschreibt, am 2(S.Juni 1793, stirbt
Karl Philipp Moritz, der in Jean Pauls Imagination das Vorbild
der Gestalt Emanuels war.
Im Mai 1795 erschien der >Hesperus< in drei Banden im Druck.
Zugleich mit ihm brachte dieses Jahr zwei andere deutsche Ro-
NACHWORT 13 19
mane: Ludwig Tiecks > William Lovell< und Goethes >Wilhelm
Meisten. Diese Konstellation ist bezeichnend: Jean Paul er-
scheint gleichsam zwischen Romantik und Klassik als eine dritte
Gewalt und Moglichkeit. - Den starksten Publikumserfolg
hatte Jean Pauls Roman. Er verhalf seinem Autor zum Ruhm,
zumindest innerhalb Deutschlands. Er leitete damit eine neue
Epoche im Leben Jean Pauls ein, die sich im >Titan< wider-
spiegelt.
II
Den Roman >Die unsichtbare Loge< bezeichnet Jean Paul 1825
in seiner »Entschuldigung bei den Lesern der samtlichen Werke
in Beziehung auf die unsichtbare Loge« als eine»geborne Ruine«.
In seiner Vorrede zur zweiten Auflage, 1821, versprach Jean Paul
noch eine Beendigung des Fragments : Der Titel »soll etwas aus-
sprechen, was sich auf eine verborgene Gesellschaft bezieht, die
aber freilich so lange im Verborgenen bleibt, bis ich den dritten
oder SchluBband an den Tag oder in die Welt bringe«. - Aus die-
ser versprochenen Fortsetzung wird nichts, und das ist verstand-
lich. Jean Paul brach seinen ersten Roman ab, urn ihn, mit ahn-
lichem Vorwurf, aber mit neuen Aufbauplanen, mit scharferen
Umrissen fur die hofische Welt und die revolutionaren Tenden-
zen und mit verbesserten stilistischen Mitteln noch einmal zu
schreiben: in der Gestalt des >Hesperus<! Ob er sich selber iiber
diesen in der Literaturgeschichte einmaligen Vorgang ganz klar
war, bleibt dahingestellt. Jedenfalls bewegten ihn Oberlegungen
in ahnlicher Richtung, als er in einem Begleitbrief zur ersten
Niederschrift der >Unsichtbaren Loge< an Otto schreibt :»Obrigens
ist dieses Pak ein corpus vile, an dem ich das Romanenmachen
lernte; ich habe jetzt etwas besseres im Kopfe!«
Um einen Lotsen durch das Werk Jean Pauls mitzugeben, ist
es unerlaBlich, den Inhalt der einzelnen Bticher zu skizzieren:
denn ihr Plan droht oft in den Heckenwucherungen des Laby-
rinths unterzugehen. Ein Vergleich der Grundrisse der >Unsicht-
baren Loge< und des >Hesperus< zeigt ihre Ahnlichkeit.
I32O NACHWORT
Blickt man auf die beiden Haupthelden, so erkennt man ahn-
liche Schicksale. In der >Unsichtbaren Loge< unterliegt der Held
Gustav, der in volliger Abgeschlossenheit mit dem Anspruch
hochster Idealitat erzogen wird, den Verfuhrungen des Hof lebens.
Im >Hesperus< kann der einigermaBen versohnliche SchluB nicht
dariiber hinwegtauschen, daB der Held Viktor sich vergeblich be-
miiht hat, seine Ideale im Hofleben zu verwirklichen.
Die Motive, die die Maschinerie der Fabel in Bewegung setzen,
sind zum groBen Teil traditionell. In der >Unsichtbaren Loge<
will ein Vater, der Obristforstmeister von Knor, seine Tochter
Ernestine nur dem Mann geben, der sie im Schachspiel besiegt.
Die Mutter stimmt nur unter der Bedingung der Hochzeit zu,
daB das erste Kind dieser Tochter »fur den Himmel« groBgezogen
werde ; es soil seine ersten Unterweisungen furs Leben acht Jahre
lang unter der Erde von einem herrnhutischen Jiingling, dem
>Genius<, erhalten. Wie der achtjahrige Gustav von Falkenberg
gleichsam »stirbt«, um das Licht der Erde zum ersten Mai zu
sehen, ist einer der Hohepunkte des Romans. - Gustav wird
eines Tages von der ehemaligen Geliebten seines Vaters und
jetzigen wohlhabenden Frau Roper verirrt' aufgefunden und
von ihr wegen der Ahnlichkeit mit ihrem verschollenen Sohn
Guido festgehalten, der aus dem Verhaltnis mit dem Vater von
Falkenberg entsprungen ist. Sie schickt schlieBlich Gustav, mit
dem Medaillon des Verschollenen um den Hals, nach Hause. Nach
einer Militardienstzelt wird Gustav in der Residenzstadt Scheerau
am Hof des Landesfursten eingefuhrt. Er trifft dort auf die
Schwester des Verschollenen, auf Beata. Sein Freund und gleich-
zeitiger Mitbewerber ist Amandus. Gustav wird in das Hofleben
hineingezogen und von der Regentin Bouse verfuhrt, wahrend
Beata den Fiirsten abweist. Gustav und Beata finden sich, nach
Verwicklungen, zu denen auch das Medaillon beitragt, in dem
traumhaften Ort Lilienbad. Der Roman bricht jedoch ab mit der
Nachricht, daB Gustav sich im Gefangnis befindet, da er mit einer
geheimen Verschworergruppe, zu der auch Ottomar, der na-
tiirliche Sohn des Fiirsten gehort, ausgehoben worden ist. -
Die Handlung des >Hesperus< kann man wie folgt vereinfacht
NACHWORT 1 3 21
zusammenfassen : Viktor, der vermeintliche Sohn des Lord Ho-
rion, und Flamin, der vermeintliche Sohn des Kaplans Eymann,
sind als Kinder in London und in dem idyllischen St.Liine er-
zogen worden. Flamin bittet Viktor urn Fursprache bei seinem
einfluBreichen Vater, damit er ihm die Wege ebne zur Heirat mit
Klotilde, der Tochter des Kammerrats von Le Baut in der Resi-
denzstadt Flachsenfingen. Durch Flamin lernt Viktor Klotilde
kennen und faBt ebenfalls eine Neigung zu ihr. Sie erzahlt ihm
begeistert von ihrem Lehrer Emanuel, in dessen Schilderung Vik-
tor Ahnlichkeiten mit seinem eigenen Erzieher Dahore entdeckt.
Viktor wird von Lord Horion auf die >Insel der Vereinigung< ge-
rufen; dort erfahrt er, daB Flamin der Bruder Klotildens und
Sohn des Fiirsten Januar von Flachsenfingen ist, eine Verwandt-
schaft, die er geheim zu halten gelobt. In dem traumhaften Ort
Maienthal findet.er seinen Lehrer Dahore wieder, der mit Ema-
nuel identisch ist. Am Hof in Flachsenfingen, wo Viktor eine
Stelle als Leibarzt bekommt, wird er jedoch in das verderbliche
Hofleben hineingezogen, entfremdet sich schmerzlich von Klo-
tilde, da er sich nicht geliebt glaubt, wird von Flamin durch
Eifersucht entzweit und schlieBlich von der Furstin Agnola bei-
nahe verftihrt. Aus einem Freundschaftsbund mit »den drei Eng-
landern« entsteht eine Verschworung, in der der Intrigant Mat-
thieu eine verraterische Rolle spielt. Inzwischen erklart Viktor
auf der Heimfahrt von einem Ball in der Osternacht seine Liebe
an Klotilde und wird nicht abgewiesen. Viktor verbringt mit
Emanuel und Klotilde die Pfingsttage in Maienthal und wird dorr
von dem eifersiichtigen Flamin zum Duell gefordert. Flamin
totet, ebenfalls im Duell, den Vater Klotildes. Viktor erfahrt
beim Tod Emanuels, daB er der Sohn des Kaplans Eymann sei
und glaubt als Burgerlicher auf Klotilde verzichten zu mussen.
Doch eine gliickliche Losung wird gefunden. Durch Offenbarung
des Geheimnisses von Flamins Abkunft versohnen sich Viktor
und Flamin in St.Liine. Viktor und Klotilde werden ein Paar.
Am SchluB des Romans tritt der Erzahler Jean Paul selber in die
Handlung ein. Lord Horion endet sein Leben freiwillig auf der
>Insel der Vereinigung<. - .
13^2 NACHWORT
In beiden Handlungen stehen sich drei verschiedene Spharen
gegeniiber, die jeweils durch Orte mit entsprechenden Orts-
namen symbolisiert werden: die Sphare der Residenz, die kri-
tisch-satirisch beschrieben wird (Scheerau in der vUnsichtbaren
Loge<; Flachsenfingen im >Hesperus<); die Sphare der landlichen
Idylle (der Rittersitz MauBenbach; das Pfarrhaus des Pastors
Eymann in St. Lime); die Sphare der groBen Traumlandschaften
und romantischen Freudenorte (Lilienbad ; Maienthal). - Die Ent-
sprechung der Personen liegt auf der Hand; sie sind profilierter
im zweiten Roman, das zeigt sich besonders bei einem Vergleich
von Gustav und Viktor, von Amandus und Flamin, von Beata
und Klotilde, schlieBlich vom Genius und von Emanuel. Aber
auch sonst gibt es viele Nebengestalten und Nebenmotive, die
den beiden Romanen gemeinsam sind. Die geheimnisvolle
Gestalt des Mannes mit den sechs Fingern, die dort wie hier
auftritt, sollte wahrscheinlich als eine Art Schlusselfigur der
Verschworung dienen, zu einer Zeit, als Jean Paul noch beide
Romane in einen »zusammenwerfen« wollte. Das Motiv der Blind-
heit spielt, neben den Hauptmotiven Freundschaft, Liebe, Tod,
Erziehung, Staatsmoral in beiden Romanen eine groBe Rolle. -
Jean Paul deutet selbst auf Wiederholungen hin; so sagt er von
seinem Helden im >Hesperus<, dem er die >Unsichtbare Loge<
als Lektiire in die Hand druckt, dafi »er (Viktor) ... zwischen
seiner Pfingstreise (im H.) und jener Badereise (in der U. L.)
soviele Verwandtschaft herausfand ...«. Andere wiederholende
Anspielungen gehoren zu der Gepflogenheit Jean Pauls, alle seine
Geschichten mit einem stehenden Heer von gemeinsamen Sonder-
lingsgestalten und ausgefallenen Orten zu durchsetzen : Die Ge-
stalt des Knef im >Hesperus< entpuppt sich als der Fenk des
fruheren Romans. Das >Einbein( tritt dort wie hier als einer der
Beinamen des Verfassers auf. Auch die >Molukke Teidor< wird
schon in der >Unsichtbaren Loge< erwahnt: Auf ihr schreibt
Jean Paul den 53.Sekt.or.
Die Geschichte vom Wutz, vor den beiden Romanen ge-
schrieben, nennt Jean Paul einerseits eine »diirre Knospe und
Vor(ibung« fur seine Romane, andererseits »eine exzentrische
NACHWORT I323
Idylle, ein dessein a la plume von einem Geschopf, dem der sin-
liche Freudendiinger die hohere Sonne vergutet«. Jean Paul fragt
Karl Philipp Moritz, ob sie der >Loge< »beigeleimt« werden solle.
Der stimmt begeistert zu. Es werden einige Verbindungen ge-
schaffen: Jean Paul verlegt den Falkenbergischen Rittersitz in
der >Loge< in die Nahe von Auenthal und laBt den Sohn des
Idyllen-Wutz als Nebenfigur auftreten. Der Schulmeister in Ro-
man und Idylle war wahrscheinlich urspriinglich eine Person;
dann aber wird er in Vater und Sohn aufgeteilt, weil sonst in der
Idylle der Tod des Wutz nicht moglich ware. Im >Wutz< selbst
wird Soheerau und, in der ersten Auf lage, sogar die Residentin
von Bouse erwahnt. Im >Hesperus< laBt Jean Paul seinen Helden
Viktor den >Wutz< lesen.
Ill
Wichtiger noch als die auBeren Zusammenhange dieser drei
Fruhwerke ist ihre gemeinsame Eigenart, die sie durch die Jean
PauPsche Konzeption beskzen und die sie von ahn lichen Ver-
suchen in der zeitgenossischen Literatur abhob. Der Handlungs-
verlauf erreichte dies nicht. Erreicht wurde die Eigenstandigkeit,
die zum literarischen Ereignis fiihrte, vielmehr dadurch, daB
Vorstellungsbereiche erweitert und daB der deutschen Sprache
Moglichkeiten hinzugewonnen wurden, die fur die deutsche Li-
teraturtradition bis dahin nicht vorhanden waren.
Auf den ersten Blick scheint es, als ob Jean Paul zu der Appa-
ratur des damaligen Unterhaltungs- und Trivialromans wenig
hinzufiige. Wir begegnen Verwechslungen, Kindsvertau-
schungen, Duellen, Raubiiberf alien, requisitenreichen Intrigen,
geheimnisvollen Andeutungen, sentimentalen Liebesgeschich-
ten, edelmiitigen Freundschaftstaten, Reisen, Episoden vom
Gliick im Winkel und vielen anderen Motiven, die damals wie
noch heute in der »unterstromigen« Literatur gang und gabe
waren und sind, die man in den Geschichten der Familienblatter,
der >Sentimentalen Wochenschriften< ebenso finden konnte wie
spater in Christian August Vulpius' >Rinaldo Rinaldini<, in den
I324 NACHWORT
>Ritter-Romanen<, in der >Gartenlaube< und, noch weiter ein-
geengt, im >Heimatroman<. Der Bericht iiber die Auffindung des
Kindes mit den zerschnittenen Augen in der >Unsichtbaren Loge<
ist ein Beispiel fur die direkte Obernahme des Kolportage-Stils,
ahnlich die Oberraschung der Liebenden durch Flamin im >Hes-
perus< : » >Schurke !< - schrie der herausstiirzende Flamin mit sprii-
henden Blicken, mit schneeweiBen Wangen, mit wie Mahnen
herunterhangenden Locken, mit zwei Taschenpistolen in den
Handen - >da nimm, nimm, Blut will ich< und stieB ihm das Mord-
gewehrentgegen — Viktor drangte Klotilden weg und sagte: >Un-
schuldige, vermehre deine Schmerzen nicht!<« - Das Zeugma:
»Blicken, Wangen, Locken, — Taschenpistolen« ist freilich jean-
paulisch. An solchen Stellen jedoch, wo das Geriist der Intrige
notgedrungen gestiitzt werden muB, merkt man, wie Jean Paul
zu den vorhandenen Versatzstiicken griff, ohne hier Zeit zu fin-
den, sie zu verwandeln. Er hat das Handlungsgeriist, das sein
Romanleser von ihm erwartet, notig, um seinen eigenen Begriff
von Handlung durchzusetzen. Was er an Motiven dem geheim-
niskramenden Abenteuerroman, wie Meyerns >Dya Na Sore<,
oder Publikumserfolgen wie Sintenis* >Veit Rosenstock< und
Grosses >Der Genius< entnimmt, wird in der festgelegten Ein-
deutigkeit mannigfach gebrochen, durch die Art der Darstellung
mit Nebengerauschen versehen, die mehr und mehr die her-
gebrachte Eintonigkeit iiberstimmen, so daB schlieBHch, in einer
Biindelung solcher Einzelmotive, Jean Pauls spannungsreiche,
gefiihls- und gedankengeladene Gesamtschau von Mensch, Welt
und Oberwelt erscheint. Die >Insel der Vereinigung< (im z wolf-
ten Hundposttag des >Hesperus<) mit ihrem Verschworungs-
charakter und ihrem geheimnisvollen Maschinenzauber ist zu-
nachst ein solches Requisit aus der Abenteuer-Sphare. Aber wie
durchscheinend wird dieses Requisit in der Schilderung Jean
Pauls. Das ominose »Steineriicken« gehort noch zur traditio-
nellen Maschinerie, wahrend dann Jean Paul den Rundgang um
die Insel dazu bentitzt, sie aus ihrer trivialen Requisitenhaftig-
keit zu erlosen und sie zu einem Teil seines imaginaren Reiches
zu machen: »Der Vater ging mit dem Sohne langsam um das
NACHWORT 1325
Ufer und riickte nach und nach 27 Steine, die in gleichen Ent-
femungen auseinander lagen, aus ihrem Lager heraus... Unter
dem Rundgang um die Insel sah Viktor ihr Stab- und Frucht-
gelander von hohen Baumstammen, die ihre Schatten und ihre
Stimmen in die Insel hineinzurichten schienen und deren Laub-
werk die bebenden Wellen mit ihren zerteilten Sonnen und Ster-
nen besprengten . . .« Das starre, zunachst von der Handlung dik-
tierte Requisit lost sich auf in die-Wellenbewegung des Jean
Paul'schen Stils und findet erst so den Weg zu einer > Vereinigungi
der zertrennten und in sich abgekapselten Partikel der Welt, die
der Name der Insel andeutet: »ein hohes schwarzes, an die Tan-
nenspitzen reichendes Tor sah mit einer weiBen Sonnenscheibe
bemalt nach Osten und schien zum Menschen zu sagen: gehe
durch mich, hier hat nicht nur der Schopfer, auch dein Bruder
gearbeitet! -«
IV
»- im Grunde mufi jede Hauptmaterie fiir einen Autor nur das
Vehikel und das Pillensilber und der Katheder sein, um darin
iiber alles andere zu reden«. Diese Stelle aus einem Brief Jean
Pauls an Christian Otto vom 26.Marz 1793 macht deutlich, daB
mit einer allgemeinen Skizzierung des Verlaufs von Geschichten
bei keinem Autor so wenig gedient ist wie bei Jean Paul. Die
>Unsichtbare Loge< und der >Hesperus<-Roman stehen beide in
der Tradition der Staatsromane^ sie spielen an Fiirstenhofen, das
Liebes- und Intrigantenleben am Hof, Auseinandersetzungen
zwischen politischen Richtungen und die Frage der Erziehung
von Staatsmannern sind Motive in beiden Romanen. Die Haupt-
und Staatsaktion der barocken Literaturepoche klingt nach, ge-
mildert und beruhigt durch den Staatsroman der Aufklarung,
eines Haller und Wieland. In einem Plan zum >Hesperus<
notiert Jean Paul unter dem Titel >Jungenda< die Leitgedanken,
die er in seinem Roman verschmelzen will: »Satirische Karakter
— Freundschaft - Liebe - Republik - Ein Zwek - Agathonsche
Zwek - «. An Wielands >Agathon< sollte also zunachst der Zweck
1^26 NACHWORT
des Buches gebunden sein, d.h. die Erziehung des Helden zum
Fursten war zunachst das leitende Thema. Davon ist nicht viel
ubriggeblieben. Im >Hesperus< entpuppt sich der Hauptheld,
Viktor, am SchluB als Burgerlicher. Am Ende der >Unsichtbaren
Loge< sitzt der Held Gustav als Verschworer im Gefangnis. Das
Schema der aufgeklarten Haupt- und Staatsaktion wurde von
Jean Paul wahrend des Schreibens am Roman durchbrochen.
Erst im >Titan< zwang er sich dazu, dieses Schema einzuhalten -
und es fragt sich, welche Konsequenzen fur die Imaginations-
kraft des Autors und fur das Kunstwerk selbst daraus entstanden.
In den ersten beiden Romanen behielt das. Sterne* sche progres-
sive digression^ die vorwartsschreitende Abweichung, das Jean
Paul'sche Rankenspriihen die Oberhand iiber dem vorgefaBten
Plan. Es ware freilich ohne den Widerstand dieses Planes nicht
ausfiihrbar gewesen, hatte also den Grundton der Staatsaktion
notig. — Alles, was Hofatmosphare und Hofcharaktere betraf,
nahm Jean Paul aus der Literatur. Er verharrte deshalb nicht
lange bei reinen Hof-Szenen, sondern versetzte sie sofort mit
kreatiirlichen Regungen, zumeist mit Charakterschwachen, die
nicht allein dem Hof zugehorig waren und bei denen er sich nicht
an ein Reglement zu halten hatte. Das Auf Ibsen der Hofintrigen
eines Matthieu in individuelle, zungelnde Kunstfertigkeiten ist
ein Beispiel dafiir. Indem der Autor politisches Pathos mit Witz
und Phantasie durchlochert, schafFt er sich die Mdglichkeit, durch
die Maschen eines konventionellen Handlungsnetzes hindurch-
zuschliipfen: wobei er freilich das Handlungssystem am SchluB
zerreiBt, und so die Bewegung des Hindurchschlupfens wesent-
licher fiir den Roman wird als das System selbst. Wie oft im
Werk von Jean Paul, so lost sich auch hier StorT in Bewegung
auf, doch die Bewegung ist an das Vorhandensein des rriehr und
mehr in den Hintergrund tretenden Stoffes notwendig gebunden.
Das ist ein KunstgrifF des Autors, der weniger ein Trick ist als
eine aus seiner Begabung erwachsende Zwangslauflgkeit. Gerade
deshalb freut er sich iiber nichts mehr, als wenn er aus Weimar
berichten kann (n.Juni 179^ an Christian Otto): »Die Karak-
tere Joachime, Matthieu (der besonders) und Agnola werden hier
NACHWORT I327
fur wahre gehalten und gefielen gerade am meisten. Im Klub
stritt man, ob Flachsenfingen ein AbriB von Wien oder Man-
heim ware wegen des Lokalen - Wieland war des hohnischen
Dafurhaltens, Flachsenfingen liege in Deutschland sehr zer-
streuet.« Im ubrigen mokiert sich Jean Paul iiber die allgemein
sich wiederholenden »groBen« Ereignisse und Hauptaktionen,
wo er kann, und miBt ihnen nicht mehr Bedeutung bei als eben
die von Vehikeln: »Und so spielen wir alle unsere Haupt- und
Staatsaktzion bald auf dem Nazional- bald auf dem Familien-
theater und machen uns falsche Wunden und Bauche . . .« Er sucht
in diesen Aktionen die verborgenen Schattierungen der Seelen
oder die Abspriinge zu seinen Fltigen, die Randsituationen, die
Misch- und Zwischenzustande auf. So gerat er aus der Schablone
einer zekgendssischen Mode unversehens in Zonen, die so schnell
nicht zu Ende zu entdecken sind. Unverblumt kundigt er dem
Leser seine Entfuhrung in diese Zonen, mittels seiner Digres-
sions-Methode, an, am Beginn der >Unsichtbaren Loge<: es
konne aus einer scheinbaren Digression der Natur eine schrift-
stellerische gemacht werden, »aber erst im 2osten Sektor; weil
ich erst ein paar Monate geschrieben haben muB, bis ich den
Leser so eingesponnen habe, daB ich ihn werfen und zerren kann,
wie ich nur will«.
Dort, wo er seine Helden Haupt- und Staatsreden halten lassen
muB, wie seinen Viktor, im 32.Hundposttag, hilft er sich durch
verschiedene Mittel. So schafFt er in diesem Fall einen Abstand
zwischen dem Helden und der Rede, indem er vorausschkkt:
»Er ahmte meistens den Stil nach, den er zuletzt gelesen oder -
wie heute - gehort hatte ; daher sprach er in Sentenzen wie der
eine brennend-kalte Englander«. Zum anderen aber steigert er in
diesem Fall unter der Hand die sentenzenhafte Staatsrhetorik in
die bewegte, weitausgreifende Gebarde Viktors hinein. Formell-
aufklarerisch beginnt die Ansprache: »Kein Staat ist frei, als der
sich liebt; das MaB der Vaterlandsliebe ist das MaB der Freiheit«
- und sie endet jeanpaulisch: »In meinen jungern Jahren war
mir oft die Menge der Menschen schmerziich, weil ich mich un-
vermogend fiihlte, 1000 Millionen auf einmal zu lieben; aber das
13^8 NACHWORT
Herz des Menschen nimmt mehr in sich als sein Kopf, und der
bessere Mensch miifite sich verachten, dessen Arme nur um einen
einzigen Planeten reichen..*« Das Sprungbrett der Staatsaktion
und des vorgeschiitzten Zitaten-Stils schleudert den Autor dort-
hin, wo er der Autor ist.
V
Jean Paul kam aufatmend aus seiner >satiriscken Essigfabrik^
als er die >Unsichtbare Loge< begann. Er entfernte sich von der
Tradition des Satirendrechselns, aus der er sich schon mit dem
>Schulmeisterlein Wutz< halbwegs herausgezogen hatte. Das
heiBt nicht, daB er seinen Hang zur Satire aufgab; er verfeinerte
ihn vielmehr und stellte ihn in Dienste. In seinen Extrablattern
schiebt er noch Satiren alten Stils ein, die zum Teil aus seinen
fruheren Sammlungen stammen. Was aber den >Wutz< und die
beiden Romane in der Tonlage mitbestimmt, ist nicht die Satire,
die unmittelbar durch Komik vernichten oder herabsetzen will,
sondern gleichsam ein huschendes satirisches Schattenspiel, ein
aufstachelndes Ferment der Bewegung, das gegen die Gefahr ab-
gestandener Zustandsschilderungen, sei es in den idyllischen, sei
es in den >hohen< Passagen, mit Gluck eingesetzt wird. Die Vater
der Jean Paul'schen Satire, auf die er sich oft genug berufen hat:
Erasmus, Swift, Young, Sterne, Pope, Hamann, Liscow, Ra-
bener, treten mit ihrem EinfluB mehr und mehr zuruck. Am Schlu B
des funften Schalttags, am Ende des 20.Hundposttags, halt sich
der Autor die >Dornenkronen< der Menschen vor Augen: »so
vergeht mir die Lust, mit satirischen Dornen um mich zu schla-
gen, und ich mochte lieber einige aus euern Fiifien oder Handen
ziehen .« Die grotesk-satirische Akzentuierung des Pastors Ey-
mann gibt der Idylle von St.Liine etwas von der Beweglichkeit,
die die Idylle von Auenthal durch ahnlicrie Ziige im Portrat des
Wutz verlebendigt. Aber schon im ersten Sektor und im ersten
Extrablatt der >Loge< gibt Jean Paul zu erkennen, daB er sich nicht
mehr in die Essigfabrik zurucktreiben laBt. Obwohl der erste
Sektor einen alten konventionellen Vorwurf der Satiren behan-
NACHWORT I329
delt: Heiratsfragen und mogliche Kuppelei, wird hier in der Epi-
sode mit der >Kopulierkatze< ein feineres Gam gesponnen. Wie
das vor sich geht, ist leicht zu erkennen: durch eine genauere Be-
obachtung der Eirqelfalle, die die Satire dem gelaufigen Modell
entfremdet: »steht der Mann selber unkopiert funf FuB hoch vor
ihr : so leistet sie es nicht mehr - ihre wie eine besonnete Mucken-
kolonne spielenden Empfindungen treiben aus einander, wider
einander und in einander, ein Fingerhut voll Puder am besagten
Mann zu viel oder zu wenig - eine Beugung seines Oberleibes -
ein zu tief abgeschnittener Fingernagel - eine sich abschalende
schurflchte Unterlippe - der Puder- Anschrot und Spielraum des
Zopfs hinten auf dem Rock - ein langer Backenbart - alles.<i Von
der genauen Wahrnehmung aber wird bei Jean Paul das Rudel
der dahinlaufenden Worte in stdrkere Bewegung versetzt bis zu
Kapriolen, die einzelnen Worte gewinnen an verriickter Bunt-
heit, halten sich stockend in der Bewegung zuriick, um nach
kurzem Stocken wieder vorzuschieBen : ein synkopischer Rhyth-
mus, der mit einer an der Wahrnehmung neu beflugelten Wort-
imagination zusammenwirkt, laBt glanzende satirisch gefarbte
Romankapitel entstehen. Sie erinnern nur noch von feme an die
Kopisterei der Essigfabrik. Der frgeneigte Leser« hat das Recht
nachzudenken: aber das Schattenspiel der Satire schreibt ihm die
Gangart in dem Labyrinth der witzigen Formulierungen vor, er
ertappt sich dabei, daB er zwei, drei Mai um die verkehrte Ecke
herum assoziiert und spurt bald die Satire auf sein eigenes Denk-
und Sprachvermogen, die er jedoch lachelnd-zuvorkommend
serviert bekommt: ».... daB er seine Weisheitzahne und seinen
Philosophen-Bart soil so auBerordentlich lang gewachsen tragen,
wie der geneigte Leser beide tragt, dem es freilich nicht erst hier
vorgedruckt zu werden braucht - er merkte alles schon vor drei
guten Stunden -, daB hinter der Kopulierkatze etwas stak oder
steckte, Ernestine namlich selber.« Wenn irgendwo in deutscher
Sprache Imagination und Wortchemie ein unzertrennbares Paar
Briider sind, dann bei Jean Paul. Die Schachregeln desD oktor Fenk
fur den Rittmeister (aus eben diesem erstenSektor der >Loge<) sind
Zeuge dafur, freilich, »kein Deutscher verstand Metaphern we-
133° NACHWORT
nigew< als er. — » - wie namlich der dtimmste Mann sich fur klu-
ger halt als die kliigste Ehefrau; wie diese vor ihm, der vielleicht
auBer dem Haus vor einer Gottin oder Gotzin auf den Knien
liegt, um begliickt zu werden, gleich dem Kameele auf die ihrigen
sinken muB, um befrachtet zu werden.« Jean Paul kennt das
Hexenspiel der deutschen Pronomina, niemand wird ihn fest-
nageln, noch dazu wenn dieses Spiel in Wetteifer gerat mit den
eleganten Bockspriingen deutscher Syntax-Moglichkeiten; aber
wehe dem Obersetzer (speziell dem, ders ins Englische setzt)!
Hier werden nicht mehr Pointen und Bonmots gejagt, sondern
Denkvorgange vorexerziert, jene Fixigkeit wird gefordert, die
man dem Franzosischen nachsagt. So hilft das satirische Element
mit, die Handlung zu entschweren und statt ihrer die Spontanei-
tat des Autors direkt auf den Leser zu ubertragen, und nicht, wie
zuvor, die Last der traditionellen Illusionen oder Desillusionen.
Die Satiren erhalten die Spiritualisierung von Flaschenteufeln,
die im Roman auf- und niederfahren. Ein Heer solcher Schatten
bevolkert diesen Band, manche bestimmen ganze Kapitel; so ist
der Sektor zwei der >Loge< von A bis Z vom satirischen Flaschen-
teufel besessen, der den betrugerischen Handel und den Vater
der Falkenbergischen Ahnen skizziert. »Aber der Stammhalter
drehte langsam den Kopf hin und her und sagte kalt, >ich mag
nicht< und trankZerbsterFlaschenbier...« Dochdas muB im Zu-
sammenhang des gesamten Kapitels gelesen werden.
VI
Friedrich Hebbel war der Meinung, das »Schulmeisterlein Wutz«
enthalte den »ganzen Succus des echten Jean Paul«, Dagegen
steht ein Wort Jean Pauls aus den Vorarbeiten zu seiner Selbst-
biographie -: »Wer mich rein und recht beurteilen will, muB mich
in meinem Garden nehmen; denn sonst gibt und nimmt er mir
im einzelnen zuviel und ist nie meiner Meinung uber mich.«
Die Idylle sucht nach jenem geschlossenen, begrenzten Raum,
in dem der Mensch sich »zuhause« fiihlt, nach dem Zufiuchtsort,
NACHWORT 133 1
der der Kreatur keine fremde Rolle aufzwingt, der ihre Sympa-
thien und Neigungen frei hervortreten und sich entwickeln laBt,
aus dem Querziige, Intrigen, Abwehrmasken verbannt sind. Das
>Bildchen< dieses Zufluchtsorts konnte seit je seine Ztige entweder
mehr aus realen Landschaften holen oder aus phantastischen, in
Dorfer und Taler fuhren oder in Marchengegenden mit Nym-
phengrotten. Es wurde immer eine Art Vorbild. Die >Poetik des
Raums< findet in der Idylle die urspriinglichen poetischen Krafte
des Riickzugs auf sich selbst; sie erkennt im Abenteurer-Roman
den Gegenpolj den Drang zum VorstoB ins Unbekannte.
Jean Paul ist ein Genie der Idylle, mit der groBen Sehnsucht
nach der ewigen troglodytischen Zeit. Seinen All-Fliigen steht
das Einnisten in Furchen und in Hohlensysteme gegenuber, eine
Polaritat, die er selber in den »drei Wegen gliicklicher, nicht
gliicklich, zu werden« in der Vorrede zu »Quintus Emanuel Fix-
lein« beschrieb. DaB das LeserbewuBtsein des neunzehnten Jahr-
hunderts aus dem Ganien Jean Pauls sich nur den idyllischen Teil
herausschnitt, und noch dazu sich aus diesem Teilaspekt nur die
harmlosen Lauben-Partien aneignete, riickte Jean Paul in ein
MiBverstandnis, das heute noch wuchert.
Das Hohlenleben Gustavs am Anfang der >Unsichtbaren Loge<
bietet die Visionen, zu denen der idyllische Jean Paul fahig war.
Er zeichnete Bilder, die sich mit Urbildern des Menschen-
geschlechts beruhren, verwirklichte in dem Ausblick aus der
Hohle in das Nachtmeer die in der Idylle verborgenen bedrangen-
den Forderungen, was zwar kaum ein deutscher Kritiker, wohl
aber ein franzosischer Literarhistoriker ? Gaston Bachelard, wahr-
nahm. Die beiden groBen Panoramen der Jean Paul'schen Kunst
kommen in dem Auf blick Gustavs in den Nachthimmel aufein-
ander zu: »Diese Tiiren lieB er (der Genius) in der Nacht vor
dem ersten Junius, als bloB die weiBe Mondsichel am Horizonte
stand und wie ein altersgraues Angesicht sich in der blauen
Nacht nach der versteckten Sonne wandte, mitten in einem Ge-
bete unvermerkt aufziehen — und nun siehst du, Gustav, zum
ersten Male in deinem Leben und auf den Knien, in das weite
neun Millionen Quadratmeilen groBe Theater des menschlichen
I33 2 NACHWORT
Leidens und Tuns hinein; aber nur so wie wir in den nachtlichen
Kindheitjahren und unter dem Flor, womit uns die Mutter gegen
Mucken uberhiillte, blickest du in das Nachtmeer, das vor dir
unermeBlich hinaussteht mit schwankenden Bliiten und schieBen-
den Feuerkafern, die sich neben den Sternen zu bewegen
scheinen und mit dem ganzen Gedrange der Schopfungl - O,
du glucklicher Gustav; dieses Nachtstiick bleibt noch nach
langen Jahren m deiner Seele wie eine im Meer untergesunkene
griine Insel hinter tiefen Schatten gelagert und sieht dich seh-
nend an wie eine langst vergangne frohe Ewigkeit.<t — » Welch
ein halsbrecherischer Idylliker!« bemerkt Max Rychner. Das
Menschenleben scheint zwischen Himmel und Hohle eingespannt
wie zwischen langst vergangene' frohe Ewigkeiten, - die eine
begrenzt im Dunkel, aber ebenso ungemessen wie die andere,
unbegrenzt, zwischen den Himmelslichtern. Jean Paul hat fast
alle seine Idyllen mit diesen Sehnsiichten beladen ; auch seine Vor-
rede zur >Loge<, die er in der Postkutsche schreibt, beherrscht die
Erwartung eines Ausblicks : vom Fichtelberg; Wutz, demer am
Tag vor seiner Hochzeit einen solchen Aus- und Aufblick aus
Auenthal vermacht, ist keinesfalls harmlos. Naher besehen bleibt
kaum eine der Jean Paul'schen Idyllen in der bio Ben Bequemlich-
keit. Wutz ist das Gegenteil des SpieBendeals, dessen man Jean
Paul verdachtigt hat. Er nahme sonst die >H6hle< seines Betts als
Selbstverstandlichkeit und erkennte nicht in ihr den seltenen
Schutz-Winkel inmitten der morderischen Bataille, in dem er sich
selber sprechen hort Es ist, als wiiBte er sich zuruckgeschlucktin
jene Hohle, aus derer einst unfreiwilligkam:»Undkrocherend-
lich in der letzten Stunde eines solchen Leidentages unter sein
Oberbett, so schiittelte er sich darin, krempte sich mit den Knien
bis an den Nabel zusammen und sagte zu sich : >Siehst du, Wutz, es
ist doch vorbei.<«
VII
En^yklopadistik, Wortgerolle, Fremdwortserien, Zitate, Ex-
zerpte, FuBnoten gehorten zum strategischen Plan Jean Pauls,
NACHWORT 1333
die ihm vorschwebende Welt-Gebarde in seinen Romanen aus-
zufuhren, die Viktor im >Hesperus< leidenschaftlich beruft: »tau-
send Millionen auf einmal zu lieben«... »und der bessere Mensch
mii6te sich verachten, dessen Arme nur um einen einzigen Pla-
neten reichen.« Kein Aufwand und Aufmarsch von Register-
Systemen konnte daftir gewaltig genug sein, aber auch keine Er-
wagung des einzelnen Wort-Elements genau genug. Aus Sprach-
wirbeln und Worthaufungen, aus oft bewuBt entkornten und be-
wuBt iiberladenen Worthiilsen und aus Bilderfolgen, deren
rascher Sturz die Umrisse der einzelnen Bilder verwischte, schuf
sich Jean Paul, wie er es selbst nannte, eine >Manier<, die sein Vor-
haben trug : sobald der Leser sich dieser Manier anvertraute und
die Texte nicht»kanzleiverwandt« las. Jean Paul ging dabei syste-
matisch zu Werk. Die Exzerpte wurden spezialisiert geordnet.
Kuriose Bezeichnungen fiir merkwurdige Speisen, Handwerke,
Gewohnheiten wurden zusammengestellt: »Hechtwurste, Bratel-
braten, Eingeschneizel« ; seltsame Orts- und Personennamen wur-
den gesammelt. Neben den Exzerptbanden entstand das >Mit-
worterbuch<, eine Zusammenstellung von Synonyma; allein fiir
das Wort >sterben< brachte er es auf zweihundert Wendungen.
Mit einem ungeheuren FleiB legte er noch in seiner Satiren-Zeit
Register iiber Register an, dazu wiederum »Register dessen, was
ich zu thun habe«:
» 1. Dieses Register zu machen.
2. Aus der >Geschichte< ein Register.
3. Aus den >Gedanken< eins.
4. Das erste durchzulesen und
5. das andere.
6. Das Worterbuch vermehren.
7. Es lesen.
8. Die >Geschichte< lesen.
9. Die >Gedanken< lesen.
10. Register aus den >Thorheiten< machen.
1 1. Eines aus der >Wizsammlung(.
12. Diese lesen.
13. Die >Ironien< lesen.
1334 NACHWORT
14. Ein Register daraus machen.
15. Die Anleitung zum Wizze lesen.
16. Die Tugend lesen.
17. An dem deutschen Lexikon arbeiten.
18. Lesen der Anekdoten.
19. Ein Register fiir die Register aus der Geschichte machen.
20. Am ersten Tage die Obungen in Stylen, am zweiten in Vor-
bereitungen, 3 ten im Buchmachen.
21. Mein Tagebuch machen.
22. Auf die Menschen Achtung geben.
23. Meine Urtheile iiber die besten Autoren abfassen.
24. Ich muB mich im gemeinen Leben nach StofF zu Gleich-
nissen umsehen.«
Aus dem in seinen fruheren Jahren systematisch begriindeten
Wort-Fundus wurde^ die Enzyklopadistik seiner Romane ge-
speist, - wobei weniger die Sammlung selbst als die Scharfung
der Sinne beim Auswahlen und Sammeln in den Romanen sich
auswirkte.
Die erstaunlich ungewohnliche Art der »Systematisierung« in
seinen Registern und in seinem Mitworterbuch fuhrt Jean Paul
in der >Unsichtbaren Loge< am Ende des i6.Sektors in einem
Extrablatt iiber >Erzieh-Idiotismen< vor: »Ich gewohnte meinem
Gustav an, die Ahnlichkeiten aus entlegnen Wissenschaften an-
zuhoren, zu verstehen und dadurch selber zu erfinden. Z.B. alles
Grofie oder Wichtige bewegt sich langsam: also gehen gar nicht
die orientalischen Fursten - der Dalai Lama - die Sonne - der
Seekrabben; weise Griechen gingen (nach Winkelmann) lang-
sam - ferner tut es das Stundenrad - der Ozean - die Wolken
bei schonem Wetter« . . . etc.
Jean Paul hatte (ahnlich wie Rabelais und Fischart) einen
sicheren Spursinn fur Kombinationen, die motorisch waren: d.h.
die mehr hergaben als ein kurioses Sammelsurium. Sie riefen
Funkensprunge hervor und brachten ihn dem Ziel naher, ein
allumfassendes >Gesamtbewu8tsein< in seinem Werke, wie spie-
lend, im »quer durchemander Hinbauen« zu umreifien. Er arbei-
tete mit.der Gelehrtenmethode der Zettel und Zettelkasten, Be-
NACHWORT I33J
sucher berichten von seinen »nummerierten Fachern«j aber nicht,
um die Erscheinungen der Welt zu spezialisieren, sondern sie,
im Gegenteil, aus der Spezialisierung der »entlegenen Wissen-
schaften« zu erlosen, auf Grund von vorhandenen und erfundenen
Ahnlichkeiten. Von »der ErschafFung des Schopfers Jean Paul in
seinen Werken« hat Oskar Loerke gesprochen, ein Ausdruck,
der dem Verfahren Jean Pauls entspricht. Wer diesem Vorgang
mit dem Zeigefinger am BegrifFsgerust dahintastend oder mit
einer falsch eingestellten informationstheoretischen Mechanik
nachgeht,kommtnach wie vor zumSchluB: »sinnlose Anhaufung
zufalligen Wissens«. - Erst das Zusammenwirken von Wahr-
nehmung und Vorstellung, von Systematik und Imagination hob
Jean Pauls Enzyklopadistik aus bloBer Skurrilitat und HeB sie als
eines der wichtigsten Elemente teilhaben an seinem schopfe-
rischen Vorgehen: »Aus alien Winkeln des Gehirns krochen ver-
borgene Einfalle hervor; jede Ahnlichkeit, jede die Stammutter
einer Familie von Metaphern, sammelte ihre unahnlichen Kinder
um sich, und gleich einer wandernden Mausefamilie hangt sich
ein Bild an den Schwanz des andern.« Eine Haufung von Bon-
mots und Lehren wird nicht mehr lehren, sondern aus den Lehren
die ironische Gegenwahrheit des Nicht-Lehrbaren heraus-
holen, dann aber durch den Aufeinanderprall ihrer Vergleichbar-
keiten das BewuBtsein iiber jede lehrbare Einzelerfahrung zu
einer skh weiter vorwagenden Erfahrungsanstrengung locken.
Ahnliches geschieht im >Hesperus< bei raren Worten, die sich
der Raritaten von Herrn Le Bauts > Cabinet d'histoire naturelle<
annehmen. Der Gedankenstrich wird dabei Jean Pauls wichtig-
stes Hilfsmittel: »In einem solchen Entwurf halt* ich die un-
ahnlichsten und feindlichsten Dinge bloB durch Gedanken-
striche auseinander«, kiindigt Jean Paul seine Vorrede zur zwei-
ten Auflage des >Hesperus< an. Das Mittel des Zeugma kniipft
Querknoten in die Wortvorhange: »Ich denke, ich werde heute
Kopfschmerz und den Nathan und der Himrriel ein Gewitter be-
kommen«. - »Pechholz in den Ofen und Mohren in den Magen
schieben.« Katachresen sprengen die Metaphernkette und schaf-
fen das Gegenteil vom festen Besitz, namlich beweglichen: »Und
13 3 6 NACHWORT
dann zog er fort, nicht als Gewitter, sondern als Regenbogen,
den er aus der achten Farbe allein verfertigte, aus der schwarzen,
und zwar mit den Augenbraunen.« Nicht durch zu wenig, son-
dern durch zu viel Sinn, durch Sinniaberladung treten die Worte
aus ihrer gewohnten Reihe und greifen weiter aus, fuhren hin zur
»complexe et indivisible totalit6«, die Baudelaire fordert, der sich
auf Jean Paul beruft. Die Dichtkunst entdeckt hier neu ihre Do-
mane als erste konstituierende Macht; denn »die Philosophic
macht« nach Jean Paul »nur die Silberhochzeit zwischen den Be-
grirTen, die Dichtkunst aber die erste«.
Der Titel >Hesperus< selbst ist unter solchen jeanpaulisch-
enzyklopadistischen Gesichtspunkten gewahlt. Erst wahrend des
Drucks wird er gefunden, er hat keine direkte Beziehung zum
Stoff und zur Handlung, er soil, in einem Wort, die Stimmung
des gesamten Werkes umfassen: signalisierend und pantomi-
misch. Das anfangliche Sprechen der Menschheit soil wieder er-
scheinen, das noch nicht zerstreut und erstarrt ist. In den Gesten
dieses Sprechens, im Zusammenspiel mit der Enzyklopadistik
soil es moglich sein, die groBe Spannweite des Romans auch im
kleinsten Ausschnitt sichtbar zu machen: »Er wankte ohne Steig
ins Dorf hinab, umzogen von" den groBen Kreisen des Kibitz-
vogels und von den kleinen des Maikafers.« - Ein Gesprach zwi-
schen Klotilde und Viktor im 7. Hundposttag weist auf diese
Anfangs-Sprache hin. »Aber wie lernt das Kind unsere Sprache,
wenn es nicht schon eine kann?« Viktor antwortet: »Also muB
die pantomimische Sprache gerade soviel bezeichnen wie die
Ohrensprache.« Er halt sie fur »die erste, im Menschen dagewe-
sene«. Wenige Zeilen weiter geht Viktor den Hintergrunden die-
ser pantomimischen Zeichen nach und findet dort die Erinnerung
und die Hoffnung. Das Wort Hesperus scheint nichts anderes zu
sein als ein Hinweis auf die Koinzidenz beider Regungen und
damit auf den Sinn dieses groBen Romans. Jean Paul verwech-
selt als Enzyklopadist nicht den absoluten Geist mit der Methode
einer Spezial-Wissenschaft. Er weiB, daB er das Ganze im Ein-
zelnen antreffen kann, aber nur dort, wo seine Sprache die erste,
die »dagewesene« Sprache aufspurt.
NACHWORT J 337
VIII
Was aber macht Jean Paul aus der traditionellen >Tugendemp-
findsamkeit<, aus deren Stimmungsbereich er doch vor allem
herkam? Wann erscheint sie in humoristischer Brechung, wann
formt er sie zu mythischen Naturbildern? Welches sind die Kom-
ponenten der groBen Traum-Visionen in der >Loge< und im
>Hesperus<, die bis zu den All-Flugen und an die Grenzen der
Musik reichen? Welche Rolle spielen die Auslaufer der >Schauer-
empfindsamkeit<, mit denen dieser Band durchsetzt ist, mit ihren
Leichengesichten, Grabes- und Schlachtfeld-Stimmen, Glieder-
puppen und Wachsfiguren? Wie verhalten sich die groBen Ver-
nichtungs- und Freudenaugenblicke und die Blitzschlage, die
noch iiber Vernichtung und Vereinigung hin weiter bestehen,
zu dem bisher gesichteten Teil des Kontinents Jean Paul?
Daraufhin ist zugleich Jean Pauls >Titan< zu befragen, der im
Band 3 dieser Ausgabe stent.
Weder die >Unsichtbare Loge< noch >Hesperus< haben ihre
Hohepunkte in den letzten Kapiteln. Dort macht sich vielmehr
der Widerspruch zwischen der Handlung des begrenzten >Staats-
romans< und der Konzeption des »unbegrenzten« Romans deut-
lich spiirbar; im >Hesperus< durch das Auseinanderfallen der
>hohen< und >niedern< Tonart und durch die Vernachlassigung
der Gestalt Klotildes; in der >Loge< durch den Hippel'schen Be-
helfs-Gag der Briefe, der aber immerhin einen treffenden jean-
paulischen SchluB-Satz ermoglichte. - Wenn Jean Paul, kurz vor
seinem Tod, den >Hesperus< als ein Buch bezeichnete, das seinen
>Zweck< nicht erreichte, so ware zu fragen, ob er damit jenen
>Agathonschen Zweck< der auBeren Handlung meinte, den das
Buch sicher nicht erreicht hat, oder den von Viktor ausgespro-
chenen umfassenden >Zweck< der Gesamt-Liebe und des Plane-
ten-Flugs. Jean Paul beschaftigt dieses Buch bis zum Ende
seiner Tage. Den Autor und seine Gestalten hat es unter einen
hohen Anspruch gestellt. Es gehort zu den Unruhe stiftenden
Biichern, deren Komposition nicht in Losungen aufgehen, ebenso
wie das Fragment der >Unsichtbaren Loge<, gleichsam der erste
133^ NACHWORT
Anlauf zum >Hesperus<. Nicht von ungefahr steht das Motiv der
>Ruhe< in beiden Romanen an entseheidender Stelle als ein an-
gestrebtes, im Leben nie erreichtes Ziel, die letzte Erfullung der
Vision von der Idylle und der entgegengesetzten Vision vom
groBen Flug. »Ruhe ! dich geben weder Freude noch der Schmerz,
sondern nur die Hofrhung. Warum ruht nicht alles in uns wie
um uns?« (Viktor im 45.Kapitel des >Hesperus<). Ruhe wird als
Sehnsuchtsmotiv ausgesprochen; sie wird beschworen, wo die
Wellen der Satze im ozeanischen Stil Jean Pauls an den Hohe-
punkten einhalten und eine Ahnung geben vom Zusammenfall
des Entzweiten. »Em singendes Wesen schwebte durch unser Tal,
aber von Blattern und Dammerung verdeckt, weil der Mond noch
nicht auf war. Es sang schoner als ich noch horte:
— Niemand, nirgends, nie.
— Die Trane, die fallt.
— Der Engel, der leuchtet.
— Es schweigt.
— Es leidet.
— - Es hofFt.
— - Ich und Du !«
(Unsichtbare Loge, S4. Sektor)
Walter Hollerer
Zur Textgestaltung
In der Einrichtung des Textes folgt unsere Ausgabe in alien
wesentlichen Fragen den bewahrten Grundsatzen der Kritischen
Ausgabe, die ihr Herausgeber Eduard Berend in seinen »ProIe-
gomena zur historisch-kritischen Ausgabe von Jean Pauls Wer-
ken« (veroffentlicht in den Abhandlungen der preuB. Akademie
der Wissenschaften, Jahrg. 1927, Phil.-hist. Klasse, Nr. 1) aus-
fiihrlich dargestellt und begriindet hat.
Da die von Jean Paul lange geplante Gesamtausgabe bei
Reimer erst in seinem Todesjahr 1826 zu erscheinen begann,
ohne daB der Dichter noch auf sie EinfluB nehmen konnte, gibt
es von ihm keine verbindliche, zu seinen Lebzeiten veranstaltete
Sammlung seiner Werke. Deshalb werden unserer Textredak-
tion die jeweils letzten, noch vom Dichter selbst besorgten
Einzeldrucke zugrunde gelegt. Unsere Ausgabe, die alle willkur-
lichen Eingriffe, alles Streichen und »Bessern« im Text streng
vermeidet, ist um eine zuverlassige Wiedergabe der urspriing-
lichen Form der Werke bemiiht. Darum werden neben der vor-
bildlich edierten Kritischen Ausgabe, deren Ergebnisse wir
dankend benutzen, in jedem Fall von jedem Werk alle Original-
drucke genau verglichen, wobei wichtige Erweiterungen und
Einschiibe, ebenso die Varianten der verschiedenen Drucke, so-
fern sie inhaltliche Bedeutung besitzen, in den Anmerkungen
aufgefiihrt oder kenntlich gemacht werden. Konjekruren und
Anderungen gegen die Drucke, die bisweilen durch die Nach-
lassigkeit des Satzes in den Originalausgaben notwendig sind,
werden nur mit groBer Vorsicht vorgenommen und ebenfalls
in den Anmerkungen unter Angabe des vorgefundenen Wort-
lautes gebucht.
1340 ZUR TEXTGESTALTUNG
Unsere Ausgabe nahert die auBere Textgestalt der Werke
behutsam der heutigen Schreibweise an, laBt aber den Lautstand
des Dichters unangetastet. Zwar werden in der Orthographie die
altertiimlichen Formen (deBhalb, bischen, Thau, SchooB, Drath,
wol, bios, hinzu kommen usw.) durch die heute iiblichen (deshalb,
biBchen, Tau, SchoB, Draht, wohl, bloB, hinzukommen usw.)
ersetztj ebenso Fremdworter und franzosische Ausdriicke in Zi-
taten unserer Schreibung angepaBt. Auch werden falsche oder
veraltete Schreibungen von Namen (Gothe, Buffon, Nikolai
usw.) durch die richtigen oder gebrauchlichen Formen (Goethe,
Buffon, Nicolai usw.) wiedergegeben. Alle Eigenheiten und
Eigenwilligkeiten in Jean Pauls Diktion, alle personlichen und
idiomatischen Sprachgewohnheiten werden jedoch bewahrt. So
behalt unsere Ausgabe z. B. : weitlauftig, Augenbraunen, funfzig,
Dinte, sprutzen, Heurat bei anstelle von weitlaufig, Augen-
brauen, funfzig, Tinte, spritzen, Heirat. Auch dann, wenn inner-
halb eines Werkes Doppelformen nebeneinander auftreten: hier-
bei neben hiebei, elf neben eilf, gescheit neben gescheut, Sina
neben China usw., schien einEingreifen nicht gerechtfertigt. Jede
solche Anderung oder Vereinheitlichung, auch wo sie zunachst
berechtigt scheinen mag, wiirde das Textbild verunstalten und
auf die Dauer zu untragbaren Konsequenzen und Schwierig-
keiten fiihren. Das gilt im besonderen MaBe fur die Tilgung des
Fugen-S im Genitiv, die Jean Paul nach 18 17 rigoros in alien
Werken und Neuauf lagen durchgefuhrt hat. Obwohl diese ver-
meintliche Neuerung, der Jean Paul eine eigene umfangliche
Abhandlung gewidmet hat, sprachwissenschaftlich sich schon
sehr bald als unhaltbar erwies und der Dichter vielleicht selbst
wieder von ihr abgekommen ware, darf uns das nicht dazu ver-
fiihren, diese Tilgung wieder riickgangig zu machen. So werden
auch eigentliche Sprachfehler, die bei Jean Paul in der Recht-
schreibung und in der Grammatik nicht selten auftreten, nur
dort korrigiert, wo nachweislich eine Verwechslung vorliegt,
z.B. wenn er stets Magahonie statt Mahagonie, Lordschip statt
Lordship, Retoude statt Redoute, Fortins statt Fortius schreibt.
Abkurzungen werden beibehalten, sofern sie dem modernen
ZUR TEXTGESTALTUNG I341
Gebrauch noch entsprechen: usw., d.h. und ahnliche. (Das
Frakturzeichen ic wurde in die entsprechende Abktirzung der
Antiqua: etc. aufgelost.) Wo diese Abbreviaturen jedoch heute
unverstandlich sind, wie A. d. B. fur Allgemeine deutsche Bi-
bliothek, oder schon fruh zu MiBverstandnissen AnlaB gaben,
wie das haufige Abktirzen von Doktor, Herr und heilig in D.,
H. und h., werden sie besser aufgelost. Ebenso ersetzen wir die
haufig bei Zahlen vorkommenden ZirTern durch Zahlworter.
Solche ganz willkiirlichen Unterscheidungen dienten ohnehin
keiner bestimmten Absicht und entsprangen gewohnlkh der
Bequemlichkeit des Autors oder des Setzers.
In der Anwendung der Satzzeichen folgt Jean Paul starker als
in der ubrigen Sprachgestaltung seiner Werke den Vorschriften
seiner Zeit, die freilich um vieles lockerer und gefuhlsbestimmter
angewandt wurden, als es die strengen und bisweilen starren
Regeln der Gegenwart zulassen wurden. „Meine Interpunktion
ist die herkommliche, wie meine Briefe zeigen", schreibt der
alternde Jean Paul an Heinrich VoB (Brief vom 17. August 1822).
In den Drucken verbinden sich die Gewohnheiten des Dichters
noch uberdies mit den Gepflogenheiten der jeweiligen Setzer,
und da Jean Paul selten an der Interpunktion korrigierte,
schwankt ihr Gebrauch in den einzelnen Schriften oft sehr be-
trachtlich. Jean Paul bedient sich also zunachst keiner originellen
Interpunktion, er ist auch im allgemeinen nicht, wie man er-
warten wiirde, auf musikalische Wirkungen und rhythmische
Gliederungen bedacht, sondern handhabt seine Interpunktion,
haufig selbst gegen den Rhythmus, nach dem Iogischen Ver-
standnis des Lesers oder nach der eigenen Bequemlichkeit. Fast
immer fehlt bei eingeschobenen Satzen oder Vergleichen zu
Anfang oder zu Ende das Komma, vor Klammern und Ein-
schaltungen schwankt der Gebrauch der Satzzeichen noch star-
ker, in Aufzahlungen, die durch >und< oder durch >oder< gekop-
pelt sind, werden die einzelnen Glieder nach dem Zeitgebrauch
durch Komma getrennt usw. In solchen Fallen ist es so unbedenk-
lich wie notwendig, dem Leser das ohnehin schwierige Verstandnis
der langen Perioden zu erleichtern und ihm nicht durch eine
I342 ZUR TEXTGESTALTUNG
mangelnde und ungewohnte Interpunktion neue Hindernisse in
den Weg zu legen. Es versteht sich jedoch von selbst, daB eine
strenge und pedantische Reglementierung unbedingt vermieden
wird und daB alle tatsachlichen Eigenheiten Jean Pauls bei-
behalten werden: seine Vorliebe fur den Gedankenstrich zur
Trennung einer langeren Reihe von koordinierten Satzen, vor
allem in den gehobenen Landschafts- und Stimmungsschilde-
rungen (»Die Flote tonet fort - sie gehen den Nachtgang der
Himmelleiter hinauf — zwei angstliche Herzen zerbrechen mit
ihren Schlagen beinahe die Brust - der Genius stoBet die Pforte
auf, hinter der die Welt steht - und hebt sein Kind in die Erde
und unter den Himmel hinaus...«, vgl. S. 62, 21 rT.); das gleiche
gilt fur die Verwendung des Doppelpunkts vor dem zusammen-
fassenden Nachsatz und des Strichpunkts zwischen mehreren
verbundenen Nebensatzen (>Die umkehrenden Gespielinnen
kamen den Garten herauf, und beide muBten auseinander schei-
den; und als Viktor noch mit erstickten Lauten sagte : >Ruhe wohl,
du edle Seele - ...<; und als ein Auge voll neuer Tranen ihm
dankte; und als er sich tief, tief biickte vor der Heiligen, Stillen,
Bescheidenen und aus Ehrfurcht nicht einmal ihre Hand kiiBte:
so umarmte in der Unsichtbarkeit ihr Genius seinen Genius
vor Entziicken . . . .«, vgl. S. 1073, i8ff.). Diese Charakteristika
besitzen als Zasuren und rhythmische Unterteilungen eine sti-
listische Funktion, die auf keihen Fall angegriffen werden darf.
Hierher gehort als drittes vorstechendes Merkmal noch das
Fehlen des Kommas zwischen mehreren Beiwortern, die zu
einem Substantiv gehoren und mit diesem als Einheit aufgefaBt
sind, ein Merkmal, das in alien Schriften gleichmaBig auftritt.
Nur wo ein solches Beiwort einen langeren Zusatz bei sich tragt,
wird es in unserer Ausgabe durch ein Komma von den anderen
isoliert, wahrend der Gebrauch in den Drucken hier schwankt.
Auch die Verwendung des Apostrophs, mit dem Jean Paul
gewohnlich seine Prosa sehr sorgfaltig und konsequent be-
zeichnet, richtet sich in unserer Ausgabe weitgehend nach seinem
Vorbild. Jean Paul ersetzt durch den Apostroph immer ein am
Wortende ausgefallenes >e< (sagt*, dacht', verzog'), wahrend
ZUR TEXTGESTALTUNG 1343
bei angelehntem >das< oder >es< der Apostroph (ins, durchs,
sprachs) entfallt, wenn nicht das vorausgehende Wort verkiirzt
ist (war's, bracht's) oder auf einen Vokal endet (sei's, wo's).
Nur beim Genitiv der Eigennamen (Shakespeare's, Matthieu's)
und in der Befehlsform in der zweiten Person Singular (geh*,
schrei') entfallt in unserer Ausgabe, abweichend von den Drucken
und der Kritischen Ausgabe, der Apostroph, und die Schreibweise
wird nach der iiblichen Form geregelt.
Besondere Schwierigkeiten ergeben sich schliefilich in der
Anwendung der Anfuhrungsstriche, vor allem innerhalb langerer
Redeabschnitte. Jean Paul setzt die Anfuhrungszeichen nicht nur
bei der direkten, sondern auch bei der indirekten Rede, um in
dieser eine dem Wortlaut nach wiedergegebene Rede von einer
nur nach dem Inhalt mitgeteilten zu unterscheiden. Die An-
fiihrungsstriche mussen auch in diesem Fall natiirlich beibe-
halten werden. Dem Brauch der Zeit folgend laBt der Dichter
gern vor einem eingeschobenen »sagt* er« die Anfiihrungsstriche
fort oder trennt solche eingefiigten Partikeln von der Rede selbst
lediglich durch Bindestriche oder Klammern. Das fiel in den
alten Drucken, die ohnehin fiir gewohnlich solche gesprochene
Abschnitte zu Beginn jeder Zeile mit Anfuhrungszeichen ver-
sahen, nicht ins Gewicht, erschwert aber dem heutigen Leser die
glatte Lekture durch die Ungewohntheit einer derartigen Inter-
punktion. Umgekehrt stellt eine Auf losung nach dem heutigen
Gebrauch in Anfuhrungszeichen und Kommata einen zu weit-
gehenden und gefahrlichen Eingriff dar. Wir erganzen daher
nur stets die Anfiihrungsstriche, ohne hingegen die Klammern
oder Bindestriche durch die iiblichen Kommata zu ersetzen. So
wird einmal die Lesbarkeit wesentlich erleichtert und zugleich
der Charakter, den diese eingeschobenen Partikel oder Bericht-
stiicke als zuriickgedrangte und untergeordnete Regiebemer-
kungen besitzen, nirgends verwischt, ein Vorgehen, zu dem sich
in den Schriften Jean Pauls auch sonst geniigende und recht-
fertigende Anhaltspunkte finden.
Norbert Miller
INHALT
DIE UNSICHTBARE LOGE (MUMIEN)
Ester Teil
Entschuldigung bei den Lesern der samtlichen Werke 13
Vorrede zur zweiten Auflage 14
Vorredner in Form einer Reisebeschreibung 23
Erster Sektor
Verlobung-Schach - graduierter Rekrut - Kopulier-Katze ... 33
Zweiter Sektor oder Ausschnitt
Ahnen-Preiskurant des Ahnen-Grossierers — der BeschSler und
Adelbrief 46
ErstesExtrablatt.-Ehrenbezeugungen, die mir meine Grafschaft
nach meiner Heimkehr von der grand tour antat 49
Dritter Sektor oder Ausschnitt
Unterirdisches Padagogium - der beste Herrnhuter und Pudel 52
Vierter Sektor oder Ausschnitt
Lilien - Waldhorner - und eine Aussicht sind die Todes-An-
zeigen 58
Funfter Sektor oder Ausschnitt
Auferstehung 62
Sechster Sektor oder Ausschnitt
Gewaltsame Entfuhrung des schonen Gesichts - wichtiges
Portrat 64
Zweites Extrablatt: Strohkranzrede eines Konsistorialsekretars,
worin er undsie beweisen, daB Ehebruch und Ehescheidung zu-
zulassen sind 70
Siebenter Sektor oder Ausschnitt
Robisch - der Star - Lamm statt der obigen Katze 76
134^ INHALT
Ackter Sektor
Abreise - weibliche Launen - zerschnittene Augen 81
Extrablattchen : Sind die Weiber Papstinnen? 85
Neunter Sektor
Eingeweide ohne Leib - Scheerau 89
Zehnter Sektor
Ober-, Unterscheerau — Hoppedizel - Krauterbuch - Besuch-
braune - Furstenfeder 92
Extrazeilen iiber die Besuchbraune, die alle Scheerauerinnen be-
fallt bei dera Anblick einer fremden Dame 98
Extragedanken iiber Regentendaumen ; . 102
Eilfter Sektor
Amandus' Augen - das Blindekuhspiel 103
Zwolfter Sektor
Konzert - der Held bekommt einen Hofmeister von Ton 105
Dreiiehnter Sektor
Landestrauer der Spitzbuben — Scheerauer Fiirst - furstliche
Schuld 109
Vierqehnter Sektor
Eheliche Ordalien - fiinf betrogene Betruger 114
Funfyehnter Sektor oder Ausschnitt
Der funfzehnte Sektor oder Ausschnitt 122
Sech^ehntef Sektor
Erzieh-Vprlegblatter 124
Extrablatt: Warum ich meinem Gustav Witz und verdorbne
Autores zulasse und klassische verbiete, ich meine griechische .
und romische? 129
INHALT , 134?
Siebfeknter Sektor
Abendmahl - darauf Liebemahl und LiebekuB 136
Acht^eknter Sektor
Scheerauische Molukken - Roper - Beata - offizinelle Weiber-
kleider- Oefel 145
Neun^ehnter Sektor
Erbhuldigung - Ich, Beata, Oefel 164
Zwan^igster Sektor
Das zweite Lebens-Jahrzehend - Gespenstergeschichte - Nacht-
Auftritt - Lebensregeln 171
Einund^wan^igster oder Michaelis- Sektor
Neuer Vertrag zwischen dem Leser und Biographen - Gustavs
Brief 179
Zweiund{wan%igster oder XVIIIL Trinitatis- Sektor
Der echte Kriminalist - meine Gerichthalterei - ein Geburttag
und eine Korn-Defraudation 187
Dreiund%wan\igster oder XX. Trinitatis- Sektor
Andrer Zank - das stille Land - Beatens Brief- die Aussohnung -
das Portrat Gutdos 194
Vierund^wan^igster oder XXI. Trinitatis-Sektor
Oefels Intrigen - die Infammachung - der Abschied 206
Fiinfundiwan^igster oder XXII. Trinitatis-Sektor
Ottomars Brief 217
Extrablatt: Vonhohen Menschen-und Beweis, dafi die Leiden-
schaften ins zweite Leben und Stoizismus in dieses gehoren 221
Sechsund^waniigster oder XX. Trinitatis-Sektor
Diner beim Schulmeister 224
I34 8 INHALT
ZWEITER TEIL
SiebenundfWaniigster oder XXL Trinitatis-Sektor
Gustavs Brief- Fiirst mit seinem Frisierkamm 235
Achtundiwaniigster oder Simon Judd-Sektor
Gemalde - Residentin '. 246
Neunund^wan^igster oder XXII. Trinitatis-Sektor
Die Ministerin und ihre Ohnmachten - und so weiter 253
Dreifiigster oder XXIIL Trinitatis-Sektor
Souper und Viehglocken 262
Einunddreifiigster oder XXIIIL Trinitatis-Sektor
Das Krankenlager - die Mondfinsternis - die Pyramide 276
Zweiunddreifiigster oder 1 6. November-Sektor
Schwindsucht - Leichenrede in der Kirche des stillen Landes -
Ottomar 289
Dreiunddreifiigster oder XXV* Trinitatis-Sektor
GroBe Aloe-Bliiten der Liebe : oder das Grab - der Traum - die
Orgel nebst meinem SchlagfluB, Pelzstiefel und Eis-Liripipium 294
Vierunddreifiigster oder I. Advent-Sektor
Ottomar- Kirche - Orgel 303
Funfunddreifiigster oder Andreas- Sektor
Tage der Liebe — Oefels Liebe - Ottomars SchloB und die
Wachsfiguren 310
Sechsunddreifiigster oder II. Advent-Sektor
Kegelschnitte aus vornehmen Korpern - Geburttag-Drama -
Rendezvous (oder, wie Campe sich ausdriickt, Stell dich ein) ina
Spiegel 322
INHALT 1349
Siebenunddreifiigster oder hell. Weihnacht-Sektor
Liebebrief - Com6die - Souper - bal pare - zwei gefahrliche
Mitternachtszenen - Nutzanwendung 332 .
Das Wort uber die Puppen 338
Achtunddreifiigster oder Neujahr-Sektor
Nachtmusik - Abschiedbrief - mem Zanken und Kranken 355
Neununddreifiigster oder iter Epiphanid-Sektor 364
Vier^igster oder 2ter Epiphanid-Sektor 364
Einundvier^igster oder 3ter Epiphanid-Sektor 365
Zweiundvier^igster oder 4ter Epiphanid-Sektor 365
Dreiundvieriigster oder Ster und 6ter Epiphanid-Sektor 365
Vierundvier^igster oder Septuagesimd-Sektor 366
Funfundvier{igster oder Sexagesimd-Sektor . . . 366
Sechsundvier^igster oder Esto Mihi-Sektor 366
Siehenundvieriigster oder Invokavit-Sektor 367
Achtundvier%igster oder Mai-Sektor
Der hammernde Vetter - Kur - Bade-Karawane 367
Neunundvier^igster oder 1 ter Freuden-Sektor
Der Nebel - Lilienbad 378
Funfygster oder 2ter Freuden-Sektor
Der Brunnen - Die Klagen der Liebe 381
Einundfunfyigster oder ster Freuden-Sektor
Sonntagmorgen — offne Tafel - Gewitter - Liebe 386
Extraseiten uber die falsche Bauart der Kirchen 389
135° INHALT
Vierter Freuden-Sektor
Der Traum vom Himmel - Brief Fenks 396
Dreiundfunfiigster oder der grqfite Freuden-Sektor oder der Geburttags-
oder Teidors-Sektor
Der Morgen - der Abend - die Nacht 400
Vierundfunfoigster oder 6ter Freuden-Sektor
Tag nach dieser Nacht - Beatens Blatt - Merkwurdigkeit 414
Let^ter Sektor
111111111 418
Leben des vergniigten Schulmeisterlein Maria Wut^ in Auenihal . 422
Auslauten oder Sieben let^te Worte 463
HESPERUS
Erstes Heftlein
Vorrede zur dritten Auflage 475
Vorrede zur zweiten Auflage \ . . . 480
Vorrede, sieben Bitten und BeschluB ."' 487
1 . Hundposttag
Unterschied zwischen dem 1 . und 4. Mai - Rattenschlachtstiicke -
Nachtstuck - drei Regimenter in kunftigen Hosen - Starnadel -
Ouvertiire und geheime Instruktion dieses Buchs 491
2. Hundposttag
VorsundflutlicheGeschichte-ViktorsLebens-ProzeB-Ordnung 512 -
3. Hundposttag
Freuden-Saetag - Wartrurm - Herzens-Verbriiderung 5 24
4. Hundposttag
SchattenriB-Schneider - Klotildens historische Figur - einige
Hof leute und ein erhabner Mensch 535
INHALT 1 3 5 I
5. Hundposttag
Der dritte Mai - der auf der Musik sitzende Abbate - die Nach-
tigall 551
6*. Hundposttag
Der dreifache Betrug der Liebe - verlorne Bibel und Puderquaste
- Kirchgang - neue Konkordaten mit dem Leser 555
7. Hundposttag
Der groBe Pfarr-Park - Orangerie - Flamins Standes-Erhohung
- Fest-Nachmittag der hauslichen Liebe - Feuerregen - Brief
an Emanuel 566
8* Hundposttag
Gewissens-Exammatorium und Dehortatorium - die Studier-
Flitterwochen eines Gelehrten - das Naturalienkabinett - ein-
gepacktes Kinn - Antwort von Emanuel - Ankunft des Fursten. 584
Erster Schalttag
Miissen Traktaten gehalten werden, oder ist es genug, daB man
sie macht? 611
S>. Hundposttag
Himmels-Morgen, Himmels-Nachmittag - Haus ohne Mauer,
Bette ohne Haus 613
/ o. Hundposttag
Zeidler - Oszillieren Zeusels - Ankunft der Prinzessin 624
it, Hundposttag
Cbergabe der Prinzessin - KuB-Kaperei - montre a regulateur
- Sammliebe 032
z 2, Hundposttag
Polar-Phantasien - die seltsame Insel der Vereinigung - noch ein
Stuck aus der Vor-Geschichte - der Stettinerapfel als Ge-
schlechtwappen 652
13 5 2 INHALT
Dritter Schalttag
Wetterbeobachtungen uber den Menschen 666
13. Hundposttag
Ober des Lords Charakter - ein Abend aus Eden - Maienthal
- der Berg und Emanuel 669
1 4. Hundposttag
Das philosophische Arkadien - Klotildens Brief- Viktors con-
fessions \ 679
1 5. Hundposttag
Der Abschied 693
Z VEITES HEFTLEIN
G. Hundposttag
KartofFeln-Formschneider - Hemmketten in St. Liine - Wachs-
Bossierungen - Schach nach der regula falsi - die Distel der
HofFnung - Begleitung nach Flachsenfingen 703
Vierter Schalttag und Vorrede %um %weiien Heftlein
Schalt- und NebenschoBlinge, alphabetisch geordnet 721
; 7. Hundposttag
Die Kur - das SchloB des Fiirsten - Viktors Visiten - Joachime
- Kupferstich des Hofs - Priigel 725
/ <?. Hundposttag
Standeserhohung Klotildens - Inkognito-Reise - Bittschrift
der OberjSgermeisterei — Konsistorialbote - Vexierbild der
Flachsenflnger 747
icf. Hundposttag
Der Friseur, der nicht lungen-, sondern singsuchtig ist - Klo-
tilde in Viktors Traum - Extrazeilen iiber die Kirchenmusik -
INHALT 1353
Gartenkonzert von Stamh{ - Zank zwischen Viktor und Fla-
min - das Herz ohne Trost - Brief an Emanuel 763
20. Hundposttag
Blatt von Emanuel - Flamins Fruchtstiicke auf den Schultern -
Gang nach St. Liine 787
Funfter Schaktag
Fortsetzung des Registers der Extra-Schofilinge 796
2 1\ Hundposttag
Viktors Krankenbesuche - iiber tochtervolle Hauser - die zwei
Narren - das Karussell 803
22. Hundposttag
StiickgieBerei der Liebe, z.B. gedruckte Handschuhe, Zank,
Zwergflaschen und Schnktwunden - ein Titel aus den Digesten
der Liebe - Marie - Courtag - Giulias Sterbebrief 817
2 j. Hundposttag
Erster Besuch bei Klotilde - die Blasse — die Rote - die Renn-
Wochen .838
24, Hundposttag
Schminke - Krankheit Klotildens - Schauspiel Iphigenie-
Unterschied der biirgerlichen und der stiftfahigen Liebe 851
Sechster Schalttag
Uber die Wiiste und das gelobte Land des Menschengeschlechts . 867
2$. Hundposttag
Verstellte und wahre Ohnmacht Klotildens - Julius - Emanuels
Brief iiber Gott , 875
1354 INHALT
Drittes Heftlein
26* Hundposttag
Drillinge - Zeusel und sein Zwillingbruder - die aufsteigende
Perucke - Entdeckung von Spitzbubereien 895
.27. Hundposttag
Augenverband - Bild hinter Bettevorhang - Gefahr fur zwei
Tugenden , 910
2 8. Hundposttag
Osterfest 924
Erster Osterfeiertag: Ankunft im Pfarrhause - Klub der Dril-
linge - Karpfe 924
Zweiter Osterfeiertag: Leichenrede auf sich selber - zweierlei
entgegengesetzte Schicksale der Wachsstatue 932
Dritter Osterfeiertag: F. Kochs doppelte Mundharmonika - die
Schlittenfahrt - der Ball - und 944
Vorrede ium dritten Heftlein 961
Siebenter Schalttag
Ende des Registers der Extra-SchoBlinge 961
29* Hundposttag
Bekehrung - Billetdoux der Uhr- Florhut 967
30. Hundposttag
Briefe 981
3 1 . Hundposttag
Klotildens Brief- der Nachtbote - Risse und Schnitte im Bande
der Freundschaft 989
32. Hundposttag
Physiognomie Viktors und Flamins - Siedpunkt der Freund-
schaft — prachtige HorTnungen fur uns 1006
INHALT 13 55
Erster Pfingsttag {33. Hundposttag)
Polizeiordnung der Freude - Kirche - der Abend - die Bliiten-
hohle 1029
Zweiter Pfingsttag (34. Hundposttag)
Der Morgen — die Abtissin - der Wasserspiegel- stummer In-
jurienprozeB - der Regen und der offne Himmel 1045
Dritter Pfingsttag oder 3S. Hundposttag oder Burgunder-Kapitel
Der Englander - Wiesenball - selige Nacht - die Bliitenhohle 1060
Vierter und let%ter Pfingsttag (36. Hundposttag)
Hyazinthe - die Stimme vom Vater Emanuels - Brief vom Engel
- Flote auf dem Grab - zweite Nachtigall - Abschied - Geister-
erscheinung j . . . 1075
VlERTES HEFTLEIN
Vierte Vorrede
oder abgedrungene Antikritik gegen eine oder die andere Rezen-
sion, die mir etwan nicht gefallen sollte 1095
Neunter Schalttag
Viktors Aufsatz uber das Verhaltnis des Ich zu den Organen . . . 1 099
3 j* Hundposttag
Der Amoroso am Hofe - Praliminarrezesse der Hochzeit - Ret-
tung des hoflichen Kriimmens 1 105
38. Hundposttag
Die erhabene Vormitternacht- die selige Nachmitternacht - der
sanfte Abend 1 125
3$. Hundposttag
GrpBe Entdeckung - neue Trennungen 1151
13 5 6 " INHALT
40 '. Hundposttag
Das mbrderische Duell - Rettung der Duelle - Gefangnisse als
Tempel betrachtet - Hiobsklagen des Pfarrers - Sagen meiner
biographischen Vorzeit, Kartoffelnstecken 1 160
41. Hundposttag
Brief - zwei neue Einschnitte des Schicksals - des Lords
Glaubensbekenntnis 1 175
42. Hundposttag
Aufopferung - Valetreden an die Erde - Memento-mori -
Spaziergang - Herz von Wachs 1 182
43. Hundposttag
Matthieus vier Pfingsttage und Jubilaum 1 193
44. Hundposttag
Die Bruderliebe - die Freundliebe - die Mutterliebe - die
Liebe 1203
Nachtrag %um 44* Hundposttag
Nichts - 1214
4$stes oder let^tes Kapitel
Knef - die Stadt Hof- SchweiBfuchs - Rau&er -Schlaf - Schwur
- Nachtreise - Gebusch - Ende 1217
ANHANG
Anmerkungen zur Unsichtbaren Loge 1241
Anmerkungen zum Hesperus 1268
Nachwort 1313
Zur Textgestaltung : 1339
INHALTSVERZEICHNJS
ZU DEN BANDEN I-VI
DIESER AUSGABE
Das vorliegende Verzeichnis umfaBt die Titel der in den Biindenl-VI ent-
haltenen Werke sowie der in diese Werke eingeschobenen kleineren Texte
selbstandigen Charakters. Es wurde jedoch darauf verzichtet, alle Extra-
blatter, Extraseiten und Billets aufzunehmen, da das Verzeichnis dem Leser
vor allem das Auffinden wichtiger und haufig gesuchter Einzelschriften
erleichtern soil.
Adams Hochzeitsrede (aus »Sieben-
kas«) II, 119
Appendix des Appendix oder meine
Christnacht (aus »Der Jubel-
senior«) IV, 545
Auslauten oderSieben letzteWorte
(aus »Die Unsichtbare Loge«)
1,463
Billet an meine Freunde, anstatt der
Vorrede (Vorrede zu »Quintus
Fixlein«) IV, 9
Biographische Belustigungen IV,
261
Blumen-, Frucht- und Dornen-
stucke oder Ehestand, Tod und
Hochzeit des Armenadvokaten
F. St. Siebenkas II, 7
Brief des Doktor Viktor an Kato
den Attern uber die Verwand-
lung des Ich ins Du, Er, Ihr und
Sie - oder das Fest der Sanftmut
am 2oten Marz (aus »Siebenkas«)
II, 416
Briefe und bevorstehender Lebens-
Iauf IV, 925
Brief uber die Philosophic (aus
»Briefe und bevorstehender Le-
benslauf«) IV, 1014
Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana
HI, ion
Dammerungen fur Deutschland V,
917
Das Fest der Sanftmut am 20ten
Marz : siehe "Brief des Doktor
Viktor . . .«
Das Gliick, auf dem Hnken Ohre
taub zu sein (aus »Dr. Katzen-
bergers Badereise«) VI, 251
Das Gliick eines schwedischen Pfar-
rers (aus »Flegeljahre«) II, 598
Das heimliche Klaglied IV, 1081
Das Kampaner Tal IV, 561
Der doppelte Schwur der Besse-
rung (aus »Briefe und bevor-
stehender Lebenslauf«) IV, 960
1358
GESAMTINHALTSVERZEICHN1S
Der Jubelsenior IV, 409
Der Komet VI, 563
Der Mond. Phantasierende Ge-
schichte (aus »Quintus Fixlein«)
IV, 50
Der Tod eines Engels (aus »Quin-
tus Fixlein«) IV, 45
Der Traum im Traum (aus »Sie-
benkas«) II, 276
Des Amts-Vogts Josuah Freudel
Ktaglibell gegen scinen verfluch-
ten Damon (aus »Quintus Fix-
lei n«) IV, 206
Des LuftschifTers Giannozzo See-
buch (aus »Komischer Anhang
zum Titan«) III, 925
Des Rektors Florian Falbels und
seiner Primaner Reise nach dem
Fichtelberg (aus »Quintus Fix-
lein«) IV, 226
Die Doppelheerschau in GroD-
lausau und in Kauzen samt Feld-
ziigen (aus nPolitische Fasten -
predigten«) V, 11 50
Die Kunst, einzuschlafen (aus »Dr.
Katzenbergers Badereise«) VI,
238
Die Mondfinsternis (aus »Quintus
Fixlein«) IV, 38
Die Neujahrsnacht eines Ungliick-
lichen (aus »Briefe und bevor-
stehender Lebenslauf«) IV, 965
Die Salatkirchweih in Obersees,
oder fremde Eitelkeit und eigne
Bescheidenheit (aus »Satirischer
Appendix** zu »Biographische
Belustigungen«) IV, 363
Die Unsichtbare Loge I, 7
Die Vernichtung (aus »»Dr. Kat-
zenbergers Badereise«) VI, 257
Die wunderbare Gesellschaft in der
Neujahrsnacht (aus »Das heim-
liche Klaglied«) IV, mi
Dr. Fenks Leichenrede auf den
hochstseligen Magen des Fiirsten
von Scheerau (aus »Dr. Katzen-
bergers Badereise«) VI, 153
Dr. Katzenbergers Badereise VI, 77
Einladungs-Zirkulare an ein neues
kritisches Untcr-Fraisgericht
uber Philosophen und Dichtcr
(aus »Komischer Anhang zum
Titan«) III, 909
Entschuldigung bei den Lcsern der
samtlichen Werke (vor »Die Un-
sichtbare Loge«) I, 1 3
Erkliirung der Holzschnitte unter
den loGeboten des Katechismus
(aus >»Das Kampaner Tal«) IV,
627
Erzahtungsspiel (aus »Komischer
Anhang zum Titan«) III, 87?
Es gibt weder eine eigenniit/ige
Liebe noch eine Selbstliebe, son-
dern nur eigenniitzige Hand-
lungen (aus »Quintus Fixlein«)
IV, 219
Fata und Werke: siehe »Palinge-
nesien«
Flegeljahre II, 577
Friedens-Predigt an Deutschland
V, 877
Geschichte meiner Vorrede zur
zweiten Auflage des Quintus
Fixlein IV, 15
Habermanns logischer und geo-
graphischer Kursus durch Eu-
ropa, von ihm selber ganz sum-
marises dem Erbprinzen der
MilchstraOe vorgetragen (aus
»Palingenesien«) IV, 865
Hesperus I, 471
Huldigungspredigt vor und unter
dem Regierantritt der Sonne (aus
GESAMTINHALTSVERZEICHNIS
*359
»Dr. Katzenbergers Badereise«)
VI, 138
Kleine Nachschuie zur Asthetischen
Vorschule V, 457
Komischer Anhang zum Titan III,
831
Konjektural-Biographie (aus »Briefe
und bevorstehender Lebenslauf«)
IV, 1025
Leben des Quintus Fixlein IV, 7
Leben des vergniigten Schulmei-
sterlein Maria Wutz in Auenthal
I, 422
Leben Fibels VI, 365
Levana oder Erziehlehre V, 5 1 5
Luna am Tage (aus »Briefe und be-
vorstehender Lebenslauf«) IV,
940
Mars' und Phdbus* Thronwechsel
V, 1037
Mein Aufenthalt in der Nepomuks-
Kirche wahrend der Belagerung
. der Reichsfestung Ziebingen (aus
»Politisclie Fastenpredigten«) V,
11 12
Meine Christnacht: siehe "Appen-
dix des Appendix . . .«
Nachdammerungen fur Deutsch-
'land (aus »Politische Fastenpre-
digten«) V, 1075
Palingenesien (Fata und Werke vor
und in Nurnberg) IV, 717
Politische Fastenpredigten V, 1069
Quintus Fixlein IV, 7
Rede des toten Chrisms vom Welt-
gebaude herab, daB kein Gott sei
(aus »Siebenkas«) II, 270
Satirischer Appendix (zu »Biogra-
phische Belustigungen«) IV, 345
Schmelzles Reise nach Flatz VI, 7
Selberlebensbeschreibung VI, 1037
Selina oder iiber die Unsterblich-
keit der Seele VI, 1105
Siebenkiis II, 7
Titan III, 7
Traum iiber das All (aus »Der Ko-
met«) VI, 682
Cber Charlotte Corday (aus »Dr.
Katzenbergers Badereise«)VI, 332
Ober den Tod nach dem Tode;
oder der Geburttag (aus »Dr.
Katzenbergers Badereise«) VI,
160
Ober die natiirliche Magie der Ein-
bildungskraft (aus »Quintus Fix-
lein") IV, 195
Cber die Wuste und das gelobte
Land des Men schengesch lech ts
(aus »Hesperus«) I, 867
Ober Hebels alemannische Ge-
dichte (aus »Dr. Katzenbergers
Badereise«) VI, 145
Vorredner in Form einer Reise-
beschreibung (Vorrede zu »Die
Unsichtbare Loge«) I, 23
Vorschule der Asthetik V, 7
Wiinsche fur Luthers Denkmal von
Musurus (aus »Dr. Katzenber-
gers Badereise«) VI, 310
Dieses Buch, einschliefilich Vorsatzpapier und
Schutzumschlag, wurde auf Recyclingpapier gedruckt,
das zu 100% aus Altpapier besteht.
Das Einbandleinen, -das Kapitalband und das Leseband sind
aus 100% ungefarbter und ungebleichter Baumwolle.